Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 6.Mail 2013, 19.30 Uhr Posemuckel in Gefahr! Vom Dorf der Zukunft und der Zukunft der Dörfer Ein Feature von Brigitte Schulz Musik: O-Ton: (Last) Manchmal habe ich das Gefühl, dass hier so ein Eindruck vermittelt wird, dass wir Dorfbewohner den ganzen Tag Türkränze flechten und Marmelade einkochen, das ist die reine Idylle. Aber das ist nicht so. O-Ton: (Bürgermeister Steiner) Fast jede Familie, mit der man spricht, die zwei oder drei Kinder haben, kann man hören, sind entweder in Hamburg, Berlin, München oder was weiß ich. Hier in der Region sind nur verschwindend wenig geblieben und das sollte sich ändern. O-Ton:(Jugendlicher) Ich hab relativ schnell eine Ausbildungsstelle gefunden, und darum geht es wirklich, ob ich einen Ausbildungsplatz habe, einen Job habe und mein tägliches Brot verdienen kann in der Umgebung, davon hängt es ab. Und das war bei mir positiv und deshalb bin ich erst einmal geblieben. Sprecher/in: Posemuckel in Gefahr! Vom Dorf der Zukunft und der Zukunft der Dörfer Ein Feature von Brigitte Schulz Atmo Land Sprecherin: Die Sehnsucht nach dem einfachen Landleben scheint stärker zu sein denn je, Hochglanzmagazine wie „Landlust“ oder „Mein schönes Land“ haben Hochkonjunktur. Sprecher: Doch die Realität sieht anders aus: In Deutschland schrumpfen zwei Drittel aller ländlichen Gemeinden und Experten glauben, dass viele Dörfer schon jetzt in ihrer Existenz bedroht sind. Besonders die Orte verlieren Einwohner, die weit entfernt von größeren Städten, von Autobahnen und Zugstrecken liegen, und wo es wenig Tourismus und Arbeitsplätze gibt – so eine Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. Sprecherin: Hauptursache für die Landflucht ist der demografische Wandel: Unsere Gesellschaft altert. Außerdem zieht es mehr junge Menschen denn je in die Stadt, so Steffen Kröhnert vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung: O-Ton: (Kröhnert) Da wir ja ständig steigende Abiturientenquoten haben, da ist natürlich der Drang der jungen Menschen in die Städte, weil sie dort ihre höheren Ausbildungs- und Qualifikationwünsche verwirklichen können. Und das Zweite ist natürlich: Mit dieser höheren Bildung sind in den letzten Jahren, Jahrzehnten natürlich auch der Wunsch nach kultureller Vielfalt, nach kulturellem Leben gestiegen, was ne ländliche Region einfach nicht leisten kann. Sprecher: Die Konsequenz: Viele Dörfer verwaisen und vergreisen, die Aussichten sind düster. Fest steht: So wie bisher kann es nicht weitergehen. Wenn das Landleben eine Zukunft haben soll, sind neue Konzepte und sinnvolle Investitionen gefragt. Ralf Wolkenhauer vom Bundeslandwirtschaftsministerium: O-Ton: (Wolkenhauer) Infrastruktur und Arbeit sind meines Erachtens die wichtigsten Aspekte, die gegeben sein müssen. Ein entscheidender Punkt wird die Breitbandversorgung sein, die Mobilitätsfrage, die auch eine Kostenfrage werden kann und letztendlich natürlich die Versorgung. Und dazu brauchen wir eben auch bestimmte Maßnahmen, das ist wird Selbstgänger. Atmo: Dorf ruhig/leer Sprecherin: Groß Breese, ein 200-Seelen-Dorf in der Prignitz in Brandenburg. Die Fachwerkhäuser stehen unter Denkmalschutz, drei Reihen hoher Bäume säumen die Straße, die sich einen Kilometer lang durch den Ort zieht. Knapp 