COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandrundfahrt Leipziger Mischung - Gartenvielfalt in der sächsischen Schreberstadt Von Stefanie Müller-Frank Sendung: 27. Oktober 2012, 15.05h Ton: Christiane Neumann Regie: Karena Lütge Redaktion: Margarete Wohlan Produktion: Deutschlandradio Kultur 2012 Kennmelodie Autorin Leipziger Mischung. Was sich dahinter verbirgt? Um ehrlich zu sein: einfach eine bunte Wildblumenwiese. Also ein Samentütchen mit 45 verschiedenen Sorten Blumen, Kräutern und Gräsern aus der Region. Natürlich samt den Zutaten für das berühmte Leipziger Allerlei wie grüner Spargel, wilde Möhre oder Platterbse. Vereint in einem Samentütchen und clever vermarktet als Souvenir aus der "heimlichen Gartenhauptstadt". Was in Leipzig längst blüht, ist eine bunte Vielfalt an Gartenprojekten unterschiedlichster Prägung. Und das ganz ohne Marketingstrategie. SpvD Leipziger Mischung. Gartenvielfalt in der sächsischen Schreberstadt. Eine Deutschlandrundfahrt von Stefanie Müller-Frank. Atmomix Vögel, gießen - dann Musik instrumental Sprecher Ein Sauerampfer auf dem Damm Stand zwischen Bahngeleisen, Machte vor jedem D-Zug stramm, Sah viele Menschen reisen. Und stand verstaubt und schluckte Qualm Schwindsüchtig und verloren, Ein armes Kraut, ein schwacher Halm, Mit Augen, Herz und Ohren. Sah Züge schwinden, Züge nahn. Der arme Sauerampfer Sah Eisenbahn um Eisenbahn, Sah niemals einen Dampfer. Joachim Ringelnatz: Arm Kräutlein Autorin Die Gemeinde der Großstadtgärtner wächst. Wo ließe sich das besser beobachten als in Leipzig, der Heimatstadt der Schrebergärten? Nicht nur die Nachfrage nach den klassischen Lauben ist hier ungebrochen, überall sprießen auch neue Formen urbaner Landwirtschaft aus dem Betonboden: Nachbarschaftsgärten, interkulturelle Gärten oder Gemeinschaftsgärten. Die einen mit Lehmofen und Insektenhotel, andere mit sächsischen Zwerghühnern oder einem zum Café umfunktionierten Eiswagen. Und ob dort nun jeder sein eigenes Beet bewirtschaftet oder das Gemüse gemeinsam angebaut wird, ob dort nur Nutzpflanzen blühen oder auch Wildstauden - in jedem Garten findet sich eine eigene Utopie vom Großstadtgrün. Nicht zu vergessen die Guerillagärtner: Sie brauchen kein abgestecktes Beet, sondern bepflanzen alles, was sie direkt vor ihrer Haustür finden: Baumscheiben, Betonkübel, vergessene Hinterhöfe und notfalls auch Verkehrsinseln. Das aber lieber nach Einbruch der Dunkelheit. I. DEN BETON ZUM BLÜHEN BRINGEN - GUERILLA GARDENING Atmo 1 Verkehrslärm Autorin Ein Spätsommerabend in Leipzig. Die Dämmerung senkt sich über die Georg-Schumann-Straße - eine jener Ausfallstraßen aus Ampeln und Plakatwänden, die nicht zu enden scheinen. Zu Fuß ist hier fast niemand unterwegs. Vielleicht liegt das aber auch am Sonntagabend: Es ist Zeit für den Tatort - und ein guter Zeitpunkt für die Aktion der Stadtpflanzer. Atmo 2 Transporter bremst, Motor aus, Schiebetür geht auf Autorin Zu viert sind sie heute unterwegs: Drei Männer und eine Frau zwischen 20 und 40, dunkel, praktisch und warm angezogen - samt Spaten, Schaufeln, Müllsäcken und einer Ladefläche voller Pflanzen. Roland parkt den Transporter in der zweiten Reihe und stellt das Warnblinklicht an. Jetzt heißt es erstmal: das Gelände erkunden. O-Ton 1 Stefan Hier ist der Holgesplatz, das sogenannte Arbeitsamt. Da drüben die Straßenbahnhaltestelle, wo die Leute ankommen und hier rüberlaufen zum Amt. So, und ich habe mir gedacht, dass wir irgendwo auf dem Weg von der Straßenbahn bis zum Arbeitsamt irgendwo die Pflanzen anbringen. Dann ist es nicht ganz so die Tristesse, wenn die Leute zum Arbeitsamt laufen. Aber das ist wieder typisch: Der ganze Platz: Beton. (806, 5.46-6.45) Atmo 3 rund ums Schild und Atmo 4 Pflastersteine aufreißen Autorin Stefan überquert zügig den Platz, schaut sich die Laternenmasten an, eine Werbesäule - aber keine einzige, noch so winzige Stelle im Asphalt zwischen Hauswänden und Bordstein ist ausgespart. Der Informatiker schüttelt ungläubig den Kopf. Seit vier Jahren organisiert er nach Feierabend Guerilla-Gardening-Aktionen - eine derartige Trostlosigkeit ist ihm aber noch nicht untergekommen. Neben zwei Mülltonnen an der Straßenbahnhaltestelle hat sich Unkraut breit gemacht. Stefan geht in die Hocke, zieht eine kleine Schaufel aus der Hosentasche, klappt sie auf und versucht, einige der Pflastersteine zu lockern. O-Ton 2 Stadtpflanzer diskutieren Das sieht nach Arbeit aus. Das ist ziemlich schmal hier der Streifen. - Nehmen wir die Stelle? - Na ja, hier ist sonst nichts. - Unkraut, Schnapsflaschen, oh ne! (807, 1.14) Ich glaube, wir brauchen eine Kooperation mit der städtischen Müllabfuhr. (807, 3.25) Atmo 5 Unkraut ausreißen Autorin Während Patrick das Unkraut aus dem Boden reißt, holen die anderen Werkzeug und Müllsäcke aus dem Transporter. Franzi klaubt Kronkorken, Coladosen und Glasscherben zusammen, Stefan bearbeitet mühsam mit einem Pflasterstein den Boden. Aber niemand an der Straßenbahnhaltestelle schaut auf. Keiner der Passanten bemerkt - oder will bemerken, was hier passiert. Der Stadtpflanzer ist fassungslos: Schließlich beackert er hier ja nicht seinen eigenen Garten, sondern fremde Gehwege. Atmo 6 Erde auflockern und Atmo 7 Straßenbahn fährt vorbei O-Ton 3 Stefan