Deutschlandfunk Gesichter Europas Samstag, 07. Juni 2014 - 11.05 - 12.00 Uhr Im Takt der Wellen - Rudern in Großbritannien Mit Reportagen von Kirsten Zesewitz Am Mikrofon: Johanna Herzing Musikauswahl: Babette Michel Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Manchmal sind Sportler wie Goldgräber - wen einmal das Fieber packt, den lässt es so schnell nicht wieder los: Da ist diese Besessenheit, wissen Sie, vom perfekten Ruderschlag. Es ist unmöglich, den hinzubekommen, aber wenn du in einem Team ruderst und das Boot läuft richtig gut - dann kommt so eine Euphorie in dir auf, so eine Freude und Befriedigung - das Unerreichbare fast geschafft zu haben. Doch nicht alle sind von so viel Leistungswillen begeistert: Wettbewerb! Darum geht es in England. Wir gewinnen Medaillen! "Im Takt der Wellen - Rudern in Großbritannien" -- eine Sendung mit Reportagen von Kirsten Zesewitz. Am Mikrofon: Johanna Herzing. Der Schlag-Rhythmus: perfekt abgestimmt, die Körperhaltung: stolz und aufrecht, dazu kontrollierte und präzise Bewegungen, und schließlich: elegantes Gleiten auf dem Fluss - Rudern ist eine Sportart wie für britische Gentlemen gemacht. Ein Sport, der weniger an Schweiß als vielmehr an Disziplin denken lässt. Es gibt viele Gründe, weshalb Rudern in Großbritannien eine lange Tradition hat. Bis ins 18. Jahrhundert reicht sie zurück. Und damals wie heute war die Themse Schauplatz der wichtigsten Rennen. Doch Contenance, sie mag zu den Tugenden eines Gentleman dazugehören, das Publikum beim Boat Race interessiert das wenig. Oxford gegen Cambridge - kein anderes Rennen bringt die britische Seele derart in Aufruhr. Tausende pilgern alljährlich ans Themseufer, und wer nicht vor Ort sein kann, der verfolgt das Kräftemessen zwischen den beiden Universitäten wie Millionen anderer Zuschauer weltweit eben im Fernsehen. Das Rennen mit der fast 200-jährigen Geschichte - von den Medien wird es als eine Art Duell der Giganten inszeniert. Selbst das Wiegen der Ruderer findet nicht ohne Kameras statt. Und wenn die Mannschaften schließlich zu den Booten schreiten, dann hat das viel von einem Gladiatoren-Auftritt. Die Spannung, mit der Großbritannien dem Boat Race entgegen fiebert, sie ist schon vor dem eigentlichen Rennen zu spüren: Reportage 1 Die Themse bei Putney ist wahrlich kein lauschiger Ort: alle paar Minuten donnert ein Flugzeug über den Fluss: Putney ist die Einflugschneise für den Flughafen Heathrow. Am Bootshaus der Kings College School wischen ein paar Jungs ihren Vierer trocken: Die Schüler sind gerade mit ihrem Training fertig - und jeden Moment müssen die Studenten aus Cambridge eintreffen: Die Schule gibt ihnen vor dem Boat Race Trainingsasyl. Ein Hüne erscheint am Bootshaus. 2 m Körpergröße, der Kopf ist kahl geschoren, ein Dreitagebart umrahmt das kantige Kinn: Helge Grütjen rudert im Cambridge-Achter gegen Oxford, an fünfter Position. Seine langen Beine stecken in hellblauen Gummistiefeln: "light blue" ist die offizielle Farbe von Cambridge - drei Tage sind es noch bis zum Rennen... Ich hab mich jetzt seit Jahren quasi darauf vorbereitet, immer mit diesem Moment im Kopf und ja klar merkt man da auch Nerven so langsam. Aber das ist auch, was den Reiz ausmacht. Ich meine, man kann nur gewinnen oder verlieren. Es ist nicht wie bei anderen Rennen, wo man sagen kann, ah, ich bin zweiter geworden, Hut ab, gute Leistung. Man gewinnt entweder oder es war alles umsonst quasi. Helge Grütjen arbeitet seit vier Jahren an der Universität Cambridge: Dieses Jahr will er seine Doktorarbeit in angewandter Mathematik und theoretischer Physik abschließen, sein Büro an der Uni liegt neben dem von Stephen Hawking... Seine Familie lebt in Duisburg, fern der elitären Oxbridge Gesellschaft. Dass es nun ausgerechnet dieser Junge aus dem Ruhrpott ins legendäre Blue Boat schaffte - eine Ehre, für die manche Briten von Kindheit an trainieren - wird wohl in die Annalen des Boat Race eingehen: Denn Helge hatte bis vor einigen Jahren in keinem Ruderboot gesessen. Mit dem Rudern habe ich angefangen, als ich vor vier Jahren nach Cambridge kam, für meinen Master. Und Cambridge besteht aus 32 Colleges, die alle ihre eigenen kleinen Ruderclubs haben - und eben diese Leute haben gesehen, der Kerl ist groß, du hast zwei Optionen: entweder musst du für uns rudern - oder Rugby. Und Rugby ist nicht so mein Ding. Letztes Jahr hatte Helge es bereits in die Reservemannschaft geschafft, den "Goldie". Der startet gegen "Isis", das Ersatzboot von Oxford, traditionell eine halbe Stunde vor dem eigentlichen Boat Race. Helge weiß also, was ihn erwartet, wenn 250.000 Menschen jubelnd an den Ufern der Themse stehen: Rivale bleibt Rivale - auch im Reserveboot. Inzwischen sind auch die anderen da: Acht großgewachsene, athletische Männer in Radlerhosen und hellblauen Trikots - und ein