200 Kilometer sind es von Groß Breese bis nach Berlin und nach Hamburg, die Kleinstadt Wittenberge liegt nur fünf Kilometer entfernt. Dennoch verlassen immer mehr Menschen das Dorf – ein Phänomen, das fast die ganze Region betrifft: O-Ton: (Last) Manchmal fühlen wir uns hier im Dorf ein bisschen allein gelassen. Wir versuchen ja auch alles zu tun, was wir können, aber in den letzten Jahren merken wir auch verstärkt, dass immer mehr Aufgaben in das Ehrenamt geschoben werden und wir haben eben weniger Einwohner, die Einwohner werden älter. Es ist wirklich bewundernswert, wie die 80-Jährigen noch ihre Häuser instand halten, Grünflächen pflegen, im Chor sich engagieren. Es werden immer weniger Menschen, wir haben jetzt schon Gebäudeleerstand und es ist sehr schwierig, diese Häuser zu verkaufen. Ich denke, es wird eine dramatische Situation werden. Sprecherin: Silke Last ist Anfang 40 und damit ist man in Groß Breese ein junger Mensch. Nach ihrem Studium in Berlin zog sie zurück in ihr Heimatdorf – eine Ausnahme. Die studierte Stadt- und Regionalplanerin hat ihr Büro in einem der kleinen Fachwerkhäuser, die gute Internetverbindung macht Telearbeit möglich. Dass bereits fünf Häuser im Dorfkern leer stehen, bereitet ihr große Sorgen. Denn Leerstand zieht viele Probleme nach sich, bestätigt die Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. Steffen Kröhnert: O-Ton: (Kröhnert) Leerstand ist natürlich immer der Anfang von einer Abwärtsspirale, sobald man offensichtlichen Leerstand hat, wird niemand mehr zuziehen, die Immobileinpreise der verfügbaren Häuser gehen nach unten und es wird sicherlich Menschen dann zum Wegzug motivieren. Das heißt, Leerstand ist natürlich immer der Beginn der Nach-unten-Entwicklung. Atmo: Dorf Sprecherin: Ein Lebensmittelgeschäft gibt es in Groß Breese schon seit 13 Jahren nicht mehr, dafür kommt zweimal die Woche ein Wagen mit Brot und Lebensmitteln, auch ein Fleischer beliefert das Dorf. Kopfzerbrechen bereitet den Groß Breesern ihre Allee. Im Herbst schaffen sie kaum noch, das Laub von den Wegen zu rechen – dabei ist es eine alte Tradition, dass sich jeder selbst um die Bäume vor seinem Grundstück kümmert. Mittlerweile hilft auch die freiwillige Feuerwehr beim Schneiden der Äste und Laubfegen, um die Gemeindekasse nicht allzu sehr zu belasten: O-Ton: (Feuerwehr) Ein Dorfleben ohne eine freiwillige Feuerwehr können wir uns hier eigentlich kaum vorstellen, denn viele Dinge laufen nur noch mit der Feuerwehr, weil es sind mit dem Heimatverein nur zwei Vereine, die in so einem kleinen Dorf tätig sind. Und wenn die Leute sich nicht zusammenraufen, dann würde gar nichts passieren. Atmo: Feuerwehrübung Sprecherin: Die freiwillige Feuerwehr gibt den Groß Breesern nicht nur ein Gefühl von Sicherheit: Sie ist auch Mittelpunkt des sozialen Lebens, denn sie organisiert Dorffeste, ein Herbstfeuer und den Weihnachtsmarkt. Jeden Montag treffen sich die Rettungskräfte im Feuerwehrhaus, wo sie Skat spielen, die Ausrüstung warten und für den Notfall üben: O-Ton: (Silke Last im Heimatmuseum) Hier haben wir einen alten Kinderwagen aus dem Jahr 1910, und das Schöne ist, dass es hier eine Verbindung gibt, dass wir alle wissen, wer in diesem Wagen ausgefahren wurde. Es ist ein Bauer aus dem Dorf, dieser Kinderwagen wurde bei vielen Dorffesten, wenn wir Umzüge hatten, mit genutzt und es ist ein wunderschönes altes Stück. Sprecherin: Silke Last führt durch das Heimatmuseum in der ehemaligen Schule, das die Geschichte des Dorfes dokumentiert. Fotos erzählen von gemeinsamer Feld- und Erntearbeit, von Festen und Tanz: Bilder von vor 100 Jahren. Groß Breese war ein typisches Bauerndorf, die Menschen lebten von der Landwirtschaft. 