COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 08. April 2013, 19.30 Uhr Lass es krachen! Die Kunst der politischen Provokation Von Thomas Klug Regie: Collage angemessen lang freistehend, dann im Hintergrund - bis "Aufreger" Regie: Atmo-Collage: verschiedene entspannende Geräuschen: zum Beispiel leises Vogelgezwitscher, kleine Meereswellen, ein Fluss, Wind - alles verbunden mit netter Harfe o.ä. Autor: Es ist schön. Es ist entspannend. Es ist friedlich. - Es ist nicht auszuhalten. Es fehlt etwas. Take 01 Chaos Take 02 Beckstein Wer so saudumm daherredet, sollte nicht in einer anständigen Weise meinen, dass er Demokrat wäre. Take 03a Strauß Ach, halten Sie doch den Mund, Sie Trottel. Wenn Sie schon kein Hirn haben, dann halten Sie das Maul wenigstens. Autor: Es fehlen: Aufreger. Nervenkitzel. Gedankenblitze. Irgendetwas. Sprecher v.D.: Lass es krachen! Effekt: Knall o.ä. Take 03b Beck Da oben ist ein Feuer, bitte kümmert sich jemand darum. Sprecher v.D.: Die Kunst der politischen Provokation Take 04 Stiegler Mit vollen Hosen stinken und dann auch noch frech sein. Sprecher v.D.: Ein Feature von Thomas Klug Collage: Klangteppich aus langweiligen Politikerreden + Harfe von oben Autor: Sie reden. Sie reden im Fernsehen. Sie reden im Parlament. Sie reden auf Marktplätzen. Aber hört ihnen jemand zu? Sie ahnen, dass sie langweilig sind. Sie fürchten, nicht aufzufallen. Sie wollen gehört werden - egal, was sie sagen. Regie: Klangteppich abreißen lassen Autor: Ein Lachsack kann helfen. Besser zwei Lachsäcke. Im richtigen Moment eingesetzt - und sie werden schlagzeilentauglich. Ein richtiger Moment ist zum Beispiel eine Kohl-Rede. Die Schlagzeilen werden noch größer, wenn der Richtige die Lachsäcke aktiviert, also ein Prominenter. Der Richtige ist zum Beispiel Hans-Christian Ströbele. In Berlin, damals noch West, sollte auf einem freien Platz das Deutsche Historische Museum gebaut werden. Take 05 Ströbele Und Helmut Kohl wollte, so war unsere Auffassung damals, sich hier ein Denkmal setzen als Historiker mit einem Sakralbau eines Deutschen Historischen Museums. Dagegen haben wir demonstriert auf der Straße und dagegen habe ich protestiert im Deutschen Reichstag. Und da hat Helmut Kohl eine Rede gehalten und ich bin, glaube ich, in einer der hinteren Reihen gesessen und habe die dann in Gang gebracht. Und die haben die Rede gestört. Autor: Das ist verbürgt. Auf dem Platz für das geplante Museum steht heute übrigens das Kanzleramt. Die Provokation war schlagzeilenträchtig. Doch war sie auch politisch? Take 06 Ströbele Das kann auch Politik sein. Ich bin durchaus ein Verfechter der begrenzten Regelverletzung und finde es zum Beispiel auch nicht nicht gut, dass im Deutschen Bundestag die Daumenschrauben angezogen worden sind, in dem ein Ordnungsrecht eingeführt worden ist, was zum Beispiel das Tragen von T-Shirts u.ä sanktionieren kann auf dem dann irgendeine Friedensparole oder so was draufsteht. O-Ton Lammert Also ich bitte Sie unverzüglich die Spruchbänder runter zu nehmen. Ich schließe alle Kollegen der Fraktion, die dieser Aufforderung nicht gefolgt sind, vom weiteren Verlauf der Sitzung aus. Take 07 Preiser In der Politik, wenn die Provokation sich gegen den politischen Gegner richtet, dann gibt es so eine begleitende Schadenfreude, dass dem mal wieder eines ausgewischt hat. Sprecher 1: Siegfried Preiser von der Sektion Politische Psychologie des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen und Rektor