zierlicher Junge: der Steuermann. Die Studenten albern herum. Einer legt den Arm um die Schulter des Nachbarn: ob er die Sonnenbrille auch beim Rennen aufsetzen wolle - dann kommt der Coach: Steve Trapmore, selbst Olympiasieger im Achter von Sydney. Im Halbkreis umringen sie den Trainer, folgen aufmerksam den Instruktionen - seine Autorität würde keiner der Studenten anzweifeln... Am Ufer türmen sich bereits die dunkelblauen Gummistiefel: Dunkelblau ist die Farbe von Oxford... Der Gegner hat ein Bootshaus weiter sein Trainingscamp aufgeschlagen - und macht sich bereits startklar... Für jeden Beobachter ist das eine durchaus skurrile Nähe - den Rivalen selbst gelingt es jedoch, sich nach allen Regeln der Kunst gegenseitig zu ignorieren: Und da Oxford bereits hinaus auf die Themse paddelt, gibt Cambridge vor, sie nicht zu bemerken: Gekonnt legen Helge und die Jungs ihren Achter ins Wasser, haken die Ruder ein - und zelebrieren ihr eigenes Ablegen. In drei Tagen wird genau an dieser Stelle das Rennen starten: 6,8 km liegen dann vor den beiden Crews: die olympische Distanz beträgt nur knapp ein Drittel davon... Hinzu kommt das unruhige Wasser der Themse; abgesperrte Bahnen gibt es nicht und regelmäßig krachen die Ruder der Gegner aneinander Man kann sich das ein bisschen vorstellen wie eine kontrollierte Bruchlandung: Man geht mit einer Intensität in das Rennen, die nicht durchhaltbar ist und in dem Moment, wo eine der beiden Mannschaften auseinanderfällt, einfach, weil gar nichts mehr geht, gewinnt das andere Team. Also im Grunde geht es im Boat Race darum, die andere Mannschaft zu brechen. Steve Trapmore legt noch die Gummistiefel zusammen - auf einen Haufen, ähnlich dem von Oxford, dann besteigt er sein Motorboot. Während Steve davon braust, ist ein älteres Ehepaar am Ufer stehen geblieben: Sie kämen aus den Midlands, sagt der Mann, seien nur zu Besuch in der Stadt. Er kramt seinen Fotoapparat aus dem Rucksack - die Frau starrt gebannt hinter Oxford her: Aufregend sei das, wirklich aufregend... Ich bin für Oxford, mein Mann ist für Cambridge. Wir schauen uns das Rennen im Fernsehen an. Früher bin ich oft in Oxford gewesen, mein Bruder hat dort Cricket gespielt. Der Herr schiebt seine Cordmütze ein Stück zurück, sein Blick ist fest auf die Biegung des Flusses gerichtet: In diesem Moment kommt der Cambridge Achter zurück rudert - in vollem Tempo gleitet das Boot an den Spaziergängern vorbei, acht Ruder im perfekten Rhythmus... "Fantastisch!" ruft die Dame und federt mit den Knien, "aber ich hoffe, sie sind nicht so gut wie Oxford. Zumindest sieht es nicht danach aus." Wenig später legt Cambridge am Ufer an. Die Jungs sehen müde aus. Niemand flachst mehr herum oder neckt den anderen - routiniert räumen sie ihre Schuhe und Trinkflaschen aus dem Boot und legen die Ruder zusammen. In wenigen Tagen wird dieser Themsestrand mit Kameras und Scheinwerfern zu gepflastert sein: Helge und die anderen werden einzeln aus dem Bootshaus zum Ufer laufen - einer nach dem anderen - begleitet vom Kommentar eines Reporters. Man muss schon bisschen speziell gestrickt sein, glaub ich, um das mitzumachen. Ich meine, das ist fast so ein bisschen unreal, weil wenn ich mir die letzten Jahre ankucke, weil ich ohne Ruderbackground hier hin gekommen bin, ist das einfach eine Riesenreise auch für mich gewesen - und ist es immer noch, ist ja lange noch nicht vorbei... Die acht jungen Männer aus Cambridge nehmen das Boot auf ihre Schultern und tragen es hinauf zum Bootshaus. Viel Zeit zum Ausruhen bleibt ihnen nicht, der Trainer will später noch einmal mit der gesamten Crew die Strecke abfahren: 6,8 km von Putney über Hammersmith nach Chiswick... Die Bedingungen für eine Ruderpartie sind nicht besonders gut an einem heißen Tag mitten im August - und dennoch lässt sich der Held in Mark Helprins Erzählung "Palais de Justice" nicht von seinem Vorhaben abbringen. Der Jurist und Absolvent der Harvard-Universität macht sich also auf zum Bootshaus, um beim Rudern den langen Arbeitstag hinter sich zu lassen. Er will es ruhig angehen lassen. Doch dann trifft der über 60-Jährige auf einen Widersacher: Als er der Flußbiegung vor der Eliot Bridge folgte, sah er den jungen Mann in seinem neu konstruierten Boot, der sich ihm mit hoher Geschwindigkeit näherte. Er hatte vorgehabt, über die Eliot Bridge, die Arsenal Street Bridge und die North Beacon Bridge hinaus bis zu der Bucht zu fahren, (...) wo es sich leicht wenden ließ (...), und dann umzukehren. Alles in allem war das eine Strecke von knapp zehn Kilometern. Es würde sich nicht auszahlen, eine so lange Strecke bei dieser mörderischen Hitze im Renntempo zu fahren. Wenn es wirklich zum Zweikampf kam, dann mußte die letzte Brücke vor der Wende das Ziel sein. Als er unter der Eliot Bridge durchfuhr und noch zwei Brücken vor sich hatte, war