COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Autor, Regie: Uwe Birnstein Deutschlandradio Kultur Religionen / 17.4.2010, 16.05 Redaktion: Ralf Bei der Kellen Der fromme Humanist Wie Philipp Melanchthon zum "Lehrer Deutschlands" wurde Länge: 51'00 Musik: Capella de la Torre Musik Ein feste Burg Sprecherin "Melanchthon?" Der Philipp Melanchthon? Zitat Melanchthon Zwei Begriffe sind es, auf die gleichsam als Ziel das gesamte Leben auszurichten ist: Frömmigkeit und Bildung. Friedrich Schorlemmer Er ist für mich auch so eine Art wie der Vorläufer von Nathan dem Weisen. Denn er hat es vermocht, anders als Luther, mit Gegnern auch so zu reden, dass den Gegnern was zugestanden wird, dass die vielleicht auch Anteil an der Wahrheit haben. Petra Bahr Ich glaube, Melanchthon wird vielen Leuten ziemlich auf den Geist gegangen sein, weil er natürlich auch ein Schlaumeier war. Einfach weil er in der Tat oft mehr wusste als die anderen, aber auch nicht sehr zurückhaltend damit war, das anderen zu zeigen. Sprecherin Philipp Melanchthon ist gestorben. Wie ein Lauffeuer spricht es sich in Wittenberg herum, am 19. April 1560: Der berühmte Professor, Humanist, Reformator, der "Lehrer Deutschlands" ist tot. Schwere Erkältung. Dazu Altersschwäche. 63 Jahre alt. In seinem Studierzimmer hat er den letzten Atemzug getan - in jenem Haus, das noch heute als "Melanchthonhaus" Besucherscharen anzieht. Ihnen erklärt Dr. Stefan Rhein, Leiter der Luther-Gedenkstätten, die damalige Gefühlslage. Stefan Rhein Für viele wars offensichtlich das Gefühl des Endes einer Epoche. Die Gründergeneration der Reformation ist damit gestorben, einer der ganz Großen ist tot und es ist eben nicht nur Trauer unter den Universitätsangehörigen, sondern es muss ganz Wittenberg erfasst haben und wie in einer Trauerprozession kam man hier in dieses Haus. Es ging dann fast skurril weiter. Einige haben Haare abgeschnitten, wieder anderen haben Bücher mitgenommen. Also es gibt einen kleinen Reliquienkult rund um den toten Melanchthon. Sprecherin Evangelische Christen betreiben katholischen Reliquienkult - und das ausgerechnet an dem Mitstreiter und Nachfolger Martin Luthers? Würde sich Melanchthon, der Zeit seines Lebens leidenschaftlich für die Reformation eingetreten ist, darüber nicht im Grabe umdrehen, noch jetzt, fast auf den Tag genau 450 Jahre später? Würde er nicht. Über solche Frömmigkeitspraktiken würde der Protestant Melanchthon großherzig hinwegsehen aus der "himmlischen Akademie", in die er sich nach dem irdischen Leben wünschte. Aber dass die Konfessionen noch immer nicht vereint sind - das würde ihn wurmen. Hat er doch alles dafür getan, dass die christliche Kirche ihre Einheit bewahrt. Sein Plan ist nicht aufgegangen. Noch nicht. Musik Allemande Tripla Sprecherin "Melanchthon"? Warum eigentlich ein griechischer Name für einen Mann aus dem badischen Land, genau gesagt: aus dem Kraichgau, dem Hügelland zwischen Pforzheim und Heidelberg? Auf dem Marktplatz der Stadt Bretten hat der kleine Philipp viele deutsche Durchreisende mit griechischen Namen getroffen. Ein sicheres Zeichen: Es handelte sich um Gelehrte. Um Männer, die die Schriften alter Philosophen lasen, und zwar in ihren Originalsprachen. Dort, an der Quelle der abendländischen Kultur, erhofften sie sich Wegweisungen für ihr Leben. So stark identifizierten sie sich mit der Antike, dass sie ihre eigenen Nachnamen ins Griechische oder Lateinische übertrugen. Wahrscheinlich hat der Zehnjährige Philipp Schwarzerdt insgeheim schon gehofft, dass auch er einmal seinen Nachnamen ändern würde - als Zeichen, dass jedermann sehe: Auch er gehört zur neuen Bewegung der "Humanisten", auch er beschreitet neue Denkwege abseits der eingefahrenen philosophischen und theologischen Methoden. Immerhin: Schon in jungen Jahren lernte Philipp Schwartzerdt Griechisch. Seine Großeltern, bei denen er aufwuchs, hatten das Sprachtalent ihres Enkels erkannt. Später auch sein Großonkel - Johannes Reuchlin, ein angesehener Humanist. Er nahm Philipp unter seine Fittiche. "Schwarzerdt heißt du", soll Reuchlin dem Zögling gesagt haben, "ein Grieche bist du, griechisch soll auch dein Name lauten und so nenne ich dich Melanchthon, das heißt so viel wie schwarze Erde." Im Alter von zwölf Jahren beginnt der hochbegabte Melanchthon sein Studium in Heidelberg, setzt es in Tübingen fort. Die Philosophen haben es ihm ebenso angetan wie die Sprachen. Astrologie und Rhetorik, Mathematik und Biologie saugt er in sich ein. Doch was er da lernt, reicht ihm letztlich nicht. Zitat Melanchthon Die Studien, die Verstand und Sitten bilden sollten, sind vernachlässigt, von umfassendem Wissen ist nichts vorhanden; was man Philosophie nennt, ist leerer, unfruchtbarer Trug, der nur Zank erzeugt. Die wahre Weisheit, die vom Himmel kam, um der Menschen Sinne zu lenken, ist verbrannt. Sprecherin Als die reformfreudige Universität im fernen Wittenberg einen Griechischprofessor sucht, empfiehlt Reuchlin seinen wissbegierigen Neffen. "Unter den Deutschen kenne ich keinen, der ihm überlegen ist", überschlägt er sich mit Lob für seinen Musterschüler. Im August 1518 reitet Melanchthon durch das Tor der kursächsischen Stadt. Als er zwei Tage später für seine Antrittsrede ans Pult tritt, sind viele erstaunt: Gerade mal 21 Jahre alt ist dieser Mann, einen leichten Sprachfehler hat er, von Statur ist er klein und schmächtig, fast noch ein Knabe. Leidenschaftlich plädiert er für das Studium der alten Sprachen. Zitat