Ein merkwürdiges Desinteresse. Wir sehen ja da drüben Leute stehen, die interessieren sich überhaupt nicht dafür, was wir hier machen. Sehr merkwürdig. (Dabei stehen wir direkt an der Bahnhaltestelle.) Ja, und es wird auch seltsamerweise nicht danach gefragt, was wir hier machen. Es wird nicht nach dem Zweck gefragt. Das ist merkwürdig. (805, 2.50) Autorin Plötzlich aber bleibt doch ein Mann mit Fahrrad stehen. Er hat einen Eimer Wasser mitgebracht und stellt ihn neben dem schmalen Streifen Erde ab. Von Guerilla Gardening hat er noch nie etwas gehört - und doch, erzählt Holger Simmert, wusste er sofort, was hier vor sich geht. Und wie er die Stadtpflanzer ganz praktisch unterstützen könnte. O-Ton 4 Hoger Simmert Ich wohne hier ums Eck und habe das hier gerade gesehen und fand das ganz spannend, dass hier eine kleine Pflanzaktion startet. Ich bin einfach vorbeigekommen - und da dachte ich mir, wenn ich hier ums Eck wohne, dann kann ich ein bisschen Wasser vorbeibringen. Ich habe gleich einen Eimer geholt, damit das hier ordentlich zur Sache gehen kann. (804, 8.50) Autorin Holger Simmert begutachtet die Kräuter, Pflanzen und Gräser, die Stefan und seine Mitstreiter aus den Milchkartons kippen und in den schmalen Streifen Erde vor die Werbeplakatwand setzen: Basilikum, Petersilie, gelbe Targetes. Sogar Erdbeeren sind dabei, die werden allerdings erst nächstes Jahr Früchte tragen. Ihre Pflanzen sammeln die Guerillagärtner bei Großmärkten ein, wo sie oft weggeworfen werden, wenn niemand sie kaufen will. Aber so gut sich ein Mangold als Zierpflanze an der Ausfallstraße auch macht - zur Ernte geeignet ist er nicht. Streng genommen gilt das unangemeldete Begrünen von öffentlichem Raum sogar als Ordnungswidrigkeit. Deshalb setzen die Leipziger Guerillagärtner ihre Aktionen auch lieber abends an, stellen sich nur mit Vornamen vor - und halten die Augen offen für Polizei. O-Ton 7 Stefan (Hat euch schon mal eine Streife erwischt?) Wir haben sie immer früher gesehen als die uns. (lacht) Ich habe mal gelesen, dass die das als Ordnungswidrigkeit verfolgen. Deshalb legen wir die Steine auch immer drum herum. Wenn wirklich jemand ein Problem damit hat, dann kann er die Steine nehmen und wieder da reinstecken. Dann können sie wieder alle glücklich auf ihren Betonstraßen laufen. Wir legen es immer schön daneben. (807, 13.30) Atmo 8 Erdbeeren anpflanzen Autorin Meistens aber freuen sich die Leute über das Grün, erzählt Stefan von den Stadtpflanzern, während er die Erdbeeren in die Erde setzt. Und wenn einmal ein Anfang gemacht ist, dann setzen die Anwohner oft auch noch eigene Lieblingsblumen dazu, bepflanzen Baumscheiben und Betonkübel. In manchen Stadtteilen sieht man auch bunt umstrickte Brückengeländer und Fahrradständer. Guerilla Knitting nennt sich das. Die Stadt aber stellt lieber Werbetafeln auf den Gehweg, sagt Stadtpflanzer Stefan. Das ist lukrativer. O-Ton 8 Stefan Dann werden mir von den Behörden auch Steine in den Weg gelegt in Form von Genehmigungen, in Form von Versicherungen. Es könnte ja irgendwas passieren. Und eben auch in Form einer Sondernutzungsgebühr. Statt die Leute mit einzubeziehen und als Stadt zu sagen: Okay, ich freue mich, dass die Leute Verantwortung übernehmen. Das wird nicht unterstützt. (807, 15.05) Atmo 9 angießen Autorin Der Informatiker winkt ab, er will schnell wieder weg hier. Und vielleicht auch lieber nicht über Umstände sprechen, die er nicht ändern, wo er nicht einfach selbst mal Hand anlegen kann. Vorher müssen aber noch die Erdbeeren angegossen werden, damit sie bis morgen früh nicht verkümmern, wenn hier die Menschen auf dem Weg zum Arbeitsamt vorbeikommen. O-Ton 9 Stefan Wenn sich einer freut, dann hat es sich eigentlich schon gelohnt. (807, 12.50) MUSIK 1 Seed: Aufstehn II. KOHLRABI IN MILCHKARTONS - NEUE GARTENFORMEN Autorin In Leipzig stand einst der erste Schrebergarten, heute verteilen sich auf das Stadtgebiet mehr als 39.000 Parzellen in 278 Kleingartenanlagen. Damit machen die Schrebergärten rund 30 Prozent der grünen Lunge Leipzigs aus - neben privatem Grün, Friedhöfen, Parks und Wäldern. Die Nachfrage nach Kleingärten ist ungebrochen, aber je nach Stadtteil unterschiedlich. Während einige Laubenpieperkolonien am Stadtrand mit Leerstand zu kämpfen haben, weil keine jungen Familien nachrücken, gibt es in anderen Vierteln lange Wartelisten. Wer in der Stadt wohnt und kein Haus mit Garten besitzt, muss aber nicht mehr unbedingt in einen Kleingartenverein eintreten, um eigenes Gemüse anzubauen. Im Leipziger Westen zum Beispiel hat sich eine Gruppe junger Leute zusammengetan, auf einer leerstehenden Brachfläche eine urbane Landwirtschaft gegründet und sie auf den Namen "annalinde" getauft. Bereits nach einem Jahr sprießt hier - versteckt zwischen Hinterhäusern - der Mais aus den Beeten. Geschützt von hohen Bäumen baumelt eine Hängematte zwischen Kompostklo und Hühnerhaus. Atmo 10 Weckgläser auswaschen und Atmo 11 Gasbrenner an Autorin Gegärtnert wird hier gemeinsam - und zwar nicht in der Erde, sondern in Hochbeeten, Reissäcken und ausrangierten Milchtüten. Zum einen ist nicht komplett auszuschließen, dass der Boden hinter dem Felsenkeller mit Schadstoffen belastet ist. Vor allem aber müssen die Beete mobil sein, denn