der junge Mann nur noch ein paar Hundert Meter hinter ihm. Seine guten Vorsätze zerbröckelten, als wären sie leichtes Novembereis, das mit Rudern und Bug mühelos zu durchstoßen ist. Fast automatisch erhöhte er die Schlagzahl, um sich dem Tempo des jungen Mannes anzupassen, der nach einem furiosen Anfangssprint zwangsläufig etwas langsamer werden und wieder zu Atem kommen mußte. Den Sportsgeist, heißt es, haben die Briten erfunden. Sport ist demzufolge nicht bloße Körperertüchtigung, sondern eng verknüpft mit Tugenden wie Fairness, Respekt vor dem Gegner und Selbstdisziplin. Doch bei aller Moral - auch britische Sportler wollen gewinnen. Und so gibt es selbst unter den Ruderern, die so beherrscht daherkommen, ein gutes Maß an Aggression und Feindseligkeit. Bei den Vorbereitungen auf einen Wettkampf geht es deswegen um das körperliche Training genauso wie um das mentale. Ein ausgesprochen starker Wille - das ist neben Körperbau und Muskelkraft ein mindestens gleichwertiges Kriterium, wenn es darum geht, die Mannschaften für Wettkämpfe wie das Boat Race oder die Henley Royal Regatta auszuwählen. Diese Willenskraft, mit der die Ruderer in jungen Jahren trainieren, sie lässt manchen auch im Alter nicht los. Reportage 2 Sean Morris wohnt in einem alten Farmhaus, eine halbe Stunde nördlich von Oxford. Zwei Jack Russel Terrier lauern am Hauseingang, in der Veranda dahinter rumpelt die Waschmaschine. In England wird jeder Besucher erst mit einem Tee versorgt - mit oder ohne Milch - dann beginnt Sean zu erzählen: Von einer Werft für Ruderboote, von Colin, seinem Ruderpartner und dem Hochwasser, wegen dem er seit dem Winter kaum auf dem Fluss gewesen sei. Sean hatte bereits angekündigt, dass dieses Gespräch länger werden würde: Er hat 60 Jahre Rudergeschichte miterlebt, viele Jahre war er Mit-Organisator des Boat Race zwischen Oxford und Cambridge. Die Terrier Tigs und Lotti haben sich in ihre Körbchen verzogen. Sean nimmt seine Tasse vom Küchentisch - auf dem Weg zum Wohnzimmer bleibt sein Blick an einem blinkenden Knäuel hängen: Medaillen, aufgehängt an der Gardinenstange: Ich weiß gar nicht, was das für welche sind... Ich glaube, das ist das World Masters Rennen... nein, es ist der Head of the River in London. Den haben wir letztes Jahr gewonnen. Und das müsste Silver Skiff sein... Die Medaillen sind überall im Haus verteilt. Die meisten habe ich auf dem Dachboden in Kisten verstaut. Und wenn ich tot bin, kommen sie eh alle weg. Sean macht es sich auf einem der roten, mit Kissen übersäten Sofas bequem. Tigs möchte auf seinen Schoß klettern, wird aber in seinen Korb in die Küche geschickt. Der Hund liebe es, Tiere im Fernsehen anzuschauen, sagt Sean - und schon ist er beim nächsten Thema: Tierfilme. Es ist nicht leicht, Sean Morris auf eine Sache festzulegen. Der 70-Jährige ist nicht nur Ruder-Champion - er war auch einer der besten Tierfilmer Englands: In den 1970er Jahren hat er den britischen Naturfilm entscheidend geprägt. Aber wir wollten ja über das Rudern sprechen... Also, los ging's bei mir im Internat, so mit 12 Jahren. Radley College hat ja eine alte Rudertradition - eigentlich hatte ich nur die Wahl zwischen Cricket und Rudern. Ich hatte Glück, damals kam ein junger Trainer nach Radley: Der brachte uns die neue Rudertechnik aus Deutschland bei - und innerhalb weniger Jahre wurden wir die beste Collegemannschaft Englands! Wir schlugen alle, wir gewannen sogar die Henley Royal Regatta und stellten einen neuen Rekord auf. Das war einer dieser Momente im Leben, die man niemals vergisst - wir treffen uns noch heute, 50 Jahre später, alle 5 Jahre in Henley und reden über die alten Zeiten... Die Henley Royal Regatta ist der Höhepunkt des britischen Ruderjahres: 20 Rennen in fünf Tagen - bereits die Teilnahme ist eine unglaubliche Ehre für jeden Ruderer, ein Sieg bei der englischsten aller Ruderregatten - die mit ihren Champagner trinkenden, exzentrisch behüteten Zuschauern ein wenig an das Pferderennen in Ascot erinnert - ein Sieg in Henley, gilt quasi als Ritterschlag. Und dann kam ich nach Oxford. Ich hätte nie geglaubt, jemals im Boat Race gegen Cambridge zu rudern. Ich war 18 Jahre alt! Naja, das Training war damals längst nicht so hart wie heute - es gab keine Ergometer, keinen Kraftraum, kein Lauftraining, nur das Rudern auf dem Wasser. Und ganz ehrlich, das Oxford Team von 1963 war nicht besonders schnell, das Equipment war völlig veraltet - verglichen mit dem, was ich von Radley gewöhnt war. Naja, wir haben dann sogar gewonnen, was jeden überrascht hat. Alle dachten, Cambridge würde uns davon rudern, aber dann haben wir sie abgehängt... Sean Morris strubbelt sich durch sein kurz geschorenes Haar. Er ist auch im folgenden Jahr im Blue Boat für Oxford gerudert - allerdings fuhr 1964 Erzrivale Cambridge den Sieg ein... Sieg oder