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O-Ton aus Volkskammer-Verkündung Abstimmungsergebnis von Sabine Bergmann-Pohl: "Ich möchte ihnen nun das Ergebnis der Abstimmung über das Gesetz zum Ver- trag über die Schaffung einer Währungs- Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland vom 18. Mai 1990 bekannt geben. Mit ja haben gestimmt 302 Abgeordnete. Damit wurde der Vertrag mehrheitlich angenommen." Sprecher: In Berlin findet die zweite Runde der so genannten Zwei-plus-Vier Gespräche statt. Noch hat die Sowjetunion Vorbehalte gegen ein vereintes Deutschland in der NATO. Ein letztes Mal ist der 17. Juni Feiertag in der Bundesrepublik, doch zum ersten Mal gedenken Politiker aus Ost und West des Volksaufstandes vom Juni 1953. Die Fußballweltmeisterschaft in Italien hat die Menschen bereits vereint. Gemeinsam verfolgen die Deutschen die Erfolge der DFB-Elf. Regie: Kurzer Live-Kommentar, Torjubel-WM Spiel 1990 (Deutschland- Niederlande) Sprecherin: Im Schatten dieser Ereignisse steht am 16. Juni 1990 die Gründung der ersten gesamtdeutschen Verfassungsinitiative. Das "Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder". Eine Bürgerbewegung aus Wissenschaftlern, Politikern, Künstlern und Bürgerrechtlern. Mitglieder wie die Poli- tikwissenschaftlerin Tine Stein, der Theologe Wolfgang Ullman oder der Schriftsteller Bernhard Schlink engagieren sich hier, um eine Verfassungsdebatte in Gang zu bringen. Ihr Ziel: eine Verfassung für das gesamte Deutschland auszuarbeiten, die vom Volk beschlossen wird. Dabei soll das Grundgesetz nicht einer Totalrevision unterzogen werden, zumindest aber einer Aktualisierung und Fortentwicklung. Bereits ein Jahr später präsentiert das Kuratorium in der Frankfurter Paulskirche einen vollständigen Verfassungsentwurf. Darin heißt es unter anderem: Zitator: "Die Verfassungsdiskussion bietet uns die ebenso notwendige wie einzigartige Chance, 40 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes Bilanz zu ziehen: Was hat sich bewährt, was muss verändert werden, was verbessert und was neu auf- genommen werden? Wir wollen eine offene, alle Bürgerinnen und Bürger dieses Landes einbeziehende Diskussion über die neue Verfassung. Jede Bürgerin und jeder Bürger muss die Möglichkeit haben, sich mit Anregungen und Vorschlägen an der Ausarbeitung dieser Verfassung zu beteiligen. Bei der Verfassungsdebatte kommt es nicht nur auf den Weg, sondern auch auf den Inhalt an. Der von diesem Gremium er- arbeitete Entwurf soll ausführlich in der Öffentlichkeit diskutiert und erst danach dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden." Sprecher: Initiator des Kuratoriums ist der damalige Grünen-Bundestagsabgeordnete Gerald Häfner. Schon 1988 hatte er die Organisation Mehr Demokratie e. V. gegründet, einen Verein, der sich für direkte Demokratie und die Verbesserung des Wahlrechts in Deutschland einsetzt. O-Ton Häfner: "Die Kernidee dieser Initiative war Demokratie anders zu praktizieren als bisher. Nämlich eben nicht nur als Zuschauerdemokratie, wo man alle vier Jahre seine Stimme abgibt und sie dann eben auch weg ist und man für den Rest der Zeit nur noch zuschauen kann. Sondern Demokratie aktiv zu praktizieren, so dass die Bürger auch zwischen den Wahlen, in Sachfragen, wenn sie das wollen, selbst direkt entscheiden können." Sprecherin: Häfners Ideal ist die stärkere Beteiligung der Menschen am politischen Leben. Darum setzt er sich Ende der 80er Jahre für Plebiszite auf Landes- und Bundesebene ein. 1989 der erste Erfolg: Häfners Initiative "Mehr Demokratie" erreicht die Einführung von Volksentscheiden in Schleswig-Holstein. Diese Reform hat Signalwirkung. Weitere Bundesländer folgen dem Beispiel und diskutieren über die Reform ihrer Landesverfassung. Auch im "Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder" ist man sich einig. In einer neuen gesamtdeutschen Verfassung müssen Plebiszite verankert sein. O-Ton Häfner: "Wir wollten ja Volksentscheid in der Verfassung, wir wollten aber auch Volks- entscheid über die Verfassung. Denn das war unser Ausgangspunkt von Anfang an. Diese Verfassung sollte nicht dadurch in Kraft treten, dass wir die beraten und beschlossen hatten, das kann ja nicht maßgeblich sein. Sondern vom deut- schen Volk in freier Entscheidung beschlossen werden. Das heißt, unser oberster Grundsatz war, das Volk ist der Souverän wenn wir über Verfassung reden, Ver- fassung ist Sache des Volkes." Sprecher: Regie: Über den Text Atmo eines großen Versammlungsraumes Insgesamt trifft sich das Kuratorium vier Mal in großer Runde. Dabei werden bewusst Orte ausgewählt, die für die deutsche Geschichte eine hohe symbolische Bedeutung besitzen. Nach der Gründung im Berliner Reichstag findet vor über 900 Teilnehmern ein zweites Treffen in Weimar statt. Inhalte und Formulierungen einer neuen Verfassung werden hier diskutiert. In Potsdam kommt das Kuratorium erneut zusammen und beschließt die wesentlichen Kernpunkte für den Entwurf. Sprecherin: Am 15. und 16. Juni 1991 dann der Höhepunkt in der Frankfurter Paulskirche. Unter dem Motto "Vom Grundgesetz zur deutschen Verfassung" diskutieren viele hundert Teilnehmer. Am Ende steht der erste gesamtdeutsche Verfas- sungsentwurf, über den alle Deutschen abstimmen sollen. Der Vorschlag ist am- bitioniert. Schon der Name "Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder" zeigt deutlich: Ein wichtiges Anliegen ist die Stärkung des Föderalismus. So sollen die Bundesländer im Bereich des öffentlichen Dienstes und der Hochschulen die volle Gesetzgebungskompetenz vom Bund erhalten. Und alle im Bundestag beschlossenen Gesetze sollen zukünftig auch dem Bundesrat zur Abstimmung vorgelegt werden. Für die Möglichkeit von Plebisziten sieht der Entwurf ein dreistufiges Verfahren vor. Die Volksinitiative, das Volksbegehren und die höchste Form, der Volksentscheid. Artikel 82 des Entwurfes legt fest: Zitator: "Zum Volksentscheid werden nur solche Entwürfe vorgelegt, die die Unterstützung von mehr als einer Million Wahlberechtigten bekommen haben. Bevor die Abstimmung stattfinden kann, müssen alle Bürgerinnen und Bürger informiert und in den Stand gesetzt werden, sich ein eigenes Urteil über die zur Abstimmung stehenden Frage zu bilden." Sprecher: Für Kuratoriumsgründer Gerald Häfner ist der Verfassungsentwurf die Antwort auf drängende politische und gesellschaftliche Fragen nach dem Zusammenbruch des Ostblocks. Im Entwurf sieht Häfner eine gelungene Überarbeitung des Grundgesetzes, zumal dieser Themen aufgreift, die bei seiner Entstehung 1949 noch keine waren. O-Ton: Gerald Häfner "Am Punkt Ökologie, Umweltschutz war diese Verfassung viel ambitionierter