der Psychologischen Hochschule Berlin. Take 08 Preiser Provokation kann etwas Gutes sein, weil sie zum Nachdenken anregt und dazu provoziert, auch darauf zu reagieren. Das heißt also, sie kann etwas anstoßen, etwas in Bewegung setzen. So wie jeder Konflikt etwas Positives beinhalten kann und selbst Skandale, also Verhaltensweisen, die moralisch zweifelhaft oder eben inakzeptabel sind, zum Nachdenken über das anregen, was erlaubt ist, was man tolerieren kann und was eben nicht geht. Sprecher 2: Provokation? Autor: Provokation. Kurt Tucholsky. Sprecher 2: Ist Ruhe die erste Bürgerpflicht, die von Empörern ist es nicht. Gewalt gegen Gewalt, Kraft gegen Kraft: das ist die alte Wissenschaft. Weißt du, Deutscher, wie die neue heißt? Gegen Gewalt den Geist! Nur der Geist kann die Streitaxt begraben! Aber freilich: man muss einen haben. Effekt Sprecher 1: Kurt Tucholsky, 1919 Take 09 Preiser Die Provokation ist eben eine Methode oder eine Möglichkeit, um Aufmerksamkeit zu erzeugen, um Aufmerksamkeit des Publikums, das das mitkriegt, Aufmerksamkeit der Medien und evtuell., wenn es denn durch die Medien aktiviert wird, auch die Aufmerksamkeit des politischen Gegners auf sich zieht. Damit wird erreicht, das ein Thema auf der Tagesordnung steht oder auf die Tagesordnung kommt. Autor: Ob Tagesordnung oder Titelseite - um darauf zu kommen ist eine Streitaxt nützlich, aber weder zeitgemäß noch mehrheitsfähig. Also weg damit. Doch wie verändert man Bankensystem zum Umdenken, wenn keine Kavallerie da ist? Hilft es, am Bankschalter mit dem Sparbuch zu wedeln? Oder soll man den Abgeordneten seines Vertrauens mit dem Bankberater diskutieren lassen? Hilft vielleicht ein Regie: EAV Banküberfall ? Autor: Die Bedingungen für einen Überfall - wenn man denn so etwas überhaupt machen wollte - wären: keine Maskierung und keine Waffen, höchstens eine Schokoladenpistole, die natürlich nicht entsichert sein darf. Das klingt blöd? Es klingt nach Gesprächsbedarf. Und es klingt so, dass es den Banken nicht gefallen kann. Take 10 Grottian Bei den Schokoladenpistolen ging es ja mehr oder minder darum, dass man bei den Banken die dieses Finanz- und Bankensystem weitgehend zugrunde gerichtet haben und damit der Volkswirtschaft und der Gesellschaft großen Schaden zugemessen haben, dass man durch eine Besetzung von Banken, auch durch Schokoladenpistolen, symbolisch gesehen, dass man dann sagt, wir lassen uns nicht mehr als Gesellschaft und als Bürger gefallen, dass ihr mit euren Finanzprodukten eine politische und ökonomische Unverantwortlichkeit produziert, die wir als Bürger nicht mehr hinnehmen können. Autor: Ist eine Provokation geeignet, Politik zu gestalten, Strukturen zu verändern? Die Frage ist schwer zu beantworten. Ein Banküberfall mittels Schokoladenpistolen - das ist die Reduktion eines hochkomplexen Themas auf die Verständnisfähigkeit der überkommenen Spaßgesellschaft. Die Möglichkeit, das Thema wirklich zu verstehen ist dabei nicht vorgesehen. Aber vielleicht ist das auch zu viel verlangt. Ein Werbespot für eine Bank klärt ja auch nicht darüber auf, wie die Bank die Kundengelder vermehrt - oder versenkt. Die Provokation ist dann vielleicht die Antwort der Straße auf eine ausgefeilte PR-Kampagne. Ein Mittel, das funktioniert - manchmal. Sprecher 1: Peter Grottian ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft, Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von Attac und Initiator verschiedener politischer Proteste. Er hatte