COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. Deutschlandradio Kultur - Literatur Redaktion: Dorothea Westphal Nur ein Katzensprung Die Renaissance von Tieren in der Literatur Von Uta Rüenauver Sprecherin, Zitatorin, Zitator, Over-Voice Mann Atmo (CD "Zoo-Tiere", "Geräusche Sounds of the world, Vol. 1", "Sound Effects. Nature & Animals, Vol. 02" aus Geräuscharchiv; Tierlaute können, einzeln oder als Mischung, im Lauf der Sendung immer wieder ertönen, sodass sie eine Art Grundierung entsteht) Gemisch aus Tierlauten (Hunde, Esel, Vögel, Affen, Elefanten, Löwen etc. Musik (Vorschlag: Keith Jarrett (mit Jan Garbarek, Palle Danielsson, Jon Christensen), "Nude Ants", CD 2:Oasis, New Dance, Sunshine Dog; evtl. Musik leise unter die O-Töne legen) O-Ton 1 (Duve 002, über Atmo und evtl. Musik legen) (...) Das ist eigentlich so ähnlich mit Tieren zu tun haben (...) wie eine Fernreise zu machen. O-Ton 2 (Swann 003, 00:04) Ich fand, schon (..) seit ich mich erinnern kann, Tiere immer wahnsinnig spannend. Ich fand das auf der einen Seite unglaublich geheimnisvoll, was die tun, (..) diese (..) Ähnlichkeiten, die die mit uns haben (...) und gleichzeitig auch diese (...) Fremdheit, dieses Anderssein als wir. O-Ton 3 (Duve, 002, 00:39) Also über Tiere nachdenken ist eigentlich auch über sich selbst nachdenken oder über Menschen nachdenken. Musik (aus O-Tönen und Atmos hervorgehen lassen) O-Ton 4 (Hyatt 018, 00:11) Ich denke ( ... ), dass es so ein Begehr nach so einem Animalischen gibt ( ... ) und eine unbestimmte (..) Angst. Atmo (CD "Zoo-Tiere", 4) Brüllender Löwe O-Ton 5 (Martel 002, 02:01) Un animal peut être ... outil majeure pour l'écriture. (004, 00:44) Je me sers des animaux ... l'espèce humaine. Over-Voice Mann Ein Tier kann sein, was es ist, ein Nashorn oder ein Affe oder ein Tiger, aber es kann auch etwas anderes sein, er kann etwas symbolisieren. Und das ist extrem nützlich für einen Schriftsteller, weil das Symbol ein wichtiges Werkzeug beim Schreiben ist. Ich bediene mich der Tiere, um die menschliche Gattung zu verstehen. Musik Zitatorin (über Musik legen) Nur ein Katzensprung Die Renaissance von Tieren in der Literatur Musik (hochziehen) Atmo (von CD "Zoo-Tiere") Kreischeule Sprecherin (teilweise über Atmo legen) Seit ihren Anfängen teilen die Menschen die Welt mit Tieren. Es sind Lebewesen wie wir, doch gehören sie einer anderen Sphäre an. Sie sprechen nicht die menschliche Sprache, und den Graben zwischen ihnen und uns versuchen wir durch Beherrschung, Projektion oder Einfühlung zu verkleinern. Tiere begegnen den Menschen als Raubtiere, Haustiere oder Nutztiere, als Feinde, Gefährten oder Nahrung. Sie werden geopfert, gejagt oder geschlachtet, sind Objekte der Wissenschaft und der Kunst, bevölkern Mythen, Träume, Fantasien. Musik Zitator (über Musik legen) Die Tiere (...) kommen aus dem Land hinter dem Horizont, und alle Mythen handeln davon, dass sie die Vermittler zwischen dem Menschen und seinem Ursprung sind. Sprecherin In der Aufklärung, in Zeiten der Selbstermächtigung des Menschen durch die Vernunft, galten Tiere als bloße Sachen oder Automaten. Seit dem 19. Jahrhundert, seit Darwin und der Erkenntnis eines gemeinsamen Ursprungs sind Mensch und Tier enger zusammengerückt. Dieser Prozess setzt sich bis in die Gegenwart fort. Human- und Neurowissenschaften zeigen, wie weitgehend die