COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur - Nachspiel 4.11.07 Eine Frau wie ein Mann Das ruinierte Leben der DDR-Sportlerin Katharina Bullin Von Alexa Hennings Historische Atmo Fanfare Olympische Spiele Moskau, entfernt, wie Erinnerung 0.34 Dann Atmo Atemübung, stoßweises Ausatmen unter O-Ton weiter 0.36 O-Ton Bullin 0.46 Ich hatte einen Traum. Den Traum fühle ich heute noch. Der gibt mir so eine Emotion, so eine Kraft. Ich habe geträumt, ich bin wieder in der Gosse. Ich war sehr betrunken. Und ich habe intuitiv gespürt: Ich komme von dem Alkohol nicht weg. Aber ich muß was tun! Und dann kam dieser Traum: Ich bin durch Kot und Abfall und Morast einen Berg hochgeklettert. Und ich wußte: Wenn ich loslasse oder rutsche, dann falle ich in Moor oder Morast. Ich muß diesen Berg erst mal hoch. Und neben mir waren unheimliche Gestalten. Horrorgestalten. Und die haben mich immer gezogen und gezerrt und wollten mich immer runterholen. Dann stand ich oben, auf diesem Berg. Und auf einmal war alles um mich herum schwarz. Es war nichts mehr da. Atmo Atmen hoch, dann weg O-Ton 0.37 Und jetzt habe ich gefühlt: Entweder ich lasse mich rückwärts fallen, da wo ich war, oder ich springe in dieses schwarze Loch. Und da habe ich geschrieen und bin in dieses schwarze Loch gesprungen. Und auf einmal hänge ich wie so ?ne schwebende Jungfrau in diesem schwarzen Loch, wo nichts war. Und da wächst mir, so einen halben Meter, mein Bauchnabel raus, meine Gebärschnur. Und ich halte mich an dieser Schnur in der Luft selbst fest! Und da bin ich wach geworden und hatte eine enorme Motivation. Ich habe gedacht: Du schaffst es, Katharina. Diesmal schaffst du es. Erzählerin Es ist der 9. März 1993. Ein Tag, zu dem Katharina eigentlich wenig zu sagen hätte. Er liegt für sie im Dunkeln, wie viele Tage, Wochen, Monate zuvor. Die Volleyballerin Katharina Bullin, olympische Silbermedaillengewinnerin von Moskau, Vize-Europameisterin, Trägerin des Vaterländischen Verdienstordens der DDR, Verdiente Sportlerin des Volkes, Nationalmannschaftsspielerin vom Sportclub Dynamo Berlin, ist ganz, ganz unten, als dieser Traum sie zurückholt ins Leben. Ihr in schrillen Bildern sagt: Halte dich an dir selbst fest, nur an dir allein. Es ist dieses ?Sich am eigenen Schopf aus dem Wasser ziehen?. Das eigentlich Unmögliche. O-Ton 0.25 Ich habe schon eingekotet, hatte meine Möbel wieder mal kaputt gemacht, war völlig desorientiert. Ich wußte nichts mehr. Die Leute haben mir immer erzählt, was ich angestellt habe. Und da habe ich gemerkt: Ich muß mich entscheiden: Entweder ich verfalle jetzt völlig, oder ich tu was. Seit dem 9. März 93 bin ich trocken. Also, ich glaube. Ich glaube an Dinge, die man über den Verstand nicht erklären kann. Und der Traum vom 8. zum 9. März, den Traum fühle ich heute noch. Musik, ruhig Erzählerin Wir sitzen am Küchentisch in Katharinas Wohnung. Ein Altbau gleich hinter der Frankfurter Allee in Berlin. Zwei Treppen, hatte sie von oben gerufen, als ich heraufkam. Es ist das letzte Mal, daß ich eine Treppe hochsteige, ohne an Katharina zu denken und an ihren Schmerz. Ihre Beschreibung, wie sie immer nur mit dem rechten Fuß zuerst die 20 Zentimeter überwinden kann. Über den grellen Schmerz, wenn sie im Augenblick des Hochgehens nur den anderen Fuß belastet. Ihr Bestreben, sich mehr hochzuziehen als zu gehen. Eine große, schlanke und doch kräftige Person mit kurzen Haaren und hellwachen, großen blaugrauen Augen öffnet mir. Ich denke als erstes ?Person?, weil sich das Wort aufhält