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ATMO... langsam hochziehen ... Metrolärm..... Was geht in diesen Köpfen vor? Wie lange muss man hier leben, um die verborgenen Geschichten, Gedanken und Gefühle zu entschlüsseln? (Endre Kukorelly, die Rede und die Rege / Zsuzsanna Gahsel) Metrolärm .... da hinein Zuspiel Endre Kukorelly (Ungarisch) Sprecher: Oh, ich habe keine pessimistische Vision von dieser Stadt. Ich beschreibe nur, was ich um mich herum sehe und wahrnehme. Und das ist es eben. Es gibt ein Budapest für die, die hier durchfahren, die hier ankommen und für die, die hier leben. Das eine ist prächtig und voll von Ideen und Idealen. Das andere ist irgendwie unbekannt und geheimnisvoll. Sprecherin Unterirdisch ist das Gesicht von Budapest ein anderes, als oben auf den Flaniermeilen und Alleen der offiziellen ungarischen Geschichte - erklärt der Schriftsteller Endre Kukorelly, der seine Besucher am Moskauer Platz tief in den Metroschacht hinabführt. Dort im Bauch der Metropole streifen sie für einen Augenblick die Einwohner mit ihren vielen verborgenen Lebensgeschichten. Mit dem Budapest oben hatten sich die Menschen einen Tempel der Modernität errichtet. Eine Prachtstadt des Arts Deco. Tief unten bleibt die Atmosphäre geladen. Von der Energie der unzähligen Erwartungen und Ideen, die gläubige Zuwanderer mitgebracht haben und von den Schreien und Ängsten all jener, die tief enttäuscht wurden. Für Peter Esterhazy fließen all diese Gedanken und Gefühle in der Donau, die Buda von Pest trennt, mit. In seiner Erzählung Donau abwärts schreibt er. Zitator Und ich begriff, dass ich von diesem Fluss alles bekommen würde. Auskunft über die Berge, Geschichte, Volkskunde, Gegenwart, Zukunft, Hochwasser und Dürre, Stromwirbel und Fischsuppe und Menschen würden sein. Alles - einfach alles fließt die Donau hinunter.... (Peter Esterhazy, Donau abwärts /Hans Skirecki) Sprecherin Alles atmet Geschichte ? in Budapest. Die Plätze, die Brücken, die Donau, die beiden Städte - Buda und Pest. Die Türkenherrschaft, die Zuwanderung der Deutschen unter MariaTheresia, die Emanzipation der Juden, die Versailler Friedensverträge von 1919, der Holocaust und die 40 Jahre Kommunismus. Kein Satz, kein Gefühl, keine Entscheidung sind von all dem zu trennen. Es gibt nichts rein "Privates" - von der "Historie" des Ortes Losgelöstes. Darin sind sich alle ungarischen Dichter und Schriftsteller einig. Auch die im Herbst 2007 verstorbene Schriftstellerin Magda Szabo, hat in ihren Romanen und Gedichten Verrat, Schuld und Verstrickung immer wieder thematisiert. Zuspiel Magda Szabó Deutsch Wir spielen mit der Geschichte und die Geschichte spielt mit uns. Das ist eigentlich was, worauf ich reagiere. Das geschieht immer entweder durch die Weltgeschichte oder die spezielle Geschichte Ungarns. Sprecherin Und diese Geschichtlichkeit heißt in Budapest Zuflucht, denn in wohl kaum einer anderen Stadt Europas wurden das alltägliche Leben, die Kunst und die Literatur so sehr vom Schicksal der Zugewanderten, der Deportierten und wieder Zurückge-kehrten geprägt, wie in Budapest. Das war schon so - als Budapest noch "Pest-Ofen" hieß. Ja sogar noch viel früher, im 16. Jahrhundert, als es zur Zeit der Türkenherrschaft eigentlich nur Ofen gab, das heutige Buda, die Hauptstadt des Königreiches Ungarn. Schon damals - so steht es in den Annalen der Secula Hungariae, tummelten sich hier die unterschiedlichsten Nationen. Zitator Ganz Ungarn nimmt in unseren Tagen verschiedene Nationen auf: Deutsche, Juden, Böhmen, Slawen, Székler, Walachen, Kumanen, Ruthenen und nun auch noch die Türken. Die Stadt Ofen, die auch Buda heißt, wird oft auch von italienischen und polnischen Kaufleuten aufgesucht, die hier auf den größten Markt Ungarns strömen. Von außen her, von der Ferne, kannst Du die prächtige Lage der Stadt auf dem Felsen bewundern, andererseits glaubst Du, dass kein Gebäude aus irdischem Material besteht, sondern dass Du irgendein ausgezeichnetes Gemälde vor Dir hast. ( Secula Hungariae, hrsg. 1990, Anat Kalman) ATMO... osmanische Musik aus dem 16. Jahrhundert. Track 6 anspielen da hinein viele Menschenstimmen von einem Markt und dann die Sprecherin Sprecherin Ofen, die bunte und quirlige Hauptstadt des alten Königreiches Ungarns, war ein wichtiger Handelsknotenpunkt. Hier gab es Südfrüchte, Kaffee, Rosmarin-Parfums, Samt und Seide. Hier oben standen prächtige Kirchen und die erste im gotischen Stil erbaute Synagoge, die in jenen Tagen einer Kathedrale gleich vom Felsen aus weit übers Land hinaus ragte. Sultan Süleyman, der Prächtige hatte 1526 diese Stadt eingenommen und war fest entschlossen, aus Ofen ein Bollwerk des Islam zu machen - wie er es in seiner 1541 verfassten Siegesschrift ankündigte. Zitator Mein Ziel war eigentlich, die Stadt Ofen zur Heimstätte des Islams zu machen und Ungarn mit Hilfe meines siegreichen Säbels in Besitz zu nehmen. Nachdem der räuberische Gegner mit Hilfe des großen Gottes vertrieben worden war, habe ich die großen Kirchen in Dshamis verwandelt, in denen unter Beteiligung aller Kämpfer am Freitag ein Gottesdienst abgehalten wurde und in das Gebet wurde mein fürstlicher Name eingeschlossen. (Secula Hungariae, hrsg. 1990, Anat Kalman) Sprecherin Und doch galt die von den Türken besetzte Vielvölkerstadt Ofen weit über seine Grenzen hinaus als Ort der Toleranz. Denn letztendlich war den türkischen Besatzern nur wichtig, dass die Steuern rechtzeitig bezahlt wurden. In religiösen Fragen ließen sie jeden gewähren. Was dazu führte, dass Ofen sehr bald zu einem Zufluchtsort wurde. Und zwar für die aus Spanien und Portugal vertriebenen Juden. Darauf sind Archäologen gestoßen, als sie in den neunziger Jahren bei der Restaurierung der Budaer Burg und der Fischerbastei einen alten