das 1.400 qm große Grundstück in Plagwitz gehört dem Liegenschaftsamt. Und der Zwischennutzungsvertrag läuft nur bis Herbst 2013. Danach könnte es also sein, dass die Großstadtgärtner samt ihren mehr als 100 Beeten, drei Foliengewächshäusern, den sächsischen Zwerghühnern und Bienenstöcken umziehen müssen. Das aber ist noch ein ganzes Jahr hin. Gerade treibt die Gärtner von "annalinde" eine viel handfestere Sorge um: Aus den Gewächshäusern leuchten die Tomaten, in einem Hochbeet protzen pralle, dunkellilafarbene Auberginen. Sprich: Das Gemüse ist reif - und will geerntet, verkocht oder konserviert werden. Atmo 11 Gasbrenner an Autorin Ob die Junggärtner nicht mit einer solchen Ernte zu rechnen gewagt haben oder das Verarbeiten schlicht nicht auf ihrem Pflanzplan vermerkt war - jetzt müssen all die Bohnen und Gurken jedenfalls eingemacht werden, bevor sie verkommen. Also hatte sich Juri Roessler bei seiner Großmutter in Dresden angemeldet, um bei ihr zu lernen, wie man eigentlich saure Gurken einlegt. O-Ton 10 Juri Roessler Mit der war ich drei Stunden in der Küche, die hat sich natürlich gefreut und da haben wir das Rezept halt gekocht und dann hat sie mir gleich noch den Einmachtopf dazu geschenkt und ganz viele Kräuter, ein paar Gläser. Und damit mache ich hier halt weiter. (725, 4.28) Atmo 12 Weckgläser auf und spülen Autorin Der 26-Jährige steht an einer selbstgebauten Spüle aus zwei Plastikwannen und putzt sorgfältig Weckglas für Weckglas, die Gummiringe schwimmen in einem großen Topf auf dem Gaskocher hinter ihm. Heute ist Premiere für die Sommerküche: Zum ersten Mal wird hier im Garten von "annalinde" eingekocht. Juri Roessler hat zwar Gartenbau studiert, aber Einwecken wird da nicht geprüft. Und auch die anderen drei jungen Männer, die den mobilen Nutzgarten 2011 angelegt haben, können sich nicht daran erinnern, jemals eingemacht zu haben. O-Ton 11 Juri Roessler Meine Mutti hat das wohl noch in der Kindheit gemacht, aber im Familienleben nicht mehr. Aber da ich mich dafür interessiere, dachte ich, das hat eine Generation übersprungen und jetzt ist es wieder aktuell. Ich meine, wir haben halt diesen Garten und die ganzen Sachen, die hier wachsen. Damit wir halt auch wissen, was man damit macht, muss man eben bei Großmutti schauen, die noch aus einer Zeit stammt, wo die Leute noch nicht alles der Industrie überlassen haben, was die Ernährung angeht. (726, 0.18) Atmo 13 Kräuter holen Autorin Genau darum geht es den Großstadtgärtnern: Gemeinsam wollen sie lernen, wie man lokal und ökologisch Lebensmittel herstellt. Und sie wollen sich die alten Kulturtechniken - vom Säen, Pflanzen und Ernten bis hin zum Verarbeiten und Konservieren - wieder aneignen. Zu den offenen Gartentagen ist jeder eingeladen, dazu zu kommen und sein Wissen einzubringen. Philipp Scharf, ebenfalls studierter Garten- und Landschaftsbauer, geht durch die Beetreihen, um frisches Bohnenkraut zu ernten. O-Ton 12 Philipp Scharf Das ist natürlich auch eine ganz neue Herausforderung für uns gewesen: Also erst Gemüse anbauen - und alles wächst und gedeiht - und plötzlich werden die Sachen reif. Dann muss man irgendetwas damit anfangen können. Damit habe ich schon gerechnet, aber man hat das irgendwie nicht so auf dem Schirm gehabt. Ich habe vielleicht auch ein bisschen darauf vertraut, dass sich jemand findet, der sagt: Okay, ich komme jetzt täglich vorbei und ernte und koche das ganze Zeug ein. Das war aber bis zum Schluss nicht der Fall, also mussten wir ran, zu Hause experimentieren, Erfolge und Niederlagen wegstecken. (727, 3.41) Atmo 14 mit Gartenschlauch nassspritzen Autorin Auch wenn das Ergebnis mal besser, mal bescheidener ausfällt: An drei Tagen in der Woche gibt es im Garten für Besucher etwas zu essen, das aus eigenem Anbau stammt - sei es eine Quiche mit Zucchini, ein Gurkensalat, Brombeerquark oder Apfelkuchen. Das Kochen übernehmen reihum Freunde - ehrenamtlich. Wie auch die Schichten im Eiswagen. Schließlich geht es nicht darum, die Ernte selbst mit nach Haus zu nehmen, erklärt Jakob Ottilinger, sondern sie den Leuten anzubieten, die in den Garten kommen. Dafür steht er an einem heißen Spätsommersamstag auch mal fünf Stunden im Eiswagen, kocht Kaffee und spült. Zwischendurch ist dann mal eine Abkühlung fällig. O-Ton 13 Jakob Ottilinger Es geht natürlich darum, wenn wir Gemüse anbauen, dass man auch den Kreis schließt und das auf den Teller bringt. Und das ist das Wichtigste auch, um den Leuten verständlich zu machen, was das hier überhaupt ist. Und es ist eigentlich auch die schönste Arbeit. (735, 5.10) Atmo 15 am Eiswagen Autorin Eine Arbeit, die ihn in Vollzeit beansprucht. Jakob Ottilinger hat den Garten mit einem Freund zusammen gegründet. Studiert hat er Medienpädagogik, jetzt ist er arbeitslos, bei "annalinde" stemmt er das Kulturprogramm - ob Gartendinner, Konzerte oder Parties in umfunktionierten Industriegebäuden. Alles ehrenamtlich. Am liebsten aber baut und ackert Jakob Ottilinger draußen im Garten mit. O-Ton 14 Jakob Ottilinger Wir versuchen einen Raum zu schaffen, den es so in der Öffentlichkeit nicht gibt. Es geht ja schon auch um zukünftige Stadtentwicklung, die Vision, dass eine Stadt auch anders aussehen kann. Und dass Räume von Leuten auch mitgestaltet