Melanchthon Wenn wir den Buchstaben verstanden haben, werden wir unvermittelt auch den Sinn des Inhalts erfassen. Dann mögen sich all die vielen frostigen Glossen, Parallelstellen und Widersprüche fortscheren und was es sonst noch für Hemmnisse einer freien Geistesentfaltung gibt. Wenn wir unseren Sinn auf die Quellen richten, dann beginnen wir, Christus zu verstehen; sein Gebot wird uns klar werden und es durchströmt uns jener beglückende Nektar göttlicher Weisheit. Hört mich nun noch bis zum Schluss an, ihr Jünglinge! Wiewohl das Gute und Schöne gewöhnlich schwer ist, wird euer Eifer doch die Schwierigkeiten überwinden, sodass ihr, wie ich hoffe, mit weit geringerem Kraftaufwand das Gute erreicht als das Schlechte. Frisch gewagt ist halb gewonnen! Wage zu wissen! Sprecherin Nach Melanchthons rhetorisch brillanter Rede herrscht Einigkeit: Von diesem Mann ist Großes zu erwarten. Das meint auch Martin Luther, der unter den Zuhörenden sitzt. "Graeculus", "mein kleiner Grieche" nennt er Melanchthon liebevoll. Die beiden mögen sich auf den ersten Blick. Ein ungleiches Paar, der dickköpfige Augustinermönch und der feinsinnige Graecist, der gottsuchende Theologe und der humanistische Gelehrte, der stattliche Fromme und der schmächtige Denker. Die enge und herzige Freundschaft, die zwischen den beiden entsteht, trägt durchs Leben. Und bildet das Fundament für eine Bewegung, die von Wittenberg aus die Kirche erschüttert, dann das Ganze Reich, schließlich sogar die Welt verändert. Unter dem Schlagwort Reformation wird sie in die Geschichte eingehen. Musik Propignon de Melyor Stefan Rhein Wir stehen hier im Garten des Melanchthonhauses und haben das sehr stattliche schöne Melanchthonhaus vor uns. Das Wittenberg des 16. Jahrhunderts ist eine kleine Stadt. Es waren Nachbarn, die Reformatoren. Das ist ganz faszinierend, sich zu überlegen, wie in dieser kleinen Stadt am gleichen Ort zur gleichen Zeit so viele Begabungen zusammenkamen. Denn es ist ja nicht nur Luther und Melanchthon, es kommen ja noch Bugenhagen, es kommt Cranach, es kommt Cruciger - also so viele Begabungen zur gleichen Zeit in Wittenberg, einer Stadt, von der ja auch Luther sagt, sie läge am Rande der Zivilisation. Und auch Melanchthon hat bisweilen über diese Stadt gespottet, es gäbe hier nur kleine arme Dorfhäuschen. Es sei eigentlich keine Stadt, es sei mehr so ein Dorf. Gleichwohl hat er 42 Jahre hier verbracht, weitaus den größten Teil seines Lebens. Sprecherin Martin Luther war es, der die Provinzstadt ins Zentrum der Öffentlichkeit rückte, sodass ihr Name schließlich sogar in Rom bekannt wurde. 1517, im Jahr vor Melanchthons Ankunft also, hatte er 95 Thesen zu Buße und Ablass veröffentlicht. Der Papst könne keine göttlichen Strafen erlassen, argumentierte Luther; jeder Christ, der wahre Reue und Leid über seine Sünde zeige, sei allein aus Gnade von Strafe und Schuld befreit - dafür müsse er keinen Ablass erwerben. Im Oktober 1518 soll sich Luther in Augsburg für seine kirchenkritischen Thesen rechtfertigen. Eine gefährliche Fahrt. Sollte ihm etwas zustoßen, so bittet Luther seinen neuen Freund Melanchthon, solle dieser das Werk der Reformation fortführen. Zitat Luther Du erweise Dich, wie Du es tust, als ein Mann, und lehre die jungen Leute das Rechte. Ich gehe hin, um für Euch und für sie geopfert zu werden, wenn es dem Herrn gefällt. Lieber will ich sterben und - was mir am allerschwersten fällt - auch Euren überaus lieblichen Umgang ewiglich entbehren, als dass ich das widerrufe, was recht geredet ist. Gehab Dich wohl, mein lieber Philippus, und wende Gottes Zorn durch andächtiges Gebet ab. Sprecherin Die Abwesenheit Luthers verursacht Melanchthon Sorgen - und Mehrarbeit. Denn er muss an der Universität die Vertretung für die Bibelvorlesungen Luthers übernehmen. Erstmals arbeitet er sich intensiv in neutestamentliche Schriften ein. So lernt der Humanist Melanchthon die Bibel immer besser kennen. Martin Luther öffnet ihm die Augen: Die Bibel ist nicht nur ein Studienobjekt, sondern eine Grundlage - für den Glauben wie für die Bildung! Besonders in den Psalmen findet Melanchthon die heilsame Lehre des Glaubens. Vorlesungen über den Römerbrief folgen. Die Einsicht reift in ihm: Wer die Wahrheit und den Glauben in der Tiefe ergründen will, sollte sich mit dem Maßstab Jesu der Schrift nähern. Zitat Melanchthon Lest unter Christi Leitung seine Schriften! Sprecherin Das lernt er von Luther. Zitat Melanchthon So oft ich Martinus betrachte, kommt er mir größer vor. Sprecherin Doch eigentlich geht Melanchthon über Luther hinaus: Mit strenger Systematik fasst er dessen theologische Einsichten und biblische Erkenntnisse zusammen. Was Luther oft impulsiv und unter dem Eindruck existenzieller Verzweiflung erkennt, verarbeitet Melanchthon zu einer sogar für theologische Gegner nachvollziehbaren Theologie. Die Ernsthaftigkeit, mit der Melanchthon vorgeht, nötigt Luther großen Respekt ab. In höchsten Tönen lobt er seinen Freund und Kollegen. Zitat Luther Ich glaube, dass seit tausend Jahren die heilige Schrift nicht mit solcher Reinheit und Klarheit behandelt worden ist und dass seine Gabe dem apostolischen Zeitalter nahe kommt. Möchte Gott auch an diesem seinem Gefäß vollenden, was er angefangen hat, von dem ich zuversichtlich glaube, dass an seiner Quelle in Kürze die ganze christliche Welt die reinste Theologie trinken wird. Sprecherin Die "reinste Theologie" trägt von 1521 an einen Namen: Unter dem Titel "Loci