25 Bauernhöfe hat es damals gegeben, nur einer blieb übrig. Als nach der Wende Antiquitätenhändler über Land fuhren, um alte Haushaltsutensilien, Möbel und Feldgeräte billig aufzukaufen, schritt der Pfarrer ein: Die Dorfbewohner sammelten ihre Schätze, die sie auf Böden und in Scheunen gefunden hatten, und stellten sie in der Kirche aus. 1995 eröffnete der Heimatverein das kleine Museum, das er bis heute erweitert: Atmo Heimatverein: O-Ton: (Besucher Heimatverein) Mein Vater hat immer gesagt: „Wenn wir mal nicht mehr sind, dann kommen, dann kommen die schönen alten Sachen in fremde Hände“, das war immer seine Befürchtung. Ich sagte dann immer: „Nein, nein, wir werden das auch achten und ehren“, und so war es dann auch. Frau: Aber wenn Sie denken, wir kommen hier nur zusammen zum Kaffeeklatsch - das ist nicht. Meistens haben wir überhaupt gar keine Zeit, uns zu unterhalten, weil immer wieder viele Aufgaben auf uns zukommen. Atmo Heimatverein Sprecherin: Obwohl Groß Breese in den letzten Jahren Einwohner verlor, ist es für Silke Last kein sterbendes Dorf: Das Engagement seiner Einwohner hält es lebendig. Doch sie wünscht sich mehr Zusammenarbeit mit anderen Gemeinden: Als Sprecherin der Arbeitsgemeinschaft „Lebendige Dörfer Brandenburg“ engagiert sie sich dafür, dass eine Dorfbewegung von unten entsteht, die die Interessen der Dorfbewohner auch politisch vertritt. Sprecher: Mittlerweile ist unumstritten, dass Bürgerengagement ein wichtiger Indikator für die Zukunft eines Dorfes ist, meint Steffen Kröhnert vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung: O-Ton: (Kröhnert) Orte, die zu reinen Wohnstandorten geworden sind, wo sonst dörfliches Leben nicht mehr stattfindet, die haben natürlich ihre Attraktivität ganz und gar eingebüßt und da geht niemand mehr hin. Das heißt, ich denke, dass die Aktivität der Bürgerschaft oder auch der gewählten politischen Vertreter, dass diese Aktivität immer stärker im ländlich peripheren Raum darüber entscheidet, welches Dorf eine Chance hat zur Stabilität und welches Dorf weiter schrumpfen wird. Atmo: Dorf mit Verkehr Sprecherin: Groß Breese hat einen ehrenamtlichen Bürgermeister: Werner Steiner, 61Jahre, Sozialdemokrat, kämpft momentan vor allem für einen Fahrradweg, der die drei Dörfer seiner Gemeinde miteinander verbindet, denn bislang fahren die Kinder auf einer stark befahrenen Straße zur Schule. Außerdem hofft er, dass mit dem neuen Radweg mehr Touristen kommen, dann wäre die Gemeinde Breese an den Elbe-Radweg angeschlossen – eine der meistbefahrenen Radstrecken Deutschlands. Das Land Brandenburg lehnt die Kostenübernahme ab. Die Begründung: Es gäbe zu wenig Nutzer. Ohne Radweg jedoch würde Groß Breese weiterhin an Attraktivität für junge Familien verlieren, meint Bürgermeister Werner Steiner: O-Ton: (Bürgermeister Steiner) Das kann ich in keiner Weise verstehen, dass hier etwas gekappt wird, mit