auch die Idee mit den Schokoladenpistolen: Take 11 Grottian Deshalb glaube ich auch, dass Bankenbesetzung, natürlich gewaltfrei, natürlich ohne irgendwelchen Druck und Nötigung, dass das symbolische Aktionen des zivilen Ungehorsams sind, die notwendig sind. Denn auch da haben Sie keine gesellschaftliche Kraft, die irgendetwas in Gang setzt: Die Gewerkschaften tauchen weg, die Kirchen tauchen weg, die Parteien sind ganz vorsichtig. Und zwischen Merkel und Steinbrück gibt es da auch letzten Endes gar keinen Unterschied. Das braucht aus der Zivilgesellschaft Aktionen und auch Selbstorganisation, die dann auch etwas Spitzes probiert und provoziert, um eine Debatte darüber, dass sich etwas ändern muss, sozusagen überhaupt in Gang zu setzen. Autor: Peter Grottian sitzt mit Pullover und Strickweste in einem etwas zu lauten Café. Es sei dort ganz ruhig, hat er angekündigt und ein "wahrscheinlich" hinterher geschoben. Sein Thema ist der zivile Ungehorsam, wahrgenommen als Provokation, von denen, die sich damit auseinandersetzen müssen. Gegen die Abschaffung des Sozialtickets hat er demonstriert. Nein, nicht demonstriert, sondern zum Schwarzfahren aufgerufen. Er und seine Mitstreiter haben dann die Kontrolleure am Arbeiten gehindert - durch Umarmungen. Das irritiert. Take 12 Preiser Die Frage, ob illegale Aktivitäten positiv zu bewerten sind, sind immer eine Frage des Standpunktes. Illegale Aktivitäten beim arabischen Frühling haben wir alle begeistert mitverfolgt als positive Provokationen, weil sie sich gegen ein Unrechtssystem gewendet haben. Sprecher 1: Siegfried Preiser von der Sektion Politische Psychologie des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen. Take 13 Preiser (Fortsetzung) In dem Moment, wo man Situationen hier, politische Situationen, als sozial ungerecht interpretiert, ist es zumindest verständlich, dass man dagegen protestiert, das muss nicht unbedingt illegal sein. Ja, und dann ist es eine Frage der Bewertung, ob ich solche illegalen Aktionen für gerechtfertigt, für legitim halte. Autor: Die Demokratie ist schön geordnet, parlamentarisch, repräsentativ. Das Volk kann bestimmen: Wählen kann es. Sich verweigern kann es auch ein bisschen. Aber ändern - so gegen die Mehrheit der Abgeordneten, die es selbst gewählt hat? Das Volk kann klagen, meinen, demonstrieren, seufzen und sich nicht interessieren. Das alles ist vorgesehen in der Demokratie. Dafür gibt es Regeln. Und selbst das Verletzen einer Regel kann noch im Regelbereich sein. Da mit einem Anliegen, mit einer Botschaft aufzufallen, ist schwierig. Und auffallen ist offenbar die Voraussetzung, um überhaupt gehört zu werden. Sprecher 1: Peter Grottian, Politikwissenschaftler und politischer Aktivist: Take 15 Grottian Auch diese Grenzbereiche, diese Form der Zuspitzung, des Protestes, des zivilen Ungehorsams, das gehört wie das Salz in die Suppe zur Demokratie. ... Autor: Salz in der Suppe oder Sand im Getriebe. Störungen sind unbeliebt bei denen, die gestört werden. Aber Störungen können etwas auslösen: Wut oder Umdenken. Vorsicht oder die Suche nach Alternativen zur behaupteten Alternativlosigkeit. Die Regierung sieht die Sachzwänge - und die Regierten haben die Fantasie, Grenzen zu überwinden. Störungen helfen den Herrschenden - eigentlich, denn Störungen zeigen ihnen, dass man mit Macht vorsichtig umgehen muss. Sie erinnern daran, dass Herrschende unter Beobachtung stehen. Und dass das Volk manchmal eigene Ideen hat. Und eben mehr