Communes Theologicarum", "Hauptbegriffe der Theologie" veröffentlicht Melanchthon die erste evangelische Dogmatik überhaupt. Sünde und Gnade, Rechtfertigung und gute Werke, Gesetz und Evangelium: Wer verstehen will, warum und wie die Reformatoren die Kirche und Theologie verändern möchten, kommt an diesem Buch nicht vorbei. Melanchthon weiß: Fromme Gefühle allein sind kein ausreichendes Fundament für die Erneuerung der Kirche. Die Menschen müssen wissen, worum es eigentlich geht. Er schreibt sein Buch, Zitat Melanchthon damit die Jugend sieht, wonach sie in der Schrift hauptsächlich fragen muss und wie abscheulich die überall in der Theologie faselten, die uns anstelle der Lehre Christi aristotelische Spitzfindigkeiten dargeboten haben. Wer die Hauptthemen nicht kennt: die Macht der Sünde, das Gesetz, die Gnade, von dem sehe ich nicht ein, wie ich ihn einen Christen nennen könnte. Sprecherin Für unerlässlich hält es Melanchthon, dass die Menschen die Bibel kennen und verstehen. Deswegen ist es ihm ein Herzensanliegen, dass Altes wie Neues Testament in lesbaren deutschen Übersetzungen erscheinen. Martin Luther hatte Übersetzungen aus dem Griechischen und Hebräischen angefertigt - Melanchthon verleiht ihnen mit seinen großen Sprachkenntnissen den letzten Schliff und merzt Fehler aus. Die "Lutherbibel" enthält unzählige Ergänzungen und Korrekturen Melanchthons. Als sie erscheint, ist dies nicht nur eine editorische Glanzleistung, sondern auch ein kirchenpolitischer Donnerschlag: Die Bibel wird der Deutungshoheit der damaligen Kirche entrissen. Jeder kann sie lesen. Jeder kann sehen, dass sich die Kirche in vielen Dingen von der biblischen Lehre entfernt hat. Zitat Melanchthon Was nützt es zu wissen, dass die Welt von Gott erschaffen ist, wenn du nicht des Schöpfers Barmherzigkeit und Weisheit anbetest? Und was nützt es zu wissen, dass Gott barmherzig und weise ist, wenn du nicht zu Herzen nimmst, dass er es gegen dich ist? Musik Verbum caro factum est Sprecherin Eigentlich will Melanchthon nur denken, forschen und lehren. Doch er wird hineingezogen in den Sog, den die neue Lehre der Reformatoren entfacht. Dass allein die vom Papst gelenkte römische Kirche den Schatz des christlichen Glaubens bewahrt: Diese Vorstellung wird Melanchthon immer zweifelhafter. Die Lehre vom Abendmahl und das Selbstverständnis des Papstes, Reliquienkult und übertriebene Heiligenverehrung decken sich nicht mit dem, was er in der Bibel findet. Während Luther lauthals und mit harschen Worten die Kirche anprangert, verzichtet Melanchthon auf allzu große Polemik. Allerdings hält er seine eigenen Erfahrungen nicht zurück und erzählt sie freimütig seinen Studenten: Zitat Melanchthon Ich habe selbst "Automaten" gesehen, das heißt Säulen, die sich bewegten. Aber in Wirklichkeit bewegten sie sich nicht von selbst. Da stand ein Mönch hinter der Säule und hat gezogen, wenn die Leute kamen und etwas von Maria erbaten. Dann hat sie ihr Haupt den Leuten entweder zu- oder abgewendet. Wenn sie sich abwandte, gaben die Leute mehr Geld, bis sie sich wieder zuwandte. Und daraus schloss man dann, dass Maria erhöre. Sprecherin Wenn die Kirche solche verdummende Frömmigkeit fördere und christlich verbräme, lade sie Sünde auf sich - davon war Melanchthon überzeugt. Die Kirche müsse von solchen Verirrungen zurückgeführt werden zu ihrem eigentlichen Auftrag. Um mit den Altgläubigen diskussionsfähig zu werden, wollte Melanchthon zunächst klären: Was ist das überhaupt - "die Kirche"? Für die Reformatoren und Melanchthon jedenfalls viel mehr als die verfasste, vom Papst und vom Klerus gelenkte Kirche. Melanchthon setzt seine Definition entgegen: Zitat Melanchthon Die Kirche ist in diesem Leben die Schar derer, die das Evangelium annehmen und die Sakramente recht gebrauchen. Hier ist der Sohn Gottes durch den Dienst am Evangelium wahrhaft wirksam und erneuert viele durch die Stimme des Evangeliums und den Heiligen Geist und macht sie zu Erben des ewigen Lebens, In dieser Schar sind viele Erwählte und andere, die nicht heilig sind, aber dennoch mit der wahren Lehre übereinstimmen. Sprecherin Mit solchen Gedanken im Kopf reist Melanchthon im Frühjahr 1530 nach Augsburg. Wieder hatte Kaiser Karl V. die Reichsstände eingeladen. Das Ansinnen des katholischen Monarchen ist hauptsächlich politischer Natur. Aus dem Osten bedrohen die Türken das Reich. Würde sich das Land in Konfessionskriegen selbst zerfleischen, könnten die Angreifer ein leichtes Spiel haben. Also geht es dem Kaiser darum, Frieden zwischen den Altgläubigen und den Protestanten zu stiften. Er will den Evangelischen die Chance einräumen, ihre Position zu erklären. Von evangelischer Seite soll Melanchthon diese große Aufgabe übernehmen. Zwar liegt eine Kirchenspaltung in der Luft, aber Melanchthon gibt noch nicht die Vision auf, die bestehende römische Kirche könne reformiert werden. Deshalb begründet er die evangelische Lehre oft mit Zitaten der Kirchenväter. Den Entwurf schickt Melanchthon zur Beurteilung an Luther, der sich auf sicherem kursächsischem Boden befindet. Luther enthält sich einer ausführlichen Kommentierung, lobt vielmehr seinen Mitstreiter: Zitat Luther Ich habe Mag. Philipps Apologie durchgelesen, die gefällt mir sehr wohl, und ich weiß nichts daran zu bessern noch zu ändern. Das würde sich auch nicht einfügen, denn ich kann so sanft und leise nicht treten. Christus, unser Herr, helfe, dass sie viel und große Frucht schaffe, wie wir hoffen und