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Nachgeborene ist sie so fern wie die dunkle Seite des Mondes. Vor diesem Hintergrund ist ein Buch interessant, dass der Geschichtswissenschaftler Prof. Christoph Kleßmann jetzt veröffentlicht hat: ?Arbeiter im Arbeiterstaat DDR?. Christoph Kleßmann sitzt jetzt bei mir im Studio. Bevor ich mit ihm über die DDR-Forschung und Wissensvermittlung und über sein neues Buch spreche, über Erkenntnisse und Fragen, die es aufwirft, stellt Ihnen Ralf Müller-Schmid den Autor kurz vor. Ralf Müller-Schmid: Christoph Kleßmann gehört zu den Historikern der so genannten Bielefelder Schule, die in den 70er Jahren die Forschungslandschaft innerhalb der westdeutschen Historikerzunft aufbrach. Als Gegenbewegung zum Historismus lehnte die von Hans-Ulrich Wehler und Jürgen Kocka maßgeblich beeinflusste Bielefelder Schule die althergebrachte Konzentration auf Politik und Personengeschichte ab. Sie erweiterte die Geschichtsforschung um sozialwissenschaftliche Fragestellungen und begründete damit die historische Sozialwissenschaft. Christoph Kleßmann wandte sich vor allem der deutsch-deutschen Geschichte nach 1945 zu, außerdem Themen der Sozialpolitik und der Arbeiterbewegung. Ein frühes Werk war eines seiner erfolgreichsten: ?Die doppelte Staatsgründung?. Jahrzehntelang war es ein Standardwerk über die deutsche Nachkriegsgeschichte. 1976 bis 1992 war Kleßmann Professor für Zeitgeschichte an der Uni Bielefeld. 1993 wechselte er an die Universität Potsdam und leitete von 97 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2004 zusammen mit Konrad Jarausch das Zentrum für zeithistorische Forschung. In dieser Zeit etablierte sich das ZZF als eines der bedeutendsten Forschungszentren zur DDR-Geschichte. Der Schwerpunkt liegt auch hier auf der historischen Sozialwissenschaft. Das Buch über den Arbeiterstaat DDR, das Kleßmann jetzt veröffentlicht hat, umfasst knapp 900 Seiten und ist im Verlag JHW Dietz Nachfahren erschienen. Es reicht thematisch von der Vorgeschichte der DDR-Gründung bis zum Ende der Ära Ulbricht. Es ist der 14. Band der Reihe ?Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts?, die von Gerhard A. Ritter herausgegeben wird. Sträter: Christoph Kleßmann: ?Arbeiter im Arbeiterstaat DDR?. Herr Kleßmann, warum ist es so schwer, die Erinnerung an die DDR-Geschichte wach zu halten? Oder wird darüber lauter geklagt als nötig ist? Kleßmann: Ich habe den Eindruck, dass darüber lauter geklagt wird, als nötig ist. Es gibt nach meinem Eindruck kaum ein Themenfeld aus der neuesten Geschichte, was so intensiv bearbeitet wird, wie die DDR-Geschichte. Das heißt natürlich nicht, dass sich nicht viele damit unzureichend auseinandersetzen, andere tun es umso intensiver, und dass der Gesamteindruck, wie er sich auch in manchen Umfragen spiegelt, ein bisschen ambivalent ist, dass es einerseits ganz offenkundige Defizite gibt, andererseits auch ein Übermaß an Angeboten in den Medien, aber auch in der Fachwissenschaft. Ich würde jedenfalls ein sehr dezidiertes Urteil darüber, dass die DDR-Geschichte ganz unzureichend präsent ist, nicht unterschreiben. Sträter: Was muss denn nun vermittelt werden? Es gibt ja einen zum Teil erbittert geführten Streit darüber, ob sich die Historiker auf die Diktatur und ihre Opfer konzentrieren müssen, oder, ob sich die sie sich auch um Gesellschaft, Alltag und das ganz normale Leben kümmern dürfen, also um scheinbar unpolitische Dinge wie die Datschenkultur oder das Nacktbaden oder DDR- Design. Was muss vermittelt werden? Kleßmann: Also, ich halte diese Alternative, die zum Teil in der öffentlichen Debatte jetzt