COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 05.11.2012, 19.30 Uhr Wo bitte geht's nach oben? Über die Durchlässigkeit der deutschen Gesellschaft. Von Mandy Schielke Musik Die Türen Ich will in die große Stadt, ich hab die kleine satt. Ich werd mal eine ganz große Nummer werden... O-Ton Gerhard Schröder Wille zum Aufstieg, Aufstieg zum sozialen hat natürlich in meinem Leben eine große Rolle gespielt. Sprecher v. Dienst: Wo bitte geht's nach oben? O-Ton Reinhard Pollak Alle Leute finden Aufstieg toll. Sprecher v. Dienst: Über die Durchlässigkeit der deutschen Gesellschaft. Eine Sendung von Mandy Schielke Atmo Hinterhof Sprecherin: In einem Hinterhof in Berlin Mitte sitzen vornehm gekleidete Menschen in der Herbstsonne und trinken Kaffee. Vielleicht haben sie gerade die private Sammlung zeitgenössischer Kunst besucht, die sich in den Etagen über dem Cafè befindet. Was in den Erdgeschoss-Büroräumen am Eingang zum Hinterhof geschieht, hat mit dieser Welt nicht viel zu tun. O-Ton Katja Urbatsch Mein Name ist Katja Urbatsch. Ich bin 33 Jahre alt und ich habe vor vier Jahren die Initiative Arbeiterkind.de gegründet, weil ich selbst die Erste in meiner Familie bin, die einen Hochschulabschluss erreicht hat. Wir möchten Schülern, die aus Familien kommen, wo noch keiner studiert hat, dass nahe bringen, dass sie auch studieren können und möchten sie auf dem Weg zum Studienabschluss unterstützen. Inzwischen haben sich 5000 Ehrenamtliche in Deutschland zusammengefunden, die in die Schulen gehen als Vorbilder. Die größtenteils selbst die Ersten waren, die studiert haben, die aus ihrer eigenen Erfahrung wissen, wo die Probleme liegen. Sprecherin: Wie finanziere ich das Ganze? Kann ich ein Studium überhaupt schaffen? Wie verfasst man eigentlich eine Hausarbeit? Wie komme ich an ein Praktikum? Und so weiter und so fort. Katja Urbatsch kennt die Klippen der höheren Bildung. Deswegen vermittelt ihre Initiative kostenlos Mentoren, die Abiturienten bei ihrem Weg nach oben unter die Arme greifen. Außerdem reist sie durchs Land und wirbt an Schulen für den Sprung an die Universität. Ihre Zielgruppe: Nichtakademikerkinder. O-Ton Katja Urbatsch Wenn man aus einem akademischen Elterhaus kommt, dann hat man die Beratung und die Vorbilder schon aus der eigenen Familie. Die Eltern und Verwandten haben vielleicht auch noch nicht alle Informationen aber sie wissen, wie man da ran kommt. Sie wissen, wo man anrufen kann, sie haben das Selbstbewusstsein sich durchzufragen. Und ich habe eben auch aus meiner eigenen Erfahrung gemerkt, wenn niemand in der Familie studiert hat, alle eine Ausbildung gemacht haben, muss man erst einmal auf die Idee kommen, dass man auch studieren könnte. Sprecher: Was Katja Urbatsch beschreibt, zeigen viele Statistiken. Ein Beispiel: Kinder gebildeter Eltern haben eine siebenmal höhere Chance die allgemeine Hochschulreife zu erlangen, als Kinder aus bildungsfernen Familien. O-Ton Reinhard Pollak Wir wissen aus den Pisastudien seit Jahren, dass Deutschland eines der Länder ist wo das Elternhaus am meisten vorhersagt. Sprecher: Also die Herkunft darüber entscheidet, wo man im Leben landen wird - obwohl staatliche Schulen kostenlos sind, Studenten Bafög beantragen können und nur noch wenige Bundesländer Studiengebühren erheben. Reinhard Pollak, Sozialwissenschaftler am Wissenschaftszentrum Berlin beschäftigt sich seit geraumer Zeit mit der Durchlässigkeit der deutschen Gesellschaft. Um zu verstehen, was mit Durchlässigkeit gemeint ist, erklärt er die Gesellschaft als eine Leiter. Auf der obersten Sprosse sitzen