Fantasie. Eine Provokation am Ort der Macht selbst, im Deutschen Bundestag ist da etwas ganz anderes: Take 17 Ströbele Was mich persönlich am meisten bewegt hat, man sieht mir das auch an, wenn man die Fernsehaufnahmen dazu anguckt, war zum Beispiel an dem Morgen, an dem zum ersten Mal in dem so genannten Kosovokrieg auch deutsche Flieger serbische Ziele in Serbien angegriffen haben. Autor: Der Bundestag sollte darüber debattieren - auch wenn es nicht auf der Tagesordnung stand. Ein entsprechender Antrag wurde abgelehnt - eine Entscheidung der Mehrheit, entgegen jeder Vernunft. Sprecher 1: Hans-Christian Ströbele Take 18 Ströbele (Fortsetzung) Und da bin ich einfach nach vorne gestürmt, was man im Bundestag gar nicht darf und habe mich ans Rednerpult gestellt, was man auch nicht darf, sondern da darf man nur reden, wenn man irgendwie eingeteilt ist von den Fraktionen und vom Präsidium und hab gesagt, so jetzt will ich hier was sagen und habe in einer sehr emotionalen Rede gesagt, das kann doch nicht sein, Deutschland führt zum ersten Mal wieder Krieg und der Deutsche Bundestag geht zur Tagesordnung über. Wir müssen jetzt darüber diskutieren. Regie: Ströbele-Rede von damals mit Take vermischen Take 19 Ströbele Ohne diese Regelverletzung hätte der Deutsche Bundestag an diesem Tag verhandelt wie ganz normal irgendwelche Themen der Tagesordnung und zwar mit der Begründung, der Außenminister, der da ja zuständig war, der hieß Joschka Fischer zufällig, und der Kanzler, die waren an diesem Tag glaube ich in Berlin oder zu einer Konferenz oder was. Das kann ja kein Grund sein, dass der Deutsche Bundestag sich damit nicht auseinandersetzt. Regie: Ströbele-Rede von damals mit Take vermischen Autor: Im Augenblick der Provokation ist der Provozierende einsam. Er heult nicht mit den Wölfen. Er steht nicht auf der Seite der Mehrheit. Er braucht Mut. Take 20 Ströbele Vor mir das ganze Auditorium mit keiner Regung im Gesicht, eiskalt und mir ist das sehr schwer gefallen. Man muss das ja sehen, ich weiß nicht, wie es anderen Menschen geht, wenn die solche Regelverletzungen begehen, das ist nicht immer vergnügenssteuerpflichtig. Das kostet manchmal Überwindung, erhebliche Überwindung und es ist auch schwierig, mental das durchzustehen, wenn man sich dagegen stellt, vor allem, wenn man das alleine oder mit ganz wenigen tut und merkt drum rum trifft man auf Kopfschütteln und Unverständnis. Autor: Kratzt eine Provokation nicht nur an der Oberfläche? Verschafft sie nicht nur einer geschundenen Seele Erleichterung für ein paar Augenblicke? Setzt sie vielleicht nur Zeichen, die schnell wieder vergessen werden? Antworten darauf gibt es nur mit dem Abstand, den die Historiker benötigen, um ihre Schlüsse zu ziehen. Sie werden irgendwann wissen, wie nachhaltig Lachsäcke und Schokoladenpistolen die politische Landschaft verändert haben. Sprecher 2: Provokation? Autor: Provokation. Zum Beispiel Bertolt Brecht. Effekt Sprecher 2: Gegen die Objektiven Wer kämpft, sagen sie, muss verlieren können Wer Streit sucht, begibt sich in Gefahr Wer mit Gewalt vorgeht Darf die Gewalt nicht beschuldigen. Ach, Freunde, die ihr gesichert seid Warum so feindlich? Sind wir Eure Feinde, die wir Feinde des Unrechts sind? Wenn die Kämpfer gegen das Unrecht besiegt sind Hat das Unrecht doch nicht recht! Unsere Niederlagen nämlich Beweisen nichts, als dass wir zu Wenige sind Die gegen die Gemeinheit kämpfen Und von den Zuschauern erwarten wir Dass sie wenigstens