Niederlage, das ist das einzige, was zählt beim Boat Race - auch 50 Jahre danach. Sean grinst: Bis heute kann er Cambridge nicht leiden, und alles, was damit zu tun hat. Töricht war ich und fanatisch! Das ist wohl der Grund, warum ich mit 70 immer noch rudere, es ist diese Besessenheit, die mich von anderen Ruderern abhebt. Rudern ist eine dieser Sportarten, bei denen man im Ziel bewusstlos zusammenbrechen sollte. Nur Kraft allein genügt nicht: Die Faszination besteht darin, dass man die Präzision eines Violinisten entwickelt. Wie wenn man eine Nadel einfädelt: das aber mit aller Kraft und während du fast kollabierst. Keiner dieser Athleten funktioniert noch als bewusst denkender Mensch - sie fahren alle mit leerem Tank... Der Tee ist mittlerweile kalt geworden, Sean geht in die Küche und setzt noch einmal Wasser auf. Tigs und Lotti schauen verwundert aus ihren Körbchen, akzeptieren jedoch würdevoll eine kurze Streicheleinheit. Sean Morris trainiert immer noch fünf Mal die Woche - nicht immer auf dem Fluss, dafür sei der Weg zur Themse zu weit, aber auf dem Ergometer im Dachgeschoss. Er könnte sich niemals vorstellen, nur so aus Spaß in eins von diesen stabilen Wanderbooten zu steigen. Für einen Sonntagsausflug zum Pub Lunch in einem an der Themse gelegenen Gartenlokal, das vielleicht schon. Aber als Sport? Niemals. Da ist diese Besessenheit, wissen Sie, vom perfekten Ruderschlag. Es ist unmöglich, den hinzubekommen, aber wenn du in einem Team ruderst und das Boot läuft richtig gut - dann kommt so eine Euphorie in dir auf, so eine Freude und Befriedigung - das Unerreichbare fast geschafft zu haben. Deshalb trainieren wir auch so hart an unserer Technik, mein Ruderpartner Colin und ich - weil wir dieses magische Gefühl zurück haben wollen! Und wenn wir es schaffen, ist das ein großes Glück. Wenn es bei dem Zweikampf nur darum ging, wer die ständige und qualvolle Dauerbelastung länger durchstand, dann konnte er nicht gewinnen. Aber er hatte eine Idee. Er wollte versuchen, den jungen Mann zu demoralisieren. Er würde seinen Spurt noch vor der Arsenal Street Bridge anziehen, mit dem Vorteil des ruhigen Wassers und der stärkeren Strömung am Brückenbogen. Er rückte in Gedanken die Ziellinie näher und konzentrierte sich ganz darauf wohlwissend, daß dort für ihn Schluß sein mußte, einen knappen Kilometer vor der letzten Brücke. Aber mit etwas Glück würde der so unerwartet frühe, den Vorsprung rasch vergrößernde Spurt den angestrengten jungen Mann so schockieren, daß er sich seiner eigenen Erschöpfung überließ. Ein erfahrener Mann würde den Trick sofort durchschauen, ein jüngerer Mann vielleicht auch, aber vielleicht auch nicht. Am Aufstieg des Ruderns im Vereinigten Königreich waren im 18. Jahrhundert vor allem die public schools beteiligt, also Schulen und Internate wie Eton, Radley oder Abingdon. Namen mit Tradition und Klang, für die die Eltern der Zöglinge meist gutes Geld bezahlen. Bis heute haben sie ihre Boat Clubs, in denen mit hohem Anspruch gerudert wird. Wer hier die Härten des Trainings durchgestanden hat, der hält nach seiner Schullaufbahn mehr als das Abschlusszeugnis eines Elite-Internats in den Händen. Die Antwort auf die Frage "Sind Sie in ihrer Schulzeit gerudert und wenn ja, für welche Mannschaft?" kann im Bewerbungsgespräch entscheidend sein. Schließlich geht es beim Rudern im Team darum, sich wie ein Einzelner zu bewegen, also Rhythmus und Schlag perfekt zu synchronisieren. Wer hier Erfolge vorweisen kann, dem traut man das auch im Berufsleben zu. Entsprechend viel Wert auf das Training legt auch die Hampton School, eine Privatschule bei London. Reportage 3 Mittwochnachmittag am Ruderclub von Hampton: gut 20 Jungs im Alter von 14 bis 16 Jahren sind dabei, sich aufzuwärmen. In Kniebeugen bewegen sie sich auf dem Platz vor dem Bootshaus hin und her. Beuge - Drehung - Beuge - mit hoch roten Köpfen machen die Jungs ihr warm up. "Sehr hübsch Ben, aber hast du die Beugen auch bergauf gemacht?" Oder wolltest du es dir etwas leichter machen..." Colin Greenaway, ein groß gewachsener Mann in Trainingshosen und T-Shirt lässt die Teenager keinen Moment aus den Augen. Lässig läuft er neben den schwitzenden Jungs her, die Kordel seiner Stoppuhr um die Finger wickelnd. Colin Greenaway ist Vollzeittrainer an der Hampton School: Er ist nur fürs Rudern zuständig. Die Jungs trainieren jeden Tag, nur der Sonntag ist ruderfrei. Rudern ist sicherlich eine der körperlich schwersten Sportarten, die Jungs gehen bis an die Grenze ihrer Kräfte. Beim Fußball oder Rugby kann man sich zwischendurch mal ausruhen, ein Ruderer dagegen muss all seine Kraft und Entschlossenheit aufbringen, um bis zum Ende durchzuhalten. Ich denke, beim Rudern bringen wir den Kindern viele Werte bei, die ihnen im Leben helfen werden: Teamwork, Führungs-stärke, Beharrlichkeit - diese