die, die über Bildung verfügen, ein gutes Einkommen und Einfluss haben. Ganz unten sitzen Menschen mit niedrigem Einkommen, Hartz-Vier- Empfänger, Menschen mit geringer Bildung oder ohne Abschluss. Wie viel Bewegung zwischen den einzelnen Sprossen ist, bestimmt die Durchlässigkeit - die soziale Mobilität in einem Land. O-Ton Reinhard Pollak Und da sind wir in Deutschland sehr schlecht bestückt. Zum Beispiel kommt ein Kind, das in einen einfachen Arbeiterhaushalt hineingeboren wird, kaum nach oben. Die Chancen, dass es mal leitender Angestellter wird, liegen ungefähr bei vier Prozent. Im Vergleich dazu: ein Kind, das in eine Familie hineingeboren wurde, wo schon Vater oder Mutter leitender Angestellter sind, das Kind hat die Chance von über einem Drittel - 35 Prozent. Sprecherin: Die Geschichte des 30-jährigen Steffen Müller gehört zu den Ausnahmen. O-Ton Steffen Müller Ich denke, das ist so. Wenn man nüchtern drauf schaut, habe ich einen gewissen Bildungsaufstieg geschafft und darüber bin ich sehr froh und sehr dankbar. Sprecherin: Steffen Müller ist mit einer Schwester in der Nähe von Stuttgart aufgewachsen. Seine Mutter war Zahnarzthelferin, sein Vater arbeitete als Elektriker im Kraftwerk. Seine Eltern seien nicht bildungsfern, sagt er. Schule war immer wichtig. Dass am Ende das Abitur steht, spielte hingegen keine Rolle. Trotzdem hat er irgendwann aufs Gymnasium gewechselt, Abitur gemacht, Elektrotechnik studiert und im Anschluss einen gut bezahlten Job bekommen. Steffen Müller hat sämtliche Hürden auf dem Weg nach oben bislang erfolgreich übersprungen. O-Ton Steffen Müller Ich habe irgendwann um die sechste, siebte Klasse herum einen gewissen Ehrgeiz entwickelt in der Schule gut zu sein. Ich glaube, das kam wirklich erst einmal durch die Erkenntnis - ja, ich kann ja gut sein. Bis dahin hatte ich die Erfahrung gemacht, dass ich immer sehr schlechte Noten bekommen habe. Ein ganz anderer wichtiger Faktor war sicherlich mein Freundeskreis als ich dann in der 9. und 10. Klasse war, hatte ich privat sehr viele Freunde, die aufs Gymnasium gingen. Und alle meine Freunde haben das Abitur angestrebt und das war sicherlich ein Punkt zu sagen: Ja, dann mach ich das auch. O-Ton Katja Urbatsch Es sind auch häufig in den Biografien, die ich kenne, Lehrer gewesen, die eben positiv eingewirkt haben und jemanden dazu gebracht haben eben einen höheren Bildungsweg einzuschlagen. Sprecherin: Katja Urbatsch hat über ihre Initiative viele Nichtakademikerkinder kennengelernt, die durch Impulse außerhalb der Familie den Ehrgeiz entwickelt haben, den Aufstieg zu versuchen. Bei Steffen Müller waren es Menschen aus dem Sportverein und in seiner Kirchengemeinde, die ihn ermutigt haben. Sprecher: Nur 20 Prozent der jungen Deutschen schaffen nach Angaben der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) einen höheren Bildungsabschluss als ihn Vater oder Mutter besitzen. Das ist im Vergleich zu anderen Industrienationen kein guter Wert. Besonders Großbritannien, Frankreich aber auch Italien und Polen verzeichneten im weltweiten Vergleich hohe "Bildungs-Aufsteigerraten". O-Ton Katja Urbatsch Es hängt viel vom Glück ab, ob man jemanden trifft der einen ermutigt oder eben auch nicht. Trenner Die Türen: ... ich will mal ne ganz große Nummer werden Sprecher: Ist Aufstieg also schlicht Glücksache? Sprecherin: Nein, sagt der Sozialforscher Reinhard Pollak. Eine Gesellschaft kann dafür sorgen, dass die Wege nach oben durchlässiger werden. Dadurch beispielsweise, dass die Kinder nicht schon in der vierten Klasse entscheiden müssen, ob sie