beschämt sind! Effekt Sprecher 1: Bertolt Brecht, 1933 Take 21 Preiser Es gibt bei allen Menschen einerseits das Streben nach Konsitzenz, nach Stabilität, nach Überschaubarkeit. Man kann auch etwas hochtrabend nach Geborgenheit sagen. Sprecher 1: Siegfried Preiser von der Sektion Politische Psychologie des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen. Take 22 Preiser (Fortsetzung) Es soll alles in Ordnung sein, man will sich verlassen können, also Verlässlichkeit, Glaubwürdigkeit. Das sind so die Stichworte, die in Richtung eines konsistenten Weltbildes gehen. Und es gibt andererseits die Freude an kleinen Abwechslungen, an Störungen, an Irritationen, an Aufregung, an Spannung, die sich allerdings in der Regel auflösen muss hinterher. Das haben wir bei einem Musikstück, das haben wir bei einem guten Drama, im Film. Am Ende gibt es irgendwie eine Auflösung. Oder es bleibt etwas, es gibt auch solche Filme oder Dramen, die am Schluss etwas offenlassen. Das ist dann etwas, was zum weiteren Nachdenken anregt, zwingt sozusagen. Da kann man nicht loslassen und sagen, ok, jetzt weiß ich, wer es war oder wer der Täter war, jetzt weiß ich, wie es ausgegangen ist. Autor: Provokateure stören auf den ersten Blick. Doch vor der Aufregung über sie sollte man bedenken, dass die Provokateure ihrer Zeit manchmal nur ein bisschen voraus sind. Zum Beispiel Peter Grottian. Als die Bankenkrise ihr kleines Berliner Vorspiel hatte, wurde Grottian bereits aktiv. Nur wenige ahnten, was Banken anrichten können. Die Herrschenden reagierten wenig milde und ließen Grottian vom Verfassungsschutz beobachten - fünf Jahre lang. In einem Interview mit der taz sagte Peter Grottian bereits im Jahre 2006: Sprecher 1: Nicht ich bin ein Staatsfeind, sondern ein Verfassungsschutz, der außerparlamentarische Initiativen wie die unsere bespitzelt. Der Verfassungsschutz untergräbt damit die Demokratie. Autor: Und: Sprecher 1: Der Verfassungsschutz ist offensichtlich eine vollkommen dilettantische und inkompetente Behörde. Autor: Sätze, die im Jahre 2006 viele zusammenzucken ließen. Einige Verfassungsschutzaffären später, im Jahre 2013, ist diese Ansicht plötzlich mehrheitsfähig. Der Provokateur hat sich als Prophet erwiesen. Wie recht er hatte, wurde Peter Grottian aber erst bewusst, als er seine Akten lesen konnte: Take 23 Grottian Wenn Sie da gesehen haben, wie Verfassungsschützer beobachten, wie sie das aufschreiben, mit einer Orthographie, dass es einem wirklich grausen kann, wenn Sie dann erleben, dass deren Optik eigentlich so eingestellt ist, dass Sie nur das Gefährlichste vom Gefährlichen bei jeder Kleinigkeit vermuten und wenn Sie dann noch wissen, dass da Leute eingestellt werden, die auch für ein paar Hundert Euro mal solche Beobachtungen machen, dann wundern Sie sich über nichts mehr. Autor: Provokationen gehören zur Politik - ebenso wie der Vorwurf, etwas sei nur eine Provokation. Von deutschen Panzern ist die Rede, die nach Saudi-Arabien verkauft werden sollen. Das gab es schon einmal: Take 24 Ströbele Als seinerzeit dieses Panzergeschäft mit Saudi-Arabien abgewickelt wurde, mit dem sich später der Untersuchungsaus beschäftigte - wenn ich da gesagt hätte, das ist mit Korruption, mit Bestechung zustande gekommen, ich wäre verbal gehängt worden, so was der edlen Bundesregierung zu unterstellen. Und später stellte sich heraus, es war aber so. Da sind seinerzeit von dem Kaufpreis von, ich glaube 460 Millionen, die Hälfte an so genannten