bitten, Amen. Sprecherin: Philipp Melanchthon - ein Leisetreter? Dieses Image umgibt den Gelehrten bis heute. In dem zitierten Brief Luthers hat dieses Klischee seinen Grund. Zu Unrecht, meint der Osnabrücker Kirchengeschichtler und Melanchthonbiograf Martin Jung. Martin H. Jung Dieser Brief, in dem Luther genau dies sagt, war damals anerkennend gemeint. Luther hat Melanchthon nicht kritisiert, nicht verurteilt mit dieser Aussage, sondern seine Anerkennung ausgesprochen, dass Melanchthon genau das Auftreten, das Verhalten hat, was 1530 in Augsburg richtig und für die Evangelischen sinnvoll war. Später hat man aus einer rückblickenden Perspektive und letztlich verwurzelt in einer kritischen Gesamtbeurteilung Melanchthons, vor allem auch des späten Melanchthons, der ja auch nach 1530 noch eine lange Entwicklung durchgemacht hat, er hat ja noch 30 Jahre gelebt, aus einer kritischen Melanchthonperspektive heraus nun auch dieses Lutherwort plötzlich ins Negative gewendet und gesagt: Melanchthon war schon 1530 ein Leisetreter, der ohne Bekennermut, ohne Standhaftigkeit in Augsburg verhandelt hat und latent schon damals zumindest bereit war, evangelische Essentials zu verraten, die Reformation zu verraten, wie ihm Andere aufgrund seines späteren Verhaltens vor allem in den Jahren 1548 bis 1552 unterstellt haben.. Sprecherin Dabei war es ganz anders: Melanchthon wandte die Kunst der Diplomatie an. Er betont zunächst die Gemeinsamkeiten zwischen Altgläubigen und Evangelischen. Beide stehen auf dem Boden der altkirchlichen Bekenntnisse. Erst dann benennt er die Unterschiede, die seiner Meinung nach mit einigem Gutwillen von katholischer Seite aus dem Weg zu räumen seien. Doch die Taktik geht nicht auf. Am 25. Juni 1530 wird der Text der "Confessio Augustana" vor dem Reichstag verlesen. Zu einer Einigung kommt es nicht. Martin H. Jung Ihm ist vor allem dieses Dokument zu verdanken und eben auch die raffinierte aber eben damals leider auch gescheiterte Strategie, der anderen Seite und auch dem Kaiser, von dem man ja glaubte, er würde über den Parteien stehen, dem Kaiser und der anderen Seite zu signalisieren es gibt weite Bereiche der Übereinstimmung, kein Grund für eine Kirchenspaltung, Differenzen gibt es nur in nachgeordneten Bereichen! Das war ja die Strategie der Evangelischen 1530 - leider gescheitert. Und gut, aus heutiger Sicht würde man auch sagen: Diese Strategie war nicht ganz ehrlich. Sie war taktisch begründet, nachvollziehbar in der damaligen Zeit. Aber man hat unter dem Bereich, wo man behauptet hat, die Kirchen seien sich einig, eben auch Dinge hineingeschmuggelt, die spezifisch evangelisch, spezifisch reformatorisch waren. Sprecherin Der so sehr um Einheit bemühte Melanchthon muss einsehen: Zur Einheit der Kirche trägt sein "Augsburger Bekenntnis" nicht bei. Im Gegenteil: Die Hoffnung auf eine Einigung schwindet zusehends. Melanchthon zermartert sich mit Selbstzweifeln und muss sich überdies mit Vorwürfen auseinandersetzen. Zitat Melanchthon Ich werde von größten Sorgen verzehrt. Hier schreit einer und dort schreit einer. Ich muss aber meine Eigenart beibehalten dürfen, nämlich alles fliehen, was noch mehr verbittern würde! Sprecherin: Als Freund Luther von Melanchthons Traurigkeit hört, nimmt er ihn in Schutz: Zitat Luther Nehmt euch ja der Leute Urteil wenig zu Herzen, die da sagen, ihr hättet den Papisten zu viel nachgegeben! Sprecherin Genau diesen Kritikern gibt Melanchthon sieben Jahre später neuen Zündstoff. 1537 verfasst Luther selbst ein Bekenntnis, die sogenannten Schmalkaldischen Artikel. Wer sie mit der Confessio Augustana vergleicht, merkt: Ihr Stil ist deutlich, dafür polemisch und unversöhnlich. Für Melanchthon eine unangemessene Art, die Einheit der Kirche zu fördern oder wieder herzustellen. Zwar unterschreibt er, wie 42 andere protestantische Gelehrte, das Bekenntnis - doch fügt er handschriftlich einen Zusatz an: Zitat Melanchthon Ich , Philippus Melanchthon, halte diese obengenannten Artikel auch für richtig und christlich; vom Papst aber meine ich, wenn er das Evangelium zulassen wollte, dass ihm - um des Friedens und der allgemeinen Einheit willen mit denjenigen Christen, die schon unter ihm sind und in Zukunft sein werden - seine Oberhoheit über alle Bischöfe auch von uns zuzugestehen ist. Sprecherin Ein Protestant will den Papst anerkennen? Deutlich treten die Unterschiede zwischen Luther und Melanchthon zutage, erklärt Gedenkstättenleiter Stefan Rhein. Stefan Rhein Luther hat gesagt: Und wenn die Welt untergeht - die Wahrheit wird siegen! Er war da eher Apokalyptiker. Melanchthon eher der Politiker. So sind sie sehr unterschiedlich mit dem Problem der Kirchenspaltung umgegangen. Melanchthon hat sehr dafür gekämpft, dass die nicht eintrifft, hat Kompromissangebote gemacht. Hat sogar zugestanden, dass das Papsttum erhalten bleibt - wenn, und das ist aber wichtig und vergessen viele, wenn der Papst evangelisch wird. Wenn er quasi auch die evangelische Religion zulässt. Luther war da realistischer und sagte: da ist nichts mehr zu reformieren. Gleichwohl ist es bis heute ein Ehrentitel Melanchthons, gelitten, geschrieben zu haben für die Einheit der Kirche und so gilt er zurecht als ein Vater der Ökumene. Sprecherin Melanchthon gerät in die Mühlen der großen Politik. Hilflos muss er mit ansehen, wie das geschieht, was er zeitlebens verhindern wollte: Ein Konfessionskrieg bricht aus. Zudem setzt die katholische Gegenreformation ein. In Trient lehnt