Gymnasiasten, Realschüler oder Hauptschüler werden. Also eine Entscheidung fürs Leben fällen. Längeres gemeinsames Lernen - ohne Selektion - würde gerade Kindern aus sozial schwachen Haushalten höhere Erfolgschancen ermöglichen. Sprecher: Schicken die Eltern ihren Nachwuchs auf die Hauptschule, müssen die Kinder nicht für immer dort bleiben. Wer schlau ist, kann wechseln. O-Ton Steffen Müller Ich habe nach der Grundschule erst einmal den Weg an die Hauptschule angetreten, dann durch ein Sondermodell in Baden-Württemberg den sogenannten Werkrealschulabschluss erwerben können und damit eine mittlere Reife und habe danach den Sprung auf ein technisches Gymnasium gewagt, um dann Abitur zu machen in drei Jahren und damit genauso schnell eigentlich wie meine Klassenkameraden aus der Grundschule. Sprecherin: Die Verfasser einer aktuellen Studie der Bertelsmannstiftung zur Durchlässigkeit des deutschen Schulsystems kommen zu dem Schluss, während Herabstufungen zum Alltag gehörten, werde zu selten geprüft, ob ein Schüler den Aufstieg schaffen kann. Katja Urbatsch hat bei ihren Reisen durch unzählige Schulen der Republik ähnliche Erfahrungen gemacht. O-Ton Katja Urbatsch In der Praxis merken wir auch, dass insbesondere auf berufsbildenden Schulen, Realschulen, die Perspektive: Du kannst noch Abitur machen, Du kannst noch studieren überhaupt nicht mehr aufgezeigt wird. Da hat man schon einen Weg eingeschlagen, der geht in die berufliche Bildung und da noch einmal wegzukommen, dass jemand sagt, schon mal darüber nachgedacht? Das passiert sehr sehr selten. Sprecherin: Dass ein Studium in jedem Fall der Schlüssel zum Glück ist, glaubt sie nicht. Trotzdem: O-Ton Katja Urbatsch Mich ärgert es immer, wenn Menschen unter ihren Möglichkeiten bleiben, wenn ich das Potenzial sehe und wenn sie es noch nicht einmal probieren. Mich ärgert in Deutschland auch die Angst, die wir haben vorm Scheitern. Sprecherin: Eine Studie der Vodafone Stiftung mit dem Titel "Aufstiegsangst" befasst sich genau mit diesem Phänomen. Ergebnis: Selbst wer sich das Abitur erkämpft hat, geht immer häufiger auf Nummer sicher und entscheidet sich für eine Berufsausbildung. Wollten Mitte der Siebziger Jahre 80 Prozent der Studienberechtigten aus unteren Schichten an eine Hochschule, sind es heute deutlich weniger als 50 Prozent. Und das hat eben auch mit fehlendem Selbstvertrauen, mit einer gewissen Aufstiegsangst zu tun, meint der Autor der Vodafone Studie Steffen Schindler. Sein Kollege vom Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Reinhard Pollak widerspricht. O-Ton Reinhard Pollak Ich glaube nach wie vor: Am weitesten verbreitet, ist die Abstiegsangst, die Befürchtung der Entleerung der Mitte. Eine Abstiegsangst aus der Mitte runter zu fallen. Hartz Vier schürt natürlich eine solche Abstiegsangst - in der Art und Weise, wie es angelegt ist. Falls man arbeitslos wird, dass man bereits nach einem Jahr bei der früher sogenannten Sozialhilfe landet. Das ist ein Bedrohungspotenzial. O-Ton Katja Urbatsch Warum probieren wir es nicht einfach. Wir haben doch eigentlich nichts zu verlieren. Da komm ich vielleicht auch ein bisschen aus dem Amerikanischen, weil ich auch Amerikanistik studiert habe, dass ich es ein bisschen besser finde, wenn man Leute ermutigt, was zu erreichen. Und nicht nur Schuster, bleib bei Deinen Leisten und lieber auf Sicherheit gehen. Und das ist sehr typisch Deutsch! Sprecherin: Katja Urbatsch kennt die Hürden im Kopf, die Minderwertigkeitskomplexe, die inneren Konflikte. O-Ton Katja Urbatsch Wenn man als Erster in der Familie studiert und das eben