nützlichen Aufwendungen bezahlt worden. Also die eine Hälfte war der Kaufpreis und die andere Hälfte ging Bakschisch an den, den und den. Autor: Hans-Christian Ströbele fragt sich, ob bei einer möglichen neuen Panzerlieferung an Saudi Arabien vielleicht Schmiergelder fließen - so wie einst zum Beispiel an einen Staatssekretär im Verteidigungsministerium. Take 25 Ströbele Viele empfinden das als Unverschämtheit und bösartige Unterstellung und bringen das auch zum Ausdruck, einige, weil das das nicht miterlebt haben und ihnen nicht gegenwärtig ist, dass das ja schon mal war. Und andere, weil man der Union so was ja nicht unterstellen darf oder auch anderen Abgeordneten. Autor: Ein Wort kann eine Provokation sein - im geeigneten Kontext. Heuschrecke zum Beispiel. Franz Müntefering hat das Wort benutzt. Anonyme Investoren seien Heuschrecken, hat Müntefering im Jahr 2005 gesagt. Sprecher 1: "Manche Finanzinvestoren verschwenden keinen Gedanken an die Menschen, deren Arbeitsplätze sie vernichten - sie bleiben anonym, haben kein Gesicht, fallen wie Heuschreckenschwärme über Unternehmen her, grasen sie ab und ziehen weiter. Gegen diese Form von Kapitalismus kämpfen wir." Autor: Müntefering war damals SPD-Vorsitzender und die rot-grüne Bundesregierung hatte einige Gesetzesänderungen beschlossen, die eben jenen "Heuschrecken" erst Einlass gewährte. Der Verdacht liegt nahe, dass der Heuschreckenvergleich gerade davon ablenken und beweisen sollte, dass die SPD dennoch die Partei der Arbeiter und Angestellten sei. Die Partei brauchte dringend einen Imagewechsel. Der Ablenkungsversuch war nur bedingt erfolgreich. Regie: Effekt: Autor: Ein junger Politiker sagt Sätze, die sich einprägen: Sprecher 1: Ich halte nichts davon, wenn 85-Jährige noch künstliche Hüftgelenke auf Kosten der Solidargemeinschaft bekommen. Autor: Er sagt auch: Sprecher 1: Die Erhöhung von Hartz IV war ein Anschub für die Tabak- und Spirituosenindustrie. Autor: Und den Armen im Lande gibt er einen Rat, wie sie der Altersarmut vorbeugen können: Sprecher 1: Deshalb plädiere ich dafür, dass man vor allem auf eines setzt, nämlich Eigentumsbildung und das man auch als junger Mensch anfängt zu sparen und Geld zurücklegt. Autor: Der CDU-Politiker Philipp Missfelder macht sich mit solchen Aussagen bekannt. Waren es Provokationen? Ein lang vereinbartes Interview lässt er kurzfristig absagen. Effekt: Sprecher 2: Provokation? Autor: Provokation. Zum Beispiel Kurt Tucholsky Sprecher 2: Politik kann man in diesem Lande definieren als die Durchsetzung wirtschaftlicher Zwecke mit Hilfe der Gesetzgebung. Die Politik war bei uns eine Sache des Sitzfleisches, nicht des Geistes. Sie wurde in Bezirksvereinen abgehaspelt und durchgehechelt, und gegen den Arbeiter standen alle Andern zusammen. Vergessen war der Geist, auf dessen Grundlage man zu Vorschlägen und Gesetzen kam, vergessen die Gesinnung, die, Antrieb und Motiv in einem, erst verständlich und erklärbar machte, was man wollte. Der Diplomat alter Schule hatte abgewirtschaftet, "er besitzt keinen modernen Geist", sagten die Leute; nun sollte der Kaufmann an seine Stelle treten. Aber der besitzt ihn auch nicht. Eine wilde Überschätzung des Wirtschaftlichen hob an. Sprecher 1: Kurt Tucholsky, 1919 Take 26 Brüderle Deutschland braucht Viagra, nicht Valium. Autor: Sagt Rainer Brüderle. Also, hat er einmal gesagt. Das Publikum unterscheidet übrigens: Es geht nicht nur darum, was jemand sagt, sondern auch, wer es sagt. So