ein Konzil die Rechtfertigungslehre der Protestanten ab. Und mitten in den Wirren stirbt Martin Luther, der große Reformator. Melanchthon verliert seinen besten Freund. Erschüttert hält er die Leichenrede. Zitat Melanchthon Meine Stimme wird bei dieser allgemeinen Trauer durch Schmerz und Tränen gehemmt. Luthers Mühen, sein Glaube, seine Standhaftigkeit und seine weiteren Begabungen sind zu rühmen. Die Reinheit der Lehre hat er standhaft verteidigt und die Gewissen unversehrt gehalten. Ja, wo gibt es den, der ihn gekannt hat, und nicht wüsste, wie menschenfreundlich er war, wie liebenswürdig im vertrauten Kreise, wie wenig streitsüchtig oder zänkisch. Er hatte ein Herz ohne Falsch und einen Mund voller Freundlichkeit. Einige, die nicht zu verachten sind, haben sich beklagt, Luther sei schärfer gewesen, als es ertragbar sei. Ich antworte darauf mit dem, was Erasmus oft gesagt hat: Weil die Krankheiten so groß sind, hat Gott diesem letzten Zeitalter einen scharfen Akzent gegeben. Sprecherin Melanchthon trauert - und tritt das Erbe des verstorbenen Freundes an. Er wird neuer Wortführer der Reformation. Musik Tanz/Nachttanz Stefan Rhein (Türgeräusche) Ja, die Tür ist immer noch schwergehend, aber sie ist die originale, das macht sie so einmalig. (Treppenschritte) Ich denke mir, am besten gehen wir die Stufen hoch weil dort oben ist der Raum, der bis heute noch am meisten und ganz unmittelbar die Aura Melanchthons vermittelt, Man hört die alte Treppe die in den ersten Stock geht. Man sieht sofort: Es ist ein schönes Haus, ein auch sehr großzügiges Haus, es waren auch viele Menschen hier, nicht nur die Familie lebte hier, Melanchthon war verheiratet, hatte vier Kinder, von denen ein Sohn Georg schon sehr früh starb, nicht einmal mit zwei Jahren. Hier lebten Mägde, hier lebte auch sein Famulus, so quasi die treue Seele dieses Hauses Johannes Koch, der über 35 Jahre in diesem Haus auch wohnte, ja und Melanchthon hatte auch viele Studenten und Schüler, die hier mitwohnten. Also man muss sich dieses Haus, so großzügig hier die Räume sind, als ein wirklich volles Haus sich vorstellen. Er selber arbeitete in diesem Raum, in den wir jetzt hineingehen. Die alte Schwelle ist noch da, die alte Tür hängt noch und es sind vor allem noch die alten Bohlen, wenn man hier über den Boden geht, dann ist das der Boden, auf dem auch Melanchthon gegangen ist ... Sprecherin ... und Melanchthons Schüler. Denn nur an der Universität zu unterrichten, reicht ihm nicht. Neben Studenten möchte er seine pädagogische Leidenschaft auch an Schulkindern erproben. Er gründet eine "Schola privata", eine Privatschule. So wohnen auch noch Schüler in Melanchthons Haus. Zu den Schülern gesellen sich zeitweise Gäste aus dem Ausland und bilden eine bunt gemischte Tischgemeinschaft im Hause Melanchthon. Latein und Griechisch, Hebräisch und Ungarisch, ja sogar Türkisch und Arabisch ist zu hören. Die Erfahrungen, die er in dieser pädagogischen Lerngemeinschaft macht, fließen in seine Ideen zum Schulunterricht und für Bildungsreformen ein. Zitat Melanchthon Es kann kein Zweifel bestehen, dass der Lebensform des Lehrens und Lernens das größte Wohlgefallen Gottes gilt. Sprecherin Manchmal scheint es, als zähle für Melanchthon die Bildung mehr als der Glaube, als hielte er die Schule für wichtiger als die Kirche. Unermüdlich berät er Schulen in Kursachsen und in anderen Ländern. Wie Lehrpläne aufgestellt werden, welche Lehrer sich eignen, welche Fächer welche Wichtigkeit haben: Für all diese Fragen wird Melanchthon zum Berater. Vieles geht über Briefe. Aber er reist auch herum und visitiert Schulen. Er sorgt dafür, dass die Kinder in drei Gruppen aufgeteilt werden: In Anfänger, Fortgeschrittene und Geübte. Den Lehrern redet er ins Gewissen, die Lernfähigkeit jedes einzelnen Kindes zu berücksichtigen. Dabei weiß er um die hohe Belastung, der Lehrer ausgesetzt sind. Zitat Melanchthon Gibt es einen Esel, der je in der Mühle so viel Übles zu erdulden hätte wie der Durchschnitt der Lehrer im Unterricht an Mühe und Beschwerden aushalten muss? Wir sind von allen Sterblichen am Übelsten dran, denn wir haben die härteste Arbeit, leben in kümmerlichen Verhältnissen und müssen uns noch mit Verachtung behandeln lassen, nicht nur von unseren Schülern, auch von ihren Eltern. Sprecherin Den Schulalltag mit all seinen Abgründen kennt Melanchthon aus eigener Erfahrung. Zitat Melanchthon Selbst wenn ich mit einer Wasseruhr oder einem Trichter meinen Hörern das für sie Nützliche einflößen könnte, würde ich doch nicht erreichen, dass sie wenigstens so lange still hielten, bis ich eingegossen hätte. Bei uns in der Kirche ist diese Unaufmerksamkeit leider noch viel größer. Und doch kann die Weisheit nicht eingehämmert werden und nicht dem Verächter, sondern dem Beter wird der heilige Geist gegeben. Friedrich Schorlemmer Was man hier von Melanchthon lernen kann ist: dass er so eine Art Lehrerversteher ist. Man spricht ja heute nur von Frauenverstehern - er ist ein Lehrerversteher. Der weiß, was für eine unglaubliche Mühsal es ist, Kinder zu erziehen, weil die Eltern darauf verzichtet hatten, ihre Kinder zu erziehen und zu bilden, und welche unglaubliche Mühsal es ist, mit diesen unerzogenen Gören umzugehen. Und gleichzeitig preist er das Lehrerdasein als das Schönste auf der Welt! Sprecher Wie Melanchthon, ist auch der Theologe Friedrich Schorlemmer sowohl in der Bildung wie in der Kirche engagiert. Er kann nachempfinden: Melanchthon, der