vorher noch nie jemand gemacht hat, dann weicht man eben von der Familientradition ab. Man wird schnell zum Außenseiter. Man muss übersetzen in der Familie, was man macht und das ist sehr schwer und man bewegt sich auch weg von der Familie. Man lernt eine neue Sprache an der Hochschule. Man macht da Dinge an der Hochschule, womit die Familie eben nichts anfangen kann und wir nennen das auch Loyalitätskonflikte. Wir haben das sehr häufig, dass man dann eben nach Hause geht und merkt, man findet keine Gesprächsebene mehr, keine Gesprächsthemen mehr. Sprecherin: Die junge Akademikerin ist einer ostwestfälischen Kleinstadt in aufgewachsen. O-Ton Katja Urbatsch Im größeren Familienkreis bin ich es eigentlich gewohnt gewesen während meiner gesamten Studienzeit, dass ich mich regelmäßig dafür rechtfertigen muss. Dass ich eben studiere und sie das eben nicht verstehen. Natürlich die finanzielle Frage, dass man sehr viel investieren muss, während die Cousins und Cousinen eben bereits eine Ausbildung absolvieren, Geld verdienen und in den Urlaub fahren. Also solche Sprüche wie, da liegst Du Deinen Eltern ja auf der Tasche oder immer noch diese Annahme, dass Studenten faul sind. Sprecherin: Und irgendwann - gerade mit einer Geisteswissenschaft - als 400-Euro-Jobber enden. Aber Katja Urbatsch hat sich durchgesetzt. Ein Stipendium für ein Auslandsjahr in den USA hat ihr geholfen, sie in ihrem Aufstiegswillen bestärkt, selbstbewusst gemacht. O-Ton Katja Urbatsch Na klar gibt es Bafög, aber auch noch eine Menge Probleme. Denn wenn man eben aus einer Familie kommt, wo man keine finanziellen Rücklagen hat, ist es ganz schön schwer, ein Studium aufzunehmen. Wir haben ausgerechnet, man muss im Oktober, bevor das Bafög kommt schon tausend Euro haben, um in Vorlage zu gehen - für das Studentenwohnheim, für die Kaution, für die Semesterbeiträge. Sprecher: Wieder so ein Stein im Weg, der vor allem Kindern aus einfachen Verhältnissen den Aufstieg blockieren kann. Trenner Die Türen: ... ich will mal ne ganz große Nummer werden Sprecherin: Die Aufstiegsgesellschaft war ein Produkt des Nachkriegskapitalismus. Die Wirtschaft wuchs und der zuständige Minister Ludwig Erhard versprach Wohlstand für alle. Wer richtig tüchtig ist - so hieß es - kann auf der Karriereleiter nach oben steigen und es einmal besser haben. Ein Glaube, der immer noch existiert. Sprecher: Und es gibt prominente Beispiele für Aufstiegkarrieren. Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder etwa. Oder sein Parteikollege - der Regierende Bürgermeister von Berlin Klaus Wowereit. Porsche Chef Martin Winterkorn ist der Sohn eines Arbeiters. Der Adidas-Chef Herbert Hainer Sohn eines Metzgers. Sprecherin: Dass immer wieder die dieselben Vorzeigeherren angeführt werden, spricht gleichzeitig auch dafür, dass Aufstieg über Schichtgrenzen hinweg Ausnahme und nicht die Regel ist. Aber woher rührt überhaupt der Glaube, dass man selbst über die eigenen Aufstiegschancen entscheidet? O-Ton Sighard Neckel Dieser Glaube und das normative Versprechen kommen daher, dass sich die moderne Gesellschaft als eine Leistungsgesellschaft versteht. Das heißt, es wird der Anspruch erhoben, dass man durch eigene Anstrengung, durch eigenes Können, durch eigenes Wissen einen sozialen Aufstieg schaffen kann und eine gute und erfolgreiche Position in der gesellschaftlichen Hierarchie erlangen kann. Sprecher Dieser Glaube an das Leistungsprinzip gehört zu den Grundpfeilern der bürgerlichen Gesellschaft, die sich einst gegen die aristokratische Vorherrschaft der reinen Herkunft gewandt hat, erklärt