uns nicht besprochen wird, und eigentlich das nahe Umfeld, dass das so einfach abgenabelt werden soll. Atmo: Dorf mit Verkehr Sprecherin: Während das denkmalgeschützte Groß-Breese mit vielen Problemen kämpft, sieht es im zwei Kilometer entfernten Breese schon ganz anders aus: Breese war nie ein traditionelles Dorf mit einem Kern, sondern besteht bis heute aus mehreren kleinen Siedlungen. Es ist eines der wenigen Dörfer der Prignitz, das noch eine eigene Grundschule hat. Finanziell ist dies nur möglich, weil man das moderne Schulgebäude mehrfach nutzt: Es beherbergt eine Kita, einen Klubraum sowie das Büro von Bürgermeister Werner Steiner. Die Gemeinde baute die alte Schule aus Backstein in Wohnungen um und vermietet sie heute. Die Schule, die Kita und die Nähe zur Kleinstadt Wittenberge führten dazu, dass Breese in den letzten Jahren sogar neue Einwohner gewann: 140 Eigenheime entstanden am Ortsrand. Bürgermeister Werner Steiner kann junge Familien verstehen, die lieber hier neu bauen als im Nachbarort Groß Breese eines der leer stehenden denkmalgeschützten Häuser kaufen: Deren Instandsetzung ist teuer und unterliegt strengen Auflagen: O-Ton: (Bürgermeister Steiner) Ein Stück Unterstützung über Vater Staat, dass man auch ein paar Fördergelder gibt für diese Bausubstanz, das fehlt eigentlich, das würde ich mir wünschen. Dann würde auch so manch einer diese alten Häuser kaufen, der Leerstand würde zurückgehen und man würde auch investieren. Dann würde auch die Einwohnerabwanderung mit Sicherheit nachlassen. Sprecherin: Doch Werner Steiner weiß: Es fehlen vor allem Arbeits- und Ausbildungsplätze, um junge Menschen in der Region zu halten. Musik Sprecher: Die Zukunftsprognosen für die Prignitz sind düster. Bis zum Jahr 2030 wird sie über ein Drittel ihrer Bewohner verlieren: 84 Prozent durch Geburtenrückgang und 14 Prozent aufgrund von Abwanderung. Kinder und Jugendliche werden dann nur noch acht Prozent der Bevölkerung ausmachen. Geburtenrückgang und Überalterung stellen nicht nur die Prignitz, sondern viele ländliche Regionen vor große Herausforderungen. Vor allem die medizinische Versorgung macht vielen Älteren schon heute Sorgen, weiß Silke Last: O-Ton: (Last) Dass mir gesagt wurde, ich habe einfach Angst, dass der Krankenwagen nicht durchkommt, dass die ärztliche Versorgung immer schwieriger wird, dass die Hausbesuche der Ärzte eingestellt werden. Sprecher: Besonders Fachärzte fehlen auf dem Land: Wer einen Spezialisten sehen möchte, muss weite Wege zurücklegen. Doch ein Umdenken hat bereits begonnen Steffen Kröhnert vom Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung: O-Ton: (Kröhnert) Denkbar wäre, das kennt man ja aus Skandinavien, dass sozusagen auch der niedergelassene Hausarzt mittels Telemedizin bestimmte Befunde an Zentren schicken kann und dass sozusagen dort Spezialisten bei der Diagnose helfen, ohne dass der Patient, die Patientin diesen weiten Weg zurücklegen muss. Auf der andern Seite muss man ja sehen, dass viele gerade ältere Menschen, die in solchen Schrumpfungsregionen zurückbleiben, oft nicht ständig neue akute Beschwerden haben, sondern es geht dort eher um eine kontinuierliche Versorgung mit bestimmten Medikamenten, es geht auch zum großen Teil um psychosoziale Betreuung. Und das müsste nicht unbedingt