als das Grundgesetz und als alle anderen Verfassungen, die ich kenne, weltweit. Also, es gab da eine ganze Reihe von neuen Gesichtspunkten, die wir erst ent- wickelt haben in diesem Kreis, die in anderen Verfassungen bisher so nicht ge- geben waren." Sprecherin: Doch war eine Debatte über das Grundgesetz, eine Abstimmung über die Verfassung eigentlich mehrheitsfähig? Wollten das die Deutschen in Ost und West? Zunächst einmal ist es der Parlamentarische Rat, sind es die Mütter und Väter des Grundgesetzes selbst, die 1949 eine solche Absicht in die Verfassung schreiben. Das Grundgesetz verstehen sie als Provisorium. Bis die Teilung Deutschlands aufgehoben ist, so formuliert man es in der Präambel, soll das Grundgesetz - Zitator: "dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung geben". Sprecher: Mit der Chance auf die Wiedervereinigung war das Ende der Übergangszeit ge- kommen. Und das Provisorium Grundgesetz konnte nach Artikel 146 abgelöst werden. Zitator: "Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfas- sung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung be- schlossen worden ist." Sprecherin: Den Weg zur deutschen Einheit über Artikel 146, also erst eine neue Verfassung ausarbeiten, dann die Wiedervereinigung, unterstützt mehrheitlich die SPD, allen voran Oskar Lafontaine. Bundeskanzler Kohl und die schwarz-gelbe Koalition wollen dagegen den kurzen Weg zur deutschen Einheit nehmen. Das Regierungslager spricht sich bereits im Frühjahr 1990 für den Beitritt der DDR nach Artikel 23 des Grundgesetzes aus. O-Ton Kohl aus Regierungserklärung 8. März 1990 "Der beste Weg in eine gemeinsame Zukunft ist nach meiner und unserer Über- zeugung der Artikel 23 des Grundgesetzes. Es ist aus gutem Grund ein Weg, der nach den vier Jahrzehnten der Teilung die Deutschen wieder in die Lage bringt gemeinsam und in Freiheit die Zukunft zu gestalten." Sprecher: Auch die Mehrheit der Ostdeutschen möchte den Beitritt. Die erste freie Volks- kammerwahl am 18. März 1990 mit dem Sieg der von Helmut Kohl unterstützten "Allianz für Deutschland", ist ein Votum für eine schnelle Wiedervereinigung und auch für die Übernahme des Grundgesetzes. Der Historiker Heinrich August Winkler, ein Kenner der jüngsten deutschen Ge- schichte, sieht im Beitritt nicht den elegantesten Weg, aber unter Berücksichtigung der damaligen politischen Situation, den richtigen. O-Ton Heinrich August Winkler: "Der Artikel 23, der den Beitritt zur Bundesrepublik regelt, erschien damals der erfolg- versprechende Weg zur deutschen Einheit, weil man ja nicht wusste, wie lange die kompromissbereiten Politiker Gorbatschow und Schewarnadse in Moskau das Sagen haben würden. Man durfte also nicht auf Zeit spielen, sondern man musste sich beeilen. Zum anderen verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage der DDR täglich, was man an den Übersiedlerzahlen feststellen konnte. Und wenn dieser Weg versperrt worden wäre, dann wäre durchaus auch eine eher gewaltsame Protesthaltung wahrscheinlicher geworden. Also alle diese Gründe sprachen dafür, zunächst den Beitritt zu vollziehen, was ja nicht aus- schloss, dass man sich später auf eine gesamtdeutsche Verfassung, auf Artikel 146 noch würde verständigen können." Regie: Musikzäsur-Keith Jarret (Kölner Konzert Teil 1) dann Auszug aus Präambel der