Fähigkeiten werden sie durchs ganze Leben begleiten. Die Jungs dehnen sich nun gegenseitig: einer liegt mit dem Rücken auf dem Pflaster, sein Partner drückt das Bein des Liegenden nach oben über den Kopf. Die Jungs in ihren dünnen T-Shirts und Radlerhosen grummeln bestenfalls ein wenig, aber wirklich etwas auszumachen scheint ihnen das Ganze nicht. Sie liegen wohl nicht zum ersten Mal auf dem harten Boden... Dann ist es soweit, die Boote werden zum Fluss getragen: Ben Evans schnappt sich zwei Ruder, der 16-Jährige wird heute im Vierer trainieren, als Schlagmann ganz vorn im Boot: Wir haben gerade Schools Head hinter uns, ein Verfolgungsrennen. Der nächste große Wettkampf ist die nationale Schulregatta, sie ist das wichtigste Rennen der Saison - und dann kommt Henley. Ich hoffe, ich kann beide Rennen rudern. Wir haben ernst zu nehmende Rivalen unter den anderen Schulen, die wir unbedingt schlagen wollen: dieses Jahr werden es Eton und St. Pauls sein, letztes Jahr war Abingdon sehr stark - hoffentlich schaffen wir es, den Ruf der Schule zu verteidigen. Hampton ist eine der besten Ruderschulen in Großbritannien - es gibt Eltern, die ihre Söhne extra deswegen auf die private Schule bei London schicken. Olympiasieger wie Greg Searle und Martin Cross begannen hier ihre Laufbahn. Das Ganze ist schon ziemlich nervenaufreibend: Du trainierst das ganze Jahr für die National Schools Regatta, sie ist wirklich wichtig. Es ist ein großartiges Gefühl, wenn man gewinnt, ein bisschen enttäuschend wenn nicht, aber aufregend ist es in jedem Fall. Unten am Fluss machen die ersten Jungs ihre Boote klar: Ben legt das Ruder in die Dolle und schlüpft in seine Ruderschuhe. Ein kurzer Blick nach hinten, die anderen sind auch gleich soweit: Trödeln ist nicht drin, der Steg ist zu kurz für alle Boote - und niemand hier hat Lust auf eine weitere Ermahnung des Trainers... Ein Stück abwärts, wo der Fluss breiter wird, haben sich die Viererboote zum Sprint aufgereiht: 8 Minuten sollen die Jungs rudern, Minimumschlagzahl pro Minute: 26. Colin Greenaway begleitet die sprintenden Boote ein paar Meter, dann lässt er sie passieren und nähert sich einem Jungen im Einer: Sein Rhythmus stimmt nicht, ständig muss er den Griff der Hände wechseln... "Das Wasser ist tückisch, ich weiß" ruft Colin, "aber zieh die Hände nicht zu früh zurück, Tom." Der Junge bemüht sich, wischt kurz mit dem Handrücken über seine schweißnasse Stirn - die Ermahnung kommt prompt: "...beim Rennen kannst du das auch nicht machen!" Jeder kann in ein Boot steigen und ein Ruder ins Wasser stecken, aber um es mit der erforderlichen Präzision und Kraft zu tun, braucht man zwei bis drei Jahre. Für ein internationales Wettkampfniveau noch mal vier - allein, um das Ruder präzise durchs Wasser zu ziehen. Einige Kinder lernen schneller, aber selbst die Talentierten brauchen Jahre dafür. Colin Greenaway hat selbst als Schüler mit dem Rudern angefangen. Allerdings war er auf keinem teuren Ruderinternat: Colin ging auf eine staatliche Londoner Schule, wo ihn sein Sportlehrer eines Tages fragte, ob er nicht einmal beim Training im örtlichen Ruderclub vorbei schauen wolle. Ich ging also zum Ruderclub, probierte es und verliebte mich ins Rudern! Das Tolle am Rudern ist, dass du immer besser wirst. Wenn du hart trainierst wirst du schneller und stärker. Beim Fußball ist das anders: Ich bin ein mieser Kicker, egal, wie sehr ich mich anstrenge. Rudern belohnt den Tüchtigen: wenn du hart trainierst, wirst du gut. Mit 19 Jahren wurde Colin Greenaway für das Britische Nationalteam ausgewählt: Bei den U23 in Hamburg gewann er 1986 Gold im Vierer und durfte im selben Jahr zur Ruder-Weltmeisterschaft fahren. Zwölf Jahre lang saß Colin für das Team GB im Ruderboot, dann wurde er Trainer. Nichts ist schöner, als wenn man sieht, wie sich die Kinder entwickeln, Erfolg haben: Eine meiner Schülerinnen, Sophie Hoskin, hat bei den Olympischen Spielen in London 2012 Gold geholt. Das war ein bewegender Augenblick für mich: Ich kannte sie, seit sie 14 war. Sicher, das spätere Training hat sie zur Olympiasiegerin gemacht - aber wir haben ihr die Liebe zum Rudern vermittelt und ihr die Grundlagen mit auf den Weg gegeben, um dieses herausragende Niveau zu erreichen. Dann fährt Colin zu ein paar anderen Jungs hinüber. Es gibt noch viel zu tun bis zur National Schools Regatta... Hundert Meter vor der Arsenal Street Bridge begann der Verteidiger, die Ruderblätter wuchtig durchzuziehen. Schlag um Schlag, ohne jede Rücksicht auf die Hitze und sein Alter. Sein Vorsprung begann zu wachsen. Als er durch den dunklen Schatten der Brücke fuhr, war er bereits fünf Bootslängen voraus. Er hörte seinen Herzschlag vom kühlen Beton widerhallen, denn dahinter war ein Hohlraum. Zurück im grellen Licht und unter den Keulenschlägen der Sonne steigerte er sein Tempo