zwischen Mann und Frau. Genau wie Katharina Bullin. Eine Frau wie ein Mann. Atmo Küche, Kaffeemaschine 0.45 Erzählerin weiter Latte? Ich nicke, und Katharina bringt ihre große Kaffeemaschine in Gang. Ich habe ihr Birnen mitgebracht aus meinem Garten und selbstgemachte Brombeermarmelade. Das ist mir ja noch nie passiert, daß mir vorher jemand etwas gibt, sagt sie und strahlt wie ein Kind zu Weihnachten. Vorher? Erst Stunden später, nach ihrer langen Erzählung, wird mir klar, was sie mit ?vorher? meint: Erst die Leistung, dann die Belohnung. So war es immer gewesen in ihrem Leben. Katharina schaut auf die gelben, duftenden Birnen. O-Ton 0.21 Ich hatte ganz starke Eßstörungen. Ich hatte ein ungesundes Verhältnis ? bis zur Bulimie ging das. Weil wir hatten früher einen Eßtisch und einen Hungertisch. Das war ganz schlimm, während meiner sportlichen Laufbahn als Volleyballerin. Und wenn ich 500 Gramm zuviel hatte, wir mußten jeden Tag auf die Waage, dann mußte ich Straftraining machen. Ich wurde immer bestraft. Atmo Volleyballhalle, knallende Bälle 0.31 O-Ton 0.58 Und ich habe es nie gelernt ? das sind so Sachen, die ich heute erst reflektieren kann ? ich habe es nie gelernt, zu widersprechen. Das ist ganz wichtig für mich diese Erkenntnis. Denn bis heute war ich ja eigentlich dankbar. Ich war ein Arbeiterkind und ich konnte nach Amerika! Ich war in Finnland, ich habe viele Länder bereist. Und ich hatte exotisches Essen, schon früh meine Ananas, Steak. Ich war äußerst dankbar dafür gewesen, und ich habe erst später gemerkt ? deshalb war dieses Loch mit dieser Erkenntnis ? ich habe die Unterlagen ja erst seit 2003, da habe ich sie zum ersten Mal gesehen. Und da ist ?ne Welt zusammen gebrochen. Ich habe nur noch geweint. Weil, ich habe immer gedacht: Leute, macht doch die DDR nicht so schlecht ? mit dem Doping und was weiß ich alles. ?U.M.? hatten wir, aber übertreibt doch nicht! Also, ich habe das immer in Schutz genommen. Und dann habe ich aber mit meinem Namen Unterlagen gelesen mit meinen Trainern, die ich 24 Stunden um mich hatte und von meinen Ärzten, denen ich blind vertraut habe. Sprecher 1: Prof. Dr. Röder, Vizepräsident des ?Deutschen Turn-und Sportbundes?, DTSB. 24.Juni 1976. Vorschläge für die planmäßige Anwendung und Untersuchung unterstützender Mittel (u.M.) im Leistungssport. Folgende Mittel werden angewandt: Sprecher 2: 1. Anabolika 2. Energiereiche Elekrolytlösungen 3. Nebennierenhormone 4. Pharmaka zur Verbesserung der Sauerstoffausnutzung des Herzmuskels 5. Pharmaka zur Ökonomisierung des Hirnstoffwechsels O-Ton 0.38 Mich hat mal jemand gefragt von de Kripo, weil die diese Ermittlungen gemacht hat Ende der 90er: Wie sah denn die Verpackung aus von den Medikamenten, die Sie gekriegt haben? Wo ich gesagt habe: Was für eine Verpackung? Ich habe nie eine Verpackung gesehen. Ich habe natürlich meiner Ärztin blind vertraut. Klar, hat sie die mir einzeln auf die Hand gegeben. Aber ich habe doch nicht gesagt: Wie heißen die oder wofür sind die? Die hat einfach gesagt: Es ist Schmerzmittel wegen deiner Schulter und Vitamine. So. Bumm. So, Katharina, es wird immer schlimmer mit deiner Schulter, du kriegst jetzt Spritzen! Dann habe ich Spritzen gekriegt. Aber daß da Doping drin war? Oder im Essen? Ich habe ja auch immer spezielles Essen gekriegt in der Nationalmannschaft. Atmo Volleyballspiel O-Ton 0.23 Der Auswahltrainer in Kienbaum, das weiß ich noch ganz genau, der hat uns das ja auf die Zunge gelegt. Weil er Angst hatte ? eine Zeitlang war es so viel