ein Arzt machen, sondern da wäre sehr gut auch eine Gemeindekrankenschwester dafür denkbar. Sprecher: Nimmt die Bevölkerung auf dem Land weiter ab, verschärft sich auch das Mobilitätsproblem. In der Prignitz beispielsweise decken Schulbusse schon heute 80 Prozent des öffentlichen Nahverkehrs ab. Bei sinkenden Schülerzahlen werden Schulen geschlossen und die Wege für die Kinder länger. Gleichzeitig fahren immer weniger Busse, da sie nicht finanzierbar sind. Sprecherin: Um für die Zukunft gerüstet zu sein, hat das Bundesinnenministerium verschiedene Modellversuche gestartet, einer davon ist „Jugend Mobil“ in der Prignitz. Ziel ist, Lösungen für das Mobilitätsproblem zu finden. Bei diesem Projekt konnten Jugendliche eigene Ideen einbringen: Sie entschieden sich für die Mitfahrzentrale „Flinc“, die ausschließlich über das Internet nutzbar und über Smartphones schnell erreichbar ist. Die Prignitzer Jugendlichen erstellten eine separate Gruppe, in der nur Lehrer, Eltern und Bekannte als Fahrer in Frage kommen – so ist eine gewisse Sicherheit gegeben. Koordiniert wird diese Aktion unter anderem von Ralf Hoppe vom Planungsbüro Contextplan GmbH in Berlin. O-Ton: (Hoppe) Flinc kann man seit 2011 bundesweit nutzen, also auch in den Regionen, in denen Jugendmobil tätig ist. Wir sind gerade dabei, das mit den Jugendlichen in den Regionen bekannt zu machen und peu à peu melden sich eben immer mehr Leute an, stellen dort ihre Fahrtangebote ein, so dass es schrittweise tatsächlich zu einem nutzbaren Angebot wird. Sprecherin: Da Flinc ausschließlich über Internet vermittelt, ist es für alte Menschen derzeit schwer nutzbar. Dies wird sich jedoch ändern, meint Ralf Hoppe, denn die Renten werden sinken und moderne Technik im Alltag wird selbstverständlicher sein: O-Ton: (Hoppe) Ab 2020 werden die demografischen Probleme in den ländlichen Räumen in Brandenburg noch viel gravierender sein, als sie jetzt sind und deswegen müssen wir einfach Lösungen finden, die dann greifen. Und in 2020 werden wir über Verwendung von Smartphones uns nicht weiter unterhalten, das wird dann eine Selbstverständlichkeit sein auch für ältere Leute. Sprecher: In Schweden ist es selbstverständlich, dass Busse sowohl Menschen als auch Pakete und Waren in entlegene Regionen bringen. In Deutschland dagegen ist eine Mehrfachnutzung von Fahrzeugen noch Zukunftsmusik: O-Ton: (Hoppe) Es ist im Moment so, dass in bestimmte abgelegene Ortsteile am Tag fünf Pflegedienste fahren. Wenn die wieder aus dem Dorf weg in die größere Stadt fahren, könnten die eigentlich jemanden mitnehmen. Da ist im Moment unklar, ob das gesetzlich überhaupt erlaubt ist und da muss Klarheit geschaffen werden, um solche Potenziale abschöpfen zu können. Musik Sprecher: Längst schrumpfen nicht nur ostdeutsche Dörfer, auch im Westen sind ganze Landkreise betroffen wie etwa im hessischen Vogelsberg, im Saarland, Oberbayern und Franken. Atmo: Dorf, Natur, Hühner, Glocken Sprecherin: Mittelfranken, eine hügelige Landschaft mit vielen Seen und Wäldern. 24 Gemeinden haben sich hier zur Region Hesselberg zusammengeschlossen; die kleinen Dörfer und Städtchen liegen weit verstreut um die höchste Erhebung, den Hesselberg. Ansbach, die Kreisstadt, ist um die 30 Kilometer entfernt, Nürnberg etwa 70. 