Deutschlandradio Kultur Länderreport COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Die Kleine Sprachgeschichte. Sachsen-Anhaltisch. - Oder: Warum die da so anders sprechen - Autor Wolfgang Knape Red. Claus Stephan Rehfeld Sdg. 25.10.2011 - 13.07 Uhr Länge 19.00 Minuten Regie Clarisse Cossais Spr. Thomas Thieme Moderation Auch wenn es um den Zungenschlag geht, hat Sachsen-Anhalt die Nase vorn. Sprachlich gesehen. Das jedenfalls werden wir gleich gesagt bekommen. Etwas mehr Zeit brauchen dann schon die begründenden Ausführungen zum WESHALB. Wir fassen uns also kurz, denn Wolfgang Knape hat schöne Sprachproben und wissenswertes Material eingesammelt. Bitte. Die Kleine Sprachgeschichte Sachsen-Anhaltisch. Oder: Warum die da so anders sprechen. -folgt Script Beitrag- Script Beitrag G 01 Dampflok, fahrend REGIE Geräusch kurz frei & unter Sprecher legen AUT Auch wenn es um den Zungenschlag geht, hat Sachsen-Anhalt die Nase vorn, was das Ohr bestätigen kann. Sprachlich gesehen. Quer durch das Bindestrichland verläuft die berühmteste deutsche Sprachgrenze, die so genannte Ik-ich-Linie. Sie trennt nicht nur die Zungenschläge, sondern auch dicht beieinander liegende Harz-Orte wie Stiege und Hasselfelde. Niederdeutsch gibt man sich nach der einen Seite hin, mitteldeutsch nach der anderen. Das ganze Land ist folglich ein einziger Sprachmischmasch. Nichts Halbes und nichts Ganzes, weil man halb zu Sachsen und Thüringen gehört und eigentlich ganz preußisch sein will. Denn nach Preußen zog man erst die Soldaten und später hin, wenn man bis Berlin hoch was werden wollte. Doch bis heute ändert sich die Sprache wie im Zug. In Magdeburg steigen wir im niederdeutschen Teil ein, in Halle kommen wir in Mitteldeutschland an. REGIE Dampflok, bremst AUT Den großen Unterschied zwischen diesen Städten bemerkte ich zum ersten Mal mit zehn Jahren. Ich wohnte damals im Harz. Meine Eltern vermieteten während des Sommers. Einmal schlief der Herr Otto aus Magdeburg-Buckau in ihrem Ehebett. Und dass er kein "G" sprechen konnte, dafür "jefahren, "jelaufen", "jeliebt" und "Machdaborch" sagte, erstaunte mich sehr. Kamen hingegen Gäste aus Halle, riefen die meine Schwester "Ische", und mich "Scheeks". (Dr. Saskia Luther) "Nun sprechen beide Stadtbewohner keine Mundart, keinen Dialekt im eigentlichen Sinne mehr. Aber sie verwenden eben eine Umgangssprache, die regional geprägt ist. Eben von der einmal dort ansässigen Sprache beziehungsweise Mundart. Und dadurch unterscheidet man eben einen Magdeburger, einen Machdeborcher, von einem Hallenser ganz deutlich." AUT Und während der eine das "G" in der Wortgruppe "Am Vogelgesang in Magdeburg" fünfmal auf unterschiedliche Weise auszusprechen vermag, ohne den G-Laut dabei selbst zu verwenden!, punktet der andere mit so gemütvollen Wendungen wie "Kleeche" für "Arbeit" und "streechen" für "lügen". "Maium" der Hallesche Ausdruck für Wasser ist eigentlich jiddisch, was zum Großstadtdialekt durchaus passt. Wiederum zeugt das "Mopsjescherre" für den BH von einer gewissen humoristischen, gar großmäuligen Note. "Was schmust d´r Lubbert?", fragt der Hallenser und will eigentlich nichts anderes wissen als die genaue Zeit. Nun, auch zwischen Halle und Dessau gibt es mehr als nur einen Unterschied, obschon beide Städte zentrales, also "zentralstes" Mitteldeutschland sind. (Dr. Saskia Luther) "Es gab vor Jahren mal einen Streit zwischen den Köthenern und den Dessauern, (...) dass die sich nicht untereinander verstehen, weil sie eben auch unterschiedlich sprechen." AUT Und dabei haben doch beide das Anhaltinische als gemeinsame