an Tabletten, was wir gekriegt, haben - und da haben wir es ausgespuckt. Da hat uns eine Spielerin verpetzt. Und wir mußten zu ihm rein, da hat er es uns auf die Zunge gelegt und wir mußten vor ihm schlucken und noch Wasser nachtrinken. Man war es so gewohnt. Man hat immer von außen Regeln gekriegt. Erzählerin Es scheint absurd, dieses absolute Gehorchen. Doch Katharina Bullin wußte, was auf Verweigerung stand: Der Rauswurf aus dem Leistungssport. Der Rauswurf aus einer Welt, die ihr Ein und Alles war - auch ihre Hölle. Beides zugleich. Sie, die mit neun Jahren zum Leistungssport kam, seit ihrem 13. Lebensjahr in einem Internat wohnte, fern von den Eltern, kannte keine andere Welt. Darauf O-Ton 0.20 Ich war mit 15 schon in der Damenmannschaft, die anderen waren schon alle über 20. Dadurch bin ich unheimlich früh mit Doping zusammen gekommen. Und dadurch habe ich viel zu früh eine zu starke Belastung gehabt. Die Junioren haben so 21 Stunden Training gehabt, die Damen über 50. Früher war ich dankbar, und heute merke ich, sie haben mich verbraten. Die haben mich wirklich verpulvert. Musik Erzählerin Katharina rutscht viel umher auf der Küchenbank beim Erzählen. Immer wieder tut es weh, wenn sie zu lange in derselben Position verharrt. Nachts, im Bett, gibt es nur zwei Stellungen, in denen sie schlafen kann, mit einem Kissen zwischen den Knien. Sie habe gelernt, dafür dankbar zu sein, sagt Katharina. Ich sehe ihr an, daß sie es nicht ironisch meint. Ihre muskulösen Schultern sind nach vorn gebeugt. Ein tiefer Schnitt wird sichtbar, wenn der kurze Hemdärmel beim Gestikulieren nach oben rutscht. Drei Jahre ihres 48jährigen Lebens hat Katharina Bullin in Krankenhäusern verbracht. 13 Operationen liegen hinter ihr. Sie will keine Operationen mehr. Sie hat panische Angst, sich dann überhaupt nicht mehr bewegen zu können. Sprecher 1: Stasi-Treffbericht des ?IM Technik? ? Dr. Höppner, führender Sportmediziner im DTSB - zum Stand der Anwendung von unterstützenden Mitteln, 3.3. 1977 Sprecher 2: Die bisherige Anwendung von anabolen Hormonen hat bei zahlreichen Frauen zu irreversiblen Schäden geführt. Gewisse unerwünschte Nebenwirkungen wie steigende Zahl der Verletzungen, Vermännlichung, Triebstörungen, psychische Spannungen und Aggressivitäten bei Frauen lassen sich generell nicht vermeiden, ohne Abstriche in der Leistungsunterstützung durch diese Präparate machen zu wollen. O-Ton 0.22 Ich weiß, daß ich immer meinem Trainer und meinen Ärzten gesagt habe, daß ich starke Schmerzen habe in der Schlagschulter. Die haben immer gesagt: Reiß dich zusammen, sei kein Schlappschwanz, ein Indianer kennt keinen Schmerz. Willst du ?ne einfache Hausfrau werden oder ?ne gute Sportlerin? So was habe ich jeden Tag gehört. Und niemand, niemand hat mal gesagt: Mensch, Katharina, tut?s weh? Sondern: Wirst ja wohl bißchen Schmerz aushalten! Acht Stunden am Tag Training. Erzählerin Im Jahr 2003 bekommt Katharina Bullin Einsicht in ihre Krankenakten vom Sportclub Dynamo. Das bringt Klarheit. Und neue Enttäuschungen. O-Ton 0.35 Und heute lese ich: Sportlerin hat starke Beschwerden, ist Stammspielerin der Nationalmannschaft ? ich habe im ersten Sechser Nationalmannschaft gespielt, das Höchste, was es gibt ? unter Beschwerden Training bis 1980. Boh ? die wußten, daß es mir sehr schlecht ging! Ich habe ja immer gedacht: Wahrscheinlich übertreibe ich nur. Ich habe immer den Fehler bei mir gesucht. Und heute lese ich, daß sie mich hätten operieren müssen, und haben es nicht gemacht, weil ich Stammspielerin war und sie wollten unbedingt zur Olympiade eine Medaille sehen. Sprecher 1: ?IM Technik? ? Dr. Höppner - zum Stand der Anwendung von unterstützenden Mitteln, 3.3. 