63 000 Menschen leben in der Region, allein in den letzten fünf Jahren sind 2000 abgewandert – das entspricht einem größeren Dorf: O-Ton: (Vieting) Deswegen wollen wir ja gerne junge Menschen haben. Es ist nämlich gar nicht so, das bei uns nicht genügend Kinder geboren werden, sondern viel kritischer müssen wir betrachten den Wegzug nach der Schule oder zum Teil auch nach der Ausbildung. Sprecher: Und das, obwohl die Arbeitslosigkeit in der Region Hesselberg nur bei 2,5 Prozent liegt, mittlerweile herrscht sogar Fachkräftemangel. Auch Orte, die in unmittelbarer Nähe der Autobahn liegen - eigentlich ein Plus - schrumpfen. Um das zu ändern, gründeten die 24 Gemeinden eine Entwicklungsgesellschaft: Mitglieder sind die Bürgermeister, Vereine und Unternehmer. Sie arbeiten eng zusammen, um mit neuen Ideen und Initiativen Wirtschaft, Kultur und Tourismus in der Region zu stärken. Dass man dafür auch Unternehmer gewinnen konnte, ist für Ute Vieting, Geschäftsführerin der Entwicklungsgesellschaft, besonders wichtig: O-Ton: (Vieting) Diese Unternehmer, die haben jetzt aufgrund der guten wirtschaftlichen Entwicklung gesehen, dass die Fachkräfte nicht mehr da sind, die sie brauchen, die haben zum großen Teil expandiert, brauchen mehr Mitarbeiter, weil die Auftragslage gut ist. Und jetzt ist es so, dass man da mehr guckt, wo kriegen wir den Nachwuchs her, wie behalten wir denn junge Menschen hier. Sprecher: 70 Unternehmer schlossen sich zu einer Aktionsgruppe zusammen: Vorsitzender dieser Hesselberg AG ist Frank Dommel: O-Ton: (Dommel) Wir wollen auch die Schulen und die Unternehmen besser zusammenbringen, dass also die Schüler wissen, welche Unternehmen es in der Region gibt. Aber hier wollen wir wirklich aktiv von der AG aus hergehen und Ausbildungstage für die Schulen anbieten, dass die wissen, was in der Region überhaupt für Ausbildungsplätze vorhanden sind. Sprecherin: Ein weiteres Projekt der Aktionsgruppe heißt „Fachkräfte gewinnen, Fachkräfte halten“: Die Unternehmer informieren die Öffentlichkeit über offene Stellen und ihren Betrieb, aber auch über das Umfeld: Darüber, ob es Stellen für den Ehepartner gibt, über Schulen, Kitas, Kultur- und Freizeitangebote. Und die Unternehmer leiten Unterlagen von Bewerbern untereinander weiter, die sie zurzeit nicht beschäftigen können – natürlich nur mit deren Einverständnis. Atmo: Betrieb Dommel Sprecherin: Die Dommel-GmbH produziert Elektrosysteme und bietet Ausbildungsplätze für Industriekaufleute, Elektroniker und Informatiker an, bald gehört auch ein dualer Studiengang zum Wirtschaftsingenieur dazu. Rund 90 Mitarbeiter sind bei Frank Dommel in Wassertrüdingen beschäftigt; als er vor fast 20 Jahren den Betrieb seines Vaters übernahm, waren es 13. Der Unternehmer wohnt mit seiner Familie auf einem Bauernhof, ideal, wie er sagt, denn hier kann er nach einem langen Arbeitstag sofort mit seinen Hunden und Pferden in die Natur gehen. Sein Engagement in der Hesselberg AG hat sich auch unternehmerisch gelohnt: O-Ton: (Dommel) Ein großer Vorteil für die Unternehmen ist, dass wir über Unternehmertreffen, Erfahrungsaustausche und auch die Mitgliederversammlungen die Unternehmen einander bekannter machen. Ich habe selber Lieferanten über diese AG gefunden und auch Kunden, wo man vorher nicht bewusst war, dass es sie geben würde. Es ist