sind Dieter Bohlen ganz andere Provokationen erlaubt als Rainer Brüderle. Die beiden werden also doch nicht miteinander verwechselt. Take 26 Brüderle Deutschland braucht Viagra, nicht Valium. Autor: Der "Klub der polnischen Versager" und eine Kaschemme namens "Muschi Obermaier" in Berlins Mitte. Ein paar Meter davon entfernt residieren die Julis, die Jugendorganisation der FDP. Lasse Becker ist Vorsitzender der Julis: Take 27 Becker Ich glaube, dass Dirk Niebel sich für eine Alternative zu Philipp Rösler hält. Ich glaube aber auch, dass nur er das in der FDP glaubt. Das war ein Satz, über den habe ich vorher nicht nachgedacht, den habe ich in dem Moment einfach gesagt. Es war auch nicht irgendein Plan vorher. Ich wusste, ich will eine kritische Äußerung dazu machen, ich habe auch über ähnliche Sachen schon intern manchmal gewitzelt, aber hatte es noch nicht gesagt. Und dann war das der Punkt. Auf der anderen Seite gibt es eben auch Momente, wo man über das Ziel hinausschießt. Autor: Die Provokation kann den demokratischen Ablauf überholen. Es ist schneller provoziert, als ein Leitantrag geschrieben, als eine Partei gegründet, als eine Wahl gewonnen. Ist die Provokation deshalb also doch schlecht? Effekt: Autor: Demokratie braucht Aufmerksamkeit. Sonntagsreden und anderes Wortgeklingel sorgen selten dafür. Demokratischer Alltag hat eine Nebenwirkung: Er kann langweilig sein. Zuspitzung ist eine Möglichkeit, um mit den eigenen Thesen und Überzeugungen gehört zu werden. Und manchmal helfen auch ein paar Begriffe, die in der politischen Rede eher ungewohnt sind. Wenn einer Ministerpräsidentin politische Demenz unterstellt wird. Oder wenn den eigenen Parteifreunden ein übergroßes Ego bescheinigt wird. Lasse Becker von den Jungen Liberalen hat das getan. Und er weiß, danach wird nicht nur applaudiert: Take 28 Becker Wenn man jedes "Da ist jemand politisch dement" oder "egoman" hinterher auf die Goldwaage legt, da bekommt man vollkommen glatt geschliffene, vermainstreamte Politiker, die nur noch zielführend in Fremdwörtern sprechen, die idealerweise niemand mehr in der Bevölkerung versteht. Take 29 Becker Als ich mal der Führungsspitze der FDP oder Teilen der Führungsspitze vollkommenes Versagen vorgeworfen habe, während dieses "vollkommene Versagen" nicht zwingend ein über das Ziel hinaus schießen gewesen, aber in einer Rede ist dann aus dem vollkommenen Versagen die Verkürzung, ich hatte halt nicht so viel Redezeit, "Vollversager geworden". Dieses "kommen" in diesem Satzaufbau hat durchaus einen Unterschied gemacht. Insofern, da kommt es schon mal vor, dass man über das Ziel hinausschießt. Autor: Es ist nicht die Politik allein, die Zuspitzung will, um gehört zu werden. Es sind auch die Medien, die Zitate lieben, die "knackig" genannt werden. Hörer, Leser, Zuschauer sollen interessiert werden. Und Hörer, Leser, Zuschauer interessieren sich eben nicht für verbale Routine, sondern für klare Aussagen, für provozierende Äußerungen, für Neues, Unerhörtes - oder wenigstens etwas, was sich so anhört: Take 30 Becker Ich hatte mal einen Anruf, vom Fernsehen war das, wo mir gesagt wurde, wir suchen jemanden für eine Sendung zum Thema Rente. Wollen Sie nicht sagen, dass Ältere früher in Rente gehen sollen, damit die Jungen früher in Arbeit kommen. Daraufhin habe ich gesagt, dass ist eine Milchmädchenrechnung. Ich bin Volkswirt, ich weiß, dass diese Rechnung nicht aufgeht, sondern dass das mehr kostet am Ende. Daraufhin wurde mir