genetische, physiologische und neurologische Übereinstimmung zwischen Mensch und Tier ist. O-Ton 6 (Duve, 003, 01:55) Und deswegen interessiert mich das auch immer, was (..) in Tieren vorgeht, weil (..) ich fest daran glaube, dass wir so unseren Platz im Tierreich haben, dass wir also eine Art unter vielen sind. (005,00:48) Weil wir eben auch Tiere sind und weil unsere grundsätzlichen Eigenschaften wie Hunger, Durst, Frieren, Angst haben, (...) der Wunsch nach (..) Geselligkeit, Sexualität haben wir alle und was uns eben alle eint, wir sind alle Lebewesen. Atmo (CD "Zoo-Tiere" Makaken) Affen Sprecherin Immer mehr Arten sterben aus. Gleichzeitig besteht ein vermehrtes Interesse an Tieren. Bildende Künstler von Damien Hirst bis Carsten Höller setzen sich mit ihnen auseinander. Filme über Zugvögel, Fische, Tiger oder "weinende Kamele" füllen Kinosäle. Zeitschriften und populärwissenschaftliche Bücher befassen sich mit den Gefühlen, dem Bewusstsein, der Intelligenz von Tieren. Und auch in der Literatur sind sie immer häufiger anzutreffen. Musik O-Ton 7 (Brumme 002, 00:15) Der Honigdachs hat für den Erzähler in meinem Buch ja sozusagen die Aufgabe, ihm Schutz und Stärke zu geben. Zitator Er sieht auf jeden Fall lustig aus, wie eine aufgeblasene Schabe, die sich für den Karneval verkleidet hat. Der Honigdachs muss vor niemandem Angst haben, obwohl er so klein ist. O-Ton 8 (Brumme 003, 00:06) Der Honigdachs ist ein seltsames Tier. Er kämpft sehr viel, er hat sehr viele Waffen zur Verfügung. Er greift auch größere Tier an. Er (..) verspeist giftige Pflanzen, um sich an Gift zu gewöhnen. Er kämpft auch gegen Giftschlangen und er lebt in Symbiose mit einem Vogel, mit dem Honiganzeiger, der ihm Nester (...) der Bienen zeigt (...) und der Honigdachs öffnet dann die (...) Waben. (00:46) Und dieses Tier beeindruckt meinen Erzähler. Zitator (...) Er greift sogar Löwen und Menschen an, wenn es sein muss. (...) Er hat eine glitschige Haut, als hätte er sich eingeseift, andere Tiere können ihn schlecht fassen. Wenn es ganz gefährlich wird, zum Beispiel wenn viele Gegner kommen, kann er sich mit seinen Klauen schnell in den Boden eingraben, der Sand fliegt in alle Richtungen und Freund Honigdachs verschwindet im Boden. Sprecherin Der Erzähler in dem Roman Der Honigdachs von Christoph D. Brumme entdeckt das seltsame Tier als Kind in Brehms Tierleben und macht es wegen seiner Furchtlosigkeit und Allmacht ... Zitator Was kann der Honigdachs noch? Er kann eigentlich alles. Atmo (CD "Zoo-Tiere; kurz) Brüllender Bär Sprecherin ... zu seiner Identifikationsfigur, die ihn bis ins Erwachsenenleben begleitet. Er verbündet sich mit dem fremden Tier gegen den feindlichen Vater und beschwört die Eigenschaften des Honigdachses, damit sie auf ihn übergehen. O-Ton 9 (Brumme 008, 00:30) Und (..) indem er dieses Tier zum Symbol wählt, greift er ja auf eine Symbolik zurück, die älter ist als Schriftkulturen, auf die Symbolik von Naturvölkern, ne. Das kennt man von vielen Naturvölkern, dass ein Tier (..) als Symbol des Stammes oder als Symbol der Gruppe verehrt wird. (009, 00:07) Und natürlich Kinder fantasieren sich ja auch in Tiere hinein, (...) ein Löwe sein zu wollen oder eine Maus, um verschwinden zu können oder (...) ein Schlafaffe, um nicht in die Schule gehen zu müssen oder so. Atmo Gemisch aus Tierlauten, daraus hervorgehend Vogelgezwitscher Musik Sprecherin (über Musik legen) Der Honigdachs wird zum Totem-Tier. Er ist eine Art persönlicher Schutzgeist, mit dem sich der Erzähler verwandt weiß und der ihn mit einer anderen Sphäre als die der Alltagswirklichkeit verbindet. O-Ton 10 (Brumme 002, 00:15 oder 003, 00:06) Der Honigdachs (009, 00:04) gibt ja dem eigenen Gefühl der Fremdheit einen Ausdruck. (010) (...) Es geht ja (...) um die Bewältigung von Angst und um die Suche nach Auswegen in ausweglosen Situationen. Atmo (CD "Zoo-Tiere") Klapperschlange Sprecherin Tiere öffnen uns den Blick in andere, fremde Welten. Als Grenzgänger erscheinen sie schon in den frühesten Erzählungen. Im Mythos treten die Götter den Menschen in Tiergestalt gegenüber, im Märchen verkörpern die Tiere seelische Kräfte und deren Widerstreit. Musik Atmo (CD "Geräusche. Sounds of the world", 74 o. 75; aus Musik hervorgehen lassen) Schafsblöken O-Ton 11 (Swann 010, 00:02) Das ist auf keinen Fall, dass ich irgendwie Menschen genommen habe und sie sozusagen übersetzt habe, (..) erst menschliche Vorbilder, denen dann Schafsfelle übergezogen habe. Auf diese Art ist es nicht gelaufen. Zitatorin "Gestern war er noch gesund", sagte Maude. Ihre Ohren zuckten nervös. "Das sagt gar nichts", entgegnete Sir Ritchfield, der älteste Widder der Herde, "er ist ja nicht an einer Krankheit gestorben. Spaten sind keine Krankheit." Der Schäfer lag neben dem Heuschuppen unweit des Feldweges im grünen irischen Gras und rührte sich nicht. Eine einzelne Krähe hatte sich auf seinem wollenen Norwegerpullover niedergelassen und äugte mit professionellem Interesse in sein Innenleben. Neben ihm saß ein sehr zufriedenes Kaninchen. Etwas entfernter an der Steilküste, tagte die Konferenz der Schafe. Sprecherin In dem Schafskrimi Glennkill von Leonie Swann, der in Deutschland mehr als 1,5 Millionen Mal verkauft und in über 30 Sprachen übersetzt wurde, klären sprechende und denkende Schafe, die Miss Maple, Othello, Maude oder Sir Ritchfield heißen, den Mord an ihrem Schäfer auf: Swann treibt ein postmodernes Spiel mit dem Genre. 2010 hat sie den wieder sehr erfolgreichen zweiten Schafskrimi vorgelegt, Garou. O-Ton 12 (Swann 010, 00:14) Natürlich ist ein gewisser Vermenschlichungsprozess da, also die Schafe unterhalten sich, allein das Sprachliche ist natürlich auf irgend'ne Art 'nen Märchenfaktor. (00:32) Gleichzeitig hab ich aber schon versucht, (..) das Tierhafte zu zeigen. (011) Der erste Ansatzpunkt und (...) bis zum Ende der wichtigste war wirklich so was wie Empathie. Also zu überlegen, wie sieht so ein Tier aus, was hat es für Voraussetzungen. Sprecherin Leonie Swann lässt ihre Schafe sprechen und weist ihnen menschliche Eigenschaften zu, wie in einem Märchen oder einer Fabel. Es gibt das kluge Schaf und das naive Schaf, das praktisch veranlagte Schaf und das melancholische Schaf. Die Schafe begeben sich in das kriminalistische Ermittlungsgeschäft, das sonst den Menschen vorbehalten ist. Komik entsteht durch das Spiel mit den Stereotypen - und durch den Konflikt, der ausbricht, wenn die Ermittler mit ihrer Schafnatur konfrontiert werden: zum Beispiel wenn der duftende Heuhaufen wichtiger ist als die Suche nach der Wahrheit. - In Garou, Swanns zweitem Schafskrimi reisen die Schafe nach Frankreich und jagen einen Werwolf. Musik Atmo (CD "Zoo-Tiere", 4) Brüllender Löwe O-Ton 13 (Hyatt 005) Also ich denke, das Jagen ist (...) ja eine der grundlegendsten Beziehungen zwischen Mensch und Tier. Zitatorin (etwas über Atmo legen) Ich bin die alleinige Jägerin in diesem Landstrich. (...) Eine andere Jägerin gibt es (..) landauf, landab nicht, und in diesem Wald bin ich allein. Er ist mein Wald. Tagelang sitze ich in meinem Hochstand, ohne herunterzukommen auf die verwachsene Erde. Bloß um das erlegte Wild zu sammeln, baume ich mich ab. Sprecherin In der Erzählung Die Jägerin der Deutschamerikanerin Millay Hyatt sind die Tiere sprachlos. Sie sind das Wilde, Animalische, Fremde, das der Mensch jagt und bekämpft. Atmo Brüllender Löwe O-Ton 14 (Hyatt 006, 01:24) Das hat ja auch etwas mit Opfern zu tun. (...) Und das ist wieder dieses (..) Paradoxe, dass der Mensch sich dem Tier auf diese Art und Weise nähert, wo das Tier natürlich zugrunde geht, aber der Mensch (..) das Gefühl hat, dass er dem Tier nahe ist. (..) Also das heißt, das Tier muss geopfert werden, damit der Mensch eine Beziehung zum Tier hat. (008, 00:16) Und dass (..) dabei Nahrung herauskommt, ist eigentlich dann (...) zweitrangig. Zitatorin Schwarzwild ist meine vornehmliche Beute. Garstige Keiler mit ihren schlammigen, röchelnden Schnauzen, speckige Bachen schwül gepfropft mit Frischlingen oder triefend mit der Milch, die sich die gierigen Bälger bis an die mütterlichen Zitzen getrieben haben mit ihrem lüsternen Drücken und Reiben. Nach dem Schuss schlitze ich ihnen mit meinem Messer die Hälse auf und lasse ihr warmes Leben in den Wald fließen, in die offene Erde, die es schluckt und verdaut und Fichten, Steinpilze und Regenwürmer aus ihm macht. O-Ton 15 (Hyatt 019, 00:08) Also ich denke, (...) dass das Tier (..) für sie so (..) ihr Anderes ist, in dem Sinne, dass es ihr sehr (..) nahe ist, aber ohne (..) diesen ganzen menschlichen Vernunftsapparat oder Zivilisationsapparat. (...) Also dieses Unmittelbare, (...) das Triebhafte, (..) was erschrickt und was (..) gleichzeitig sehr anziehend ist. Zitatorin Das Tier, wonach ich wirklich suche, ist kein Wildschwein und auch kein Hirsch. Es ist ein anderes und seitdem ich Jägerin bin, suche ich es. Wahrlich mache ich nicht anderes als den Wald durchkämmen nach ihm. Dieses Tier hat mich in den Kongo getrieben, ich witterte es im tiefen, fernen Süden (...). Musik Sprecherin ( über Musik legen) Es gibt nur Töten oder Getötetwerden. Das Tier, nach dem die Ich-Erzählerin in Hyatts Erzählung sucht, findet sie auch in Afrika nicht. Die Jägerin sucht ebenso vergeblich wie unablässig das, was auch die Helden von Joseph Conrads in den Dschungel, ins "Herz der Finsternis", und Kapitän Ahab in Herman Melvilles Moby Dick in den Kampf gegen den Wal ziehen lässt: die Vereinigung mit der dunklen, triebhaften Seite des menschlichen Lebens.- Hyatts Erzählung endet mit der traumartigen Vision der Verschmelzung von Jägerin und Beute. Musik (hochziehen) O-Ton 16 (Duve 007, 00:03) Die kommen alle aus derselben Ursuppe, dasselbe Protoplasma (..) hat da (...) sich irgendwie geteilt, und (..) das ist ja nun Zufall, ob man jetzt als Mensch oder als Schnecke sich manifestiert hat. Sprecherin In allen Büchern von Karen Duve kommen Tiere vor. Im Regenroman, der die Schriftstellerin bekannt gemacht hat, nimmt der Hund Noah instinktsicher wahr, was sich wirklich hinter dem Verhalten der Menschen verbirgt. O-Ton 17 (Duve 007, 00:23) Wir wissen ja alle (...), dass