noch einmal. Der junge Mann mußte sich alle paar Sekunden umdrehen, um glatt durch den Brückenbogen zu kommen. Dabei verlor er viel Zeit durch wirkungslose Ruderschläge und weil er bei leichten Kurskorrekturen den Rhythmus verlor. Aber weit wichtiger war, was sich vor seinen Augen abspielte. Der alte Mann hatte einen gewaltigen Spurt angezogen, gerade so, als habe er sich bis dahin nur ein wenig warm gemacht. Ein Sport für Gentlemen oder auch für Ladies? Lange Zeit waren sich die Schulen, Clubvorsitze und die Organisatoren der Rennen einig: in den Booten haben Frauen nichts verloren. Noch in den 1960er Jahren galt das Frauenrudern vielen als unschicklich. Und so durften die Damen auch erst 1976 bei Olympia antreten. In Großbritannien dauert der Kampf um Gleichberechtigung zu Wasser im Grunde immer noch an. Bei der Henley Royal Regatta, neben dem Boat Race das zweite Ruder-Heiligtum der Briten, wurden zwar Anfang der 80er Jahre ein paar Frauenrennen aufgenommen - allerdings waren das so wenige, dass die Frauen schließlich ihre eigene Henley Women's Regatta gründeten. Die findet bis heute 2-3 Wochen vor der Veranstaltung der Männer statt - mit der Option, das Rennen ganz abzusagen, falls es zu stark regnet. Dann nämlich muss der Rasen am Flussufer geschont werden: für das Publikum der eigentlichen Royal Regatta, sprich für das Rennen der Männer. Und doch sind die Frauen in den britischen Ruderclubs auf dem Vormarsch. In Sachen Ehrgeiz und Siegeswillen jedenfalls nehmen sie es mit ihren männlichen Kollegen locker auf: Reportage 4 Die Themse fließt gemächlich unter ein paar Nebelschwaden dahin; Schwäne, die unterhalb der Brücke ihr Nachtquartier bezogen hatten, putzen sich das Gefieder: Es ist kurz nach sechs, an einem Samstag... Nur am Bootshaus oberhalb der Brücke herrscht bereits Betrieb: Drei, vier Frauen - mit Besen und Eimern bewaffnet - schrubben energisch den Boots-Steg: Die Schwäne haben über Nacht die Pontons beschmutzt, wer am Morgen zuerst da ist, muss putzen - so lautet die Regel im Ruderclub von Reading. Christina Heemskerk kettet das Motorboot los - sie trainiert die Frauenmannschaft von Reading: zwei Mal die Woche und am Samstag. "Die Boote so schnell wie möglich ins Wasser bitte!" ruft sie. Christina ist 30 Jahre alt. Ihre blonden Locken hat sie zu einem Knäuel am Hinterkopf zusammen gebunden, die nackten Füße stecken in roten Flip Flops. Wenn du einmal in einem Ruderboot gesessen hast, willst du es wieder tun. Man wird süchtig. Das ist die beste Zeit! Das Wasser ist glatt, kein Mensch ist da, ein bisschen Nebel über dem Wasser - wundervoll! Allein das Gefühl, wenn das Boot durchs Wasser gleitet ist genial. Die ersten Ruderinnen sind bereits auf dem Fluss. Einige der Frauen bestreiten internationale Rennen, andere haben gerade erst angefangen mit dem Rudern: In den letzten Jahren strömen immer mehr junge Mädchen in die britischen Ruderclubs. Bei Vereinen wie Reading zahlt man knapp 400 Pfund pro Jahr, plus Startgelder für Rennen und Regatten. "Ruder raus aus dem Wasser, Kirstie, du stoppst dich nur selbst!" Christina fährt ein Stück zur Seite, um die Anfängerin nicht zu gefährden: Kirstie kämpft noch mit dem Gleichgewicht im Rollsitz, jeder Ruderschlag lässt das schmale Rennboot bedenklich schwanken... Christina Heemskerk greift mit der linken Hand die Kaffeetasse vom Armaturenbrett, die rechte ruht am Steuer. Ihr Blick wandert über den Fluss: Langsam heben sich die Nebelschwaden, ein paar Sonnenstrahlen lecken bereits an den Rändern der Wolken. Ich liebe es, draußen zu sein. Ich bin in den Niederlanden aufgewachsen: meine ganze Kindheit hindurch war ich im Sommer jeden Tag am Strand. Wasser ist wundervoll - und dann kommt beim Rudern dieser ultimative Kick dazu, dieses: Hey, ich bin schneller, ich trete dir in den Hintern - und das macht echt Spaß. Christina Heemskerk trainiert die Frauen von Reading erst seit ein paar Monaten, vorher war sie selbst jeden Tag vier Stunden lang im Ruderboot auf dem Wasser: Training morgens und abends, sechs Tage die Woche: Christina wollte es ins Team GB schaffen, die britische Nationalmannschaft... Ich liebe es, besser als andere zu sein. Ich kann selbst das Zähneputzen zum Kräftemessen machen, ich gewinne einfach wahnsinnig gern. In meinem letzten Wettkampf hatte ich noch anderthalb Kilometer vor mir - ich konnte nicht mehr, ich hatte echt zu kämpfen. Nun haben wir so einen kleinen Computer an Bord, der uns die Schläge pro Minute anzeigt - und wissen Sie was, meine Geschwindigkeit blieb absolut konstant! Das hat mir gezeigt, dass ich meinen Körper immer weiter bringen kann - und diese kontinuierliche Steigerung ist genial. Im vergangenen Herbst gab Christina Heemskerk trotzdem auf: Ihre Leistung auf dem Ergometer reichte nicht aus, um sich für die Auswahl zu qualifizieren. Die britischen