natürlich sinnvoller, wenn man ein Bauteil in der Region, also im Umkreis von 20 km beziehen kann, bevor man es aus dem Norden Deutschlands oder wo auch immer herholt oder gar noch aus dem Ausland. Sprecherin: Die Hesselberg AG veranstaltet jedes Jahr einen Ball, sie sponsert Sportvereine, Klettergerüste für Kinder und Schulausflüge. Und das nicht nur als Imagemarketing: Die Unternehmer möchten, dass die Region für Familien attraktiver wird. Besonders wichtig sind ihnen Projekte, die sich an junge Leute richten: So organisierten sie zusammen mit der Entwicklungsgesellschaft vor zwei Jahren ein Kochduell. O-Ton: (Dommel) Es sind natürlich alles Punkte und Themen, wo sich die Jugendlichen mit der Region identifizieren durch solche Aktionen. Der Bereich Jugend ist deswegen wichtig, dass man die Jugend in der Region hält, dass man den Jugendlichen zeigt, dass es für uns wichtig ist, dass sie bleiben oder zumindest in die Region zurückkommen, wenn se mal mit ihrer Ausbildung fertig sind. Sprecherin: Studenten, Auszubildende und Hausfrauen machten bei dem Kochduell mit, Voraussetzung: Verwendung regionaler Produkte. Das Interesse war so groß, dass es gleich mehrere Durchgänge gab, das Finale begleitete die örtliche Presse. Der zweite Preis ging an Felix Gary, er machte damals gerade eine Ausbildung zum Koch: O-Ton: (Gary) Es war das Sprungbrett für meine Karriere, da war ich eben beim Drei-Sterne Koch Harald Wohlfahrt, da sind schon viele Sterneköche rausgekommen, das ist eine richtige Sterneschmiede. Und dann durch diesen Lebenslauf im Weiteren war ich in einem Kloster oder auch in Brauereien habe ich gekocht. Sprecher: Nach diesem Erfolg stand für Felix Gary fest: Er wollte das Gasthaus seiner Eltern in Wolframs-Eschenbach übernehmen: Sprecherin: Das Kochduell war ein Erfolg, doch der Entwicklungsgesellschaft Hesselberg war es wichtig, junge Leute kontinuierlich in die Regionalentwicklung einzubeziehen. Denn die Erfahrung zeigt: Junge Menschen bleiben eher auf dem Land oder kommen wieder zurück, wenn ihnen etwas geboten wird und Freunde dort sind. O-Ton: (Vieting) Aber mit den konventionellen Ansätzen ist uns das nicht geglückt, die sind nicht in die Arbeitskreise gekommen, und deswegen haben wir nach anderen Wegen gesucht, haben wir uns überlegt, was ist denn das, was die Jugendlichen interessiert, wo sind die unterwegs. Und dann haben wir so Sachen gemacht wie einen Modelcastingtermin. Über 40 haben sich angemeldet, also das ist total gut angekommen, und von denen sind noch mal zwölf jetzt als Hesselbergmodels ausgewählt worden, die andern stehen auf der Warteliste. Und die wurden geschult, sie haben ein Laufstegtraining bekommen und dann haben wir auch Schminktraining gemacht für die Auftritte. Also ganz ungewöhnliche Sachen für so eine Regionalentwicklung, aber wir haben gedacht, nur so kriegen wir auch Partner aus dem Bereich der Jugend. Atmo: Entwicklungsgesellschaft bespricht Modelcasting Sprecherin: Die Hesselbergmodels treten in modernen Trachten zu Firmenfeiern, Reitturnieren und Dorffesten auf; bei der Verbrauchermesse Consumenta in Nürnberg präsentieren sie Produkte der Region. Durch diese Events sind mittlerweile 1800 junge Hesselberger auf Facebook miteinander verbunden. Atmo: Natur: Bienen, Vögel, Glocken Sprecherin: Das Büro