Synagogenraum mit kabbalistischen Wandmalereien entdeckten. János Talavera ist ein Nachfahre spanischer Juden aus Buda und trägt stolz seinen spanischen Familiennamen. - Talavera Zuspiel János Talavera Ungarisch Sprecher: Sehen Sie hier... diese Wandmalereien. Das eine ist eine Hand und das andere ist ein Bogen. Das sind zwei magische Zeichnungen der Davidstern und der Bogen, dessen Pfeil sich gegen den Himmel richtet. Und die stehen in Verbindung mit dem Buch Samuel und dem fünften Buch Moses. Hier steht, dass der Bogen die Starken schwächt und die der Schwachen stärkt. Sprecherin Die Vertreibung der Juden aus Spanien und Portugal in den Jahren 1492 und 1494 hatte die sefardische Diaspora eingeleitet und viele Tausende waren damals durch Europa geirrt, wie der Chronist Andres Bernáldez um 1500 berichtet. Zitator "Innerhalb einiger Monate verkauften die Juden alles, was sie konnten; für einen Esel gaben sie ein Haus her und einen Weinberg für ein Stück Stoff oder Leinwand. Vor ihrem Aufbruch verheirateten sich alle Kinder, die älter als zwölf waren, damit jedes Mädchen die Begleitung durch einen Ehegatten hätte. Dann begaben sie sich hoffnungsvoll auf die Reise; sie verließen ihr Geburtsland; Kleine und Große, Alte und Junge, zu Fuß, zu Pferd, auf dem Rücken eines Esels oder auf einem Karren. Drückendes Missgeschick erwartete sie unterwegs: die einen fielen, andere richteten sich wieder auf, die einen starben, andere kamen zur Welt." (Historia de los Reyes Católicos, 1856, Anat Kalman) Sprecherin Auf diesen Wanderungen hatten einige vernommen, dass in einer fernen Stadt namens Ofen, im Land der Magyaren ein Sultan herrsche, der ihnen gegenüber wohl gesinnt wäre. Und so zogen sie nach Buda. ATMO... ein sefardisches Lied anspielen.... gesungen von Esther Lamendier.... da hinein die Sprecherin Wie viele es waren, ist nirgends verzeichnet, aber diese kleine Synagoge hat als einzige jüdische Kultstätte auf der Burg die vielen stürmischen Jahrhunderte überlebt. Von der ehemals großen Synagoge sind nur zwei Teile einer großen Säule übrig geblieben. Der Gebetsraum der Sefarden aber deutet auf das alte Erbe des spanisch-maurischen Judentums, das bereits vergessen worden war. Zuspiel Katalin Teixeira Ungarisch Programmsprecherin: Wissen Sie, ich gehöre zur zweiten Generation der Schoah-Überlebenden Sprecherin erzählt die junge Budapester Rechtsanwältin Katalin Teixeira, die ebenfalls sefardisch-jüdischer Herkunft ist, die das aber erst kurz nach der Wende erfahren hat. Zuspiel Katalin Teixeira Ungarisch Programmsprecherin: Und für meine Generation ist es ganz typisch in einer assimilierten, kommunistischen und atheistischen Familie groß geworden zu sein. Ich war sieben Jahre alt, als ich mit antisemitischen Bemerkungen aus der Schule kam. Da erst hat sich mein Vater mit mir hingesetzt und mir erklärt, dass ich das besser lassen sollte, denn wir wären auch Juden. Und von da an war mein Judentum ein Trauma. Das heißt außer der Schoah kannte ich nichts. Ich wusste, dass mein Großvater aus Buchenwald zurückgekommen war. Sonst gab es nichts als Vakuum und Leere. Und für uns sind diese Orte, wie diese kleine Synagoge so wichtig. Das vermittelt uns heute ein positives Erlebnis von Judentum und von der eigenen Identität. Wir hatten das nie: wir kannten weder die Religion, noch die Sprache und auch nicht die Feste. Sie glauben nicht, wie schwer es ist, aus uns Atheisten wieder Kulturjuden zu machen. Sprecherin Heute leben rund 20.000 Juden in Budapest. Und sie entdecken nach vierzig Jahren Kommunismus wieder ihre Wurzeln. Dass es da auch spanisch-sefardische gab, war bislang wenig bekannt. Denn die meisten Budapester Juden waren im 18. Jahrhundert aus Russland und Polen geflohen - vor den Pogromen in das ?Paradies der Toleranz? , ins ungarische Königreich - in ihr "Hungaria Integer" , wo sie Juden bleiben durften und als solche sogar bis in den Adelsstand aufsteigen konnten. Viele berühmte ungarische Schriftsteller stammen von diesen Emigranten ab. Wie Arthur Koestler, der sie die Generation des Leopold-X nannte, weil auch seine Familie dazu gehörte. Zitator Der Koestlersche Stammbaum beginnt mit meinem Großvater Leopold und endet mit mir. Leopold X floh während des Krimkrieges aus Russland nach Ungarn. Ich nenne ihn X, weil Koestler nicht der ihm angeborene Name war und er diesen niemals verriet, nicht einmal seinen Kindern. Ich habe ihn als eine große gütige, patriarchalische Erscheinung mit langem, weißen Bart in Erinnerung. Er pflegte einen Gehrock zu tragen, was ich aus der Tatsache schließe, dass ich immer noch die charakteristische Gebärde vor mir sehe, mit der er die schwarzen Rockschöße auseinander schlug und hochhob, ehe er sich auf seinem Schaukelstuhl niederließ. (Arthur Koestler, als Zeuge der Zeit, S.13) Sprecherin Das Budapester Judentum war ein großbürgerliches, ein Judentum des Adels, elegant und weltgewandt. Sie waren oft auch sehr wohlhabend und lustwandelten in den zwanziger und dreißiger Jahren zwischen Vörösmarty-Platz und dem Donaukorso - der immer noch beeindruckenden Stadtpromenade am Ufer der Donau. Hier besprachen sie die Angelegenheiten der Stadt, hier ließen sie sich sehen, zwischen Snobs, Aristokraten und eleganten Damen. Während in der Pilsener Bierhalle hin-und wieder der Operrettenkönig Franz Lehar sein Bier trank. Und wo der englische Kronprinz Edward gerne im Cafe Nora abstieg, weil da der Schlagerkomponist Jenö Horvath allabendlich am Klavier saß und seine neuesten Songs zum Besten gab ATMO... historische Aufnahme... ein Schlager mit der Stimme von Jenö Horvath..... da hinein Kukrorelly Zuspiel Endre Kukorelly (Ungarisch) Sprecher: Damals gab es hier einen richtigen Literaturbe-trieb. Mit insgesamt 500 Literaturcafes. Nicht nur am