werden können. Das gibt es einfach zu wenig. Deshalb versuchen wir hier im Kleinen einen Raum zu schaffen, wo das gelebt werden kann. (735, 11.50) Atmo 16 Kaffee bestellen Autorin Eine junge Frau kommt zu ihm an den Eiswagen und bestellt einen Cappuccino. Sie wohnt und arbeitet in der Nachbarschaft, schaut regelmäßig hier vorbei und bringt den Hühnern ihr altes Brot mit. Seit diesem Jahr beackert sie mit fünf Freunden auch einen Garten. Keine Schrebergartenparzelle, sondern einfach eine Streuobstwiese zwischen Wohnhäusern. O-Ton 15 Jeanine Furtenbacher Also hier in Leipzig kann man schon mitten in der Stadt einen bekommen, aber die sind wirklich alle so schnell weg. Und den wir haben, das ist eher Stadtrand. Also unsere Nachbarn sind supernett, die helfen uns immer beim Gießen, aber da sind nur Wohnhäuser daneben. Das ist halt das Gute daran: Wir müssen keine Vereinssitzungen machen, sondern wir können einfach so pflanzen wie wir wollen. (728, 0.14) Autorin Wildes Kleingärtnern sozusagen: Jeanine Furtenbacher wollte gerne in der Erde wühlen, mit den Kindern im Gras liegen und Glühwürmchen gucken, wie sie sagt. Die Sozialpädagogin ist im zehnten Monat schwanger, jeden Moment könnte ihr Kind zur Welt kommen. Trotzdem wollte sie heute unbedingt am Einmachworkshop teilnehmen. Atmo 17 Senfkörner dazu O-Ton 16 Jeanine Furtenbacher Und hier kommen wir größtenteils her, um zu gucken, was kann man noch besser machen. Die Jungs machen ja zum Beispiel viel mit Stroh. Die legen viel Stroh aus und ranken viel hoch. Wenn man sich das aus Büchern lernt oder aus dem Internet - das ist mir hier einfach lieber, hier kann man auch mal nachfragen. Hier kann ich alles mal live machen. Ist besser als wenn ich das alles lese und zu Hause nachmache. (728, 1.10) Autorin Die meisten, die in den Garten kommen, wollen nicht nur Kaffee trinken, sondern auch selbst Hand anlegen - ja körperlich arbeiten, erzählt Jakob Ottilinger. Also den Kompost umgraben oder ein Hochbeet bauen. Bei "annalinde" ist jede Hand willkommen. Schließlich ist ein offener Garten nur zu stemmen, wenn regelmäßig zehn bis fünfzehn Leute aus der Nachbarschaft mithelfen. Aber auch die einsamen Stunden im Garten sind nicht zu unterschätzen. O-Ton 17 Jakob Ottilinger Also ich glaube, Philipps Lieblingsstunden sind die Morgenstunden, wo man gießt, weil man da den Garten auch für sich hat. Die schönsten Stunden sind wirklich die, wo man alleine hier ist. Also wenn ich den Caféwagen einräume und zwei Stunden niemand hier ist wie heute Mittag. Und ich lege mir Musik auf und habe meine Ruhe beim Abspülen. Dann ist es wirklich entspannt. (735, 4.10) MUSIK 2 The tallest man on earth: The Gardener III. EINE GRÜNE OASE IN DER STADT - LEBENSRAUM GARTEN Atmo 18 Vögel im Stadtgarten Autorin Wer gärtnert, liebt die frühen Morgenstunden - wenn die Vögel singen, man mit der Gießkanne oder dem Gartenschlauch durch die Beete streift und hören kann, wie die Stadt um einen herum langsam erwacht - wenn noch keine Kinder laut kreischend zu den Kaninchen rennen und das Gartentor noch geschlossen ist. Für diese Momente steht Frank Vogel eine Stunde früher auf, steigt auf sein Fahrrad und radelt rein nach Leipzig. Ist er im Stadtgarten Connewitz angekommen, setzt er erstmal heißes Wasser auf. Atmo 19 aufschließen und Gasherd an O-Ton 18 Frank Vogel Kaffee kochen, Tasse Kaffee trinken, in Ruhe erstmal durch den Kopf gehen lassen, was denn am Tag so abläuft, die Kaninchen füttern. Aber in erster Linie mal eine halbe Stunde Ruhe, wo überhaupt niemand da ist. Und dann geht's halt los. (705, 26.10) Autorin Frank Vogel ist von Beruf her kein Gärtner, sondern hat Flugplätze gebaut. Aber schon als Kind hat der 58-Jährige seinen Großeltern auf dem Feld geholfen. Auch später hat er sich immer zuerst ein Stück Natur zum Ackern gesucht - und erst danach eine Wohnung. Kein Schrebergarten, sondern ein Grundstück, wo er sein eigener Herr sein konnte, wie er sagt, und sich nicht der Satzung unterordnen musste. Als er arbeitslos wurde, fragte Frank Vogel beim Ökolöwen - dem Umweltbund Leipzig - an, ob er nicht ehrenamtlich im Stadtgarten Connewitz mithelfen könne. Heute ist er beim Umweltbund als Gärtner angestellt, kümmert sich um den Anbau, um Besucher und den Lehmofen und hält regelmäßig Gartensprechstunden ab für die Kleingärtner aus den umliegenden Schrebergartenkolonien. Atmo 20 Kaffee aufbrühen Autorin Schon 1934 war das Grundstück als Schulgarten für eine Mädchenerziehungsanstalt angelegt worden und wurde anschließend von der DDR weitergeführt. Nach der Wende verwilderte das Grundstück, bis der Umweltbund Leipzig es 1994 in Pacht übernahm. Im vergangenen Jahr aber stand plötzlich alles auf der Kippe: Der sächsische Immobilienbetrieb, also der Grundstücksbesitzer, wollte die Fläche verkaufen. Mit Hilfe von Spenden aus der Nachbarschaft konnte der Umweltbund den Stadtgarten aber schließlich erwerben. Im Gegensatz zum Gemeinschaftsgarten "annalinde" ist die Zukunft hier also gesichert. Im Frühjahr war Frank Vogel mal bei den Junggärtnern im Westen zu Besuch - und zunächst nicht sicher, was er von ihrer Art der Zwischennutzung halten sollte. O-Ton 19 Frank Vogel Was würdest du sagen, wenn du hörst: Die ziehen in leeren Milchtüten Salatpflanzen