Umgangssprache. (Dr. Saskia Luther) "Das liegt daran, weil eben auch die mitteldeutschen Mundarten weiter differenziert werden können bis hin zu einer Ortsmundart." AUT Hier nun kommt schon die berühmteste deutsche Sprachgrenze ins Spiel. Die "Ik-ich-Linie", die quer durch Sachsen-Anhalt verläuft und das Niederdeutsche vom Hochdeutschen trennt. Mit Hochdeutsch meint der Dialektologe natürlich nicht die von Lehrern geforderte, aber selten beherrschte Standardsprache. Zum Hochdeutschen gehört alles südlich der Sprachgrenze: Also Schwäbisch. Bairisch! Schwyzertütsch!! (Dr. Saskia Luther) "Nördlich dieser Grenze, die verläuft etwa im Harz zwischen Hasselfelde und Stiege, also Hasselfelde ist Niederdeutsch und Stiege ist bereits Mitteldeutsch. Dann weiter eben zwischen Magdeburg und Halle, und dann bis hin nach Wittenberg. Wittenberg befindet sich heute im mitteldeutschen Teil. Früher war diese Sprachgrenze etwas südlicher angelegt." AUT Das erklärt auch, weshalb ein Mitteldeutscher "ich" sagt, zugleich aber in einen "Appel" beißt, während der Münchner nur den Apfel kennt. Wir könnten hier recht lange über die zweite Lautverschiebung und so wunderbare Begriffe wie stimmlose Verschlusslaute referieren. Bleiben wir im geteilten, um nicht zu sagen: zerstückelten Sprachland Sachsen-Anhalt. Im Norden heißt es "Peerd" für "Pferd". "Tiet" für "Zeit". "Pipe" für "Pfeife" und "Topp" für "Topf", obwohl der Topf inzwischen wohl im ganzen Land, bis weit nach Sachsen rein, immer nur als Dopp ä Loch hat. (Dr. Saskia Luther) "Oder das berühmte, wo viele sagen, das ist ja ein Erkennungszeichen fürs Berlinische, eben "Ik" und "ich", oder auch "dat" und "das"." AUT Dat will ick ihr schon mal jloobm. Der Frau Dr. Saskia Luther. Sie hat die Arbeitsstelle Niederdeutsch an der Otto-von-Guericke-Universität in Magdeburg mit aufgebaut. Zudem betreut sie im Auftrag des Landesheimatbundes Sachsen- Anhalt e.V. dieses weite Dialekt-Feld. Doch weshalb "niederdeutsche Sprache", wo man doch gleichzeitig von mitteldeutschen Mundarten spricht? (Dr. Saskia Luther) "Es ist so, dass die niederdeutsche Sprache tatsächlich als Sprache einmal entstanden ist. Das ist also historisch, sprachhistorisch zu begründen. Und sie hat den Status einer Regionalsprache." AUT Die vom Europarat geschützt und gefördert wird. Für interessierte Schulen haben Saskia Luther und ihre Kollegin eine hinreißende plattdeutsche Fibel verfasst. Und auch sonst wird von Magdeburg aus für die Erforschung und Pflege des Niederdeutschen in Sachsen-Anhalt eine Menge getan. (Dr. Saskia Luther) "In Sachsen-Anhalt unterscheiden wir zwei große Sprachgebiete des Niederdeutschen. Das ist das Märkische. Das Märkische wird eben in der Altmark gesprochen und ehemals auch östlich der Elbe. Dort spricht man es leider kaum mehr. Und dann das Ostfälische. (...) Das ist das Bördeplatt oder auch das Harzer Platt." AUT Bevor wir uns aufs platte Glatteis begeben, müssen wir zunächst mal zu historischen Lokalpatrioten werden. 1225 erschien mitten in unserm Bindestrichland der "Sachsenspiegel", eine Zusammenfassung des mündlich tradierten sächsischen Lehnrechts. Der Verfasser, Eike von Repgow, stammte aus Repichau bei Aken an der Elbe und nutzte die Sprache, die er am besten kannte. (Dr. Saskia Luther) "Und so kann man mit Fug und Recht sagen, dass also das erste Rechtsbuch in deutscher Sprache eben hier aus unserem Raum kommt und in unserer, ja, niederdeutschen Sprache geschrieben worden ist." AUT Nach Eike von Repgow hatte dann die nächste mittelalterliche Sprachgröße, Mechthild von Magdeburg, hier ihre Wurzeln. Eine