1977 Sprecher 2: Anabole Hormone werden im DDR-Leistungssport seit 1966 angewandt. Gegenwärtig werden sie in allen olympischen Sportarten mit Ausnahme von Segeln und Turnen (weiblich) bei fast allen Nationalmannschaftskadern angewandt. Die Leistungen konnten mit Unterstützung dieser Mittel innerhalb von vier Jahren z.B. wie folgt gesteigert werden: Sprecher 1: Kugelstoßen Männer: 2,5 bis 4 Meter, Frauen: 4,5-5m Diskuswurf Männer 10-12m, Frauen 11-20m. O-Ton 0.44 Als Leistungssportler habe ich einfach Verletzungen. Es reißt mal ein Band oder eine Sehne. Aber bei mir war es so gewesen, daß wenn ich eine Verletzung hatte am Fuß oder am Knie, dann ist das rausgeknallt ? die Knochen waren mehrfach gesplittert, die ganze Kapsel raus, die Bänder und die Sehnen raus. Und da haben die mich immer als Tolpatsch hingestellt, daß ich so ungeschickt bin. Heute weiß ich, das Doping nimmt ja dem Körper wirklich sein Letztes. Da, wo man über den Willen nicht mehr hinkommt. Unter Doping erfährt man eine unheimliche Spannung, hat eine unheimliche Muskulatur, aber wenn die dann wegknallt, da ist kein Schutz mehr, der Körper verliert seinen Selbstschutz. Heute weiß ich, die haben mich so hoch belastet mit 15, 16 Jahren, das konnte ich nur über Doping aushalten. Erzählerin Ärzte, die vorgaben, etwas ?gegen die Schmerzen? zu spritzen, Trainer, die im Trainerzimmer ?Vitamintabletten und Mineralien? verabreichten, Pralinen, die eigentlich verboten waren, aber als Belohnung gegeben wurden ? unverpackt, weil selbst hergestellt mit unergründlichen Substanzen. Zusätze beim Essen und beim Trinken. Keine Information der Sportler über das, was sie da bekamen, und darüber, was es bewirkte. Keine Information der Eltern, keine Einverständniserklärungen. Versuchsreihen an Sportlern, ohne deren Wissen oder Einwilligung. Alltag im Hochleistungssport der DDR. Sprecher 1: Forschungsgruppe ?Zusätzliche Leistung? des Forschungsinstituts für Körperkultur und Sport Leipzig. Sprecher 2: 45 Sportler und Sportlerinnen erhielten zwischen 500 und 1000 mg Testosteron gespritzt und waren während des Wettkampfes ohne Ausnahme im Vorteil. Im Ergebnis wurde festgestellt, daß Depot-Turinambol eine sehr starke Androgenwirkung (männliche Geschlechtsmerkmale hervorrufend) besitzt. Erzählerin Wenn Katharina Bullin so etwas liest, kommen die alte Wut und die alte Ohnmacht hoch. Alle Bücher des Sportwissenschaftlers Giselher Spitzer von der Berliner Humboldt-Universität stehen in ihrem Regal. Auch das Buch, aus dem alle Zitate für diese Sendung stammen: ?Doping in der DDR ? ein historischer Überblick zu einer konspirativen Praxis?. Spitzer sammelte Dokumente des Staatssicherheitsdienstes, des DTSB, der Sportklubs und des Leipziger Instituts für Körperkultur und Sport. Die Unterlagen belegen: Die Verantwortlichen wußten, was sie anrichteten ? und den Sportlern blieb zumeist verborgen, was mit ihnen geschah. Historische Atmo Fanfare Olymp. Spiele Moskau, präsent Erzählerin Nach der olympischen Silbermedaille 1980 hatte die damals 21jährige Katharina Bullin ihre Schuldigkeit getan. Die Operationen, die man so lange hinausgezögert hatte, um die Top-Spielerin nicht zu verlieren, wurden nun unumgänglich. Man wußte, daß sie danach nie wieder Leistungssportlerin sein konnte. Zum Abschied gab es keine Blumen, kein Konfekt, kein Geschenk, keinen Dank. O-Ton 