an? Sieht grottenhässlich aus, was wollen sie damit bezwecken? In leeren Postcontainern. Mit einer Palette unten drunter. Was soll das Ganze? Ich war schon reserviert. Ich dachte: Na gut, haben sich irgendwelche junge Leute wieder irgendwas ausgedacht und so. (705, 5.36 - Stimme oben) Aber ich habe mich dort eines besseren belehren lassen müssen. Es ist eine völlig neue Art zu gärtnern auf engstem Raum. Mit sehr, sehr viel Erfolg. (705, 4.58) Autorin Unter einem Garten versteht er dann aber doch etwas anderes: O-Ton 20 Frank Vogel Ich muss mal sagen: Annalinde ist kein Garten in dem Sinne. Das ist - ein Stück Brachland gewesen, mittlerweile sehr schön hergerichtet, auch übersichtlich. Aber halt mobil. Sodass ich innerhalb relativ kurzer Zeit von A nach B umsiedeln kann. (705, 10.31) Als Gartenersatz, will ich mal sagen. (705, 11.35) Atmo 21 an Pumpe Autorin Ein Schrebergärtner wiederum würde wohl zögern, den Stadtgarten von Frank Vogel als Garten im eigentlichen Sinne zu bezeichnen. Ja, ihn vielleicht sogar unordentlich finden: Nutzpflanzen wachsen hier neben Wildstauden, die man auch mal ausblühen lässt, damit die Insekten auch was von ihnen haben. Und dazu das ganze Unkraut: Brennnesseln, Schafgarbe, Löwenzahn. Das lieben die zwei Kaninchen. O-Ton 21 Frank Vogel Der Garten hier ist weitgehend naturnah gehalten. Also das, was für einen Kleingärtner hier nebenan als Unordnung vorkommen würde, das ist hier durchaus gewollt. Das ist keine Unordnung, sondern das ist eine Mischkultur: Möglichst viele Pflanzen auf engstem Raum. Die Pflanzen aussamen lassen, Neues wachsen lassen, dort, wo sie ursprünglich von der Natur hingeweht wurden. Nicht jetzt fünf Quadratmeter Salat, drei Quadratmeter Kohlrabi, dazwischen ein betonierter Weg - sondern einfach mal wachsen lassen. (704, 15.44 - Stimme oben) Atmo 22 Kinder toben an der Pumpe Autorin Dass es im Stadtgarten Connewitz auch wildere und verschlungene Ecken gibt, lieben gerade die Kinder, die regelmäßig mit ihrer Schulklasse oder Kitagruppe hierher kommen. Sie bauen sich Höhlen aus Gehölz und Geheimgänge durchs Gebüsch. Nadine Heidmann geht mit ihren Kleinen sogar lieber in den Garten als auf den Spielplatz. Sie ist Tagesmutter und hat beobachtet, dass die Kinder in der Natur offener sind und viel beobachten. O-Ton 22 Nadine Heidmann Hier gibt es ja auch ganz viel zu entdecken. Wir kommen auch ohne Spielzeug her. Ohne Sandspielzeug. Wir experimentieren und spielen mit dem, was wir hier vorfinden. Es bildet halt auch einfach. (709, 2.30) Atmo 23 Stall auf und Atmo 24 Kaninchen raussetzen Autorin Am aufregendsten finden die Kinder aber die Kaninchen. Der Gärtner Frank Vogel holt sie aus dem Stall und setzt sie in ein Drahtgestell im Gras. Sofort scharen sich die Kleinen um das Gitter und versuchen, die Kaninchen zu streicheln. Die flitzen schnell ins Häuschen, ihr Fell bebt vor Aufregung. Nadine Heidmann versucht, die Kinder etwas zu bändigen. Atmo 25 Kinder bei Kaninchen Autorin Die Tagesmutter hat auch zwei eigene Kinder und selbst eine Laube in der Gartensparte Süd-Ost am Völkerschlachtdenkmal. Vor zwei Monaten war sie kurz davor, sie wieder abzugeben. Sie hat es einfach nicht geschafft, den Garten alleine zu bewirtschaften. Jetzt hilft der ganze Freundeskreis. Und die Auflagen sind auch nicht so streng wie vielerorts. O-Ton 23 Nadine Heidmann Ist locker. Es gibt ja wirklich Gartenvereine, wo das ganz steif ist. Wo mit Zollmaß gemessen wird, wie hoch die Hecke ist und so. Das ist dort nicht. (709, 6.41) Autorin In Sachen Kinderfreundlichkeit könnte es allerdings durchaus toleranter zugehen, findet Nadine Heidmann. O-Ton 24 Nadine Heidmann Am Anfang war es schon so, dass sie gesagt haben: Ach, toll, endlich nimmt mal jemand den Garten. Mittlerweile ist es so: Wir sind ja nun oft draußen und auch vier Familien mit insgesamt sieben Kindern - dass halt schon über den Zaun gerufen wird, wir sollen nicht so laut machen. Zum Beispiel. Ich denke schon, dass wir als Störfaktor gesehen werden. (709, 8.40) Atmo 26 Unkraut jäten Autorin Im Stadtgarten Connewitz dürfen die Kinder auch mal durchs Gebüsch toben. Und Frank Vogel schimpft auch nicht, wenn mal eine Blume abgerissen wird. Aber in die Beete trampeln ist nicht erlaubt - wenn sie auch nicht fein säuberlich in Quadrate unterteilt und durch einen Kiesweg voneinander abgetrennt sind. Der Gärtner bevorzugt den Anbau in Mischkultur. O-Ton 25 Frank Vogel Das, was hier unordentlich aussieht, das macht am Ende mitunter mehr Arbeit, das so zu halten, als wenn ich ein Quadrat habe mit einer Monokultur. Das ist relativ leicht sauber zu halten. Wenn ich aber wie hier eine Mischkultur habe, dann erfordert das einfach mehr Zeit. (704, 20.10) Autorin In den Gartensprechstunden versucht er, jedem das Prinzip Mischkultur und den Verzicht auf Spritzmittel nahezulegen - auch den Kleingärtnern. Mit durchaus gemischtem Erfolg. O-Ton 26 Frank Vogel Diese strikte Ordnung - man muss mal davon ausgehen, diese Schrebergärtner, die haben seit vierzig Jahren ihren Schrebergarten, sind so groß geworden, haben den so behandelt und das bleibt natürlich auch so. Punkt. Jetzt kommen natürlich immer mehr junge Leute, die sich einen Schrebergarten nehmen, die haben natürlich ganz andere