wieder hochgekommen ist und die Anfang der 90er Jahre besonders intensiv geführt wurde, in dieser Form für etwas abstrus, weil es einfach auf eine falsche Alternative hinweist. Man kann sich mit einer Diktatur und einer Diktaturgeschichte nicht auseinandersetzen, indem man ausschließlich die repressiven Elemente betont. Man kann sich natürlich genauso wenig damit auseinandersetzen, und diesen Trend gibt es auch, indem man die Alltagskultur untersucht. Ich bin der Meinung, dass beides ? in welcher Gewichtung auch immer zu unterschiedlichen Zeiten ? sehr wohl thematisiert und erforscht werden muss, weil man sonst auch die Erfahrungsgeschichte und die Lebenswelt derjenigen, die in dieser Diktatur gelebt haben, nicht hinreichend erfassen kann und damit ein wichtiges Element der Aufarbeitung von Diktaturgeschichte bei den Adressaten nicht ankommt. Man kann nicht so tun, als ob alle, die in der Diktatur gelebt haben, ständig nur von Repressionen bedroht gewesen sind. Das soll um Gottes Willen nicht heißen, dass man nicht die diktatorischen Elemente und die repressiven Elemente ebenfalls hinreichend betont. Aber das ist nach meinem Eindruck auch längst passiert. Über die Stasi ist dermaßen viel geforscht und geschrieben worden, dass nun niemand behaupten kann, wir wüssten darüber nicht einigermaßen Bescheid. Sträter: Sie würden also nicht die Ansicht teilen, dass man ? wenn man sich z.B. um Datschenkultur oder sonst wie DDR-Alltag forscherisch und vermittelnd kümmert ? dann Verrat an den Opfern begeht? Kleßmann: Nein, das glaube ich nicht. Das Fatale bei Diktaturgeschichte ist ja eigentlich auch, dass dieser angeblich unpolitische Alltag ein zentrales Element dieser Diktaturgeschichte gewesen ist und dass ein Großteil der Bindungskräfte, die Diktaturen auch immer gehabt haben, dieser Begriff ist sehr umstritten in der Öffentlichkeit, aber er trifft durchaus etwas, gerade in diesem scheinbar unpolitischen alltäglichen Bereich seine Grundlage hat. Wenn man das nicht mit einbezieht, dann versteht man eigentlich nicht, warum es doch eine gewisse Akzeptanz in breiten Bevölkerungskreisen oder zu bestimmten Zeitpunkten durchaus gegeben hat. Eine reine Unterdrückungsgeschichte erfasst eben ein ganz wichtigen, aber eben doch nur einen Teil der Diktaturgeschichte. Sträter: Eine gewisse Akzeptanz hat die DDR in ihrer Bevölkerung schon erreicht? Kleßmann: Ohne Frage, ob einem das passt oder nicht. Ich denke, wenn wir über diese Arbeitergeschichte reden, wird das in vielen Punkten auch noch mal deutlich werden. Es hat viele Bereiche gegeben, und das wird auch jetzt aus der Rückschau ja immer in der viel beschworenen oder viel kritisierten Ostalgie deutlich, an die sich Leute gern erinnern oder die sie als positiv empfunden haben. Ich nenne nur mal das Stichwort Sozialpolitik oder Bildungswesen. Ob einem das passt oder nicht, ist jetzt eine zweite Frage, aber das hat zunächst mal eine wichtige Rolle gespielt und hat für eine gewisse Akzeptanz gesorgt. Sträter: Nun haben Sie eine sehr umfangreiche, man kann im Grunde sagen, Gesellschaftsgeschichte der DDR geschrieben mit dem Fokus auf die so genannte führende Klasse. Sie haben Ihr Augenmerk auf die Arbeitergeschichte und den Arbeiterstaat gerichtet. Warum nicht auf den Arbeiter- und Bauernstaat? Er nannte sich ja Arbeiter- und Bauernstaat. Kleßmann: Offiziell war das Etikett Arbeiter- und Bauernstaat, ja. Ich habe das pointiert als Arbeiterstaat, um damit deutlich zu machen, dass die Arbeiterklasse als die angeblich führende Klasse das entscheidende Legitimationsinstrument gewesen ist, auf das man sich bezogen hat. Sträter: Bevor wir