Donaukorso, sondern in der ganzen Stadt. Meine Mutter hat diese Zeit noch miterlebt, die Cafes in denen die großen Schriftsteller schrieben, aber auch Journalisten und Professoren. Denn die Kaffeehäuser waren immer gut geheizt, man konnte den ganzen Tag bei einem Espresso sitzen bleiben, Billiard spielen, diskutieren und arbeiten. Sprecherin Die diskriminierenden Judengesetze wollte man nicht wahrnehmen. Und so glich Budapest noch einem Paradies, als schon die Nazis auf dem Weg nach Polen waren. Niemand glaubte an eine wirkliche Gefahr. Noch 1939 flüchteten polnische und österreichische Juden nach Budapest - in der Überzeugung, dort wären sie sicher - ein fataler Irrtum, denn von da an verwandelte sich die Donaumetropole in die Stadt des braunen und roten Fluches ? in eine aufgedunsene Fratze, die dem Mond gleich einen Hof hat?, wie Magda Szabo es nannte. Denn viele jüdische Intellektuelle, die 1945 verbittert aus der nationalsozialistischen Katastrophe heimkehrten, wollten nur noch eines: den Kommunismus als radikalen Neuanfang. Wie der ungarische Schriftsteller Istvan Eörsi. Als Kind war auch er nach Auschwitz deportiert worden. Und wurde so in den fünfziger Jahren zunächst zum überzeugten Kommunisten, bevor er sich den Dissidenten um György Konrád anschloss. Er gehörte zu jenen, die auch nach der Wende ganz offen darüber sprachen, wie das Schicksal Menschen in die unterschiedlichen Gußformen der Gesellschaft presst und trotzdem von ihm fordert, sich von diesen zu befreien. Zitator Meiner Meinung sind die Menschen unfähig "ein anderer" zu werden, weil sie aus der Gefangenschaft ihrer äußeren Determinierung nicht ausbrechen können, ja meist gar nicht ausbrechen wollen. Und doch: Das Eigene und das Fremde, das Eigene als das Fremde - wo verläuft die Grenze? Geht es im Leben denn nicht um diese doppelte, simultane Aufgabe Fremdes einzubeziehen und Eigenes zu verfremden? Doch inwiefern sind wir dazu fähig? Was für ein Gefühl erfüllte wohl den Vater von Danilo Ki?, nachdem er vor einem Loch im Eis der Donau gestanden hatte, vor dem er hätte erschossen werden sollen? Sie erschossen ihn nicht, denn bis er an die Reihe kam, hatten die Leichen der vor ihm Stehenden das Eisloch bereits ausgefüllt. (Istvan Eörsi, Laudatio auf Ilma Rakusa) Zuspiel Istvan Eörsi Deutsch Sprecher: Nach 45 haben dann sehr viele, auch meine Generation, ich bin 31 geboren, in Kommunismus geglaubt. Es kam eine neue Idee herein, die hat gesprochen, dass es Ende wird mit Rassenhass und mit Nationenhass, mit Klassenhass, es wird ewiger Friede sein und Gerechtigkeit und wir haben daran geglaubt. Aber dann nach einigen Jahren hat sich herausgestellt, dass eine neue Klassengesellschaft ist im Aufbau und zwar eine ganz grausame. Sprecherin Eine Grausamkeit, die jene nicht spürten, die im Februar 1953 am Budapester Keleti-Bahnhof ankamen. 400 Jahre nach der ersten sefardischen Einwanderung erreichten erneut 3000 Spanier die ungarische Hauptstadt ATMO.... Keleti-Atmo..... Ansagen, Lärm.... Menschen, die schwatzen... Sie kamen, weil sie linksgerichtete Partisanen und Republikaner waren. Franco-Gegner, die in Westeuropa keiner mehr haben wollte. Sie kamen mit Frauen und Kindern. Einer von ihnen war Juan Cabello. Er war damals 8 Jahre alt und kann sich noch sehr gut an seine Ankunft in Budapest erinnern. Zuspiel Juan Cabello Ungarisch Sprecher: Ich muss zugeben, für mich war die Ankunft am Keleti - am Ostbahnhof - ein regelrechter Schock. Ich hatte vorher nie so viel Dreck, Heruntergekommenes und Ungepflegtes gesehen. Und als ich in die Schule kam, hing gleich am ersten Tag eine schwarze Fahne auf Halbmast und viele Lehrer und Schüler schluchzten und plärrten. Meine Mutter erklärte mir dann, dass Stalin gestorben sei. Na ja -ich kam ja direkt aus Südfrankreich und darum wirkte das alles auf mich sehr befremdend. Sprecherin Denn wie viele Kinder der Franco-Gegner wurde auch Juan Cabello bereits im Exil geboren. Zuspiel Juan Cabello Ungarisch Sprecher: Meine Eltern haben in den dreißiger Jahren gegen das Franco-Regime gekämpft. Sie waren auf Seiten der kommunistischen Republikaner und mussten darum 1938/39 fliehen. Sie ließen sich im Süden Frankreichs nieder - in der Nähe von Perpignan. Dort lebten die meisten Franco-Gegner und Exilspanier. Und wie diese kämpften auch meine Eltern als Partisanen in Frankreich gegen die Nazi-Besatzungsmacht. So wurde ich 1945 dann in der Nähe von Toulouse geboren und wir lebten dort, bis sich 1951 etwas Seltsames ereignete. Eines Tages stand die Polizei vor der Tür und verhaftete meinen Vater. Er wurde nach Korsika gebracht und dort in einem Lager gefangen gehalten. Sprecherin Die französische Regierung hatte sich aufgrund der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen mit dem Franco-Regime bereit erklärt, alle Franco-Gegner aus ihrem Land auszuweisen. So blieb Juans Vater fast eineinhalb Jahre im Lager in Korsika - während die spanischen Exil-Kommunisten alle Hebel in Bewegung setzten, um die Auslieferung der Partisanen und Parteigenossen an das Franco-Regime zu verhindern. Sie verhandelten mit allen osteuropäischen Staaten. Bis sich schließlich Polen und dann auch Ungarn, die Tschechoslowakei, Bulgarien und Rumänien bereit erklärten, die Partisanen aufzunehmen. Zuspiel Juan Cabello Ungarisch Sprecher: Tja, mein Vater kam erst nach Polen. Und in der Familie erzählt man, wie er sich plötzlich daran erinnerte, dass ihm irgendwann mal einige Zigeuner in Cordoba erzählt hatten, man könne in Ungarn sehr gut leben, weil es dort auch viele Zigeuner gebe. Er entschied sich also für Ungarn. Und ließ uns Anfang 1953 nach Budapest nachkommen. Sprecherin Doch eine Befreiung war diese Zuflucht in Budapest nicht - erzählt Juan Cabello. Zumindest nicht für ihn. Er fand sich