Interessen, die möchten das natürlich nicht mehr auf diese Art und Weise. Und da stoße ich natürlich auf helle Ohren, das ist wirklich schön. Aber jemandem, der vierzig Jahre seinen Garten hat, der wird sich jetzt im Alter von siebzig Jahren nicht mehr umstellen wollen. (704, 21.20) Autorin Wenn es aber um die kleinen Tricks und Kniffe geht, hat Frank Vogel festgestellt - da werden die Schrebergärtner genauso hellhörig wie alle anderen Gärtner auch. O-Ton 27 Frank Vogel Man kennt sich ja im Laufe der Jahre auch persönlich dann. Gärtnern bedeutet oft auch: Austauschen. Es gibt keinen Gärtner, der alles weiß. Da werden Samen ausgetauscht. Da wird auch gesagt: Mensch, hast Du die Krankheit auch? Wie kann ich die am besten im Zaume halten? Oder hast Du Blattläuse? Und dann kommen eben auch mal Bemerkungen von mir: Diesen Stengel Blattläuse, den kannst du dran lassen. Lass doch die Marienkäfer auch leben. (704, 24.55) Atmomix Vögel, gießen - dann Musik instrumental Sprecher Ich zog eine Winde am Zaune und was sich nicht wollte winden begann ich aufzubinden. Und dachte, für mein Mühen sollt es nun fröhlich blühen. Doch bald hab ich gefunden dass ich umsonst mich mühte; nicht, was ich angebunden, war was am schönsten blühte sondern, was ich ließ ranken nach seinen eigenen Gedanken. Friedrich Rückert: An die Gärtner MUSIK 3 Amestoy Trio, Rural Swing IV. MIT ZOLLMASS UND HECKENSCHNEIDER - SCHREBERS SPIELREGELN Autorin In Leipzig kann man von der Innenstadt achteinhalb Kilometer weit durch Parks, Grünanlagen und den Auwald bis hin zum Cospudener See spazieren. Hier hat jede Zeit, jede Epoche der Stadt auch neue Grünanlagen hinzugefügt: Ob das nun der Johannapark im Stil englischer Gärten des 19. Jahrhunderts ist, der Wildpark aus DDR- Zeiten oder das Naherholungsgebiet Cospudener See - ein ehemaliger Braunkohletagebau, der nach der Wende mit Wasser geflutet wurde. Auch der historische Schrebergarten gilt gemeinhin als Kind seiner Zeit. Denn mit der zunehmenden Industrialisierung, mit engem Wohnraum, dunklen Hinterhöfen und Hungersnöten, wuchs die Sehnsucht nach einem kleinen, grünen Refugium, das auch den kargen Speiseplan aufzubessern vermochte. Atmo 27 Schlüssel, Stufen hoch Autorin Was viele nicht wissen: Leipzig gilt zwar zu Recht als Wiege der Schrebergartenbewegung - der erste Kleingarten jedoch war eigentlich als Kinderspielplatz gedacht. Was es damit auf sich hat, weiß Caterina Hildebrand vom Deutschen Kleingärtnermuseum - einem Fachwerkhaus mit Turm, falschem Schiefer und roten Geranien. O-Ton 28 Caterina Hildebrand Wir sind hier am authentischen Ort. Und zwar sind wir hier in der Anlage des ersten Schrebergartenvereins. Selbst in den früheren Zeitungsartikeln wird dann schon von einem Kleinod gesprochen. Wenn man sich jetzt vorstellt, man ist doch im Zentrum von Leipzig und begibt sich hierhin zu diesem Museum, dann erkennt man schon von weitem dieses Fachwerkhaus. Nicht kitschig, aber so ein bisschen anheimelnd. Und halt mit diesem Turm. Man erwartet es halt nicht im Stadtzentrum. (789, 0.54) Atmo 28 auf Balkon Autorin Caterina Hildebrand steht auf dem Balkon des historischen Vereinshauses und zeigt auf die große Spielwiese, um die herum sich die einzelnen Parzellen gruppieren. Es ist die erste Anlage des bundesweit ersten Schrebervereins, erzählt die Leiterin des Museums. Seit den Achtzigern steht diese Kleingartenanlage unter Denkmalschutz. Nur die Spielwiese entspricht nicht dem Original, denn zu DDR-Zeiten wurde eine Hälfte der Fläche zu zusätzlichen Gärten umfunktioniert. Wie aber sieht eigentlich ein Musterschrebergarten aus? O-Ton 29 Caterina Hildebrand Den wird es so gar nicht geben. Es gibt natürlich - Achtung, jetzt kommt so ein böser Begriff - das Bundeskleingartengesetz von 1983, was verschiedene Sachen vorschreibt. Aber in jeder Gemeinschaft, in allen Bereichen des Lebens, gibt es Gesetze und Regeln. So auch im Kleingartenwesen. (789, 5.57) Autorin Zaun, Rasen, Laube, anbauen - mit diesen vier Begriffen lässt sich zusammenfassen, was eine Kleingartenkolonie ausmacht: Also eine Fläche, auf der sich viele, kleine Gärten befinden, die mit einem Zaun (oder einer Hecke) voneinander abgegrenzt sind - je nach Möglichkeiten des Pächters mit einer Laube drauf. Und noch ganz wichtig, betont Caterina Hildebrand, die Aufteilung der Parzelle in eine sogenannte Erholungs- und eine Anbaufläche. O-Ton 30 Caterina Hidebrand Das nennt man die sogenannte "Drittelung": Die bedeutet, dass mindestens ein Drittel der Parzelle muss bewirtschaftet werden. Maximal ein Drittel darf Rasenfläche beinhalten. Und maximal ein Drittel - aber auch nicht größer als 24qm - darf die Laube einnehmen. (789, 7.52) Autorin Ausgedacht hat sich diese Drittelung allerdings nicht - wie man meinen könnte - Herr Dr. Schreber aus Leipzig. O-Ton 31 Caterina Hildebrand Der Herr Dr. Schreber hatte weder eine Laube, noch einen Klein- noch einen Schrebergarten. Der Herr Dr. Schreber war Arzt und Orthopäde hier in Leipzig und hat halt durch seine Arbeit festgestellt, dass es zu wenig Spielplätze für die Kinder der Stadt gibt. (789, 8.20) Autorin Ausgehend von dieser Beobachtung wurden nach seinem Tod - und in seinem Namen - innerstädtische Spielplätze und Kinderbeete angelegt. Bald jedoch