Ruderfrauen gehören zur Weltspitze: Bei den Olympischen Spielen von London 2012 holten sie drei Goldmedaillen - seitdem ist Frauenrudern so attraktiv wie niemals zuvor. Nach der Biegung wird der Fluss breiter, eine Insel teilt die Themse in zwei Arme. Die Ruderboote sind nun nah beieinander. Für einen Moment lassen die Frauen ihre Ruder durchs Wasser gleiten, einige ziehen die langärmeligen T-Shirts aus. Dann erklärt Christina, was zu tun ist: Die Frauen sollen allein mit ihren Beinen arbeiten, ruft sie, keine Kraft aus dem Oberkörper - die Arme bleiben ausgestreckt am Ruder. Obwohl die Übung höchst ungelenk wirkt, lassen sich die Frauen sofort darauf ein. Und haben ihren Spaß... Es ist viel leichter, Frauen eine gute Technik beizubringen. Männer wollen immer nur rudern, rudern, rudern - viel Kraft, hohe Geschwindigkeit. Es ist echt schwer, mit Männern an technischen Feinheiten zu arbeiten. Frauen sind da ganz anders: sie haben nicht diese schiere Kraft, sie müssen anders arbeiten, damit das Boot sich bewegt. Wenn du nicht allein auf deine Kraft setzen kannst, musst du dir einen effizienteren Weg einfallen lassen - um genauso schnell zu sein. Für den Rückweg teilt Christina Heemskerk die Frauen in Paare ein: die Ruderinnen sollen in kurzen Sprints gegeneinander rudern: Zuerst fünf Züge, dann zehn, dann zwanzig... Schnelle Hände und eine präzise Armarbeit - damit können Frauen sogar männliche Ruderer schlagen. Zurück am Bootshaus macht sich die Jugendmannschaft fertig zum Ablegen. "Spielst du heute Trainer?" lacht Christina einem Kollegen zu. Dann winkt sie den Ruderern auf der anderen Seite des Flusses. Christina schlurft mit den anderen ins Bootshaus. Jetzt werden die Frauen erst einmal frühstücken: Bananen, Brot mit Schokoaufstrich und Müsli. Das gemeinsame Frühstück am Samstagmorgen ist Tradition. Die Frauen haben eine gute Stunde Pause, dann geht es zur zweiten Runde aufs Wasser: noch einmal anderthalb Stunden die Themse hinunter... Noch ein Schlag, sagte er, und noch einer, und noch einer. Er war fast am Ende. Er blickte zurück, und ein herrlicher Anblick bot sich seinen Augen. Der junge Mann saß vornübergebeugt da und glitt nur noch langsam dahin. Seine Ruder bewegten sich nicht mehr, sondern schlitterten nur noch über das Wasser. Dann griff er nach seinem Backbordruder und fing an zu wenden, denn er hatte aufgegeben. Er verschwand unter der Brücke. Der Verteidiger war allein auf dem Fluss, zwischen dicht bewachsenen grünen Ufern mit tief herabhängenden Weiden. Es war so heiß, daß er einen Augenblick lang vergaß, wer-oder wo er eigentlich war. Er ruderte langsam zur letzten Brücke. Dort rastete er im kühlen Schatten eines mächtigen und friedvollen Brückenbogens. Im Rudersport benachteiligt waren in Großbritannien lange Zeit nicht nur die Frauen, sondern auch Männer, die nicht als Gentlemen galten. Wer zum Beispiel beim Rennen in Henley antreten wollte, der durfte unter keinen Umständen körperliche Arbeit leisten - eine Regel, die sogar rückwirkend galt: so wurde zum Beispiel John B. Kelly Senior, ein Bauunternehmer, 1920 vom Wettkampf ausgeschlossen; der Grund: er war gelernter Maurer. Karriere machte Kelly dann später trotzdem - als mehrfacher Olympiasieger im Rudern und ganz nebenbei gesagt als Vater der Fürstin von Monaco, auch bekannt als Grace Kelly. Das Elitäre und auch die starke Leistungsorientierung ist der Rudersport auf der Insel bis heute nicht wirklich losgeworden. Während zum Beispiel in Deutschland schon früh die Hobbyruderer über die Kanäle und Flüsse schipperten, hat sich der Freizeitgedanke in Großbritannien erst in jüngster Zeit durchgesetzt. Öffentlich geförderte Kurse für Anfänger aller Altersklassen sollen Rudern zum Breitensport machen. Bei den Weyfarers, einem Club südlich von London, ist das Rudern schon heute weniger Leistungsschau als vielmehr - sagen wir - genussvolle Körperertüchtigung in geselliger Runde. Reportage 5 John Turnbull nimmt eine große, etwas verbeulte Blechkanne aus dem Regal, der Wasserkocher läuft bereits. "Noch jemand Kaffee außer mir?" ruft Frances, eine ältere Dame mit grauen Locken. "Teufelszeug", murmelt James, ein Herr gleichen Alters, und sucht nach den Tassen. Die Damen und Herren der Hobbyrudersektion sind alle über 60; sie treffen sich jeden Freitagnachmittag - einfach so zum Rudern, ohne Druck und Leistungszwang, dafür mit Tee und Kuchen... Wir sind sehr gesellig: Wir veranstalten ein jährliches Club-Dinner, zu dem wirklich jeder kommt. Und wir machen Quiz-Abende. Viele von uns treffen sich auch privat, nicht nur hier im Verein. "Ich bin gar nicht gesellig", murmelt James. "Ich ertrage diese Leute nur." Frances ist amüsiert. Ob er denn morgen nicht ins Pub komme, erwidert sie. Da müsse er ja wohl mit den anderen reden. John schlürft grinsend seinen Tee. Er kennt James und Frances