berühmte Gelehrte, redete als Lehrer unter Lehrern. Und das verschaffte ihm hohes Ansehen. Als die Stadt Nürnberg 1526 eine "obere Schule" gründen will, bitten die Verantwortlichen Melanchthon, die Schule zu leiten. Wieder lehnt Melanchthon dankend ab. Er sieht seinen Platz in Wittenberg. Dennoch berät er die Nürnberger. Bei der Schuleröffnung hält er ein flammendes Plädoyer für die Bildung. Zitat Melanchthon Was anderes verschafft dem gesamten Menschengeschlecht größere Vorteile als die Wissenschaften? Keine Kunst, kein Handwerk, wahrhaftig auch kein landwirtschaftliches Produkt, ja sogar nicht einmal die Sonne, die viele für die Urheberin des Lebens gehalten haben, ist in dem Grade notwendig wie die Kenntnis der Wissenschaften. Weil ohne Recht und Gesetz und ohne Religion weder staatliche Gemeinschaft aufrechterhalten noch Vereinigungen von Menschen zusammengeführt und regiert werden können, würde das Menschengeschlecht nach Art wilder Tiere umherstreifen, wenn die Wissenschaften untergehen. Die Sitten der Völker würden notwendigerweise in Barbarei ausarten, wenn sie nicht durch die Wissenschaften und Frömmigkeit angetrieben und angeleitet werden. Wenn auf eure Veranlassung hin die Jugend richtig unterrichtet wird, wird sie der Schutz der Stadt sein, denn kein Bollwerk und keine Befestigung macht eine Stadt stärker als gebildete, kluge, und mit anderen Tugenden begabte Bürger. Deshalb sind vor allem in einem gut eingerichteten Staat Schulen nötig, in denen die Jugend, die das Saatgut des Staates ist, erzogen werden soll. Sprecher Die Nürnberger "Obere Schule" sollte junge Menschen mit einem breiten Grundwissen auf das Studium vorbereiten. Ein Auftrag, den das Gymnasium bis heute ernst nimmt. Wer in ein Klassenzimmer schaut, hört ungewohnte Dinge. Griechisch-Unterricht (Schülerin liest griechischen Text, übersetzt dann) Irgendwie sagt Heraklit, dass alles weicht und nichts bleibt und er sagt, indem er die seienden Dinge mit dem Fließen eines Flusses vergleicht: weil du nicht zweimal in denselben Fluss hineingehen könntest. Sprecher Lateinisch und Altgriechisch sind Pflichtfächer am Nürnberger Melanchthon-Gymnasium. Melanchthon hätte seine Freude. Aber ist das denn noch zeitgemäß? Hermann Lind Wenn man die Lerninhalte nur unter dem Aspekt heraussucht, ob man das mal brauchen kann in irgendeinem Beruf: das wäre äußerst bedauerlich, weil ja auch nicht jeder den gleichen Beruf ergreift und auch in manchen Bereichen die Halbwertszeit des Wissens ja doch etwas kürzer wird. Die Halbwertszeit des Wissens, das wir mit Latein und Griechisch vermitteln können, die ist etwas länger, und wenn wir uns überlegen: Die Texte, mit denen wir uns beschäftigen, die haben ja eine Qualitätskontrolle zweieinhalbtausend Jahre lang. Wenn die Texte nicht für überlieferungswürdig gehalten worden wären, wären sie schon längst vergessen worden und nicht mehr tradiert Sprecherin Hermann Lind, heute 50 Jahre alt, besuchte schon als Schüler das Melanchthongymnasium. Inzwischen ist er Oberstudienrat und stellvertretender Direktor der Schule. Als Altphilologe ist er überzeugt: Unterricht in Altgriechisch ist modern, zeitlos und jugendgerecht. Weil es eigentlich gar nicht so sehr um die Sprache geht. Hermann Lind Der Grund ist wohl eher das Denken, die Denkstrukturen, die sich da entwickeln. Die Attraktivität des Griechischen ist vor allem die, dass man an die Wurzeln des europäischen aber auch menschlichen Denkens gerät. Dass man in den verschiedensten Gattungen hier ursprüngliche Texte liest, wo Fragen gestellt werden zum ersten mal in der Literatur, die sich auch viele junge Leute heute noch stellen und die insofern auch für die Entwicklung auf dem Weg zum Ich, den Weg zur Selbstfindung des Einzelnen, von großer Bedeutung sind. Ob das in der Ilias ist, in der Odyssee, aber dann vor allem auch bei den Lyrikern, bei den Vorsokratikern, bei den philosophischen Texten, die sind, und so kommt es auch unseren Schülern vor, vom Denken so frisch und auch jung, dass das unmittelbar von den Schülern erfasst wird und ihnen heute glaub ich auch noch viel gibt. Griechisch-Unterricht (Lehrer:) Dann fassen wir die kleinen Fragmente noch zusammen, Theresa, bitte ... (Schülerin 1:) Empedon ouden - das heißt: nichts ist beständig ... und aei panta rei, das heißt: alles fließt immer. (Schülerin 2:) (griechisch) Wir gehen in dieselben Flüsse und auch gehen wir nicht und wir sind und auch sind wir nicht. Sprecher Beachtlich: Genau dieselben Texte las Melanchthon mit seinen Schülern. Insofern würde er sich sehr schnell heimisch fühlen, hier im Jahrgang elf des Nürnberger Gymnasiums, das nach ihm benannt wurde. Wie wäre er überhaupt angereist, heute, knapp 500 Jahre später, aus Wittenberg? Petra Bahr, als Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche Deutschlands eine der Sachwalterinnen Melanchthons Ansinnens, hat sich darüber Gedanken gemacht. Petra Bahr Ich stelle mir vor, dass er den ICE von Wittenberg nach Berlin nimmt, dann in den Billigflieger steigt, denn Melanchthon war glaub ich ziemlich sparsam, wird sich ordentlich mit Lesestoff versorgt haben und dann wird er einen Tag vorher angereist sein, um mal zu gucken, wie sich die Stadt so verändert hat. Am nächsten Morgen vor der Schule wär der gar nicht aufgefallen, da hätten die Schüler wahrscheinlich gedacht: 'Oh, neuer Referendar', so'n spindeldürres helles Kerlchen, das da etwas verloren auf dem Pausenhof steht. Und Melanchthon hätte sich wahrscheinlich