0.24 Da hat mein Trainer als Abschied, als die Ärzte gesagt haben: Prothetik, da hat er gesagt: Katharina, du läßt die Mannschaft im Stich. Oh. Das saß bis heute drin. Und das hat mir ein Schuldgefühl gemacht. Ich habe ein Leben lang gedacht, ich lasse einen anderen im Stich. Ich denke wirklich, ich bin nichts wert. Ich habe viele, viele Monate gebraucht, um den Satz so auszusprechen, wie ich ihn jetzt ausspreche. Ich konnte ihn nur unter Tränen sagen: Katharina, du läßt die Mannschaft im Stich. Erzählerin Es ist gerade einmal ein Jahr her, daß Katharina Bullin diesen Satz sagen kann. Ein Therapeut half ihr, ihre Geschichte aufzuarbeiten. 1981, als sie aus dem Leistungssport ?ausdelegiert? wurde, wie es damals hieß, half ihr keiner. So habe man gemacht, sagt Katharina und öffnet langsam ihre Hand, als ließe sie etwas fallen. Das Etwas waren damals Menschen. O-Ton 0.28 Anfang der 80er Jahre war es ja auch schon bekannt, daß Doping Nebenwirkungen hat. Und da war keine Maßnahme dafür da. Die haben uns einfach nur fallen lassen. Und das mache ich vielen zum Vorwurf. Daß sie dann, als sie wußten, da treten Negativfolgen auf, wir werden körperliche Beschwerden haben und körperliche Einschränkungen haben, die Sportler, die sie gedopt haben - daß sie dann die Hand geöffnet haben, und sie haben uns einfach lebensuntauglich ins Leben fallen lassen. Sprecher 1 Staatsplanvorhaben ?08? der Sportforschung, Beratung mit Manfred Ewald in der Zentralen Sportschule Kienbaum, 9.8.1985 Sprecher 2 Durch den Präsidenten des DTSB wurde die verstärkte Anwendung klassischer Dopingmittel im Leistungssport der DDR für den Trainingsprozeß gefordert. Durch die Vertreter des Forschungsinstituts für Körperkultur und Sport wurde darauf aufmerksam gemacht, daß die Anwendung klassischer Dopingmittel zu der Gefahr der Süchtigkeit der Sportler führt. Genosse Ewald hat diese Bemerkung mit ?Feigheit und Inkonsequenz der Sportwissenschaftler? beantwortet. O-Ton 0.34 Der Zusammenbruch kam bei mir ganz stark, als ich gehen mußte. Da sagt mein Trainer einfach so zu mir: Na, du weißt ja, wie es mit den Hallenzeiten ist und die Umkleidekabinen sind auch voll ? kein Abtraining, nichts! Und ich habe mich einfach 100prozentig über Sport identifiziert! Das Loch war so groß, ich war unfähig zum Leben. Ich konnte nichts. Dann hatte ich eine Hinterhofwohnung, ein Raum, hier hinten, Frankfurter Allee. Mit Ofen. Ich konnte nicht mal heizen, ich wußte nicht, wo ich Kohlen herkriege! Ich habe auf ?ner Holzpalette mit Pudelmütze geschlafen, damit ich nachts nicht erfriere. Historische Atmo Sportreportage Volleyballendspiel 1980 Moskau Tosendes Publikum..., Reporter: Satz- und Matchball für die Sowjetunion. Die hübsche Swetlana Nikischina schlägt auf, Annahme von Katharina Bullin... O-Ton 0.10 Da habe ich erst mal gemerkt, wie verwöhnt ich war. Ich war ja auch arrogant, ich war total überheblich. Ich hab? gedacht, ich bin die Größte. Die Größte der DDR! ? lacht ? hab ich immer gedacht. Atmo hoch an der Stelle: Die sowjetische Mannschaft liegt sich in den Armen, unsere Mädchen stehen gelassen am Netz. Sie wissen, daß sie hier überzeugt haben... Erzählerin Der Sturz von der einen Welt, der mit der olympische Fanfare, in die andere Welt, ohne Netz, konnte nur eine Höllenfahrt werden. Kein Abtrainieren, keine psychologische Hilfe, keine professionelle sportmedizinische Beratung. Ärzte ?draußen?, im normalen Poliklinik-Leben der DDR, die nicht wußten, welche Substanzen wie lange verabreicht wurden, weil die Unterlagen