kaum zurecht und die ungarische Gesellschaft war ihm ebenso fremd, wie ihre merkwürdige Sprache. Innerhalb der spanischen Gemeinde war es aber auch nicht besser. Dort herrschte Bespitzelung, Verrat, Misstrauen und eine perfekte politische Überwachung. Zuspiel Juan Cabello Ungarisch Sprecher: Jede Woche gab es eine Versammlung, zu der man gezwungener Maßen hin musste. Und zudem waren die Mitglieder aufgefordert worden, sich gegenseitig zu überwachen. Das war furchtbar. Aus diesem Grund habe ich eigentlich bis heute Angst in die Akten der ehemaligen Staatssicherheit zu schauen. Ich möchte da nichts über meinen Vater finden. Und darum habe ich mich auch entschlossen, diese harte Zeit einfach ad acta zu legen. Sie ist vorbei, ich möchte keine Akten konsultieren. Es ist vorbei, auch wenn sie für mich schrecklich war, weil es zwischen den Spaniern sehr viel Streit gab. Sprecherin Es waren die Jahre des harten Stalinismus, die Juan keineswegs wie ein Exil, sondern eher wie eine Verbannung erschienen. Ganz im Gegensatz zu Peter Esterhazy, der in diesen Tagen gerade in umgekehrter Weise von Budapest aufs Land verbannt worden war. Als Aristokraten hatten seine Eltern nicht mehr das Recht in der kommunistisch regierten Hauptstadt zu leben. Doch für ihn bedeutete diese tatsächliche Verbannung im Kreise seiner engsten Familie zunächst nichts Schreckliches. Zuspiel Peter Esterhazy Deutsch Sprecher: Ich muss es so formulieren, dass ich von den stalinistischen Zeiten nur gute Erinnerungen habe. Wir wurden deportiert, aber... das ist natürlich ein dramatisches Ereignis - nicht aber für ein Kind, nur für die Eltern. Alles was ich über meine Kindheit in Erinnerung habe, das hat dann mit diesen so genannten historischen Zeiten nichts zu tun. Nicht einmal mit der Armut, weil, vielleicht so arm waren wir nicht. Oder ein Kind, das sieht einfach nicht. Wenn man Brot hat und Melonen, Wassermelonen, in konkreto Wassermelonen, dann hat man alles. Also ich hab auch alles gehabt. Sprecherin Vielleicht war es diese einstige kindliche Sicherheit, die Peter Esterhazy dann dazu verleitete, sich, im Gegensatz zu Juan Cabello, den Agentenakten seines Vaters zu stellen. In seinem Roman Harmonia Celestis hatte er diesem noch ein Denkmal gesetzt, bis er im Jahre 2000 auf die fürchterliche Gewissheit stieß: sein Vater war ein Spitzel der allseits verhassten ungarischen Staatsicherheit AVÓ gewesen. Das Schreckliche - es eröffnet sich Peter Esterhazy 50 Jahre später - wenn er schreibt. Zitator Zu Hause angekommen, fiel ich wie ein Stein ins Bett und schlief. Ich wachte über meinem Zischeln auf: jede Diktatur verrecke! allein schon das Lesen zersetzt einen! Nur zum Lesen begebe ich mich zur "AVÓ" und schon handeln meine Tage von nichts anderem, nur davon, ich nehme nichts anderes mehr wahr, ich weiß nicht einmal, wo ich wohne, nichts anderes bedeutet mir etwas. Wie erst wurde sein Leben zersetzt. Dieses ewige Herumspringen, die wöchentlichen Treffen mit diesen Säcken, sie haben ihn reden, ständig herum schreiben, von da nach da laufen lassen. Nicht das ist das Nichts, wovon der Roman erzählt, sondern das hier. Die Zwangsaussiedlung war hart, aber man konnte sie in moralischer Erhabenheit absolvieren. Nun aber bist du ein Stück Scheiße, eine Null, du hast Dich verraten, deine Prinzipien, dein Land, selbst deine Klasse - was für eine Kraft bleibt dann? (Peter Esterhazy, Verbesserte Ausgabe, S.81/ Hans Skirecki) ATMO... ein schrilles Klirren von Scheiben.... (aus dem Archiv) dann Zuspiel Zuspiel 1956, begeisterte Menschenmassen ... Imre Nagy spricht.... der Reporter übersetzt immer wieder dazwischen... Nagy erscheint, winkt mit dem Hut, tritt jetzt an das Mikrofon. Wir versuchen, seine Rede gleichzeitig ins Deutsche zu übersetzen. .... Imre Nagy spricht ... Ich spreche wieder zu Euch, liebe ungarische Bürger. Der revolutionäre Kampf, dessen Ihr Helden ward, hat gesiegt. ..... Imre Nagy spricht .. . Das Ergebnis dieses heldenhaften Kampfes brachte unsere nationale Regierung zustande, die für die Unabhängigkeit und Freiheit unseres Volkes kämpfen wird..... begeisterte Menschenmassen jubeln..... Sprecherin Es war die Revolution im Oktober 1956, die Ungarn langfristig zur "fröhlichsten Baracke Osteuropas" machte und die wirtschaftliche und politische Annäherung an den Westen ermöglichte. Die war jedoch mit viel Blut und Tod erkauft worden. Denn erst nachdem János Kádár Imre Nagy, den Ministerpräsidenten des Aufstandes hinrichten ließ, setzte er dessen politische Strategie fort. Er führte das Land unauffälliger als Nagy dies tat, dafür aber genauso konsequent in Richtung Europa. Ohne dass die russischen Besatzer etwas davon bemerkt hätten - was sogar den österreichischen Kaisersohn Otto von Habsburg immer wieder amüsiert, wenn er nur daran denkt. Zuspiel Otto von Habsburg Deutsch Es gibt doch heute den Herrn Kovacs, der frühere Außenminister. Da hab ich dem Kovacs gesagt: wissen Sie, was mich hier so angenehm berührt ist, dass der Aquis Communautaire so gut schon vorbereitet ist. Daraufhin hat er mir gesagt: wissen Sie das weiß ich, das war ein Beschluss, den wir im Zentralkomitee im Jahre 1982 genommen haben, wo wir beschlossen haben, dass wir alle Gesetzes-vorbereitungen und alle Dekretvorbereitungen zuerst geprüft haben auf ihrer Akzeptanz nach unserer europäischen Gesetzgebung. Und das hat er so als selbstverständlich erzählt. Und wissen Sie, das hat mich doch sehr beeindruckt. Also ein rein kommunistisches Zentralkomitee hatte beschlossen, schon den Beitritt Ungarns zur Europäischen Union vorzubereiten. Denn wenn ich mir vorstelle, wenn in irgendeinem anderen Land das Gleiche gewesen wäre, es wäre überall herausgekommen. In Ungarn haben die Beamten geschwiegen, haben die Politiker geschwiegen, die