DDR-Verfassung. Zitatorin: "Ausgehend von den humanistischen Traditionen, zu welchen die besten Frauen und Männer aller Schichten unseres Volkes beigetragen haben, eingedenk der Verantwortung aller Deutschen für ihre Geschichte und deren Folgen, gewillt, als friedliche, gleichberechtigte Partner in der Gemeinschaft der Völker zu leben, am Einigungsprozeß Europas beteiligt, in dessen Verlauf auch das deutsche Volk seine staatliche Einheit schaffen wird, geben sich die Bürgerinnen und Bürger der Deutschen Demokratischen Republik diese Verfassung." Sprecherin: Ein Auszug aus der Präambel für eine neue DDR-Verfassung. Geschrieben wird die Einleitung von der Schriftstellerin Christa Wolf. In der DDR wird seit Dezember 1989 an einer neuen, demokratischen Verfassung gearbeitet. Der Entwurf, der sich am Grundgesetz orientiert, wird von einer Verfassungskommission des Runden Tisches formuliert. Die Gruppe setzt sich größtenteils aus Mitgliedern der Bürgerbewegung zusammen, wie Vera Wollen- berger und Gerd Poppe. Aber auch SPD, CDU- und SED-Mitglieder sind vertre- ten. Sprecher: Die Arbeit an der neuen DDR-Verfassung kommt anfangs nur schleppend voran. Den meisten Mitgliedern fehlt schlicht die Erfahrung. Mit Verfassungsfragen haben sich bisher nur wenige beschäftigt. Und auch die Arbeit in einer großen Gruppe kennen viele nicht. Theologen wie Wolfgang Ullmann von der Bürger- bewegung "Demokratie Jetzt" sind hier klar im Vorteil. Aus ihrer Kirchenarbeit bringen sie wertvolle Erfahrung mit. Auch das SPD-Mitglied Richard Schröder gehörte damals dazu. O-Ton Richard Schröder: "Also die Tendenz war dann zunächst, jeder sagt was ihm am Herzen liegt. Macht paar Vorschläge in die Richtung und jene Richtung und der Nächste macht andere. Das heißt, man musste da zunächst mal, das hab ich dann übrigens veranlasst, Ordnung ins Verfahren reinbringen. Und was das Inhaltliche betraf auch. Ich erinnere mich auch noch, dass da jemand einen Entwurf vorlegte über die Wirtschaftordnung. Das Grundgesetz ist eine Verfassung, die keine besondere Wirtschaftsordnung vorschreibt. Das war eigentlich immer noch so ein DDR-Erbe, das man der Meinung war, in der Verfassung müsste die Wirtschaftsordnung festgeschrieben sein." Sprecherin: Um sich inhaltlich abzusichern, holt man Experten aus dem Westen. Vermittelt werden sie durch die Rechtsanwältin und SPD -Bundestagsabgeordnete Herta Däubler-Gmelin. Unter ihnen ist der Verfassungsrechtler Ulrich Preuß, heute Professor der Hertie School of Governance in Berlin. Er wehrt sich gegen den Vorwurf, er uns seine Westkollegen wollten in die DDR-Verfassung Ideen ein- bringen, die sie in der Bundesrepublik nicht umsetzen konnten. O-Ton Ulrich Preuß: "Ich entsinnen mich noch sehr genau, dass also in diesem Entwurf vom Runden Tisch, wo es um die Verankerung des Gleichheitsprinzips gegangen ist, also Verbot der Diskriminierung. Da kam aus Sicht der DDR-Leute in dieser Gruppe, kamen dann immer wieder neue Gruppen, für die sozusagen besondere Rege- lungen gelten sollten. Also die Behinderten und die Frauen natürlich und die Homosexuellen und die Ausländer. Am Ende habe ich dann noch gesagt, die ganze DDR besteht sozusagen nur aus Minderheiten, für die Sonderrechte gelten. Wo bleibt dann eigentlich die Allgemeinheit des Gleichheitssatzes? Oder auch was die sozialen Rechte