etwas genauer hingucken, würde ich gerne von Ihnen gewissermaßen ein grobes Fazit Ihrer umfangreichen Recherchen hören. War aufs Ganze gesehen die DDR in der Tat ein Arbeiterstaat, ein Staat, in dem die Arbeiterklasse ? wie versprochen ? die führende Klasse war, in dem die Arbeiter ein besseres Leben, eine bessere gesellschaftliche Stellung hatten als in den kapitalistischen Gesellschaften? Kleßmann: Ich habe den Begriff Arbeiterstaat wohlweislich in Anführungsstriche gesetzt, um damit zu dokumentieren, das ist ein Anspruch gewesen, den die SED formuliert hat, um damit ferner zu dokumentieren, diese führende Klasse ist in einem unvorstellbaren Ausmaß stilisiert worden. Und zwischen dieser ideologischen Stilisierung als führende Klasse und der sozialen Realität liegen erhebliche Differenzen. Das muss man sehr wohl auseinanderhalten. Aber man kann sehr wohl sagen, dass dieser Anspruch Arbeiterstaat auch ein stückweit von Arbeitern aufgenommen worden ist. Man könnte sagen, die haben sich sozusagen den Schuh angezogen, der ihnen da hingestellt wurde, und haben dann auch daraus versucht ihre Interessen ein stückweit wahrzunehmen. Sträter: Dann gucken wir uns den Schuh ein bisschen genauer an. Es ist ja eine Geschichte voller geweckter Hoffnungen und voller Enttäuschungen. Die DDR wollte der bessere deutsche Staat sein, ein überzeugend antifaschistischer Staat. Er ist ja auch von den Intellektuellen freudig als solcher begrüßt worden. 1953, am 17. Juni, sind es ja die Arbeiter gewesen, ist es gewissermaßen die führende Klasse, die dann auf die Barrikaden geht, weil sie mit der Politik der SED nicht mehr einverstanden ist. Kleßmann: Ja, das ist in der Tat ein Schock gewesen für die SED. Ohne dieses Schlüsseldatum kann man die ganze DDR-Geschichte überhaupt nicht verstehen. Man muss da sicherlich ein bisschen früher ansetzen. Das passierte nicht einfach abrupt. Das ist sozusagen eine schrittweise Umsetzung der Vorstellung der SED und auch der Sowjets gewesen, wie man diesen Staat aufbaut, wie man die Planwirtschaft aufbaut. Ab 1950 gibt es den ersten 5- Jahrplan, also eine umfassende Konstruktion praktisch der gesamten wirtschaftlichen, aber eben auch gesellschaftlichen Steuerung. Dann gibt es den Ausbau des Repressivapparats in der gesamten Gesellschaft, aber auch in der Partei. Also, da kommen eine Fülle von Faktoren zusammen, die dann eine Krisensituation schaffen, die schließlich das Pulverfass zum Explodieren bringt. Die hat dann zum Aufstand geführt, der sich ja in sehr vielfältigen Formen geäußert hat. Sträter: Was ist der Grund für die Repression? Wenn man jetzt mal annimmt, dass es nicht schlicht und einfach böse Menschen sind, die an der SED-Spitze standen, sondern Leute, die ein politisches Projekt vor Augen hatten und die ein politisches Projekt durchführen mussten, das ja auch von der sowjetischen Besatzungsmacht herrührte. Sie mussten ja in gewisser Weise auch Befehle ausführen. Die Partei sollte ja ein großer Erziehungsapparat sein. Also, die Leute sollten erzogen werden und sollten für etwas anderes bereitgemacht werden. Hat die Repression etwas damit zu tun, dass die SED-Führung einen Anspruch an die Menschen stellte, den die Menschen nicht erfüllen konnten und nicht erfüllen wollten? Kleßmann: Ja, ich glaube, beides, einen Anspruch, den die Menschen nicht erfüllen konnten und den sie auch nicht wollten. Aber in dem Zusammenhang müsste man noch mal zurückkommen auf die Konstruktion der leninistischen Kaderpartei, die ja eine bestimmte Tradition hat, die eine utopische Vision hat, von deren Richtigkeit sie auch überzeugt ist, und die dann, weil man eben