Verfasserin bedeutender religiöser. Werke. Sie starb 1282 im Kloster Helfta bei Eisleben. Und exakt dort - wir sind immer noch mitten im Bindestrichland - wurde zwei Jahrhunderte später Martin Luther geboren. Der wuchs bereits zweisprachig auf. (Saskia Luther) "Aber eben nicht in dem Sinn, dass er vielleicht Englisch und Deutsch konnte, sondern er konnte eben Thüringisch und er konnte Niederdeutsch." AUT Luthers Eltern waren Thüringer aus Möhra bei Eisenach. Und die Sippe hieß eigentlich Luder, auch Loder oder Lüder. Schön weejch middeldeudsch. Doch im Mansfeldischen sprach man zu jener Zeit noch niederdeutsch. Dass Luther später das sächsische - oder meißnische - Kanzleideutsch für seine Bibelübersetzung nutzte, also ein Ostmitteldeutsch, hatte wohl wirtschaftliche Gründe. Die meisten Druckereien, die seine Werke verbreiteten, befanden sich im damaligen Sachsen, zu dem auch Wittenberg gehörte. Das alte Kursachsen umfasste große Teile des heutigen Bundeslandes Sachsen-Anhalt. G 02 In die letzten Worte einschöner Gong, der den Sprecher ans Eigentliche erinnert AUT Danke, danke, wir kommen ja schon zu der Frage: Warum die da so anders reden und was daran besonders ist. Bitte. Die stolzen Landeshauptstädter zum Beispiel, die Magdeburger, sind heutzutage die einzigen Deutschen, die einen Satz sagen können, bei dem Der-die-das hintereinander kommt: "Der die das Kind jemacht hat, will nich zoahln!" Andernorts klingt das klare, (kloare) reine (raijne) Mitteldeutsch aber bis heute weitaus uriger. Zum Beispiel im Mansfelder Land. Altes Bergbaugebiet. Abraumkegel und Schlackehalden bestimmen noch immer vielerorts das Bild. Die harte Arbeit in den Schächten und Hütten hat die Menschen, die hier leben, geprägt. (Klaus Foth) "Der Mansfelder drückt sich klar und deutlich aus. Der redet nich um' Brei drumherum." AUT Wie bekanntlich auch Luther, der mit derben Worten den Papisten das Fell gerbte. Doch wir sind inzwischen längst in der Gegenwart angelangt. Bei den Sprüchen von Klaus Foth. Klaus Foth entstammt einer alten Bergmannsdynastie. Mit der "Mansfäller Mundart" kennt er sich aus. Und was ein "Fressdummer" ist oder eine "Pobeldudde", weiß er natürlich auch. (Klaus Foth) "Komm her, Pobeldudde!"(...) Wenn das jemand zu Ihnen sagen würde, würden Sie vielleicht für´n Moment erschrecken. Da zucken die nich. Das jehört dazu. Ja. Das is zwar nich janz so liebevoll wie zum Beispiel: Der Mansfelder sagt zu seinem Kamerad Kamerädchen, wenn er´s janz besonders lieb meint: "Horch mal, mein Kamerädchen, wir machen mal das." Ja. Das is nich ... Aber wenn der sagt "Pobeldudde", oder du "Frässdummer", dann zuckt der au´ nich weiter. Da schüttelt der sich niche mal." AUT Und das muss einer auch nicht, der alle Tage sein Leben riskierte und dabei jedes Mal neunhundert Meter in die Tiefe eingefahren ist. Ansonsten arbeitete man hier im Forst, im Obstbau oder in der LPG. (Klaus Foth) "Wenn ich zum Beispiel zu DDR-Zeiten in Helfta in der Kaufhalle stand und die Frauen kamen vom Acker und mir mussten ja beim Fleischer ahnstellen. (...) Und dann stand so´ne, so´ne LPG-Frau vor mir: "Mäddelchen, mach mal ä Värtel Lewwerwurscht!" Ja. Da ging's Herze off, ja! Da ging mir´s Herze off!" AUT Das Herz aufgehen, kann jedem - aber nur einem Mansfäller jehts Herze off. Da isses braijt wie eine Kupferjrube. Die Mundarten, die man heute im Mansfelder Land spricht, gehören zu den Nordostthüringer Mundarten. Besonders deutlich hat sich der Mansfelder Dialekt in den Grunddörfern hinter Eisleben erhalten. Und wann immer "in der Grund" etwas stattfindet, ist Klaus Foth mit