streng geheim waren. Schwere, langwierige Operationen. Das Gefühl, invalid zu sein mit Anfang 20. Und das erst jetzt aufkeimende Bewußtsein, keine richtige Frau mehr zu sein. Ein Gedanke, den Katharina während ihrer aktiven Sportzeit verdrängt hatte, denn den anderen jungen Frauen um sie herum erging es ja ebenso, und über die ersten Barthaare hatte man noch gemeinsam gewitzelt. O-Ton 0.19 Ich habe es selbst gar nicht gemerkt. Während des Sports weiß ich, da haben sie manchmal zu mir Klodeckel gesagt. Weil, die Hände sind enorm gewachsen. Im Spiegel hat mich sehr gestört, daß ich so eine große Nase gekriegt habe. Es wurde richtig fleischig, richtig doll. Na ja, wurde dann bagatellisiert. Sprecher 1: Bericht IM ?Jürgen Wendt?, Sportmediziner beim Sportclub Dynamo, 21.6.77 Sprecher 2: Neben der Gefahr der Lächerlichkeit (z.B. die tiefen Stimmen, das struppige Haar und die unreine Haut) bleibt für die Sportler die grundsätzliche Möglichkeit einer längerfristigen Wirkung (Leberkarzinom) bestehen. O-Ton 0.46 Und dann war es ja auch so, die Stimmlage hat sich verändert. Aber das sind so Dinge, die so fließend sind. Während des Sports merkt man es sowieso nicht, weil man immer unter Sportlern ist. Und erst, als ich dann im normalen Leben war, da wurde ich dann angegriffen. Ich war erst erbost und habe mich gefragt: Was haben die denn alle? Schwuler oder so. Ich habe ja auch Kleider getragen und mich geschminkt. Das habe ich alles hinter mir. Weil ich auch eine Zeitlang dachte: Du mußt dich anpassen. Da hatte ich Kleider, habe mich geschminkt, hatte Ohrringe ? ich habe eine halbe Stunde an mir rumgebastelt. Aber dann wurde ich erst recht beleidigt: Travestit, komm mal Süßer, Schwuler. Ich war so orientierungslos. Ich hatte keine Identifikation. Ich war keine Frau, aber ich war auch kein Mann. Das hat unheimlich weh getan. Sprecher 1: Treffbericht mit ?IM Technik?, 3.3.1977 . Sprecher 2: Ich richtete wie in der Vergangenheit nochmals die Bitte an Genossen Ewald, seinen Einfluß auf Presse und Fernsehen geltend zu machen mit dem Ziel, daß Sportlerinnen mit besonders hervorragenden Stimmveränderungen nicht mehr in den Vordergrund bei Interviews gestellt werden. Genosse Ewald antwortete: ?Was soll diese unlogische Forderung, du hast selbst Anabolika gegeben und ich soll jetzt die Leute bei Interviews zurückhalten!? Diese Antwort wurde von den Teilnehmenden mit allgemeiner Heiterkeit aufgenommen. O-Ton 0.40 Das sind so Sachen, wo ich merke: Nicht aufzugeben, ist sehr, sehr schwer. Und ich verstehe auch jeden Sportler, der sagt: Du, Katharina, ich kann nicht mehr. Ich habe keinen Arzt, der mir da irgendwo Hilfestellung gibt. Weil: Oftmals müssen wir uns immer rechtfertigen. Also, ich komm? zum Arzt zum Beispiel, und dann sagt der zu mir: Ihre Frau muß aber selber kommen! Weil, in meiner Akte steht ja Katharina Bullin. Und da denk? ich: Jetzt geht das wieder los. Zu 95 % werde ich ja als Mann gesehen. Es gibt Tage, da verkrafte ich?s, und es gibt Tage, da kann ich auch nicht mehr. Es ist sehr, sehr schwer, wenn man immer aus ?ner Damentoilette rausgeschmissen wird. Musik Erzählerin Katharinas Lächeln gerinnt zu einem kurzen Zucken in den Mundwinkeln. Bitterkeit. Sie schaut nach unten und schweigt eine Weile. Sie redet sich immer ein: Die Leute können ja nichts dafür. Die etwas dafür können, sind aus Katharinas Gesichtsfeld verschwunden. O-Ton 0.23 Diese Vermännlichung macht etwas mit einem. Ich habe gemerkt, daß ich immer mehr den Bezug zu mir verloren habe. Und dann bin ich