glaubt, man hat die historische sozusagen im Köcher, auch mit Konsequenz und eben auch mit Brutalität durchgeführt wird. Da wiederholt sich im Grunde das, was in der Sowjetunion schon seit Lenin passiert ist, jetzt im kleineren Maßstab in der DDR. Für Osteuropa gilt das in ähnlicher Weise. Also, die Vorstellung, die führende Partei muss eben die gesellschaftliche und die politische Entwicklung anleiten und bestimmen, sie muss auch die Arbeiterklasse führen. Der Begriff ?führende Partei? ist insofern wichtig, weil die Klasse als solche das gar nicht kann. Sie muss angeleitet werden. In den Quellen taucht immerfort dieser Begriff der Anleitung auf. Das scheint mir ganz charakteristisch zu sein. Das geht also alles mit Anleitung von oben. Wenn man das tut und wenn man diese Utopie einer klassenlosen Gesellschaft realisieren will und der Vernichtung der bürgerlichen Gesellschaft, von denen es ja immer noch Restbestände gab, dann entwickelt das natürlich auch eine gewisse Eigendynamik. Also, man hat da auch mal von der bürokratischen Eigenlogik gesprochen. Das heißt, wenn eine solche Partei mit ihren Nebenorganisationen aufgebaut wird, die davon überzeugt ist, sie muss dieses Ziel realisieren, dann entwickelt sie einen Repressionsapparat und der expandiert in einem unglaublichen Maße. Das ist ja nicht nur gegen die Bevölkerung gerichtet gewesen, sondern sozusagen auch gegen die Abweichler in der eigenen Partei. Da wiederholen sich diese unsäglichen Auseinandersetzungen aller kommunistischen Parteien mit ihren Abweichlern und denen, die nicht auf Linie sind. Wenn man dieses Konzept durchsetzen wollte, musste man also ein gewisses Maß von Terror dabei anwenden, sonst funktionierte das nicht. Da kommt eben auch dieses Element der Erziehungsdiktatur noch mal wieder ganz stark rein. Dahinter steckt eben wirklich wieder diese Utopie, man kann die Menschen dazu erziehen. Aber sie müssen eben auch erzogen werden und die Erzieher sind diejenigen, die die Weisheit gepachtet haben und oben sitzen. Da ist Ulbricht zweifellos eine ganz wichtige Figur gewesen, der ganz massiv schon sehr frühzeitig auf die Realisierung dieser kommunistischen Vorstellung gedrängt hat. Sträter: War er ein Überzeugungstäter? Kleßmann: Davon bin ich überzeugt. Sträter: Wir hören jetzt einen Originalton aus dem Jahr 1952, der vielleicht die Hoffnung, die die SED weckte, die verwegene Hoffnung und die utopische Hoffnung auch ein wenig widerspiegelt. Walter Ulbricht kündigt den Aufbruch in den Sozialismus an. Das bedeutet, dass die DDR-Gesellschaft in forciertem Tempo in Richtung Sozialismus sich bewegen soll. O-Ton Kommentator: In der Geschichte unseres Volkes begann ein neues Kapitel, als am 9. Juli 1952 die II. Parteikonferenz der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands zusammentraf. An diesem Tag berichtete der Generalsekretär der Partei, Walter Ulbricht, den Delegierten über das bisher Vollbrachte und zeichnete dem Volk den Weg ins Künftige vor. O-Ton Walter Ulbricht: In Übereinstimmung mit den Vorschlägen aus der Arbeiterklasse, aus der werktätigen Bauernschaft, aus anderen Kreisen der Werktätigen hat das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands beschlossen, der II. Parteikonferenz vorzuschlagen, dass in der Deutschen Demokratischen Republik der Sozialismus planmäßig aufgebaut wird. O-Ton Kommentator: In dem Jubel der Parteikonferenz über diesen Beschluss kam das unerschütterliche Vertrauen des werktätigen Volkes zu seiner Partei zum Ausdruck, an deren Spitze so bewährte Genossen wie Wilhelm Pieck, Otto Grotewohl und Walter Ulbricht stehen. Sträter: Herr Kleßmann, dies ist