der Schimpanse 98,4 oder 8 oder sonst wie viel Prozent mit dem Menschen gemeint hat. (...) Also die Maus ist auch schon bei 95 Prozent Ähnlichkeit (..) mit dem Menschen. Und selbst irgend so'n kleiner Fadenwurm hat 78 Prozent. (..) Ich weiß es nicht bei der Schnecke, aber das wird auch so in dem Bereich wahrscheinlich liegen. Sprecherin Als am Ende des Regenromans alle menschlichen Beziehungen, Unternehmungen, Pläne und Hoffnungen katastrophisch scheitern, bricht mit einer Invasion von Nacktschnecken die unbeherrschbare Natur unter dem Firnis der Zivilisation hervor. Im Januar 2011 erschien Karen Duves erzählendes Sachbuch Anständig essen. Ein Selbstversuch. Atmo (CD "Sound Effects. Nature and Animals", 39) Gackerndes Huhn Zitatorin (über Atmo legen) An dem Tag, an dem ich beschloss, ein besserer Mensch zu werden, stand ich morgens in einem Rewe-Supermarkt und hielt einen flachen Karton mit der Aufschrift "Hähnchen-Grillpfanne" in der Hand. Ein gern und häufig von mir gekauftes Produkt, das sowohl schmackhaft wie auch preisgünstig und einfach in der Zubereitung war. Dank der beigefügten Aluminiumschale musste man noch nicht einmal eine Pfanne schmutzig machen. Ofentür auf, zack rein, auf 180 Grad stellen und eine Stunde später konnte man das knusprige und vor sich hin blubbernde Fleisch auf einen Teller schieben. O-Ton 18 (Duve 009, 00:02) In den anderen Büchern hab ich Tiere (...) immer so also als Deko-Objekte oder als Protagonisten genommen, die irgendwas transportieren sollten. Also ich hab sozusagen die Tiere (..) benutzt, um (..) irgendwas mit dem Buch deutlich zu machen. Und (..) in diesem Buch geht's halt dadrum, dass ich mich selbst in den Dienst der Tiere gestellt hab', (009, 00:29) ja auf diese Sache der Tiere aufmerksam zu machen, dadrüber (..), wie die Tiere so bei uns in der industriellen Massentierhaltung behandelt werden. Musik Sprecherin (über Musik legen) Wie der amerikanische Schriftsteller Jonathan Safran Foer in seinem Buch Tiere essen beschreibt auch Duve in Anständig essen einen Bewusstseinsprozess: Sie entdeckt ihre Verantwortung gegenüber der Kreatur und wird zur scharfen Kritikerin der Massentierhaltung. Duve lässt den Leser an einem Selbstversuch teilhaben: Ein Jahr lang ernährt sie sich erst nur von Produkten aus dem Bio- Supermarkt, dann vegetarisch, dann vegan, schließlich frutarisch. Sie recherchiert und reflektiert über die Bedingungen der Fleischproduktion - und ringt dabei um eine ethisch korrekte Haltung gegenüber Tieren. Atmo ("Nature & Animals", 39, 36) Huhn und Kuh Zitatorin Im allgemeinen Sprachgebrauch werden die Begriffe Empathie und Mitgefühl schlampigerweise oft gleichgesetzt, als gäbe es keinen Unterschied zwischen den Fähigkeit, sich in jemanden einzufühlen, und dem Impuls, etwas gegen dessen Leid zu unternehmen. Auch ein Sadist ist empathisch, wenn er sich überlegt, was sein Opfer so richtig quälen wird. Wer Mitgefühl empfindet, ist hingegen am Wohlergehen der anderen Person interessiert, was nach den Gesetzen der Evolution eigentlich eine Dummheit ist. Schließlich könnten wir dabei die eigenen Interessen aus den Augen verlieren. Raubtiere und Heiratsschwindler müssen wissen, wie ihre Beute "tickt", aber sie können es sich nicht leisten, Mitleid zu empfinden. Sprecherin Karen Duve beschreibt in Anständig essen einen radikalen Bewusstseinswandel. Über ihrem