der Entwicklungsgesellschaft Hesselberg befindet sich in einem restaurierten Schloss in Unterschwaningen, das auch die Sparkasse beherbergt. Wie in vielen Dörfern der Region stehen vereinzelt Häuser leer, es gibt jedoch immer noch einige Bauernhöfe und einen Gasthof. Auch hier ist der öffentliche Nahverkehr ein Problem, denn es fahren nur wenige Busse und die Auszubildenden der Region sind oft vier Stunden am Tag unterwegs, wenn sie die Berufsschule besuchen. Die Gemeinden kämpfen dafür, dass die alte Bahnstrecke von Gunzenhausen nach Nördlingen wieder in Betrieb geht – das könnte am Wochenende auch Radfahrer und Kurzurlauber aus Nürnberg, München und Stuttgart anlocken, so hofft man. Ein weiteres Problem – wie in vielen ländlichen Regionen - ist die Internetverbindung, die Breitbandversorgung lässt zu wünschen übrig, so Ute Vieting: O-Ton: (Vieting) Das lässt sich relativ leicht sagen, dass es ist nicht flächendeckend da ist. Wir haben in einigen Kommunen, die sind dabei, das hinzubekommen, wobei da die Anschlüsse dann zum Teil nicht bis in das einzelne Gebäude gehen, aber zumindest die zentralen Orte gut ersorgt sind. In einer anderen Gemeinden, die versuchen, das Projekt flächendeckend anzugehen bis in jeden Haushalt hinein unter dem Aspekt, dass sie sagen, dass die Studenten, die in Ansbach studieren und in dem Dorf xy wohnen, auch dort ihre Studienarbeiten machen können, und wenn ich da Downloadzeiten von fünf Stunden oder so was habe, funktioniert das einfach nicht, das heißt, dann ziehen die in ihre Studienstadt, damit sie die entsprechenden Anschlüsse nutzen können. Sprecher: Eine gute Internetverbindung ist nicht nur für Unternehmer und Landwirte wichtig, sondern auch für die immer größer werdende Zahl von Telearbeitern. Für die Kommunen jedoch ist eine flächendeckende Breitbandversorgung eine enorme Ausgabe, weshalb sie auf finanzielle Hilfen des Bundes angewiesen sind. Die Bundesregierung hat die Bedeutung des Internets für den ländlichen Raum längst erkannt, so Ralf Wolkenhauer vom Landwirtschaftsministerium in Berlin: O-Ton: (Wolkenhauer) Die Ziele der Breitbandstrategie der Bundesregierung sind darauf ausgerichtet, dass bis 2018 jeder Haushalt in Deutschland bis 50 MB Versorgung hat, und dieses wollen wir in Schritten erreichen. Wir im Bundeslandwirtschaftsministerium fördern den Breitbandausbau mit jährlich 10 Millionen zweckgebunden. Musik: Sprecher: Momentan ist staatliche Förderung vor allem für touristische Projekte leicht zu bekommen: ein ausgebauter Speicher, ein Café, ein Informationszentrum an einem Radweg. Doch das rettet kein Dorf und schon gar keine Region. Wenn das Leben auf dem Land eine Zukunft haben soll, muss vor allem in Infrastruktur und medizinische Versorgung investiert werden. Gefragt sind jedoch auch neue gesetzliche Regelungen, Unternehmer, die auf dem Land investieren und engagierte Bürger. Allerdings lassen sich die zwei der wichtigsten Faktoren vom Dorf aus kaum beeinflussen: der Zahl der Geburten und die Schaffung von Arbeitsplätzen. Sprecher/in vom Dienst: Posemuckel in Gefahr! Vom Dorf der Zukunft und der Zukunft der Dörfer Ein Feature von Brigitte Schulz Es sprachen: Eva Kryll Markus Hoffmann Ton: Martin Eichberg Regie: Klaus Michael Klingsporn Redaktion: Martin Hartwig Deutschlandradio 2013 1