Sighard Neckel. Professor am Institut für Sozialwissenschaften in Frankfurt. Forschungsschwerpunkt: soziale Ungleichheit. Seit den 90er Jahren beobachtet er, dass persönliche Leistungsfähigkeit immer seltener ein Garant für Erfolg und Fortkommen ist. O-Ton Sighard Neckel Und das ist für die moderne Gesellschaftsentwicklung erst einmal ein besorgniserregender Befund. Sprecherin: Doch die Aktie "Glauben an das Leistungsprinzip" ist im Sinkflug. Laut einer Umfrage der Bertelsmannstiftung meinen zwei Drittel der Deutschen, dass sich Leistung in Deutschland nicht mehr lohnt und ebenso viele sind überzeugt davon, dass nicht alle Menschen die gleichen Chancen haben erfolgreich zu sein. Sprecher: Reinhard Pollak hat in seiner Studie "Kaum Bewegung, viel Ungleichheit" Folgendes herausgefunden: Während in den Geburtsjahrgängen 1940 bis 1959 noch etwa 40 Prozent der westdeutschen Männer einen Aufstieg in eine höhere Schicht erlebten, ist der Wert in den Jahrgängen 1970 bis 1978 um etwa fünf Prozent gesunken. Die Generation derer, die heute um die 60 Jahre alt sind, drängte in der Phase der sogenannten Bildungsexpanion an die Universitäten. Sprecherin: Auch der Sozialwissenschaftler Sighard Neckel gehört zu den Aufsteigern dieser Generation. Die heftigen gesellschaftspolitischen Debatten der 60er und 70er Jahre sorgten für eine Aufbruchstimmung. Politische Reformen bewirkten die Öffnung der Gymnasien für eine breite Bevölkerung. Überall entstanden neue Universitäten, Bildungsungleichheit wurde abgebaut, die Gesellschaft durchlässiger. Sprecher: Seit den 90er Jahren beobachten Bildungsforscher wie Reinhard Pollak oder Sighard Neckel jedoch eine Trendwende in der sozialen Mobilität. O-Ton Sighard Neckel Weil sich der Staat aus vielen Bereichen herausgezogen hat, weil im Bildungswesen das Ethos der Förderung sozial Schwächerer viel weniger verbreitet ist, weil viel weniger Mittel relativ gesehen in die allgemeine Bildung fließen und dadurch Kinder und Jugendliche aus benachteiligten Familien geringere Chancen haben, in diesem Bildungssystem wirklich reüssieren zu können. Wir müssen uns eigentlich überlegen, dass die Bundesrepublik Deutschland zu den OECD-Ländern gehört, die in den letzten zwanzig Jahren am wenigsten für die Bildung prozentual investiert haben. Sprecherin: Die Verlierer sind dabei nicht die Kinder der Mittelschicht, sondern die potenziellen Aufsteiger aus bildungsfernen Haushalten, sagt Reinhard Pollak vom Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung. O-Ton Reinhard Pollak Der untere Rand der Gesellschaft wird zunehmend abgekoppelt. Wenn ein Haushalt in den 80er Jahren zu den unteren 20 Prozent der Einkommensverteilung gehörte, so sind etwa 57 Prozent dieser Haushalte in den 80er Jahren nach drei Jahren immer noch ganz unten gewesen. Mitte der 2000er Jahre war es so, dass bereits 67 Prozent es nicht geschafft haben, sich aus dieser Einkommenslage herauszubewegen. Sprecher: Und während den Menschen am unteren Rand die Möglichkeiten und die Perspektiven abhanden kommen, wächst ihre Passivität. Weiter oben auf der Leiter hingegen wissen die Bürger sehr gut, wie sie ihre Interessen durchsetzen können. Sprecherin: Beispiel Hamburg. Vor zwei Jahren verhinderten vor allem die Bewohner der wohlhabenden Elbvororte, dass Kinder länger gemeinsam lernen. Per Volksentscheid kippten sie die Pläne des Senats für die Primarschule. Sprecher: Weil sich Deutschland und ganz Europa im Umbruch befinden - von einer Dienstleistungsgesellschaft in eine Wissensgesellschaft können wir es uns nicht leisten, auf kluge Köpfe zu