natürlich ein inszenierter Jubel und dies ist eine inszenierte Aufbruchstimmung. Trotzdem, die Menschen, die in diesem Staat, in diesem Experiment, es war ja eigentlich ein großes Gesellschaftsexperiment, die in diesem Experimentierstaat gelebt haben, sind davon auch geprägt worden. Was bedeutete das, dass sie zu neuen Menschen erzogen werden sollten, aber nicht wollten, und dass sie sozusagen Teil einer Erziehungsdiktatur wurden? Das war ja nicht nur eine Sache, die innerhalb der SED durchgeführt wurde, die wurde ja runtergebrochen bis in den Kindergarten und bis in den Hort und bis in den letzten Winkel eigentlich der Familie. Kleßmann: Also, die Vorstellung von der Erziehung eines neuen Menschen, dieses geradezu klischeehafte Bild des neuen Menschen, das überall in der kommunistischen Theorie eine große Rolle spielt, ist im Kern wirklich etwas Totalitäres. Das kann man, glaube ich, so sagen. Das hat vor allen Dingen in der Anfangsphase eine Rolle gespielt. Das erklärt aber bis zum gewissen Grade auch diese Dynamik, mit der man in der Anfangsphase versucht hat, dieses Konzept durchzusetzen. Also, der II. Parteitag oder die frühen 50er Jahre, die Vorgeschichte des 17. Juni, ist im Grunde von dieser Vorstellung besonders drastisch geprägt. Das ist wirklich genuin stalinistisch und leninistisch auch. In den späteren Phasen hat das natürlich massiv nachgelassen. Das heißt nicht, dass man nicht eine Erziehung der Bevölkerung ? und in diesem Falle eben auch der Arbeiterklasse ? auf bestimmte Ziele hin weiter betreibt und dass sich das auswirkt im Bildungswesen, in der Kultur und sonst wo. Das hat aber nicht mehr diese brutale Relevanz gehabt, wie sie es vielleicht noch in den 50er Jahren gehabt hat. Damit werden auch die Befunde sehr viel ambivalenter. Da hat man dann vieles über sich ergehen lassen, aber hat das alles nicht mehr so ernst genommen. Sträter: Sie sagen, die Vorstellung vom neuen Menschen hat etwas Totalitäres. Was heißt in diesem Zusammenhang ?hat etwas Totalitäres?? Kleßmann: Ja, weil dahinter für meine Begriffe ein völlig falsches Menschenbild steht. Man kann den Menschen nicht völlig und nach einem bestimmten Bild umerziehen, sondern man muss mit bestimmten widerstreitenden Interessen, Eigenschaften, Entwicklungen rechnen. Insofern impliziert diese Vorstellung, man kann nach einem bestimmten vorgeformten Bild nicht nur einen einzelnen Menschen, sondern eben eine ganze Bevölkerung umbauen, dass das nur mit massivem Terror geht. Das, meine ich, ist dann wirklich im Kern etwas Totalitäres. Sträter: Ein Kernstück des neuen Menschen sollte ja sein, dass der neue Mensch sich ganz auf den Betrieb konzentriert und ein neues Verhältnis zur Arbeit hat. Das ist ja eigentlich ein netter Gedanke. Kleßmann: Ja, diese betriebszentrierte Arbeitsgesellschaft, wie man das auch genannt hat, beruht in der DDR ? und das gilt analog für Osteuropa auch ? durchaus überwiegend auf sowjetischen Vorbildern, die übernommen wurden, die dann aber auch, zumindest partiell, Akzeptanz gefunden haben. Über dieses vielfältige Organisationsnetz, über die vielfältigen Angebote des Betriebes, bis hin zur Ferienorganisation und zur Betriebskultur, ist natürlich auch ein stückweit Loyalität geschaffen worden. Also, es gab so etwas wie eine Verbundenheit mit diesem Betrieb. Im Betrieb gab es eben doch eine ganze Menge auch an sozialen Kontakten. Da war ein dichtes soziales Netz. Insofern ist das, glaube ich, ein Teil, den man gerade für eine Arbeitergeschichte überhaupt nicht in seiner Relevanz überschätzen kann. Sträter: Inwiefern hat sich da ein Heimatgefühl eingestellt? Inwiefern sind