Russen haben keine Ahnung davon gehabt. Sprecherin Von diesem Moment an konnten private Geschäfte eröffnet werden, vereinzelte Reisen in den Westen wurden möglich, man kam relativ leicht an Bücher und Zeitungen aus allen Ländern der Welt. Auch die nationalen Minderheiten traten wieder auf den Plan, sie bekamen erste Radio-und Fernsehprogramme auf Deutsch, Serbisch, und Rumänisch und das Land erinnerte sich wieder an seine Vielvölkervergangenheit. Die Tür war wieder offen - selbst für die verhassten Ungarndeutschen, von denen zwischen 1944 und 1948 300.000 vertrieben worden waren. Und für jene, die sich Jahrzehnte lang nicht getraut hatten auf der Straße auch nur ein Wort Deutsch zu sprechen ? wie sich Eva Gerner die Chefredakteurin des ungarndeutschen Fernsehens erinnert. Zuspiel Eva Gerner Deutsch Das war meine Urgroßmutter väterlicherseits, die gebo-rene Anna Herbst, die sehr schlecht, ich möchte fast sagen kein Ungarisch gesprochen hat. Woher auch, das war damals ein geschlossenes schwäbisches Milieu, wo sie aufgewachsen ist. Und ich bin Jahrgang 61 und was, woran ich mich immer erinnere, ich höre das also heute noch ... in meinen Ohren... wie sie uns immer gesagt hat: "Red net Deitsch, wann ihr uf die Gass geht, red nur schän Ungrisch. Weil ihr kännt so schän Ungrisch. Uf der Gass rede mir Ungrisch, dahom rede mir Deitsch." Zitator Mein deutschtum ist die rodung im wald - auch sankt iwan bei ofen genannt - mein deutschtum ist das bröckelnde bauernhaus in leinwar - der friedhof dort - wo dutzende von steinen meinen namen tragen- mein deutschtum ist die schule - wo ich in nur ungarisch sprechen durfte - mein deutschtum ist aber auch der bolschewistische zum sozialdemokraten avancierte - dann kommunistische und wieder zum sozialdemokraten abgestempelte grossvater - mein deutschtum ist klopstock und lenau -und auch puschkin -und der ungarische freund - der mich petöfi und arany lieben ließ - mein deutschtum -hört ihr - hat einen weltpass. (Claus Klotz, mein deutschtum, aus Erkenntnsse 2000, ungarndeutsche Anthologie, p.104) Sprecherin schrieb noch in den achtziger Jahren der ungarndeutsche Autor Claus Klätz. Dann verwandelte sich Budapest mehr und mehr und wurde zum Eldorado des Ostens. Der Gulaschkommunismus machte sich breit. Und auch deutsche Urlauber waren wieder willkommen. Was immer mehr Frauen aus der DDR anzog. Mehr als andere Osteuropäerinnen heirateten sie von da an mit Vorliebe Ungarn. Laut einer Statistik des Budapester Bürgermeisteramtes wurden nur in Budapest zwischen 1979 und 1989 rund 6000 Ehen zwischen Ungarn und Frauen aus der DDR geschlossen. Insgesamt - so wird geschätzt - leben heute rund 20.000 ehemalige DDR-Bürger und deren Kinder auf ungarischem Boden. Birgit Csapak aus Potsdam hat ihren Mann in der DDR kennen gelernt und auch dort geheiratet. Eigentlich gehört sie zu den Spätaussiedlern, denn sie kam im Januar 1989 - nur ein dreiviertel Jahr vor dem Fall der Berliner Mauer. Heute arbeitet sie als Lehrerin am Deutschen Gymnasium in Budapest und erzählt, was dieses Budapest so attraktiv machte, nämlich: ein Hauch von Freiheit und besserem Leben. Zuspiel Birgit Csapak Deutsch Als ich damals aus der DDR ausgereist bin, musste ich mich ja genauso offiziell abmelden, wie die, die in den Westen gegangen sind. Also das war unheimlich bürokratisch und man musste sich überall abmelden und man wurde ganz schief angesehen von allen behördlichen Stellen. Und als man dann sagte man geht nach Ungarn, da waren sie auf der einen Seite erleichtert: aha, also keiner, der in den Westen geht, aber auf der anderen Seite sah man auch den Neid auf den Gesichtern... oho die darf dahin und wir maximal im Urlaub. Sprecherin In Budapest stehen Frauen wie Birgit Csapak heute zwischen den Fronten. Sie fühlen sich weder in der Bundesrepublik vollkommen heimisch, noch in Ungarn und auch nicht bei den Ungarndeutschen. Die 200.000 Ungarndeutschen haben eine neue Identität und ein neues Ansehen gewonnen. Sie sind politisch in über 300 Selbstverwal-tungen vertreten, sie haben ein Bildungszentrum und eine deutschsprachige Bühne. Zudem gibt es das ungarndeutsche Wochenblatt "Neue Zeitung" und den daran angeschlossenen Verlag VUdaK, für 20 ungarndeutsche Autoren. Auch die ehemaligen DDR-Einwanderer haben ihre eigenen Zeitungen: den deutschsprachigen Pester Lloyd und die Budapester Zeitung. Doch sie fühlen sich in der postkommunistischen Welt irgendwie heimatlos. Weil sie seit der Wende nicht mehr wirklich zuhause gelebt haben, beschleicht sie eine gewisse Unsicherheit. Vor allem dann, wenn sie gefragt werden, ob sie denn irgendwann einmal nach Deutschland "zurück"- kehren möchten Zuspiel Birgit Csapak Deutsch ja, mit dem Zurückgehen ist es für mich natürlich jetzt etwas problematisch weil, für mich ist jetzt das eigentlich auch fremd, was da jetzt ist. Also ich hab im Prinzip nichts mehr, wohin ich jetzt "zurückgehen" könnte. Also hier lebe ich.... ich fühle mich immer noch ein bisschen fremd. Also ich werde nie so wie die Ungarn werden, aber wenn ich jetzt zurückgehe nach Deutschland, da ist mir auch vieles fremd, weil ich eben diesen ganzen Wandel nicht mitgemacht habe. Da fehlt mir einfach ein Stück. ATMO.... radikaler Wechsel... ein serbischer Tanz ... Sprecherin Von allen Völkern - den Deutschen, Türken, Spaniern, Griechen, Rumänen und Kroaten - die im Laufe der Zeit nach Ofen, Buda und Pest zogen, sind die Serben die Minderheit, die sich schon immer am besten behaupten konnte. Darum ist auch der 35 jährige Kioskbesitzer Kostja Obradovi? sehr mit sich und der Welt zufrieden. Er weiß: auf seinen Schultern ruht die Fortsetzung der alten serbischen Kultur in Pest und Ofen. Denn mit seiner Ankunft hat er unverhofft das hiesige Serbentum wieder aufgefrischt. War es doch