zum Arzt gegangen und habe ihn gefragt, ob ich überlegen müßte, mich umoperieren zu lassen. Und ich habe ihm gesagt, daß ich in ganz großem Zweifel bin. Bin ich Katharina oder was bin ich? Sprecher 1: MfS-Hauptabteilung XX, 7.7.1975 Sprecher 2: Problematisch ist die Verabreichung dieser Mittel bei sehr jungen Sportlerinnen, bei denen das Wachstum noch nicht abgeschlossen ist. Die Kernfrage besteht darin: Wer rechtfertigt moralisch und gesundheitlich die umfassende Anwendung von anabolen Steroiden im Leistungssport und steht für die nicht ausbleibenden negativen Nebenwirkungen gerade? Atmo Atemübung Erzählerin Nur Katharina steht dafür gerade. Nach ihrem Aufwachen 1993 begann sie, sich endlich mit sich selbst zu beschäftigen: Ein ungeheurer Bildungshunger überfiel sie, sie machte drei Berufsabschlüsse, beschäftigte sich mit Geschichte und Architektur, lernte Latein, befaßte sich mit Tao, Reiki und Buddhismus. Sie hofft weniger auf Ärzte, nur noch auf sich selbst. Übersteht den Schmerz mit Atemübungen. Mit Hypnose, mit Tai Chi, mit Muskeltraining. Ich muß die gesunden Muskeln trainieren, um die kranken Gelenke darin einzubetten und sie zu festigen, sagt sie sich und handelt. Seit dieser Erkenntnis kann sie den Sport, den sie viele Jahre so haßte, wieder lieben. Sie fing mit Wasserflaschen an zu trainieren, heute geht sie ins Fitneßstudio. Atmo Fitneßübungen 0.15 O-Ton 0.10 Ich bin heute dafür dankbar, was ich noch kann. Weil ich morgen gar nicht weiß, was sein wird. Ich möchte mal später nicht sagen: Hätte ich mal. Ich will sagen: Ich habe. Hätte gibt?s nicht mehr. Atmo Fitneßübungen O-Ton 0.30 Es gibt Dinge, da erfahre ich Grenzen. Die werde ich auch nicht hinbekommen. Das ist auch nicht mein Ziel. Sondern mein Ziel ist, mir so weit wie möglich meine Beweglichkeit zu erhalten. Und da habe ich gemerkt, ich bin zwar schnell erschöpft, weil es mich auch sehr anstrengt. Aber ich habe angefangen, anders zu denken. Und ich merke, daß ich da dem Buddhismus sehr zugeschrieben bin. Weil der Buddhismus auch sagt, und das finde ich sehr schön: Bemerke die Dinge im Leben und bewerte sie nicht. Da habe ich gelernt, meine Schwächen, die ich habe, zu akzeptieren. Musik Erzählerin Im Februar 2006 lief auf der Berlinale ein Dokumentarfilm über Katharina Bullin. Die langwierigen Dreharbeiten halfen ihr, einer Therapie gleich, ihr Leben zu verstehen. Seit dem Film hat sie eine Liste mit 165 Namen, Menschen, die alle mit ihr sprechen wollen. Nach 30 Jahren gingen die Scheinwerfer wieder an. Aber sie treffen auf eine andere Katharina Bullin, auf eine, die sich nicht mehr blenden läßt. O-Ton 1.07 Man wird ja von den Medien erst mal hofiert. Aber dann ist man wieder in so einem Loch, dann ist man wieder bei seinem kleinen Hartz IV zu Hause alleine. Da muß man auf passen: Man steht im Rampenlicht, aber das Licht geht auch ganz schnell wieder aus. Da mußte ich erst mal gucken, daß da keine Verbitterung eintritt. Daß ich sage: Das eine genieße ich ? bei der Berlinale zum Beispiel, da waren so 500 Leute da. Wo ich es genossen habe, wo ich dachte, es ist sehr schön. Es ist eine sehr starke moralische Anerkennung, die Leute haben mich unheimlich angenehm berührt. Ich kann nicht die ganze Zeit verlangen, daß mich jemand an die Hand nimmt und sagt: Oh, Katharina, hast du?s schwer gehabt, komm, wir helfen dir. Erzählerin Katharina Bullin hat durch den Film einen Arzt, einen Sportwissenschaftler und einen Rechtsanwalt gewonnen, die ihr jetzt helfen. Die erste ihrer Klagen auf Anerkennung