dabei. Er hat nämlich schon früher hier den Stoff für seine Mundartgeschichten gefunden. (Klaus Foth) "Da bin ich mit der Linie nach Greifsfeld. Da war ich um Zehne in der Kneipe. Und um halb Elfe kamen die Berchleute. Ja. Und da waren die natürlich ausjelaucht. Und wenn die drei Bier getrunken hatten, da wurden die gesprächig. Und da habe ich hennjehorcht. Und da habe ich meine (...) Ansätze jefunden, wo ich meine Geschichten draußjemacht habe. Aber es jibt keen Berchbau mehr, es jibt keene richtigen Kneipen mehr." AUT Trotzdem pflegt Klaus Foth unverdrossen seine ureigene, hiesige Mundart. Und wenn es draußen so richtig "jörscht" und er wegen des Regens nichts anderes tun kann, dann greift er nach seiner Kladde und schreibt einen neuen Text in der alten, der überlieferten Mundart. Da stören wir auch nicht weiter, sondern gehen ein paar Kilometer weiter nach Nordwesten. Dort hören wir schon einen ganz anderen Ton. Allerdings wieder einen Original-Ton. (Georg Wöhler) "In unsern Orte sprechen hiete vielleicht noch acht Liete im Ohltage diese Stiesche Mundart. So unger sich oder wenn se auch mal en Jingern treffen, wo se wissen, der verstäht das noch. Ja. Aber mehr Liete sprechen die Mundart nich." AUT Doch gerade deswegen sucht Georg Wöhler Verbündete. Er organisiert Mundartabende, auf dass man das Erbe der Altvorderen nicht vergesse. Und wir noch ein paar Hörproben für unsere Sprachgeschichte vorfinden. (Georg Wöhler) "Nun will ich mal einen Satz sagen. Wenn wir sagen - ich sage ihn erstmal in Hochdeutsch: "Wir gehen mit der Sense zur Wiese", ja. Dann (...) sagt der Stiescher: "Me jähn mett dar Säse nor Weese." Der Hasselfelder sacht: "Wei gahn mett de Säthe dar Wiesche." Und de Allröd'schen san: "Mi jähn mit de Seese na Wiese." AUT Und das alles im Grenzgebiet und auf engstem Raum. Die Landesgrenze zu Niedersachsen ist gut zehn Kilometer Luftlinie entfernt, die nach Thüringen fast acht. Doch jene einst scharfen Grenzen sind längst aufgeweicht. Und Georg Wöhlers kräftigste Sprach-Erinnerungen liegen inzwischen Jahrzehnte zurück. Da sollte er einmal in der Schule das Wort "der Lange" deklinieren. Und das ausgerechnet im Russischunterricht. (Georg Wöhler) "Da habe ich dann immer jesat: Der Lanke, des Lanken, dem Lanken, den Lanken. Mit dem Lanken. Von dem Lanken. Da saht der russische Lehrer Rumenjuk: Wöhllerrr! Was red´st du da? Sag´s noch mal! Ich ging in Hasselfelde in die Mittelschule, die han schon alle jelacht. Die han das jemarkt." AUT Wenn ein Russe einem Harzer die deutsche Sprache korrekt beibringen muss, ist das schon seltsam genug. Unverdrossen setzte Schüler Wöhler also noch mal von vorne an. (Georg Wöhler) "Wedder: Der Lanke, des Lanken, dem Lanken. Bis runger mit dem Lanken, von dem Lanken. - "Jetzt an Tafel! Schreibs an! - Hab ich's richtig jeschrebben. Ja, war mich klar. Also das is so, wenn de Ohltagessprache zur Ohltäglichkeit wird, ja." AUT Doch der Schulbesuch auf der anderen Seite der Sprachgrenze war nicht nur für Georg Wöhler eine Tortur, sondern für alle von der hiesigen - oder eben der drübigen - Seite. (Georg Wöhler) "Und das jefohrlichste Pflaster wor ungene in der Stieschen Strooße. Also in der Hasselfelder Strooße nach Stiege ruuß. Das nannte sich Stiesche Stroße." AUT Da wohnten jene kinderreichen Familien, die nur darauf warteten, den Sprach-Grenzgängern mal richtig eins auszuwischen. (Georg Wöhler) "Un wann mi dann die steile Strooße mit unsern Fahrrädern rungerkamen (...) Dann waren die auch neidisch und dann schmissen die mit Steinen. Ja. Un mi ham dann aber schon die Luftpumpe in der Hand, ja. Un