verzichten, findet Sighard Neckel. O-Ton Sighard Neckel Es ist eine alte Einsicht, übrigens auch der Sozialwissenschaft, dass eine Gesellschaft gut beraten ist, Durchlässigkeit zu allen sozialen Schichten hin zu schaffen. Weil ansonsten das Potenzial an begabten Personen bei Weitem nicht ausgeschöpft wird. Sprecher: Welches Geschlecht man hat, ob man katholisch oder evangelisch ist, ob man auf dem Land aufwächst oder in der Stadt hält Menschen heute nicht mehr davon ab, ihren Weg nach oben anzutreten. Die soziale Herkunft indes bleibt eine Hürde. Trenner Die Türen: ...ich will mal ne ganz große Nummer werden Sprecherin: Stationäre Gesellschaft nennt Sighard Neckel eine Gesellschaft, in der alle da bleiben, wo sie sind. Nicht nur ganz unten. O-Ton Sighard Neckel Einen ähnlichen Aspekt kennen wir auch bei den oberen Schichten: Auch hier stellen wir fest, dass eine soziale Vererbung von Privilegien gibt. Etwa was die Bildungsbeteiligung betrifft. Das heißt, dass es keinen Austausch zwischen den sozialen Schichten gibt, sondern sich jede soziale Schicht aus sich selbst heraus immer wieder erneuert. Sprecherin: Wer beruflich erfolgreich ist und sich mit Menschen umgibt, die ebenfalls über Einfluss und Einkommen verfügen, hat Netzwerke - Netzwerke, die nicht nur ihm selbst helfen können, sondern auch den eigenen Kindern. Wenn es beispielsweise um ein Praktikum geht oder später nach dem Studium um einen Job. Da hat die Mutter beispielsweise eine Studienfreundin, die jetzt in London lebt, bei der der Nachwuchs natürlich mal für einen Monat unterkommen kann, während er ein Praktikum macht. Sprecher: Zwar gibt es Stipendienprogramme, die dafür sorgen, dass Studenten eine zeitlang im Ausland studieren oder arbeiten können Sprecherin: aber statistisch gesehen, kommt nur ein Prozent aller Studierenden in den Genuss eines Stipendiums. Katja Urbatsch, die Gründerin von Arbeiterkind.de war während ihres Studiums manchmal ziemlich ratlos. O-Ton Katja Urbatsch Weil ich so ein Moment hatte, wo ich festgestellt habe, Deine neuen Freunde kommen aus Familien, wo fast alle studiert haben und bekommen da ganz viel Unterstützung, für die ist das alles selbstverständlich, die haben ein Wahnsinns- vokabular, schmeißen mit Fremdwörtern um sich. Also da habe ich erst einmal wahnsinnig gestaunt und da habe ich mich auch erst einmal nicht mehr getraut den Mund aufzumachen - zumindest im Seminar. Sprecherin: Steffen Müller, einstiger Hauptschüler aus Baden Württemberg hat später im Studium und auch danach ähnliche Erfahrungen gemacht. Jetzt ist er Stipendiat eines Programms, das die Studienstiftung des Deutschen Volkes gemeinsam mit der Stiftung Mercator und dem Auswärtigen Amt aufgelegt hat. Gerade war er ein paar Wochen in Berlin, um dort gemeinsam mit anderen Stipendiaten Netzwerke zu knüpfen. Steffen Müller wird zur Führungskraft gecoacht, die irgendwann im Ausland arbeiten soll. Der Aufsteiger gehört schon jetzt zu einem Zirkel von Leuten, die auf der oberen Sprosse der Leiter sitzen. O-Ton Steffen Müller Ich mag das Wort Elite nicht. Das passt nicht zu mir. Wir haben jetzt dieser Tage den amerikanischen Botschafter getroffen, werden morgen den Schweizer Botschafter treffen und haben auch einige Leute von Think Tanks getroffen, die im Bereich der internationalen Politik tätig sind. Sprecherin: Eigentlich kommt ihm das seltsam vor, gibt er zu. Er lernt jetzt Menschen kennen, die ihm bald einmal nützlich sein könnten. Small Talk, Konversation machen. Visitenkarten einsammeln. Steffen Müller hat sich auf Kraftwerksbau spezialisiert. Sein Herz hängt an