anbelangt. Da war der Druck von Seiten der DDR- Angehörigen an diesem Runden Tisch viel, viel intensiver als von uns. Denn wir aus Westdeutschland, wir hatten ja gemerkt, dass eine sozialstaatsorientierte Ge- setzgebung nicht unbedingt soziale Grundrechte als Grundrechte benötigt. Wir waren da viel zurückhaltender." Regie: Atmo Blättern in einem Buch Sprecher: Ein Blick in den Verfassungsentwurf zeigt deutlich die Handschrift seiner überwiegend linksorientierten Autoren. Die Staatsflagge der DDR mit den Farben schwarz-rot-gold soll als Wappen das Motiv "Schwerter zu Pflugscharen" tragen. Die Wehrpflicht, so heißt es, ist abgeschafft. Vom Grundgesetz unterscheidet sich der Entwurf vor allem in drei Punkten. Er betont ausdrücklich den Umweltschutz und beinhaltet plebiszitäre Elemente wie den Volksentscheid. Dieser kann zur Anwendung kommen, um eine neue gesamtdeutsche Verfassung in Kraft treten zu lassen. Zudem setzt das Papier stark auf soziale Sicherheit. So ist in Artikel 27 das Recht auf Arbeit festgeschrieben, das jedoch nicht einklagbar sein soll. O-Ton Richard Schröder: "Und dann hatten sie eben noch, das war für mich das Ärgerlichste, dann hatten sie per Verfassungsartikel den Einigungsmodus festgelegt. Wie das gehen müsse. Aber da man mit dem Grundgesetz solches Affentheater nicht veranstaltet hat war klar, dass wir so etwas auch nicht veranstalten dürfen. Ich fand das völlig unmöglich, in die Verfassung reinzuschreiben, wie der Einigungsmodus laufen soll. Das musste ausgehandelt werden. Und da hätten wir uns nur ein Klotz ans Bein gebunden, wenn wir da noch vorher was beschlossen hätten, wie es sein muss. Wenn zwei zu entscheiden haben, kann nicht der eine beschließen, wie es sein muss." Sprecherin: Im Laufe ihrer Arbeit stellt sich für die Mitglieder der Verfassungskommission zwangsläufig die Sinnfrage. Noch im Januar 1990 gehen sie davon aus, man schreibt an einer Verfassung, die mindestens fünf Jahre gelten wird. Nach der Volkskammerwahl im März ist klar, von Jahren bis zur Wiedervereinigung kann keine Rede mehr sein. Richard Schröder, in der Verfassungskommission von Beginn an eher der Realist als der Idealist, beendet seine Mitarbeit am Runden Tisch vorzeitig. Da der Beitritt zur Bundesrepublik immer realer wird, verliert die Verfassungsgebung für den Theologen zunehmend an Bedeutung. Den Entwurf begreift er nur noch als Totgeburt. Verfassungsrechtler Ulrich Preuß und andere deuten ihre Arbeit um. Sie wollen der DDR eine bessere Ausgangslage für zukünftige Verhandlungen mit der Bundesrepublik verschaffen. O-Ton Ulrich Preuß: "Mehr und mehr, als wir merkten, der Prozess wurde immer beschleunigter und es würde immer näher rücken die Vereinigung, haben wir gesagt, es ist wichtig, dass für die allfälligen Verhandlungen, die dann zwischen DDR und Bundesrepublik stattfinden würden, die DDR gewissermaßen auch auf Augenhöhe mit der Bundesrepublik verhandeln muss. Und dafür dachten wir, oder waren wir davon überzeugt, dafür braucht man eine Verfassung." Sprecher: Nach dem Willen des Runde Tisches soll der Verfassungsentwurf der Volkskammer vorgelegt, im Juni 1990 dann durch Volksentscheid in Kraft gesetzt werden. Doch der Entwurf wird erst im April fertig, zu spät. Durch die vorgezo- gene Volkskammerwahl im März besitzt der Runde Tisch keine Legitimation mehr. In einer aktuellen Stunde wird der Verfassungsentwurf am 19. April 1990 in der Volkskammer diskutiert. Sprecherin: Die konservativen Parteien und Teile der SPD, unter ihnen auch Richard Schrö- der, stimmen dagegen. Die Volkskammer lehnt den Verfassungsentwurf damit ab. Enttäuscht zeigt sich besonders Wolfgang Ullmann. Als Volkskammerabgeord- neter von Bündnis 90 arbeitet er bis zum Schluss an einer neuen DDR- Verfassung. 