halfen die Eltern beim Gärtnern mit, erkannten das Potential - und aus den Kinderbeeten wurden zuerst Familienbeete und später dann die klassischen Kleingärten zur Selbstversorgung. Noch heute fördert die Stadt die Kleingartenvereine durch einen günstigen Pachtzins. Und durch das Bundeskleingartengesetz von 1983 sind die Anlagen gesetzlich geschützt, können also nicht in attraktives Bauland umgewandelt und verkauft werden. Im Gegenzug wird erwartet, dass die Flächen auch tatsächlich genutzt werden. Deshalb die Spielregeln. Aber ob man jetzt nach Vorschrift Gemüse anbaut oder freiwillig, macht letztlich keinen Unterschied, findet Caterina Hildebrand. O-Ton 32 Caterina Hildebrand Wenn ich hier mir andere Projekte in Leipzig angucke, so dieses Stadtgärtnern, so freie Vereine: annalinde, querbeet - da gibt es halt auch immer wieder so Diskussionen. Aber am Schluss kommt man auf dasselbe raus. Denen macht es ja Spaß. Die machen das ja, weil es ihnen Spaß macht. Für die ist das ja gar kein Zwang. So. Deswegen ist es für mich ein bisschen irritierend, warum man, wenn es um den Kleingarten selbst geht, automatisch immer vom Zwang redet. (790, 8.30) Atmo 29 Schritte über Kies Autorin Obwohl: Seit die 32-Jährige mit ihrer Familie selbst einen Garten hier bewirtschaftet, hat sich auch ihr Blick verändert. Caterina Hildebrand zeigt auf eine Reihe akkurat geschnittener Hecken, aus denen eine Laube rausfällt. Früher, meint sie, wären ihr wohl ein paar Sträucher Unkraut am Wegrand gar nicht aufgefallen, heute ärgert sie sich fast darüber, wenn eine Laube nicht genutzt wird. O-Ton 33 Caterina Hildebrand Sich einen Garten pachten und ein halbes Jahr nicht mehr kommen. Da werden hier viele Leute ganz schnell sauer. Und ich habe mich dann leider auch erwischt, dass ich gucke: Mensch, der war aber schon lange nicht mehr da. (lacht) (790, 19.50) Atmo 30 Garage auf und Rad rausholen Autorin Rudi Opitz dagegen fährt sommers jeden Tag mit dem Rad von seiner Neubausiedlung in Connewitz zur Laubenkolonie Silbersee. Seitdem die 1972 auf einem Maisacker errichtet wurde, hat der Rentner und mehrfache Großvater dort seinen Kleingarten mit der Nummer 292. Und nie Ärger gehabt mit dem Vorstand oder seinen Parzellennachbarn. O-Ton 34 Rudi Opitz Die Begrenzung der Parzelle, die ist ja jedem Gartenfreund selbst überlassen. Muss er aber auch in Ordnung halten. Nicht dass die jetzt drei Meter hoch und zwei Meter dick ist, das gibt es nicht. Da muss er sich dran halten. Aber wenn ich jetzt wie hier - meine Hecke ist ein Meter hoch und ich kann mich mit meinen Nachbarn unterhalten - auch mit der Frau Naumann hier drüben. Die ist ein wenig abgeschottet, aber wir verstehen uns auch gut. (763, 26.05 - Stimme oben) Atmo 31 Schuppen aufschließen, über Kiesweg, Eimer raus Autorin Rudi Opitz kann zwar nicht über die Hecke seiner Nachbarin schauen, aber er sieht darüber hinweg, dass die sich ein wenig abschottet. Der 77-Jährige weiß ja, warum. O-Ton 35 Rudi Opitz Die hat ein schönes Schwimmbecken dahinter. Weil die Frau auch mal nackig baden geht. Eigentlich Blödsinn, wir kennen uns 30 Jahre. Da guckt keiner mehr hin. Aber wir verstehen uns und das geht in Ordnung. (763, 26.40) Atmo 32 gießen Autorin Noch kann der Rentner die Pflege seines Gartens selbst übernehmen - auch wenn er zum Apfelernten nicht mehr auf die Leiter steigt. Bei einigen Nachbarn aber beobachtet er, wie schwer es ihnen fällt, die Parzelle in Ordnung zu halten, wenn sie älter und gebrechlicher werden. Auch das ist für alle Kleingärtner sofort zu erkennen. Unkraut kennt keine Schonfrist. O-Ton 36 Rudi Opitz Weil noch viele bis in die Achtziger hier ihre Parzelle haben. Die versuchen immer noch, weil die haben hier ihre Liebe, alles hineingesteckt und versuchen, soweit es möglich ist, noch zu halten. Aber man sieht, die werden dann krank, können nicht mehr groß laufen. Oder einer der Partner wird krank. Und das wird dann zu schwer. Da geben sie dann den Garten auf. (763, 5.05) Atmomix Vögel, gießen - dann Musik instrumental Sprecher Das ist ein Abschied mit Standarten aus Pflaumenblau und Apfelgrün. Goldlack und Astern flaggt der Garten, und tausend Königskerzen glühn. Das ist ein Abschied mit Posaunen, mit Erntedank und Bauernball. Kuhglockenläutend ziehn die braunen und bunten Herden in den Stall. Das ist ein Abschied mit Gerüchen aus einer fast vergessenen Welt. Mus und Gelee kocht in den Küchen. Kartoffelfeuer qualmt im Feld. Das ist ein Abschied mit Getümmel, mit Huhn am Spieß und Bier im Krug. Luftschaukeln möchten in den Himmel. Doch sind sie wohl nicht fromm genug. Die Stare gehen auf die Reise. Altweibersommer weht im Wind. Das ist ein Abschied laut und leise. Die Karussells drehn sich im Kreise. Und was vorüber schien, beginnt. Erich Kästner, Der September MUSIK 4 Antonio Vivaldi: Herbst V. BRACHFLÄCHENPOTENTIAL - GÄRTEN UND GENTRIFZIERUNG Autorin Während die traditionellen Kleingartenanlagen gesetzlich geschützt sind, müssen viele der neu entstandenen Gemeinschaftsgärten ihre Beete nach einer Phase der Zwischennutzung wieder aufgeben. Oder mit ihnen in einen Stadtteil weiterziehen, wo noch viel Leerstand herrscht und ausreichend Brachflächen vorhanden sind. Auch deshalb erblühen in Leipzig derzeit wohl so viele neue