als Dopingopfer und damit auf eine Entschädigung für die Körperverletzung und 30 Jahre Schmerzen wurde abgelehnt. Aber Katharina will weiterkämpfen. O-Ton 0.29 Mit der Klage will ich erreichen, daß endlich auch eine staatliche Anerkennung passiert, eine Anerkennung der Opfer. Wenn überhaupt, dann wäre ich die erste, die damit durchkommt. Wenn überhaupt. Aber dann wäre es für die anderen Sportlerinnen natürlich auch leichter, da durchzukommen. Der Anfang ist ja sowieso immer sehr schwer. Aber ich habe gesagt, für einige Sportler mache ich es mit, weil viele die Kraft nicht mehr haben. Viele haben es aufgegeben. Die sagen: Du, Katharina, wir sind doch nur Ballast. Musik Erzählerin Katharina hat einen Traum. Eigentlich sind es mehrere Träume. Der eine handelt von einem kleinen Häuschen im Grünen mit einem Garten, wo Gemüse wächst. Der andere handelt von einem Tag und von einer Nacht ohne Schmerzen. Nicht in Katharinas Traumkatalog steht eine Begegnung mit ihren Trainern und Ärzten von einst, die zum Teil heute noch in Amt und Würden sind. O-Ton 0.17 Ich wäre einfach nur wütend und würde ihnen Vorwürfe machen. Sie würden vielleicht drüber lächeln oder sich einen Moment drüber ärgern. Aber dafür, was sie einem wirklich angetan haben, wüßte ich noch kein Mittel. Ich will ihnen nicht begegnen. Ich würde bestimmt die Fassung verlieren. Atmo Atmen O-Ton 0.23 In der Therapie jetzt habe ich mich gefragt: Warum muß ich immer so viel weinen? Warum tut es so sehr weh? Und da habe ich gemerkt: Es so ein bißchen wie Familie. Und da habe ich mich auf einmal total verraten und mißbraucht gefühlt. Und das tut sehr weh. Da habe ich immer noch zu knabbern. Heute kann ich schon drüber reden. Ich konnte eine Zeitlang nicht drüber sprechen, ohne daß ich gleich weine. Ich muß immer aufpassen. Musik Erzählerin Katharina lächelt. Das hilft gegen die Tränen. Sie weiß, sie ist noch längst nicht so stark, wie sie es gern sein möchte. Bemerke die Dinge, aber bewerte sie nicht. Dieser Satz hilft ihr, zu überleben. Haß und Wut und Traurigkeit zu überwinden. Sich anzunehmen als Frau, die für die meisten ein Mann ist. Andere, denen sie vertraute wie man seinen Eltern vertraut, machten sie dazu. Damit es schneller, weiter, höher ginge im Sport. Damit ihr kleines Heimatland die größte DDR der Welt sei. Auch ich war einmal stolz auf die Medaillen, die ?unsere Sportler? gewannen. Wenn ich Katharina Bullin sehe, weiß ich, wie hoch der Preis dafür war. O-Ton 0.09 Ich würde mich jetzt nicht unbedingt als Frau bezeichnen. Irgendwie hat das Maskuline doch sehr etwas mit mir getan. Ich bin Katharina. Mehr kann ich nicht sagen. Atmo Hinuntergehen Treppe Erzählerin Wir verabschieden uns. Beim Hinuntergehen, das für mich ganz leicht ist, denke ich an den Schmerz, den diese Frau hat, bei jedem Schritt, bei jeder Stufe. Unten angekommen, steigt sie auf ihr Fahrrad, um nur nicht laufen zu müssen. Wie jeden Tag will Katharina in die Sauna gleich um die Ecke. Die Wärme ist Balsam für die kaputten Knochen und Gelenke, sagt sie. Die Vorfreude auf diesen Balsam läßt sie vergessen, daß es auch heute wieder bestimmt jemanden geben wird, der sie aus dem Damenumkleideraum hinauswerfen will. Atmo Haustür knallt zu, Kinder Atmo Atmen Darauf Erzählerin Das Traumbild von einst: Die Frau, die sich an ihrer eigenen Nabelschnur festhält. Sich in der Waage hält im schwarzen Nichts. Das eigentlich Unmögliche. Katharina versucht es. Jeden Tag aufs Neue. Atmen hoch Musik verwendete Musik: Radiohead, Amnesiac Track 9, LC 0299 14