Selbstversuch ist sie zur aktiven Tierschützerin geworden, die in Nacht- und Nebelaktionen malträtierte Hühner aus Legebatterien befreit. Zitatorin Und wenn ich mir beim Supermarkteinkauf vorstelle, was das abgepackte Fleisch in der Aluminiumschale vorher alles ertragen musste - die Hölle, die ein kleiner, viel zu schnell wachsender Köper in der Massenaufzucht durchgemacht hat, seine Angst, sein Schmerz - trickse ich mich im Grunde selber aus. Womöglich wiegt das Leid der Masthähnchen auf einmal schwerer als mein Wunsch nach gebratenem Fleisch. Und was habe ich davon? Na also. Musik Sprecherin (über Musik legen) Tierschützer gehören zum Personal in mehreren aktuellen Romanen. In Jonathan Franzens Freiheit kämpft der Naturschützer Walter Berglund für das Überleben der vom Aussterben bedrohten Vogelart der Pappelwaldsänger. In dem Roman Auf den Inseln des letzten Lichts des Schweizers Rolf Lappert gerät eine militante Tierschützerin in ein ehemaliges Forschungszentrum für Primaten, wo ein dressierter Affe menschlichere Regungen zeigt als die Menschen. Atmo Sprecherin Die Welt ist durch Globalisierung, Kriege und Umweltzerstörung unübersichtlich geworden, traditionelle Wertmuster funktionieren nicht mehr. Hier wird Tierschutz zum ethischen Testfall. Im Verhältnis zum unschuldigen und unschuldig leidenden Tier kann sich der Mensch noch als moralisches Wesen erfahren und aus seinen Gefühlen eindeutige Handlungsimperative ableiten. Musik O-Ton 19 (Martel 002, 00:33) Donc quand un mal ... on se sent indigné. Over-voice Mann Wenn Menschen etwas Schlechtes widerfährt, hängt es von den Menschen ab, ob wir ihr Leid mitempfinden oder nicht. Wenn man in der Zeitung über eine Katastrophe liest, einen Flugzeugabsturz zum Beispiel oder einen Schiffbruch, blättern wir die Seite um. Das ist sehr weit weg. Aber wenn man von den Leiden der Tiere spricht, von eine Art, die ausstirbt, dann fühlen wir uns betroffen. Sprecherin Der kanadische Schriftsteller Yann Martel lässt in allen seinen Büchern Tiere auftreten. In dem mit dem Booker Prize ausgezeichneten Roman Schiffbruch mit Tiger hatte er die Geschichte des indischen Jungen Pi Patel erzählt, der mit seinen Eltern und den Tieren des Zoos, dessen Direktor der Vater ist, nach Amerika emigrieren will. Auf der Überfahrt kentert das Schiff, und der Junge überlebt zusammen mit einem wilden bengalischen Tiger auf einem Rettungsboot, das viele Wochen auf der offenen See treibt. O-Ton 20 (Martel 002, 01:04) Donc il y a une espèce d'ouverture ... suscite l'interêt du lecteur. Over-voice Mann Es gibt eine Art von Öffnung gegenüber den Tieren. Und mir ist oft aufgefallen, dass ein Roman, der Tiere als Handlungspersonal hat, das Interesse des Lesers weckt. Atmo (CD "Nature & Animals", 52; Vogelkreischen bereits während Ende der vorigen O-Tons unterlegen) Möwenkreischen, dann Löwengebrüll dazu Sprecherin In Schiffbruch mit Tiger rückt Martel das Verhältnis von Mensch und Raubtier in den Mittelpunkt und inszeniert eine Begegnung mit der wilden, moralisch indifferenten Natur. In seinem neuen, hochkomplexen Roman Ein Hemd des 20. Jahrhunderts kratzt er an einem Tabu. Martel fragt nach der Darstellbarkeit des Holocaust - mithilfe der Tiere. O-Ton 21 (Martel 008, 00:22) On peut faire un parallèle en fait entre ... et l'extermination des animaux de la planète. (03:04) L'avantage de ça est ... évenement