gerade dabei, sich zu assimilieren und seine Identität zu verlieren. Zuspiel Kostja Obradovi? Ungarisch Sprecher: Als wir ankamen, gab es in Szentendre nur noch ein paar hundert Familien, die kaum noch Serbisch gesprochen haben. Sie sind zwar serbischer Abstammung, hatten aber den Kontakt zu ihrer Muttersprache verloren. Das hat sich aber mit unserer Ankunft geändert. Sprecherin Kostja Obradovi? ist einer von 20.000 Serben, die 1999 vor den NATO - Angriffen auf das serbische Rest-Jugoslawien nach Budapest flüchteten. Nur 5000 davon ließen sich als Flüchtlinge registrieren. Der Rest kam wie Kostja mit eigenem Geld und schlug sich mit irgendwelchen mehr oder weniger legalen Handelsaktivitäten durch. Für Kostja war es zeitweise der Kleiderimport aus Thailand, dann wieder der Schmuggel mit Havanna-Zigarren aus Kuba. Immerhin, heute spricht er recht gut Ungarisch und ist stolz darauf, sich nun in Szentendre - in der schönen serbischen Barockstadt Sentandreja bei Buda - selbst einen eigenen Kiosk aufgebaut zu haben. Und so deutet er auf die große serbische Bischofskirche neben sich, auf rund 300 Jahre serbischer Geschichte in Buda und sagt nicht ohne Stolz. Zuspiel Kostja Obradovi? Ungarisch Sprecher: Diese Kirche ist ein ganz wichtiger Teil der serbischen Identität, denn sie war nicht nur Jahrhunderte lang der Sitz des Patriarchen. Unsere orthodoxen Kirchenväter spielen auch heute noch eine ganz wichtige Rolle, wenn es darum geht, die politischen und wirtschaftlichen Rechte der Serben zu verteidigen. Und deshalb, nun wegen der gesamten serbischen Geschichte hier, bin ich 1999 hierher geflohen. Sprecherin Tatsächlich waren Pest und Ofen zwei Jahrhunderte lang das intellektuelle Zentrum des Gesamtserbentums gewesen. Durch die "große Einwanderung" - die "Velika seoba" unter dem serbischen Patriarchen Arsenije Carnojevi? hatten sich im Jahre 1690 nämlich rund 40.000 serbische Familien hier angesiedelt. Sie kamen, weil sie glaubten, sich hier vom türkischen und albanischen Assimilierungszwang befreien zu können - so István Póth, der selbst aus Novi Sad stammt. Er ist 92 Jahre alt und gilt in Ungarn als der bekannteste Spezialist der serbisch-ungarischen Geschichte. Zuspiel István Póth Deutsch Na, die Serben hier konnten sich kulturell freier entwickeln, als auf dem Balkan, weil dort der Türke am Ruder war. Sie waren unter türkischer Herrschaft. Die türkische Garnison verließ Belgrad erst 1862 oder 63. Und hier in Pest-Ofen wurde die erste serbische Theatervorstellung organisiert vor 1816 - glaube ich. Es gab noch kein ungarisches Nationaltheater.1826 wurde die Matica Srpska, das ist die erste serbische kulturelle und wissenschaftliche Gesellschaft, die auch heute noch aktiv ist, aber nicht in Pest, sondern in Novisad.... diese Gesellschaft wurde hier gegründet und in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts übersiedelte sie nach Novi Sad oder Neusatz. Sprecherin Später zogen die Serben dann auch in Städte wie Szentendre um Budapest herum. Sie haben ein eigenes Schulwesen, eigene Theater und Selbstver-waltungen, die in bestimmten Stadtteilen heute wieder funktionieren. Szentendre war bis 1918 eine blühende und wohlhabende serbische Stadt gewesen. Dann zogen viele Serben aufgrund der Versailler Verträge wieder nach Jugoslawien zurück und neue ungarische Einwohner kamen. Doch die serbische Vergangenheit dieser kleinen Stadt ist nicht mehr zu löschen. Hier schrieben und stritten sich berühmte serbische Dichter und serbisch-ungarische Politiker, wie die beiden bekanntesten Streithähne: Joan Joanovic Zmaj und Jakov Ignjatovics. Zuspiel István Póth Deutsch Jakov Ignjatovics war Mitglied des ungarischen Landtags. Es wurde ziemlich viel über ihn geschrieben. Er war eine bekannte Persönlichkeit und Joan Joanovic Zmaj war der bedeutendste Dichter der Serben in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Er übersetzte viel aus der ungarischen Litertaur und war ein Gegner von Jakov Ignjatovic, weil Jakov Ignjatovics ein Freund der Ungarn war und Zmaj kämpfte gegen die Magyarisierung. Und so schrieb er verschiedene kleine Gedichte, in denen er eben Ignjatovics kritisierte. Da in - einem Redakteur ... er blättert und liest ein kurzes Gedicht auf Serbisch..... am Ende dann die Sprecherin Sprecherin "Du huldigst dem Fluss Tissza und dieser gibt Dir Wein statt Wasser " - witzelt Zmaj in diesem Gedicht über Ignjatovics und spielt dabei auf den damaligen ungarischen Ministerpräsidenten István Tissza an, der genauso hieß, wie der Fluss und der Ignjatovics für seine Treue zu Ungarn mit Auszeichnungen nur so überschüttete. Zu dieser Zeit war Szentendre bereits der serbisch-orthodoxe Bischofssitz - und das ist es bis heute geblieben. Szentendre ist immer noch ein serbischer Wallfahrtsort. Davon zeugen nicht nur die serbischen Namen, die neuerdings wieder die Szentendrer Gassen schmücken, sondern auch die serbischen Musikfestspiele, ohne die seit 1992 das Szentendrer Sommerfestival nicht mehr vorstellbar ist. Zitator Wisst ihr, wo Szentendre liegt? Diese kleine Stadt am rechten Donauufer, zwischen Buda, Visegrad und Esztergom - eine wunderschöne Landschaft. Vor dem Städtchen die kleine Donau, vor unseren Augen die Insel mit ihren fruchtbaren Dörfern. Etwas weiter die große Donau, dort die Ruinen einer römischen Steinbrücke. Hinter dem Städtchen überall Weingärten und wunderbare Berge. Dann das Tal zwischen Szentendre und Buda, wie ein riesiges Amphiteater... eine wunderschöne Landschaft, Reichtum, guter Wein, herrliches Wasser. Was will man mehr? (Jakov Ignjatovics ?Szentendre? /in: Szentendre város honlapja, Anat Kalman) Sprecherin schrieb Jakov Ignjatovics. Er gehörte zu den Schriftstellern, Malern, Komponisten und Poeten, die schon immer von dieser "Perle an der