gedacht: 'Mensch die Jugend von heute ist immer noch so lebendig und chaotisch wie zu meiner Zeit.' Denn Melanchthon hat nicht nur die Streber geliebt, sondern auch die Abenteurer und die Neugierigen. Musik Dit le Bourgignon Stefan Rhein Es ist ganz beeindruckend, wenn man hier an dem Bett oder zumindest an dem Ort steht, wo er gestorben ist. Dieser kleine Mensch mit seiner großen Intelligenz, zäh, arbeitsam, ist hier auch in diesem Raum gestorben. Er war übrigens arbeitsam bis in die letzten Tage. Es sind also Briefe erhalten, es gibt ein Gedicht, das mitten im Vers abbricht, und es ist eine ganz eindrucksvolle Geschichte: Eine Woche vor seinem Tod es ist Karfreitag hält er seine letzte Sonntagsvorlesung, nach einer Nacht ohne Schlaf, nach Koliken, nach Zusammenbrüchen: Um sechs Uhr natürlich um sechs Uhr früh geht er in den Hörsaal und hält eine Sonntagsvorlesung. Er will diese am Ostersonntag auch noch mal machen, da muss er aber so eingefallen und erkrankt und schwach und ja fast klapprig gewesen sein, dass sein bester Freund Camerarius, der aus Leipzig gekommen war, um in den letzten Tagen bei ihm zu sein, ihn gehindert hat, hinzugehen, und da muss Melanchthon richtig wütend geworden sein, denn er wollte es unbedingt machen, also er war nämlich auch ein bisschen cholerisch, aber man sieht mit welchem Pflichtbewusstsein er diese Aufgabe erfüllte. Sprecherin Stefan Rhein steht in der ersten Etage des Melanchthonhauses. In jenem Zimmer, in dem der Reformator arbeitete, schlief - und schließlich auch starb. Mit einer starken Erkältung war Melanchthon Anfang April 1560 aus Leipzig nach Wittenberg zurückgekehrt. Morgens um sechs Uhr die Andacht zu halten, lässt er sich trotz seiner Schwäche nicht nehmen. Zitat Melanchthon Nun bin ich schwach und mir ist nicht wohl. Doch tun mir all meine Krankheit nicht so weh wie der große Jammer um das Elend der heiligen christlichen Kirchen, das aus unnötiger Trennung, Bosheit und Mutwillen derer entsteht, die sich aus unmenschlichem Neid und Hass abgesondert haben. Stefan Rhein Wir haben von den letzten Tagen in Melanchthons Leben einen ausführlichen Bericht von Professorenkollegen, die jede Stunde aufgeschrieben haben, es war wichtig, diesen Tod zu protokollieren als einen seligen, als einen guten Tod, um den katholischen Gegnern zu zeigen, dass dies bis in den Tod hinein ein gottgefälliges Leben war. Es gibt eine Schilderung, wie Camerarius, dieser enge Freund, zu ihm kommt, die beiden sitzen auf der Treppe und denken noch mal über ihr Leben zurück und beide kommen zu dem Ergebnis: Was sind sie eigentlich? Melanchthon der große Reformator, der große Theologe - all das war er auch - aber er nennt sich Schulmann. Das ist letztendlich die Essenz seines Lebens. Also wir würden heute sagen ein leidenschaftlicher Pädagoge. Und das so sieht er sich auch. Sprecherin Mit dem Tod hat Melanchthon sich offensichtlich ausgesöhnt. Dass er in eine "himmlische Akademie" eingehe: Diese Vorstellung erleichterte ihm offensichtlich das Sterben. Auf einen Zettel notiert Melanchthon, warum er sich auf den Tod sogar freute: Zitat Melanchthon Du wirst von der Sünde loskommen. Du wirst von Trübsal befreit. Und von dem Gezänk der Theologen. Du wirst zum Licht gelangen. Du wirst Gott sehen. Du wirst den Sohn Gottes schauen. Du wirst die wunderbaren Geheimnisse erfahren, die du in diesem Leben nicht begreifen konntest, nämlich warum wir so, wie wir sind, geschaffen wurden und wie die beiden Naturen in Christus miteinander verbunden sind. Sprecherin Der 19. April 1560 beginnt ohne Aufregung. Tags zuvor hatte Melanchthon begonnen, sein Testament zu schreiben. Die Besucher sehen einen vom Fieber geschwächten Mann. Melanchthon isst ein wenig Suppe. Kurz entgleitet ihm das Bewusstsein, dann betet er wieder laut und legt sich auf ein Behelfsbett in seinem Studierzimmer. Er "schnaubte sanft und ruhte bis um sechs", beschreibt ein Freund später die Situation. Melanchthon liegt mit halb geschlossenen Augen da. Seine Kinder und Enkelkinder sind bei ihm, auch einige Kollegen und Schüler. Sie sehen, wie Melanchthon die Lippen bewegt und leise betet. Er hört, wie ihm Kollegen aus der Bibel vorlesen. Um viertel vor sieben entschläft er sanft - in der festen Überzeugung: Zitat Melanchthon Das Sterben ist ein Übergang in die Akademie des Sohnes Gottes und der Seligen im Himmel. Sprecherin Das Totenbild Melanchthons zeigt einen milde lächelnden alten Mann. Musik Antiphon Requiem Aeternam Stefan Dorgerloh Das Melanchthonjahr ist wie alles in der Lutherdekade eines, wo wir nach hinten schauen auf die Quellen der Reformation: uns zu vergewissern: Was ist eigentlich der Impuls, wenn es darum geht, den Bildungsimpuls der Reformation aufzunehmen? Worin besteht der? Und zum zweiten, das durch die Geschichte des Protestantismus hindurch nach vorne zu denken, also: Wie sieht denn die Zukunft vom Protestantismus und Bildung aus, was können wir da aus den alten Quellen lernen, wofür sind wir aufgerufen und was heißt das für unser Profil? Also immer diese doppelte Bewegung: nach hinten schauen, die Quellen wahrnehmen, sich vergewissern - und dann nach vorne eine Perspektive, eine Zukunftsdebatte anzustoßen. Sprecherin Blickt Prälat Stefan Dorgerloh aus dem Fenster seines Büros auf den Wittenberger Marktplatz, sieht er Melanchthon und Luther - einige Meter voneinander entfernt in Bronze gegossen und auf hohen Sockeln stehend. Großen Streit gab es vor fast 200 Jahren: Sollte tatsächlich