contemporain. Over-voice Mann Man kann eine Parallele zwischen der Vernichtung der europäischen Juden und der Ausrottung der Tiere auf der Erde ziehen. Der Vorteil davon ist, dass man den Holocaust damit nicht mehr als rein historisches Ereignis betrachtet, sondern auch als gegenwärtiges. Zitator "Es geht um sie!" Seine abrupte Geste umfasste den gesamten Raum. "Sie?" "Die Tiere! Zwei Drittel davon sind tot. Verstehen Sie das nicht?" "Aber ..." "In der Gesamtzahl, in der Zahl der Arten - zwei Drittel aller Tiere sind ausgerottet, für immer verloren." Sprecherin Die Hauptperson von Ein Hemd des 20. Jahrhunderts ist ein Schriftsteller. Er ist an einem Buch gescheitert, das den Holocaust nicht als historisches, sondern als gegenwärtiges Ereignis darstellt. Er trifft auf einen Tierpräparator, der besessen ist von dem Leid, das die Menschen den Tieren zufügen, indem sie sie quälen, abschlachten, ausrotten. Zitator "Meine eigentliche Tätigkeit besteht darin, dass ich dem Tod die Erinnerung abringe und sie kultiviere. (...) Jedes Tier, dass ich präpariere, ist eine Interpretation der Vergangenheit." Sprecherin Auch der Tierpräparator schreibt. Er arbeitet seit Jahrzehnten an einem Theaterstück, in dem er nach Worten für das Erinnern sucht. Er bittet den Schriftsteller, ihm dabei zu helfen. Zitator "In meinem Stück geht es um" - er rang nach Worten - "um diese nicht wiedergutzumachende Ungeheuerlichkeit." Sprecherin Das Theaterstück ist der Kern von Martels Roman: ein Dialog zwischen zwei sprechenden Tieren, einem Esel und einem Brüllaffen, die zu Stellvertretern der gequälten Kreaturen werden. Sie finden sich in einer Endzeitszenerie wieder - und ringen wie Beckett-Figuren darum, für das Unaussprechliche, das sie erlebt haben, einen Ausdruck zu finden. Der Schriftsteller muss erkennen, dass das Theaterstück des Tierpräparators das Werk über den Holocaust ist, das er selbst nicht zu schreiben vermochte. Musik O-Ton 22 (Martel, 012, 01:32) Ma peur est que l'holocaust ... des animaux par exemple. (003, 00:52) On doit vivre ... monde animale (013, 00:33) pour comprendre la condition humaine. Over-voice Mann Meine Angst ist, dass man den Holocaust vergisst, aus Angst, aus Schrecken oder weil man nicht die richtigen Worte findet, um ihm einen Ausdruck zu geben. Dass er zwar als schwarzes Loch weiterexistiert, zu dem wir aber keine Verbindung haben, sodass es sich mit der Zeit immer weiter entfernt. Aber wir brauchen die Verbindung dazu, zum Beispiel über die Tiere. Wir brauchen die Verbindung zur Welt der Tiere, um das Menschsein zu verstehen. Musik (hochziehen) Atmo (CD "Geräusche. Sounds of the World", 46; aus Musik hervorgehend) Hundegebell Zitatorin Ein schwarzes Tier strich aus dem Gebüsch und rollte sich zu meinen Füßen ein. Ich achtete nicht darauf. Es war ein Hund unbestimmter Rasse. Sprecherin Von allen Tieren hat der Hund die engste Verbindung zur Menschenwelt, er hat sich evolutionär am weitesten zum Menschen hin entwickelt, ist zum Hüter und Begleiter geworden. O-Ton 23 (Poschmann, 005, 00:35) ... der Hund als Tier der Übergänge, (00:44) das Tier, das die Seele in jenseitige Bereiche führt. Man kennt ja den Cerberus, den Wächter vor der griechischen Unterwelt und den Anubis, den ägyptischen Totengott, eine Gestalt mit Hundkopf, die die abgeschiedenen Seelen eben auch in das, ich glaube, Reich des Westens führt. Zitatorin