Donau" begeistert waren. Szentendre wurde zur intellektuellen und künstlerischen Erweiterung von Buda. Und das auch aufgrund einer anderen Emigration - der Emigration der Ungarn, die auf die Versailler Friedensverträge vom 4. Juni 1920 folgte. Damals verlor Ungarn als Nachfolger der Donaumonarchie zwei Drittel seines Staatsgebietes an die Nachbarländer Tschechoslowakei, an Österreich, Rumänien, an die Sowjetunion und an Jugoslawien. Und das ganze Land stand unter Schock - wie jener kleine wehmütig revanchistische Schlager zeigt, der bessere Zeiten beschwor und den Ungarn versprach, dass sie eines Tages wieder eine Nation sein werden . Zitator Es war schon schlimmer und es wird auch wieder besser werden. Auf Feldern werden Grillen und Sensen wieder freudig klingen. So oft ist unser Stern schon gefallen und man hat uns beweint in düsteren Todeshallen. Und doch gibt es uns noch, es war immer nur ein schlechter Traum. Auch dieser wird eines Tages enden, mein Freund, auch dieser wird eines Tages zu Schaum..... ATMO... noch während der Zitator spricht, die ersten Takte des Liedes anspielen..... eine historische Aufnahme aus dem Jahr 1921 .....eine Strophe hochziehen... dann wieder abblenden und da hinein die Sprecherin Sprecherin Tausende zogen damals über die neuen Landesgrenzen ins übrig gebliebene "Mutterland". Zu Fuß oder auf Pferdekarren, in Zügen und sogar in eigenen Autos. Und unter ihnen waren auch ungarische Künstler, Musiker und Schriftsteller, wie Béla Hamvas, der aus Pozsony, dem heutigen Bratislava, kam und eine Gruppe junger Maler aus Nagybánya, einer ehemaligen Künstlerstadt im Norden des heutigen Rumäniens. Auch sie fühlten sich nach den Friedensverträgen heimatlos und wollten dem Rumänisierungszwang entkommen. In Budapest setzten sie ihr Kunststudium fort. Bis sie Sommer 1926 in der letzten Woche vor den Ferien plötzlich eine geniale Idee hatten. Miklós Banovsky erzählt in seinen Erinnerungen welche Zitator Im Sommer 1926 arbeiteten wir im Atelier des Malers István Reti. Eines morgens grübelten wir darüber nach, wo wir nach dem Hochschulabschluss in der Natur einen Platz finden könnten. Da kam unser Freund Jen? Paizs-Goebel herein. Wir erzählten ihm, dass wir über den Aufenthalt im Sommer nachdachten. Jen? sagte daraufhin, dass sein Bruder einen Tag zuvor in Szentendre gewesen wäre und wisse, dass der Bürgermeister dort jemanden suche, dem er einen kleinen Bauernhof zur Verfügung stellen kann. Am nächsten Tag fuhr ich gleich zum Bürgermeister und der erklärte mir den Weg dorthin. Von der Endstation der Vorortbahn musste ich auf dem Weg nach Budapest links abbiegen und auf einer staubigen Straße mit Pappeln gehen. Nun, es war ein sehr schöner Ort. Auf dem leeren Hof stand ein Ziehbrunnen. Das Wasser schmeckte nicht gerade gut, außerdem gab es eine eingestürzte Grube - aber zumindest hatten wir ein Dach über dem Kopf. Ich ging zum Bürgermeister zurück und sagte: wir nehmen Ihr Angebot dankbar an. Ich bat ihn, uns zu helfen und fügte hinzu: auch Nagybánya wurde durch seine Maler berühmt. Wenn wir uns jetzt hier nieder-lassen, könnten wir auch Szentendre zu einer Künstlerstadt machen. ( Miklós Banovsky, Szentendre város honlapja, Anat Kalman) ATMO.... siebenbürgische Klarinettenklänge .... Zuspiel Ádám Farkas Ungarisch Sprecher: Szentendre ist immer noch eine Künstlerstadt. Das künstlerische Leben war besonders in den siebziger und achtziger Jahren sehr spannend. Damals sind die meisten Galerien gegründet worden und es gab verschiedene Gruppen. ich habe zur Gruppe Arteria gehört. Dann brach nach der Wende alles erst einmal zusammen. Der Tourismus brachte alle möglichen Krims-Kramsläden hierher und der Staat hat die Künstler nicht mehr unterstützt und viele sind erst einmal abgewandert. Entweder nach Budapest oder gleich ganz in den Westen. Doch dann hat der hiesige Bürgermeister uns einfach wieder einen Raum zur Verfügung gestellt - die Kunstmühle - einen Bauernhof im Süden der Stadt. Und diese Mühle "malt" bereits kräftig. Sprecherin Ádám Farkas ist der berühmteste Bildhauer der Stadt. Neben Skulpturen in Tokio und Paris hat er auch das Mahnmal für die Opfer des kommunistischen Gulags von Recsk im Nordosten des Landes geschaffen. Heute kämpft er darum, dass Szentendre eine Künstlerstadt bleibt. Zusammen mit dem Bürgermeister hat er - so wie 1926 - dafür gesorgt, dass junge Künstler hier neuerdings wieder kostenlos ausstellen dürfen. Und das Ergebnis lässt sich sehen. Neben 6 kleinen Museen, haben sich seit 1999 12 kleine Galerien in Szentendre niedergelassen. ATMO.... Ruhe... Vögelgezwitscher... ein Bächlein rauscht..... Die bergige Gegend zwischen Buda und Szentendre war schon immer eine Rückzugs-ecke und Zufluchtsstätte gewesen. 1956 konnte man sich vor den russischen Panzern über die legendäre Kettenbrücke dahin retten. Denn die Budaer Berge mit ihren oftmals sehr kleinen, verwinkelten Sträßchen waren für diese unzugänglich. Und auch während der deutschen Besatzung 1944 fanden viele Juden Zuflucht in den eleganten Residenzen ausländischer Botschaften. Nicht nur in der berühmten schwedischen Botschaft von Raoul Wallenberg, der 800 ungarischen Juden das Leben rettete, indem er ihnen einen schwedischen Pass ausstellte. Nein - es gab auch andere - ungenannte Helden, wie der im Jahre 2003 verstorbene Schriftsteller György Timár in seiner Geschichte Der Japaner vom Rosenhügel erzählt. György Timár, Der Japaner vom Rosenhügel,/ / Zsuzsanna Gahsel)) Zitator Am Donnerstag erhielt ich eine Telefonnachricht von meinem Vater, der mir sagte, ich solle, sobald ich im Rundfunk die Proklamation des Reichsverwesers vernehme, alles stehen und liegen lassen und wo auch immer ich mich befinden möge, so schnell ich nur kann, in die Villa des Domei am Rosenhügel