der Sonnenenergie und so will er einen Ausbildungsgang für Fachkräfte der Solarthermie in Nordafrika entwickeln. Für diese Idee, die ihm das Stipendium eingebracht hat, braucht er Unterstützung, politische und wirtschaftliche Unterstützung. Sein Studium hilft ihm dabei nicht weiter. Er muss entsprechend auftreten. Natürlich kann er sich gut benehmen, kann überzeugend sein, ist höflich und in den richtigen Momenten zurückhaltend. Den Habitus der Elite muss er noch erlernen. O-Ton Steffen Müller Da haben sicherlich andere einen Vorteil. Und ich muss eher gucken, wie ich damit umgehe. Ich hoffe, dass es mir im Großen und Ganzen ganz gut gelingt. O-Ton Sighard Neckel Der Habitus ist eine unbewusste Prägung unserer Person, die wir erhalten ohne, dass wir das richtig bemerken. Und so ist es - und das ist vielfach nachgewiesen worden - dass von diesen Voreinstellungen, die wir haben sehr viel in unserem Leben abhängig ist. Sprecherin: Wer also gewisse Codes im zwischenmenschlichen Umgang schon im Elternhaus kennenlernt, hat einen Vorteil. Oder eben einen Nachteil, wenn man über diese Prägung nicht verfügt. Schon wie man bei einem gemeinsamen Abendessen die Gabel hält, verrät dem geschulten Auge die soziale Herkunft eines Menschen. O-Ton Steffen Müller Wir hatten jetzt letztendlich auch ein Knigge-Seminar beim Mercator Kolleg. Es ging auch sehr viel um Kleidung. Wir haben den Dresscode durchgesprochen. Was ist Business Casual. Das ist schon sehr wichtig, wenn man eine Einladung bekommt und der Dresscode angegeben ist, das man auch weiß, was sich dahinter verbirgt. Sprecherin: Bislang hat er in solchen Fällen einfach gegoogelt. O-Ton Steffen Müller Also ich fand das nicht überflüssig. Ich glaube das ist notwendig. Ja. Weil das ja keine Frage, wie gut ist ist jemand in seinem akademischen Feld, das ist ein Unterschied, der über das Elternhaus stattfindet. Und das muss ja nicht sein. Sprecherin: Steffen Müller ist nicht nur ein kluger Kopf, sondern er ist auch sehr selbstbewusst. Er hat im Bildungssystem die Kanäle, die nach oben führen gefunden. Er hat erfahren, dass Leistung sich lohnen kann. Aber er muss sich dafür anpassen, die Regeln am oberen Rand der Gesellschaft erlernen oder zumindest imitieren. Solange das notwendig ist, kann von echter Durchlässigkeit keine Rede sein. Trenner Die Türen: ...ich will mal ne ganz große Nummer werden O-Ton Katja Urbatsch Beim Berufseinstieg merken wir auch, dass jetzt wieder die Herausforderung ist, dass ein Großteil unseres Arbeitsmarktes verdeckt stattfindet. Viele Stellen werden nicht öffentlich ausgeschrieben und das ist natürlich für unsere Zielgruppe wieder ein Problem, weil sie nicht wissen, wie komm ich da jetzt an die Jobs. Da muss man netzwerken und das ist denen dann auch wieder nicht in die Wiege gelegt. Sprecherin: Und deswegen bietet Katja Urbatsch mit ihrem Team jetzt auch Coachings für den Berufseinstieg an. Dafür, dass Nichtakademikerkinder auch nach dem Studienabschluss oft auf Blockaden in der Gesellschaft treffen, hat der Soziologe Sighard Neckel eine Erklärung. O-Ton Sighard Neckel Wir beobachten, dass sich Menschen am liebsten mit demjenigen zusammentun, die sie sich selbst gegenüber als ähnlich empfinden. Und das bewirkt beispielsweise bei einer Personalauswahl, wo zwei Kandidaten zur Auswahl stehen, die über vergleichbare Qualifikationen verfügen, derjenige genommen wird, von dem dann die Auswahlkommission oder der Personalchef sagt, der oder die Person passt einfach besser zu uns. Für den Anschluss an bestimmte soziale Kreise, an Führungskreise die habituelle