1999, vier Jahre vor seinem Tod, empfindet er die Ablehnung des Entwurfs noch immer als Niederlage. O-Ton Wolfgang Ullmann (1999): "Ich verstehe natürlich heute in der Rückschau die Gründe etwas besser als ich das damals tun konnte. Aufs Ganze gesehen muss ich sagen, das was wir in un- serem Entwurf an 1990 angesprochen hatten, sind so weit reichende Probleme, dass sie damals wahrscheinlich angesichts des Rückstandes der politischen Meinungsbildung gar keine Verwirklichungs-Chance haben konnten." Sprecher: Bis zum 3. Oktober 1990 gilt, mit leichten Änderungen, die DDR-Verfassung von 1974. Das Runde Tisch-Papier bleibt ein Entwurf. Das "Kuratorium für einen demo- kratisch verfassten Bund deutscher Länder" wird sich noch einmal damit be- schäftigen. Während ihrer Arbeit an einer gesamtdeutschen Verfassung dient er der Bürgerinitiative als Vorlage. Am Ende teilen beide Schriften das gleiche Schicksal. Von der breiten Öffentlichkeit bleiben sie weitestgehend unbeachtet. Der ostdeutsche Verfassungsentwurf ist frühzeitig zum Scheitern verurteilt. Die Menschen in der DDR kümmern sich vor der Währungsunion um ihre Finanzen, sorgen sich um ihre berufliche Zukunft und überlegen, ob ein Leben im Westen nicht doch die bessere Alternative ist. Interesse an der Verfassung eines unter- gehenden Staates haben 1990 nur wenige. Auch als das Kuratorium seinen gesamtdeutschen Verfassungsentwurf im Juni 1991 vorstellt, löst dieser keine große Diskussion über das Grundgesetz aus. Regie: Musik-Zäsur- Keith Jarrett (Kölner Konzert, Teil 1) Sprecherin: Und das soll alles gewesen sein? Die Idee einer gesamtdeutschen Verfassung, beerdigt nach zwei kaum beachteten/gescheiterten Entwürfen. Was sollte nun werden mit dem Provisorium Grundgesetz? Ohne Zweifel, es hatte sich über 40 Jahre bewährt. Aber war es vorbereitet auf den Beitritt der neuen Bundesländer, auf die Veränderungen in Europa und der Welt? Der Beitritt der DDR über Artikel 23 schließt eine neue Verfassung bis heute nicht aus. Die Möglichkeit einer Verfassungsgebung ist über den geänderten Artikel 146 noch immer gegeben. Zitator: Artikel 146 GG Stand 29. 9. 1990 "Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist." Sprecher: Auch der Artikel 5 des Einigungsvertrages ruft dazu auf, am Grundgesetz zu arbeiten. Bundestag und Bundesrat wird empfohlen - Zitator: "Sich innerhalb von zwei Jahren mit den im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes zu befassen, insbesondere mit der Frage der Anwendung des Artikels 146 des Grundgesetzes und in deren Rahmen einer Volksabstimmung." Regie: Atmo Stühle rücken oder Debatte in großer Runde Sprecher: Am 29. November 1991 setzen Bundestag und Bundesrat deshalb eine Gemein- same Verfassungskommission ein. Bis in den Oktober 1993 werden die 64 Mitglieder fast die Hälfte aller Grundgesetzartikel überprüfen. Den Vorsitz über- nehmen der damalige Hamburger Bürgermeister