Ich ging über glänzende Bodenplatten, die einmal innen gewesen waren und jetzt außen lagen, trockene Blätter wehten darüber. (...) Stadtbrache, vages Terrain. Nichtort, wo jederzeit alles möglich war und nie etwas geschah. Ruderalflora siedelte sich an, erhob sich an windigen Stellen, auf offene Flächen in Übergangsgegenden. Langsam, sehr langsam schraubten sich Pflanzen aus dem verhärteten Boden heraus, sie wuchsen spiralförmig, drehten sich unmerklich nach oben, zu den Seiten, füllten Raum aus, ließen Knospen klaffen, Blätter lappen, verstreuten Blütenstaub (...). Einzelne Stauden standen noch vom letzten Jahr (...). Der Hund lief hindurch, streifte sie, ließ sie vibrieren. Sprecherin Für Yann Martel sind Tiere ein Mittel, um den Menschen besser zu verstehen. In der Literatur werden sie zu Symbolen, verkörpern menschliche Eigenschaften oder Triebe, sie klären moralische Fragen. Tiere weiten den menschlichen Erfahrungshorizont. - Am weitesten geht Marion Poschmann, Jahrgang 1969, in ihrer Hundenovelle, in der nicht der Mensch nicht das Tier in seine Welt holt, sondern umgekehrt. O-Ton 24 (Poschmann 005, 00:15) Ja, der Hund hat (...) die Funktion, die Erzählerin an diese Orte zu führen. Also es sind Gegenden, wo man ohne Hund eigentlich nicht hingeht. Atmo Hundegebell Sprecherin Der melancholischen, von der Alltagswelt zurückgezogenen Erzählerin drängt sich im Niemandsland zwischen Stadt und Natur ein verwilderter, schwarzer Hund auf und zwingt sie, ihn bei sich aufzunehmen. Die Frau kümmert sich um den Hund, gibt ihm zu fressen, geht mit ihm spazieren. Zunächst scheint es so, als würde sie den Hund domestizieren und gelange so aus ihrer Einsamkeit zurück ins Menschenleben. Dann aber gewinnt der Hund immer mehr Macht über sie. Zitatorin Ich rief den Hund. Ich rief ihn nicht, ich stand einfach auf, und er kam sofort. Er wusste, dass ich nach Hause gehen wollte, er wusste, was ich beabsichtigte, bevor es mir selbst klar war. (...) Ich glaubte, dass es meine Gedanken las, denn er rannte aus einer Entfernung herbei, aus der er meine Bewegungen nicht hatte verfolgen können. Vielleicht nötigte er mich damit auch einfach, Absichten auszuführen, die gar nicht meine, sondern vielmehr seine waren. O-Ton 25 (Poschmann 011, 00:05) Also, er treibt dieses Ich in diesen ja quasi mönchischen Zustand, in die Abgeschiedenheit von allem Weltlichen immer noch weiter hinein. (00:40) Also es wird nicht ganz klar, auf was es hinauslaufen soll, aber es gibt so diese Sehnsuchtsbewegung (012), ja vielleicht Heimweh nach Transzendenz, (029, 00:15) Sehnsucht nach Grenzüberschreitung. Musik Sprecherin (über Musik legen) Zuletzt stirbt der Hund. Die Erzählerin verwildert zusehends und sieht überall nur noch Tiere. Ihre Begegnung mit dem Hund endet in einem mystischen Zustand, in dem die Grenzen des Subjekts aufgelöst sind. Der Hund ist der Seelenführer - und erscheint als Sternenbild am Himmel. Zitatorin Canis minor, der Kleine Hund, nahm schnüffelnd die Fährte auf. Der Große Hund stand auf seinen Hinterläufen, ein Hund im Sprung, ein Hund in seiner größten Pracht. Canis maior, der Hund mit dem gleißend hellen Gesicht. Klar ist sein Antlitz und himmelblau, die Strahlen, die er sendet, sind leuchtend und kalt, er trägt den hellsten Stern des Himmels im Maul. Musik (hochziehen) Atmo (aus Musik hervorgehen lassen) Gemisch aus Tierlauten 1