schon viele Jahre: Früher hatten sie wichtige Positionen inne - John bei der NATO, James im diplomatischen Corps. Nun sind sie pensioniert und haben Zeit, für so etwas wie eine nachmittägliche Ruderpartie auf der Themse... Zwei Stunden vorher, am Steg des Ruderclubs. Das erste Ruderboot liegt bereits im Wasser - ein leuchtend roter Vierer mit Steuersitz - das zweite ruht noch auf den Schultern von einem halb Dutzend Frauen und Männern: Drei auf jeder Seite, so ein Wanderruderboot ist schwer. Als wir 2000 anfingen gab es solche Boote gar nicht in England: Wir fanden ein altes Schellenbacher in einem Londoner Dock - unser erstes Boot war also österreichisch! Das einzige, was es in der Art gab, waren die alten Holzbarken - und selbst die werden für Rennen benutzt. Wettbewerb! Darum geht es in England. Erholsames Rudern gab es bisher nicht. Wir gewinnen Medaillen! Vom Steg weg paddelnd müssen sie zunächst der Strömung eines Baches ausweichen, der am Bootshaus in den Fluss mündet. John sitzt ganz vorn - er ist der Schlagmann und gibt die Kommandos. Allerdings ist er auch der einzige Mann im Boot - ein typisches Bild in britischen Wanderruderbooten: denn "recreational rowing" ist vor allem ein weibliches Phänomen: drei Viertel der Mitglieder bei Weyfarers sind Frauen: Mütter von erwachsenen Kindern, die endlich wieder etwas für sich tun wollen, ehemalige Leistungsruderinnen, die keine Lust mehr auf den Wettkampf haben - und alleinstehende ältere Damen wie jene, die nun hinter John im Boot sitzt und sich erst einmal mit den anderen bekannt machen muss... Unvorstellbar in einem Rennboot, dass die Ruderer noch Luft für Gespräche haben... Aber auch in einem Wanderruderboot muss Disziplin herrschen - das Wehr naht und John muss steuern... "Mehr Kraft Steuerbord! Wenig Backbord..." Das Wehr liegt schräg zum Fluss, die Ruderer müssen die Strömung kreuzen und aufpassen, nicht in den Sog des Wehres zu geraten... Das kann wirklich schwierig werden, weil die Strömung dich nach hinten schiebt. Aber heute waren wir echt gut! John Turnbull legt nun erst richtig los - und die Damen haben keine andere Wahl, als seinem Schlag zu folgen. Immer schneller gleiten die Wochenendhäuser am Ufer vorbei - die Themse zwischen Weybridge und Richmond ist pittoresk, viele vermögende Londoner haben hier, in der Grafschaft Surrey ihre Häuser. Plötzlich kommt ein altes Holzboot in Sicht, halb im Schilf versteckt, liegt es am Ufer: In so einem Boot habe ich das Wanderrudern entdeckt! Meine Frau und ich sind mit ein paar Leuten die Marne hinab gerudert, in einem Holzboot, von der Champagne bis Paris. Eine Woche. Und wir dachten: Das macht Spaß! Wo können wir noch rudern? Wir haben dann 1998 an der internationalen Rudertour in Frankreich teilgenommen. Dann gab's kein Zurück mehr, wir wussten: die ganze Welt des Wanderruderns steht uns offen! Fünf Jahre später holte John die Tour des Weltruderverbandes FISA nach Großbritannien. Und nun begann auch der britische Ruderverband zu realisieren, dass es noch etwas anderes geben musste als Wettkampfrudern: Ein nationales Hobbyruder-Komitee wurde ins Leben gerufen - mit John Turnbull im Vorsitz. Seit einer dreiviertel Stunde sind die Ruderer unterwegs, auch John ist mittler-weile gut ins Schwitzen gekommen - die Dame hinter ihm bittet um eine Pause. Was denkst du, was das hier ist: Freizeitrudern? John lacht und lässt die Ruder locker. "Easy oar" - das Kommando für Stopp. Erleichterung bei den drei Frauen - eine kurze Pause und etwas trinken, bevor es auf die letzten Kilometer zum Bootshaus geht. Anders als die Frauen hat John Turnbull schon als Junge mit dem Rudern angefangen. Allerdings nicht auf der Themse, sondern am nordenglischen Tyne, wo das Rudern ebenfalls sehr beliebt ist. Ich konnte schon ein wenig rudern durch meinen Vater, der auch gerudert ist. Aber damals war das Rudern ganz anders: es gab Gentlemen und Arbeiter. Mein Vater war Handwerker, er durfte also nicht in denselben Wettbewerben antreten wie die Gentlemen, er arbeitete ja mit seinen Händen! Das war damals so, in den 30er, 40er Jahren... bis 1948 der Britische Amateur Ruderverband gegründet wurde. Die Pause ist vorbei: Je länger sie ausruhen, umso weiter müssen sie anschließend rudern, denn das Boot treibt immer weiter den Fluss hinab. Auf geht's, nach Hause. Zwei Kilometer noch bis zum Bootshaus. Dann gibt es Tee und Kuchen... Im Takt der Wellen - Rudern in Großbritannien. Das waren Gesichter Europas mit Reportagen von Kirsten Zesewitz. Die Literaturauszüge stammen aus der Erzählung "Palais de Justice" von Mark Helprin, erschienen im Band "Sport Stories - Ein literarischer Zehnkampf" im Fischer Taschenbuch Verlag. Gelesen hat sie Bruno Winzen. Musik und Regie: Babette Michel. Ton und Technik: Eva Pöpplein und Angelika Brochhaus. Am Mikrofon war Johanna Herzing. 1