Henning Voscherau, SPD und der CDU-Bundestagsabgeordnete und Verfassungsrechtler Rupert Scholz. Die Verfassungskommission ist ein Kompromiss nach langwierigen Auseinanderset- zungen. Sprecherin: Die SPD plädiert zunächst für einen Verfassungsrat. Ihm sollen 120 Mitglieder, zur Hälfte Frauen und Männer angehören. Die Bundesversammlung, die sonst nur zur Wahl des Bundespräsidenten zusammentritt, soll die Mitglieder wählen. Damit, so die Sozialdemokratin Herta Däubler-Gmelin, wäre der Verfassungsrat eine Mischung aus Parlamentarischem Rat und einer verfassungsgebenden Ver- sammlung. Im Bundestag begründet die Juristin Däubler-Gmelin die Haltung der SPD so: Zitator: "Wir schlagen vor, das Grundgesetz zur gesamtdeutschen Verfassung weiterzuentwickeln und damit einen Verfassungsrat zu beauftragen, der auch engagierte Persönlichkeiten aus allen Teilen unseres Landes zu stimmberechtigten Mitgliedern haben soll. Was liegt näher, als die Bevölkerung des geeinten Deutschland auch bei der Schaffung der Verfassung und bei der Abstimmung über die Verfassung in ihre vollen Rechte einzusetzen?" Sprecher: Auch Bündnis 90/Grüne und die PDS haben ähnliche Ideen. Ganz anders dagegen die Vorstellung der Regierungsparteien. Eine neue Verfassung ist aus ihrer Sicht nicht nötig. Der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik machte aus dem Grundgesetz automatisch eine gesamtdeutsche Verfassung. Union und FDP wol- len daher so wenig wie möglich daran ändern. Rupert Scholz: O-Ton Rupert Scholz: "Mir war wichtig, dass das Grundgesetz erhalten bleibt. Weil es eine Verfassung ist, die - man kann sagen, nicht nur in der deutschen Geschichte sondern auch international im Vergleich gesehen, einmalig ist. Was damals 1949 mit dem Grundgesetz gelungen ist, ist bis auf den heutigen Tag eine vorbildliche Verfassung. Und gerade deshalb war der Weg über Artikel 23 der richtige. Was sich jetzt also nur noch stellen konnte, war die Frage, zu schauen, wo muss dieses Grundgesetz sinnvollerweise reformiert werden. Und das war aus meiner Sicht die Aufgabe der Kommission, und mit dieser Aufgabe, mit dieser Zielstellung hat sie auch gearbeitet dann. Also nicht mit der Zielstellung eine neue Verfassung zu erarbeiten." Sprecher: Als die Verfassungskommission ihren Abschlussbericht im November 1993 vor- stellt, kann von einer neuen Verfassung gewiss nicht die Rede sein. Das Grund- gesetz erfährt nur wenige Änderungen. Die Wichtigsten betreffen die tatsächliche Gleichstellung von Mann und Frau, die rechtliche Stärkung Behinderter oder den Umweltschutz, der nun als Staatsziel formuliert wird. Außerdem werden den Ländern mehr Kompetenzen bei der konkurrierenden Gesetzgebung eingeräumt. Sprecherin: Die Gleichstellung von Mann und Frau und der Umweltschutz als Staatsziel - zumindest in zwei Punkten erfüllen sich wesentliche Vorhaben der zwei ge- scheiterten Verfassungsentwürfe. Auch wenn diese von der Verfassungskom- mission nicht als Beratungsgrundlage genutzt werden. Dennoch bleiben die Er- gebnisse der Kommission weit hinter den Erwartungen von früheren ostdeutschen Bürgerrechtlern, Sozialdemokraten, Grünen und PDS zurück. Plebiszitäre Elemente, wie Grüne und SPD sie fordern, finden ebenso keine Berücksichti- gung, wie das Recht auf Arbeit oder auf eine Wohnung. O-Ton Rupert Scholz: "Das Grundgesetz hat