Strukturen geschaffen worden, die für die Menschen dann doch angenehm waren? Beispielsweise sind ja die Brigaden aufgebaut worden. Viele Leute waren ja in Brigaden zusammengefasst. Das war ja eigentlich so eine Art von Lebensmittelpunkt. Kleßmann: Sie haben relativ schnell ziemlich breite Akzeptanz gefunden. Sie sind dann Ende der 50er Jahre ? ich sage jetzt mal ? ideologisch noch mal ein bisschen aufgerüstet worden mit den sozialistischen Brigaden oder ?Brigaden der sozialistischen Arbeit?. Das gehört noch mal in den Kontext des Aufbruchs zu neuen Ufern. Und das ist dann auch in den späten Jahrzehnten der DDR ein bisschen zurückgenommen worden. Andererseits haben diese sozialistischen Brigaden eine große Resonanz gehabt. Nicht nur, dass die meisten darin organisiert waren, über diese Brigaden liefen die Wettbewerbe. Diese Brigaden waren bis zu einem gewissen Grade Ersatzvereine, die es ja sonst nicht so ohne Weiteres gab. Und in diesem Ersatzverein konnte man eben ein stückweit eben das auch realisieren an Interessen und an sozialer Kommunikation, was sonst so ohne Weiteres möglich war. Sträter: Das heißt, da hat der Staat eine Wärme ermöglicht, indem sich die Leute vielleicht die Brigaden sozusagen zu Eigen gemacht haben als Lebensmittelpunkt, die den Leuten im Westen vielfach fehlt. Kleßmann: Das glaube ich schon. Das muss nicht fehlen, aber das ist zumindest ein positives Element gewesen, was nicht nur in der Rückschau ? da ist es ganz evident ? für die Betroffenen eine große Rolle gespielt hat. Sondern auch zeitgenössisch hat die Arbeit in den Brigaden und diese Erfahrung eines Arbeitskollektivs eine ganz wichtige Rolle gespielt. Da müsste man noch einen Punkt erwähnen, der eigentlich in diesem Umfang auch erst durch den Zugang zu neuen Quellen deutlich gemacht worden ist, nämlich diese Brigaden hatten auch eine gewisse Ersatzfunktion für die Gewerkschaften und Interessenorganisationen, die sonst so nicht funktionieren konnten. Denn die Gewerkschaften waren weitgehend gleichgeschaltet und waren sozusagen Verstärker des Parteiwillens, aber keine wirklichen Interessenorganisationen. In diesen kleinen Einheiten der Brigaden konnte man am ehesten versuchen, etwa wenn es um die Aushandlung von Arbeitsnormen ging, die Interessen zu realisieren. Man hat auch das Stichwort von der ?Aushandelungsgesellschaft? geprägt. Das ist vielleicht ein bisschen übertrieben, verweist aber auf diesen Punkt, dass es durchaus möglich war, in dem vorgegebenen Rahmen etwas auszuhandeln und seine eigenen Interessen zu realisieren. Gegen die Brigaden ging das dann eben nicht. Da hatte auch die Partei kein Interesse daran, sozusagen den großen Krach gleich zu riskieren, sondern unter der Hand wurde da eben doch vielerlei geregelt. In diesem Zusammenhang sind die Brigaden ganz wichtig gewesen. Sträter: Das ist ein interessanter Punkt. Auch bei der Lektüre Ihres Buches fand ich das einen ausgesprochen spannenden Aspekt, weil Sie beschreiben ja noch weiter, wie da gewissermaßen die SED-Herrschaft ihre Grenzen findet. Sie haben an einer Stelle von einem ?geheimen Sozialkontrakt?, der eigentlich nach dem 17. Juni 53 geschlossen worden ist, gesprochen oder geschrieben, dass die SED der führenden Klasse, der Arbeiterklasse, nur begrenzt etwas zumuten konnte. Das Problem bestand darin, dass ? als die DDR-Wirtschaft sehr in eine Schieflage geriet und eigentlich nicht voran kam und Zumutungen nötig gewesen wären ? die SED nicht die Kraft, nicht die Möglichkeit hatte, ihren Leuten etwas zuzumuten, wogegen die Leute womöglich auf die Barrikaden gegangen sind, so dass der SED-Staat am Ende nicht nur an der