wenn mer mit der Lupftpumpe bien Fahrn hinjehauen haben, da wurde die ja doppelt so lang. Die suuste ja us dem Pumpzylinder ruus, ja. Un damit haben wir uns immer jewehrt." AUT Und den Weg sich freigekämpft. Bis hin zur Sprachgrenze und gottseidank hinüber ins rettende Heimatnest. Wenn der Nachbar gar so anders spricht, als man selber, muss er vom Teufel besessen sein. Das ist im sprachzerrissenen Sachsen-Anhalt wohl genau so wie anderswo in der Welt. Doch auch die Bewohner von Orten, die im gleichen Sprachgebiet liegen, werden unterschiedlicher Ausdrücke wegen von ihren Nachbarn gehänselt oder belacht. (Ursula Hahn) "Die Schwengischen, die rollen ja das "R" so extrem. Zum Beispiel: Die "Farrjessen". Die heißt ja Verges. Eigentlich. Das war die "Farrjessen". Und (...) die is mal runterjekommen zu uns. Da hat se jesagt, da war ich damals dreißig, hat se jesagt: "Maaachen! Maaachen! Du krreist keinen mehrr ab! Dien Zuch is abjefahrrn."(lacht) AUT Frau Hahn. Lebt in Stolberg. Und mit "Schwenge" meint sie das überm Berg liegende Dörfchen Schwenda im Unterharz. Dort wäre eine ältere Dame beinahe von der Empore "gehuppt", als sie das rollende "R" ganz unvorbereitet traf! Ja, wir könnten eine ganze Sprachgeschichte des Landes Sachsen-Anhalt damit füllen, wie unterschiedlich das R rollt, auf engstem Raume und wo man hubbt und wo man hopst, und wann man hübben muss, mit einem klejnen Hübber oder einem großen Hopser. Und alles geht manchmal rrollend ineinander über. Die beiden Kirchenchöre zu Schwenda hatten erstmals zusammen proben wollen und dieses herrliche "Groß ist der Herr" intoniert ... (Ursula Hahn) (singt und erzählt) "Jraas, Jraas, Jraas!" (lachend) Gittchen hat jesaht: Ich bin bohle von d´r Empore rungerjesprungen (...) Ich musste so lachen. Ich konnte nicht mehr! Und dann haben se nochemal: "Jraas. Jraas, Jraas is der Herr. Von seiner Macht erzählen Himmel, Land und Määrre. (lacht). AUT Und noch eine andere sprachliche Besonderheit ist ihr im Ohr geblieben: Die hinreißende Bezeichnung für ein in den schlechten Jahren geschneidertes Kleid. (Ursula Hahn ) "Bei jedem Fest gabs ein neues Brokatkleid. Aber de Schwengeschen, die han nich jesaht: Ich hab mich en Brokatkleid schneidern lassen. Sondern: Ich ha e Neies, en Ewwerrsiedenes. (lacht) Also noch besser wie Seide. En Ewwerrsiedenes. Un wer kein Ewwerrsiedenes hatte, der war ungene durch." (lacht) AUT Es ist ja ein Merkmal der Mundarten, dass sie gnadenlos eindeutschen. Brokat wird zum Immer- oder Überseidenen. Wir könnten eine andere mitteldeutsche Gebirgsmundart heranziehen, das Erzgebirgische, wo man aus dem Tablett das "Hietraachbrattl", das Hintragebrett macht, und aus dem Okular, dem Fernglas, das "Raaziehglas". Ursula Hahn weiß um die deutsche Dialektvielfalt. Sie ist viel rumgekommen. Doch sobald sie das Tal erreicht hat, in dem Stolberg liegt, mit den bunten Fachwerkhäuschen, sobald sie dort mit ihresgleichen spricht, verfällt sie in den Dialekt der Kindheit, in dem man mir und mich so leicht verwechselt, für "anziehen" "ahntrecken" sagt und "in die Bach" fällt. Dann kommen ihr jene Worte ganz leicht über die Lippen, die für ihren Vater noch selbstverständlich waren. (Ursula Krause) "Mein Vater hat sich zum Beispiel nie mit Aufwiedersehen verabschiedet. Der hat immer jesaht: "Jehab dich wohl!" (...) Oder wenn, wenn's mehrere waren: "Jehabt Uch wohl!" (...) Oder wenn er mal maulfaul war, da hat er bloß jesacht: Jehab dich. - Oder jehabt Uch." (lacht) AUT Na dann: Jehabt Uch wohl! Und sperrt de Ohren juut auf beim nächsten Unterwegssein in Sachsen-Anhalt. -ENDE Script- 2