Nachbarschaftsgärten: Die Besitzer vermieten ihre Grundstücke für eine begrenzte Dauer, da die sich (noch) nicht verkaufen oder bebauen lassen und erhoffen sich von den Gärten eine Aufwertung der Nachbarschaft, ja des gesamten Viertels. Wie im Leipziger Osten. Trotz prächtiger Gründerzeitarchitektur sind hier ganze Straßenzüge mit Brettern verrammelt, die Bürgersteige abends verwaist. Nur rund um die Plattenbausiedlung begegnet man ab und zu mal jemandem, der seinen Kampfhund ausführt. Atmo 33 Hollywoodschaukel knarzt und Atmo 34 Flyer bekleben Autorin Direkt gegenüber liegt der Gemeinschaftsgarten von "querbeet" auf einem 5.000 Quadratmeter großen Grundstück. An zwei Seiten ist es von Wohnhäusern umgeben, in der Mitte steht ein Bauwagen neben einem reifen Birnbaum. Felix Leffrank sitzt auf einer Hollywoodschaukel, klaubt vorsichtig getrocknete Pflanzen aus einem Buch und befestigt sie mit Sprühkleber auf einem Flyer. Der 24-Jährige studiert Kunst, seine Erdgeschosswohnung grenzt direkt an den Garten. Deshalb ist er dort eingezogen - auch wenn das Haus sehr baufällig wirkt. O-Ton 37 Felix Leffrank Da ich im Garten wohne, bin ich jeden Tag im Garten. Also ich habe mir ein Haus, was an den Garte anliegt, genommen. Und habe mir das ein bisschen wieder hergerichtet, weil das ziemlich kaputt war, die Wohnung. Und dafür darf ich darin leben im Moment. Und da das direkt am Garten ist, bin ich jeden Tag im Garten. (745, 0.58) Autorin Noch Anfang des Jahres war die Brachfläche komplett vermüllt, die Nachbarschaft lud regelmäßig ihren Schutt ab. Also mussten die ehrenamtlichen Gärtner erstmal den ganzen Abfall entsorgen, bevor sie mit dem Pflanzenanbau beginnen konnten. Viele junge, eher alternative Leute engagieren sich hier. Einige sind erst kürzlich in den Leipziger Osten gezogen, weil hier die Mieten noch sehr günstig sind. Gegärtnert wird auch hier in Hochbeeten und Reissäcken. Und wer will, der kann sich auch ein eigenes Beet anlegen. Im Osten ist der Platz anscheinend noch nicht so heiß umkämpft wie im Leipziger Westen. Felix Leffrank zündet sich eine Zigarette an und führt durch den Garten von "querbeet". O-Ton 38 Felix Leffrank Also jetzt gehen wir den schönen, gepflegten Weg hier lang. Einer geht hier immer mit dem Heckenschneider durch und hält die Wege sauber. (Habt Ihr auch eine Kleingartenordnung?) Also das ist so eine Rollenverteilung, die sich organisch ergeben hat: Jeder macht das, was ihm wichtig ist. Ich habe zum Beispiel dieses Kartoffelhochbeet da angelegt. (745, 7.50) Atmo 35 Vögel Autorin Hecken und Zäune wären hier wohl eher verpönt, jedes Beet hat seinen eigenen Stil, manche wirken improvisiert. Überall aber werden Nutzpflanzen angebaut. Jeden Tag können wir eine ganze Kiste Gemüse ernten, die gegen Spende abgegeben wird, erzählt Felix Leffrank. O-Ton 39 Felix Leffrank Unabhängig zu sein vom Supermarkt, der halt Obst und Gemüse liefert aus Quellen, die man nicht nachvollziehen kann. Und hier haben wir es halt im Garten und haben es selbst angebaut und wissen, dass es nicht gespritzt ist. Und außerdem müssen wir es nicht zahlen - was absolut unnötig ist, wenn es riesengroße Brachflächen gibt, auf denen man so was machen kann. Also ist das so eine Art Selbstversorgergedanke. (745, 12.45) Autorin Regelmäßig kommen auch zehn, zwölf Kinder aus der Nachbarschaft, um sich etwas aus dem Holz zu bauen, das die Gärtner für die Hochbeete gesammelt haben. Ebenfalls sehr beliebt: Gießen. Und wenn die Kinder mal hier sind, erzählt Felix Leffrank, dann trauen sich auch die Eltern her, die in der Woche zuvor noch das Lagerfeuer beanstandet haben. O-Ton 40 Felix Leffrank Es kommen aus der Nachbarschaft Leute, aber es wird natürlich schon viel beäugt so. Aus der direkten Nachbarschaft. Aus dem ganzen Klientel. Also wir sind hier mitten in einem Gebiet, wo nur Plattenbauten stehen und das ist halt so ein - wie sagt man - sozial schwach. Da gibt es natürlich auch immer wieder so ein paar Reibungsstellen. (745, 17.01 - Stimme oben) Autorin Dafür ist es aber auch viel spannender, ein neues Viertel zu entdecken und es noch mit prägen zu können. Der Kunststudent hat so einige Industrieruinen auf der Liste, die sich vielleicht noch retten ließen. O-Ton 41 Felix Leffrank Leute kommen hierher und wundern sich über Hippies und Freaks, die hier rumhängen, weil sie das vielleicht nicht so gewöhnt sind. Die Kinder kommen dann trotzdem her. Und dann versteht man sich irgendwie. Oder eben nicht. Kommt natürlich auch vor. Aber das interessiert uns jetzt nicht. Wir haben uns die Freiheit rausgenommen. Und wenn andere das nicht begreifen, dass es hier sehr viele Möglichkeiten gibt, die Stadt für sich zu nutzen, dann sind sie selbst schuld. (746, 0.27) Autorin Und wenn die Spekulanten kommen, dann zieht er eben weiter. Da ist er ebenso mobil wie seine Reissäcke mit den Kartoffeln. Kennmelodie SpvD Leipziger Mischung - Gartenvielfalt in der sächsischen Schreberstadt. Sie hörten eine Deutschlandrundfahrt von Stefanie Müller-Frank. Es sprachen Ulrich Lipka und die Autorin Ton: Christiane Neumann Regie: Karena Lütge Redaktion: Margarete Wohlan Eine Produktion von Deutschlandradio Kultur 2012 Manuskript und Online-Version der Sendung finden Sie im Internet unter dradio.de 1 1