rennen, welche in ihrer Eigenschaft als Botschaftsareal als ein Teil Japans anzusehen sei. Mit anderen Worten erlangte ein Junge aus Pest wesentlich früher als sämtliche Stabsoffiziere Kenntnis darüber, dass der Reichsverweser Horthy unerwartet abzuspringen gedenke, weil er es leid sei, eine Marionette der Nazis zu sein. Doch mein Vater war überzeugt, dass dies fehlschlagen werde. Als ich dann am Sonntag de Proklamation hörte, lief ich sofort los... über den Kálmán Széll - den heutigen Moskauer Platz - und dort traf ich meinen Freund Krisztián. "Hast Du?s gehört?" rief mir dieser freudetrunken zu - "es ist vorbei!" Ich hielt gar nicht im Laufen inne und rief nur über die Schulter zurück: "Ich fürchte, jetzt geht es erst richtig los!" - was sich dann auch bestätigte. Denn während ich dann am Abend mit dem japanischen Botschafter Bridge spielte, hörten wir aus dem Radio deutsches Gebrüll wie Hundegebell ertönen: " Alle Juden, die ihren gelben Stern abgelegt haben, sind aufgefordert, ihn sofort wieder aufzunähen." Sprecherin In jenen Tagen wurde Budapest zur Stadt der ?inneren Emigration?. Zur Stadt der Träumer, der Metaphysiker, der ?bewussten Spinner? ? wie Gy?z? Határ sie nannte. Da waren diejenigen, die glaubten, die Macht nur durch Täuschung überwinden zu können ? so wie die junge Zsófia in Peter Esterhazy?s Erzählung Die Fuhrmänner, die für ein bisschen Essen ihre Jungfräulichkeit opferte und den einzigen Freiraum nutzte, der ihr blieb: die Macht, ihre Lust zu verweigern. Und da waren die, die diese totalitäte Welt tief hassten und sich darum in ihre eigene Fantasiewelt flüchteten ? wie der Schriftsteller Gy?z? Határ, der gegenüber dem faschistischen und kommunistischen Alltag nur eines empfand: eine tiefe Verachtung. Zitator Die Alten beweinen den Tag ? wenn der Abend die Stunden wandelt ? wo die Gasse sich weitet zum Markt ? dort wird mit Dirnen gehandelt. ? Neonlicht, Brodem Menschenluft ? und die große Uhr tickt am Eck ? schön ist im Winter der Garküchen Duft ? doch da drüben ist die Welt nur ein Dreck. Sprecherin Als er dann Anfang der fünfziger Jahre sogar in ein ungarisches Arbeitslager interniert wurde, versucht er der grausamen Realität durch das Schlupfloch der Fantasie zu entkommen. Zuspiel Gy?z? Határ Ungarisch Sprecher: Ich kann mich noch gut erinnern, wie es war. Es war furchtbar kalt und der Wind hat durch unsere Zellen geblasen. Die Wächter waren grausam und haben uns geschlagen. Und gerade wegen der Kälte mussten wir den ganzen Tag auf den Beinen bleiben. In diesem Zustand begann ich zu träumen. Ich träumte von einem gigantischen Theaterstück, das ich schreiben würde und da ich weder Bleistift noch Papier hatte, versuchte ich mir die Worte und Szenen immer wieder zu wiederholen und sie mir einzuprägen. Sprecherin Andere Intellektuelle glaubten, dem geschlossenen totalitären Denken mit geistiger Offenheit begegnen zu müssen und mit einem Schweigen, das niemand und nichts brechen kann. Wie Béla Hamvas, der Metaphysiker unter den ungarischen Schriftstellern. Er zog sich vollkommen von der Außenwelt zurück, zunächst nach Buda und dann nach Szentendre und schrieb in seinem Werk Silentium . Zitator Die Erneuerung meiner Lebensordnung: sämtliche Fragen in der Schwebe halten. Also das Denken nicht aussperren, sondern jede Tür ihm öffnen. Die Fäden nicht zum Knoten knüpfen, sondern jeden Knoten lösen. Die Fragen nicht beantworten, sondern sie suchen, möglichst viele und möglichst gefährliche, und sie so exakt wie möglich stellen. Der Tätigkeit des Geistes die Lösungen nicht vorenthalten, sondern ihr sämtliche Fenster und Türen öffnen, damit er frei einströmt und durchzieht. Keine fixen Vereinbarungen und Festlegungen. Kein Prinzip, keine Überzeugung. Soll die Luft doch herein kommen und durchwehen, soll die Sonne doch scheinen...( (Béla Hamvas, Silentium Jörg Buschmann) ATMO.... Ruhe... Vögelgezwitscher... ein Bächlein rauscht?. Sprecherin Klaus Mann begegnete dieser inneren Zurückgezogenheit mit Erstaunen und Bewunderung zugleich. Er traf auf sie, als er in den dreißiger Jahren das Budapest des faschistischen Reichsverwesers Miklós Horthy besuchte. Zitator 2 (eine junge Männerstimme) Die Horthy-Diktatur - im Prinzip und ihrem Wesen nach ebenso geistfeindlich wie jedes andere faschistische Regime bewies bei der Vergewaltigung des intellektuellen Lebens doch nicht die mörderische Konsequenz und Umsicht, mit der etwa der Hitler-Staat zu Werke ging. Ein liberal gesinnter Humanist wie Baron Ludwig Hatvany konnte immerhin halbwegs ungestört leben. Eine "innere Emigration" - so etwas gab es. Das habe ich im Hause Hatvany erfahren. Man befand sich dort in einer Oase der Geistesfreiheit und des Widerstandes, mitten im Machtbereich des totalitär-autoritären Staates. Wie rührend! wie imposant! Eine kleine Gruppe von Intellektuellen - Schriftstellern und Gelehrten, Bohemiens und Aristokraten wagte es, dem allmächtigen Regime Opposition zu machen. Vielleicht kam nichts dabei heraus als ein diskret-riskantes Getuschel im Rauchsalon. Aber das war doch etwas! Ob auch in Deutschland so getuschelt wird? Sprecherin Wie anders ist dagegen das heutige moderne und demokratische Budapest. Hier darf über alles gesprochen und gestritten werden. Über Verfolgung, Exil, Gehorsam, Rache und Verzeihen. Denn das Budapest des beginnenden 21. Jahrhunderts ist eine Stadt wie jede andere. Mit Chinesen-Vierteln und Flüchtlingen aus aller Welt. - Vielleicht mit einem kleinen Unterschied... hier leben immer noch die meisten Historiker - nämlich Menschen, die eine sehr enge Beziehung zur Vergangenheit ihrer Stadt haben. Für die nicht nur die politische und wirtschaftliche Realität zählt, sondern der bunte Duft der Geschichte, der durch ihre Straßen zieht...... Musik anspielen .... 1