Melanchthon einen Platz neben dem Lutherdenkmal bekommen? Mehr als vierzig Jahre und große Diskussionen brauchte es, bis auch für Melanchthon ein Sockel gebaut wurde. Die Haltung der beiden spricht Bände: Luther zeigt mit dem Finger in die Schrift, als wolle er sagen: "So ist es!" Melanchthon hält das Augsburger Bekenntnis in der Hand, bietet es seinem Betrachter an - eine einladende Geste. Prälat Stefan Dorgerloh muss beide Reformatoren auf eine Linie bringen. Er organisiert die sogenannte Luther-Dekade 2017 - ein Gedenkjahrzehnt, das auf den 500. Jahrestag des Thesenanschlags Martin Luthers zielt. Das Melanchthonjahr ist nur eine Etappe dieser Dekade. Was erhofft er sich vom Melanchthonjahr? Stefan Dorgerloh Ich glaube, dass es uns gut tut, den Zusammenhang von Glaube und Bildung uns in Erinnerung zu rufen und für die Gemeindewirklichkeit, aber auch für die Wirklichkeit des Protestantismus neu zu bedenken. Das heißt: Wir können nicht Bildungseinrichtungen contra Gemeindearbeit, Diakonie versus Kirchenkreise ausspielen, sondern das gehört eben zusammen. Sprecherin Andere erhoffen sich Anderes vom Melanchthonjahr. Der Osnabrücker Melanchthonbiograf Martin Jung zum Beispiel plädiert dafür, die evangelische Kirche möge sich angesichts der oft verschwiegenen Schattenseiten Melanchthons zu einem Schuldbekenntnis durchringen. Denn der war mitnichten immer nur ein Gutmensch. Martin H. Jung Melanchthon hat Täuferführer verhört und war an diesen Urteilssprüchen beteiligt und war mitschuldig, dass eben auch in Thüringen dann Täufer ermordet wurden, hingerichtet wurden, ertränkt wurden, also auch wenn man's jetzt drastisch sagen wollte: Auch an Melanchthons Händen klebt Blut. Die Lutheraner sind noch nicht so weit, dass sie ihre Schuld bekennen würden, daran, dass sie viele Männer und auch Frauen, Täuferführer, zu Tode gebracht haben. Also: Es müsste auf lutherischer Seite, auf evangelischer Seite in Deutschland ein Stück Aufarbeitung dieser brutalen Seite der Reformation erfolgen, und dann müssten in Thüringen auch Gedenktafeln aufgestellt werden, und dann würde man auch die Namen dieser Täuferführer heute kennen und ihrer gedenken. Also da ist noch ein Stück Vergangenheitsbewältigung auf reformatorischer, auf evangelischer Seite nachdrücklich fällig. Sprecherin Auch die Katholiken erhoffen sich Einiges vom Melanchthonjahr. Wegen seiner sachlichen Art, um die Einheit des Glaubens zu werben, wünschen sie, die heutigen Protestanten würden ökumenisch so offen sein wie ihr Reformator. Der Hamburger Weihbischof Hans-Jochen Jaschke weiß, dass sogar der heutige Papst große Stücke auf Melanchthon hält. Hans-Jochen Jaschke Im Oberseminar von Joseph Ratzinger schon zu Bonner Zeiten hat die Confessio Augustana eine große Rolle gespielt und Ratzinger selber hat gesagt, die größte ökumenische Gestalt der Reformationszeit ist der Theologe Melanchthon. Und damit eingeladen, die Confessio Augustana, also das Bekenntnis zur Grundlage für eine Kircheneinheit zu machen für einen differenzierten Konsens. Eine Kircheneinheit, die nicht über Verhandlungen gefunden wird, sondern auf der Bekenntnisebene, auf der Glaubensebene ihren Grund hat. Sprecherin Für die Bildungsdiskussion erhofft sich EKD-Kulturbeauftragte Petra Bahr neue Impulse. Petra Bahr Man könnte ja denken, der Stachel läge daran, dass Melanchthon ein sehr elitäres Bildungsverständnis gehabt hätte mit Griechisch und Latein und Naturwissenschaften und musischen Fächern. In Wahrheit glaube ich, dass das Gegenteil der Fall war. Melanchthon war so dreist zu behaupten, dass Bildung für alle sein muss. Also für alle Kinder, für die Bauerntölpel, für die Mädchen, für die, die sich diese Art von Bildung eigentlich gar nicht leisten können. Und ich glaube, dass es ihn wirklich zutiefst empört hätte, dass im Land der Reformation heute für den Bildungsabschluss von Kindern nichts entscheidender ist als die familiäre Herkunft. Das hätte er schlicht unevangelisch gefunden. Er hat sich immer für Stipendien eingesetzt und war dafür, dass das Gymnasium, wie es ihm vorschwebte, eben nicht nur was für die Patrizier und Bürgerkinder war, sondern für alle. Und wir sind heute noch weit davon entfernt, diesem Melanchthonschen Bildungsideal zu genügen. Sprecherin Friedrich Schorlemmer schließlich wünscht sich neue Impulse für die Kirche. Friedrich Schorlemmer Die ganze theologische Wissenschaft der letzten Jahrhunderte hat an Melanchthon vorbeigelebt und den Pfarrern viel zu wenig von der Rhetorik, von der Kunst der Rhetorik - das heißt ja nicht, die Leute irgendwie mit irgendwelchen Tricks zu suggerieren oder zu manipulieren, sondern das wahre Was braucht auch ein wahres Wie: Wie sag ich, wie sag ich's? Aber heute haben wir eine Zeit, in der man nur noch fragt: Wie sag ich's? Wie kommt's an? Also: Wie besteht man auf dem Markt der Blödeleien und der Wortgeräusche? Nein, nein, das wahre Was muss sich das wahre Wie suchen. Aber wer das wahre Was nicht mehr weiß, sollte keinesfalls irgendwie eine Marketingkirche machen, wo es dann nur noch darum geht vorzukommen, dann stehen wir nicht mehr zur Rede, sondern kommen nur noch mit ins Gerede. Dann ist aus. Und insofern: Melanchthon ist für mich auch einer, der Substanz verbindet mit Offenheit, dem inneren Zugehen auf Andersdenkende, auf Andersgläubige. Musik Ein feste Burg Zitat Melanchthon Zwei Begriffe sind es, auf die gleichsam als auf das Ziel das gesamte Leben auszurichten ist: Frömmigkeit und Bildung. 1