Passung eine große Rolle spielt. Sprecher: Dabei ist Diversity, soziale Vielfalt in Unternehmen inzwischen ein beliebtes Schlagwort. O-Ton Sighard Neckel Jeder Akteur, der in einer Organisation tätig ist, in einer Verwaltung tätig ist, in einem Unternehmen, in einer Schule hat seinen eigenen blinden Fleck. Jeder Beobachter leidet darunter, etwas selbst nicht sehen zu können. Je vielgestaltiger die Anzahl der Akteure ist, die sich mit einem Unternehmen befassen und hierfür Verantwortung tragen, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass man die blinden Flecke kompensiert. Man erweitert den Erfahrungsschatz, man erweitert die Reflexionsmöglichkeiten. Gewissermaßen die kollektive Intelligenz. O-Ton Katja Urbatsch Deswegen bin ich auch sehr positiv gestimmt, dass wir da auch weiter vorankommen. Sprecherin: Meint Katja Urbatsch. O-Ton Katja Urbatsch Ich habe auch das Gefühl, wenn ich mit Unternehmen oder auch mit anderen Organisationen spreche, dass da eine große Begeisterung kommt, dass man auch an vielen Stellen immer wieder Menschen trifft, die mir auch sagen, ich bin auch die oder der Erste in meiner Familie, der studiert hat und ich möchte sie unterstützen. O-Ton Sighard Neckel Ich will ja gar nicht in Abrede stellen, dass - Stichwort Diversity - ein gesellschaftliches Nachdenken eingesetzt hat. So wie das auch beim Stichwort Corporate Social Responsibility der Fall sein mag. Bisher wissen wir aber noch nicht, ob sich hinter diesen zunehmenden öffentlichen Diskursen, hinter diesen Symbolen tatsächlich gesellschaftliche Veränderungen verbergen. Sprecher: Sighard Neckel ist also skeptischer. Er sieht auch noch andere Indizien dafür, dass es in der deutschen Gesellschaft in absehbarer Zeit kaum mehr Durchlässigkeit geben wird. Der internationale Finanzmarktkapitalismus produziere einen neuen Geldadel, der mit dem Leistungsprinzip der bürgerlichen Gesellschaft nichts mehr zu tun habe. Neckel nennt das Refeudalisierung. O-Ton Sighard Neckel Das ist ein Rückfall hinter moderne Prinzipien der Gesellschaftsorganisation. Das Prinzip einer feudalen, vormodernen Gesellschaft ist ja, dass man den Ort in der Gesellschaft, in den man hineingeboren wird, nicht verändern kann. Einer der wichtigen Gründe ist, dass sich die Einkünfte aus Vermögen im Verhältnis zu den Einkünften aus Arbeit sehr stark gesteigert haben. Während die normale Berufstätigkeit heute kaum noch Aussicht verspricht, tatsächlich einen materiellen Zuwachs zu erleben, ist es so, dass die Einkünfte von Vermögensbesitzern in den letzten fünfzehn Jahren doch deutlich zugenommen haben. Das hat zu einer Ungleichverteilung geführt und einer Vertiefung sozialer Ungleichheit. O-Ton Reinhard Pollak Wenn man sich die Gesellschaft als eine Leiter vorstellt und sagt, es kommt darauf an wer auf welcher Sprosse sitzt. Sprecher: Sagt Reinhard Pollak vom Wissenschaftszentrum Berlin. O-Ton Reinhard Pollak Und Chancengleichheit bedeutet, dass jeder mal die Chance hat auf die oberste Sprosse zu kommen. Dann bedeutet das, dass der, der auf der obersten Sprosse sitzt auch mindestens eins nach unten muss. Wenn man sich das relativ anguckt - die Chancengleichheit - bedeutet der Aufstieg einer Person auch immer den Abstieg einer anderen Person. Sprecherin. Aber wer will das schon. Trenner Sprecher vom Dienst Wo bitte geht's nach oben? Über die Durchlässigkeit der deutschen Gesellschaft. Eine Sendung von Mandy Schielke. Es sprachen: Eva Kryll und Viktor Neumann Ton: Inge Görgner Regie: Gabriele Brennecke Redaktion: Constanze Lehmann Produktion: Deutschlandradio Kultur, 2012 (c) 1