SED selber und an der Unfähigkeit der Regierenden zugrunde gegangen ist, sondern auch an der Stärke der führenden Klasse. Kleßmann: Ja, das ist in der Tat ein sehr spannender und paradoxer Befund. Wenn man diesen Begriff des ?geheimen Sozialkontrakts? mal nimmt, der eher für die 70er Jahre entwickelt worden ist, den ich aber in der Tat schon in die Phase nach dem 17. Juni verlagert habe, dann wird dies ganz deutlich. Dieser Aufstand hat eben doch dazu geführt, dass die SED nicht mehr versucht hat, in dieser Form der frontalen Konfrontation ihre Ziele durchzusetzen, sondern gesehen hat, da gibt es quasi soziale Grenzen. Auf der anderen Seite haben die Arbeiter dieses ebenfalls gesehen. Es hat keinen Sinn. Da kommen wir nicht weiter, uns mit einem Aufstand öffentlich gegen die Herrschaft zu erheben, sondern das braucht andere Formen. Das ist dann genau diese Form gewesen, dass man quasi unter der Schwelle des großen politischen Protests oder des großen politischen Konflikts versucht seine Interessen zu realisieren. Das hat dann aber auch die Konsequenz, dass bestimmte Dinge, die eigentlich nötig gewesen wären, nicht mehr so ohne Weiteres realisierbar sind. Also, wenn man noch mal auf die 60er Jahre zurückkommt, die Modernisierung der Volkswirtschaft, die Ulbricht massiv betrieben hat, hätte auch eine ?sozialistische Rationalisierung?, wie das genannt wurde, bedeutet und für den Einzelnen fühlbare Einschnitte. Das war gegen die führende Klasse nicht mehr so ohne Weiteres durchsetzbar, wenn man nicht noch mal das Risiko eingehen wollte, dass die sich auf die Hinterbeine stellen und so nicht mitmacht. Insofern hat man hier, was sozusagen meine Generalfrage war, die soziale Relevanz dieses Anspruchs ?Arbeiterstaat? noch mal an einem sehr konkreten Punkt, wo man ihn verfolgen kann. Nun würde ich nicht sagen, die Arbeiterschaft hat sozusagen den Arbeiter- und Bauerstaat ruiniert in erster Linie. Da kommt eine ganze Menge zusammen. Man soll so was nie monokausal sehen. Aber sie hat auf der anderen Seite durch ihre Modernisierungsresistenz eben doch auch dazu beigetragen, dass auf lange Sicht dieses Unternehmen erodierte und keine wirkliche Perspektive hatte. Sträter: Und man kann sagen, dass die Arbeiterschaft in der Tat ein besonderes Selbstbewusstsein innerhalb der DDR entwickelt hatte. Kleßmann: Das wird man auch sagen können. Man hat das mal schön formuliert: ?Wie die Führung in die Klasse hineinrief, so schallte es heraus.? Das ist also genau diese Konstellation. Es ist eben nicht nur ein völlig belangloses propagandistisches Etikett, wenn die sagen, wir sind ein Arbeiterstaat, sondern das hat soziale Konsequenzen, weil sich die Adressaten das anziehen und daraus dann auch versuchen ein stückweit ihr Selbstbewusstsein zu formulieren. Auch wenn man natürlich sagen muss, ein Arbeiterstaat ist das nie gewesen. Wolfgang Engler hat die Formulierung von der ?arbeiterlichen Gesellschaft? geprägt, die ? glaube ich ? ganz gut wiedergibt, dass dieser sozialkulturelle Einfluss sehr groß war. Selbstverständlich sind auch hier viele Politiker unmittelbar aus der Arbeiterklasse gekommen, die meisten sogar. Was hier für die DDR relevant gewesen ist, ist, dass nicht die soziale Klasse Arbeiter politisch das Sagen hatte, sondern eben eine kleine Avantgarde, die sich darauf berief. Insofern war das, wenn man das in der marxistischen Terminologie noch mal ausdrückt, ja auch keine ?Diktatur des Proletariats?, die ohnehin bei Marx nur als Übergang gedacht war, sondern es war eine Diktatur über das Proletariat. Darüber ist das eigentlich auch nie hinaus gelangt. 1 11-22 FuG-Protokoll (2).doc