auf solche sozialen Grundrechte ganz bewusst verzichtet. Wir haben einen entwickelten Sozialstaat über das Sozialstaatsprinzip. Soziale Grundrechte sind dagegen meist nur, ich sag ganz bewusst, Kosmetik. Das kann man im Recht auf Arbeit besonders deutlich machen. Wenn ich in die Verfassung ein Recht auf Arbeit reinschreibe, dann ist da ein Recht des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber. Aber wie soll denn das durchgesetzt werden? Mir ist immer sehr wichtig gewesen, das ist auch ein Erfolgsgeheimnis des Grundgesetzes, in eine Verfassung nicht zu viele Dinge hineinzuschreiben die nicht einlösbar sind. Die den Bürger etwas vortäuschen, was gar nicht machbar ist. Und mit der Begründung ist auch die Debatte um die sozialen Grundrechte in der Ge- meinsamen Verfassungskommission eigentlich dann sehr schnell am Ende ge- wesen. Man hat das erkannt, dass das keinen Sinn macht." Sprecher: Scholz ist mit den Ergebnissen der Verfassungskommission zufrieden. Das Grundgesetz hat sein Gesicht behalten. Kritisch schätzt er ein, das wesentliche Reformen im Bereich des Föderalismus auf der Tagesordnung geblieben sind. Die Föderalismusreformen I und II sind Jahre später die Quittung dafür. Nach der Überarbeitung des Grundgesetzes hoffen viele nun darauf, endlich Artikel 146 anzuwenden. Also alle Deutschen in einem Verfassungsreferendum aufzurufen, über die Verfassung zu entscheiden. Der Historiker Heinrich August Winkler meint: O-Ton Heinrich August Winkler: "Ich hätte es für richtig gehalten, wenn das revidierte Grundgesetz zeitgleich mit der zweiten gesamtdeutschen Bundestagswahl, die im Oktober 1994 stattfand, zur Abstimmung gestellt worden wäre. Dann hätte man eine zusätzliche direkte Legitimation dieser Verfassung durch das deutsche Volk gehabt. Und das Argument würde heute keine Rolle mehr spielen, dass da eine Chance versäumt worden ist. Also das wäre möglich gewesen. Stattdessen hat man es eben bei einer Verfassungsänderung über die Verfassungsorgane Bundestag und Bundesrat belassen." Sprecherin: 1994 ist die Debatte um eine neue gesamtdeutsche Verfassung praktisch am En- de. Geführt wurde sie mehrheitlich von Intellektuellen. In den Folgejahren wird häufig von einer verpassten Chance gesprochen. Eine neue Verfassung, so ein Vorwurf, hätte den Ostdeutschen die Integration in die Bundesrepublik erleich- tert. Dabei erklären 2009 in einer repräsentativen Umfrage zwei Drittel der Ostdeutschen, sie seien "stolz auf das Grundgesetz". Der ostdeutsche Theologe Richard Schröder sieht andere Ursachen für die Transformationsprobleme: O-Ton Richard Schröder: "Dass die Leute sagen, sie fühlen sich immer noch fremd, das liegt nicht am Grundgesetz, sondern diese Schnelligkeit hat die Leute überfordert. Ich hab immer frech gesagt, jede Revolution überfordert die Menschen. Man kann nicht alles ändern wollen, aber nichts davon spüren wollen. Und die großen Änderun- gen waren nicht die, ob die Verfassung im Artikel so und so lautet, sondern die großen Änderungen waren die beiden Systemwechsel, Diktatur - Demokratie, Planwirtschaft - Marktwirtschaft. Und das ist auch das, was die Leute getroffen hat. Sie fühlen sich fremd, weil ihre Welt untergegangen ist, in der sie gelebt haben." Regie: Musik: Stück die Vereinigung/The Unification- Stück, in dem beide Hymnen verwendet werden 1