von meinem Gesprächspartner, übrigens auch öffentlich-rechtlicher Rundfunk in diesem Fall, wurde mir gesagt, Herr Becker, Ihre Meinung sehen wir halt anders hier in der Redaktion, aber wir denken noch mal drüber nach. Eine halbe Stunde später bekam ich den Anruf, dass man jemand anderen gefunden hat, der das sagt, was gewünscht war. Sprecher 2: Provokation? Autor: Provokation. Kurt Tucholsky: Sprecher 2: Es unterhielten sich ein Katholik und ein Jude über religiöse Fragen. "Eines verstehe ich nicht", sagte der Katholik. "Wie kann man als gebildeter Mensch glauben, die Juden seien durch das Rote Meer gezogen?". "Sie mögen recht haben", sagte der Jude. "Wie kann man aber glauben, Jesus Christus sei nach dem Tode auferstanden?" "Das ist etwas anderes", sagte der Katholik. "Das ist wahr". Sprecher 1: Kurt Tucholsky, 1931 Sprecher 2: Vor Geistlichen darf man nicht Gott lästern. Vor Nationalen darf man nichts gegen das Vaterland sagen. Vor Kapitalisten nichts gegen die Nase der Börse, die tausend Nasen hat und keine...Die Empfindungen könnten verletzt werden. Aber ich habe noch nie gehört, dass in Deutschland irgendetwas getan wird oder unterblieben ist, weil sich Pazifisten in ihrem Empfindungen verletzt fühlen. Sprecher 1: Kurt Tucholsky, 1928 Autor: Was ist nun Provokation, was nicht? Das hängt von der eigenen Provokationstoleranz ab. Und von dem, der sich in der Provokation versucht. Provokationen nämlich nutzen sich ab. Und der Provokateur wird einfach als Provokateur abgetan. In einer offenen Gesellschaft ist es ohnehin schwerer zu provozieren, als in einem Land mit geschlossener Weltanschauung. Dort verfehlen Provokationen fast nie ihre Wirkung. Und hierzulande - da wird schon manche Wahrheit einfach zur Provokation erklärt. Das erspart inhaltliche Auseinandersetzungen. Ach ja; und manchmal ändern sich die Zeiten: Dann gilt jemand, der die Provokateure von früher kennt, als belesen. Das mag daran liegen, dass man toten Provokateuren leichter zustimmen kann. Aber wenigstens eine Provokation wirkt auch nach Jahrzehnten noch: Sprecher 2: Soldaten sind Mörder. Autor: Woran das wohl liegen mag? Vielleicht sind die Provokationen wirkungsvoll, die nicht nur Zeichen setzen, sondern die etwas aufdecken - eine Wahrheit zum Beispiel. Effekt: Take 31 Chaos Take 32 Beckstein Wer so saudumm daherredet, sollte nicht in einer anständigen Weise meinen, dass er Demokrat wäre. Take 33 Strauß Ach, halten Sie doch den Mund, Sie Trottel. Wenn Sie schon kein Hirn haben, dann halten Sie das Maul wenigstens. Autor: Es ist nicht auszuhalten. Es fehlt etwas: Ruhe. Einfach mal die Klappe halten. Denn: Nicht jeder, der dummes Zeug redet, ist ein Querdenker. Atmo-Collage (vom Anfang): verschiedene entspannende Geräuschen: zum Beispiel leises Vogelgezwitscher, kleine Meereswellen, ein Fluss, Wind - alles verbunden mit netter Harfe (zum Beispiel "Keltische Musik Band") Sprecher v.D.: Lass es krachen Die Kunst der politischen Provokation CD 34 Stiegler Mit vollen Hosen stinken und dann auch noch frech sein. Sprecher v.D.: Ein Feature von Thomas Klug Atmo-Collage (vom Anfang): verschiedene entspannende Geräuschen: zum Beispiel leises Vogelgezwitscher, kleine Meereswellen, ein Fluss, Wind - alles verbunden mit netter Harfe (zum Beispiel "Keltische Musik Band") Sprecher v.D.: Es sprachen: Joachim Schönfeld, Markus Hoffmann und der Autor Ton: Ralf Perz Regie: Beatrix Ackers Redaktion: Constanze Lehmann Produktion: Deutschlandradio Kultur 2013 1