COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Forschung und Gesellschaft 09.08.2007 Homo ?ynicus Der neue russische Zynismus und die Intellektuellen Von Julia Solovieva Deutschlandradio Kultur 2007 Igor Wolgin (russ.) Alle dachten, dass mit dem Ende des totalitären Systems, des gottlosen Staates, die menschlichen, moralischen Werte an erster Stelle kämen. Man dachte, das moralische Niveau der Gesellschaft werde sich heben. Dafür hatte die Dissidentenbewegung eigentlich gekämpft. Alle ökonomischen Veränderungen sollten auch moralische Veränderungen hervorbringen. Damit es im Leben keine Lüge mehr gebe. „Nicht nach der Lüge leben“, um an Solschenizyns berühmte Worte zu erinnern. Und was haben wir bekommen? Wir wollten uns an die Weltzivilisation anschließen, aber wir haben uns an die Weltkanalisation angeschlossen. MUSIKAKZENT Olga Sedakowa (russ.) Das alte System wurde als System falscher Ideale dargestellt und nicht als das, was es tatsächlich war: Ein System der Grausamkeit, der Unmenschlichkeit und Schamlosigkeit. MUSIKAKZENT Boris Judin (russ.) Es war die Zeit der Perestrojka. Der Druck totalitären Denkens begann langsam nachzulassen. Es war die Zeit der Hoffnung, der Illusionen und der Zuversicht. MUSIKAKZENT ERZÄHLERIN Siebzehn Jahre sind seitdem vergangen, das sowjetische Imperium zerbrach, nach Gorbatschow kam Jelzin, nach Jelzin kam Putin. In den engen Räumen der Zeitschrift „Tschelowjek“ - „Der Mensch“ in der Moskauer Innenstadt ersetzen Computer die Schreibmaschinen, es wird weniger geraucht, die Redakteure sind älter geworden. 1990 wurde die populärwissenschaftliche Zeitschrift gegründet. Ein Magazin um das komplexe Thema Mensch, von der philosophischen bis zur politischen, von der religiösen bis zur biologischen Ebene. Hier beginne ich meine Suche nach dem „heutigen Menschen“. Ich will wissen, was aus dem berühmt- berüchtigten Homo soveticus geworden ist. Und wie es um den Homo post soveticus steht. Der Philosoph Boris Judin ist Universitätsprofessor und Chefredakteur der Zeitschrift „Der Mensch“: Boris Judin (russ.) Es wurde damals viel davon gesprochen, dass der Mensch eine Schraube sei. Unsere Grundidee war: Der Mensch ist ein Wert und Ziel an sich, wie Kant sagt. ERZÄHLERIN Also musste man den Menschen aufklären, ihn mit Freiheiten und Rechten bewaffnen, und dann sollte er sich schnell ändern, er sollte aufblühen und ein neues Leben beginnen. 1993 wird in Artikel 2 der Verfassung der Russischen Föderation festgelegt: SPRECHER „Der Mensch, seine Rechte und Freiheiten sind der höchste Wert. Der Staat ist verpflichtet, die Rechte und Freiheiten des Menschen und Bürgers anzuerkennen, zu erfüllen und zu schützen.“ Boris Judin (russ.) Das war die Zeit der Befreiung des Menschen. ERZÄHLERIN Und wurde der Mensch tatsächlich befreit? Nein, meint Boris Judin, neue Idole hatten die alten abgelöst. Boris Judin (russ.) Die alten sahen ziemlich anständig aus im Vergleich zu den neuen; die neuen sind viel zynischer. An erster Stelle steht das Geld! Mein wissenschaftliches Interesse gehört der Bioethik, dem Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde vor dem Hintergrund moderner biomedizinischer Technologien und der praktischen Medizin. Ich bin Russlands Vertreter in den entsprechenden Gremien im Europäischen Rat und kämpfe schon seit zehn Jahren dafür, dass Russland die Konvention über Bioethik unterzeichnet und ratifiziert. Mit Null-Erfolg! Wenn ich mich mit einem verantwortlichen Beamten treffe, merke ich, er hat kein Organ zur Wahrnehmung eines solchen Gedankens; in seinem Blick lese ich nur: „Was bekommst du dafür?“ oder „Was werde ich dafür bekommen?“ Wenn es nicht um Geld geht, zeigen russische Beamte keinerlei Interesse. MUSIKAKZENT SPRECHER Kapitel 1: Von der Befreiung, persönlichen Enttäuschungen und dem Cargo-Kult. ERZÄHLERIN Die Marktwirtschaft, von der in Russland selbst die Ökonomen nur wenig Ahnung hatten, sollte die Bedingungen für die Befreiung des Menschen schaffen und den Weg zu seiner freien Entfaltung bereiten. Leonid Reznitschenko (russ.) Es gibt so einen, von den Ethnografen entdeckten, sogenannten „Cargo-Kult“. ERZÄHLERIN Der Menschenrechtler Leonid Reznitschenko ist Redakteur bei der Zeitschrift „Der Mensch“. Leonid Reznitschenko (russ.) Dieser Kult wurde auf einer Insel Ozeaniens während des zweiten Weltkriegs geboren, als die Amerikaner mit ihren Flugzeugen dort landeten, Flughäfen bauten und an die Einheimischen Konservendosen und irgendwelche anderen Sachen verteilten. Als die Amerikaner ihre Flughäfen wieder abgebaut hatten, begannen die Eingeborenen Flughäfen und Flugzeuge aus Holz und Stroh nachzubauen und erwarteten, dass da nun Konserven und so weiter herauskämen. Dieses Phänomen wurde „Cargo-Kult“ genannt. In einem bestimmten Sinne erinnern die Prozesse in Russland Ende der 80er und 90er Jahre an diesen Cargo-Kult. Also, man dachte, die Übernahme äußerer Merkmale verhilft dazu, ihren Sinn zu begreifen. Aber es ist viel komplexer. Aus der Übernahme einiger Formen westlichen Lebens, dem Triumph des privaten Lebens und der Aufhebung einiger Begrenzungen wuchs die Hoffnung unserer „Eingeborenen“ auf Konservendosen aus strohgeflochtenen Flugzeugen. ERZÄHLERIN Das westliche Wertesystem wurde aus Zeitschriftenbildern nachgebaut, und zugleich begann man mit der Erstürmung des alten, sowjetischen Wertesystems. Die Philologin und Dichterin Olga Sedakowa meint dazu: Olga Sedakowa (russ.) Dabei wurde nicht das entthront, was notwendig gewesen wäre. Das alte System wurde als System falscher Ideale dargestellt und nicht als das, was es tatsächlich war: Ein System der Grausamkeit, der Unmenschlichkeit und Schamlosigkeit. Darüber wurde nicht gesprochen, man hat nur gegen die propagierten Werte gekämpft. Unsere ‚Intelligenzija’ begann den Idealismus zu bekämpfen, als ob der Kommunismus vom Idealismus geprägt gewesen sei. Anderseits sind tatsächlich viele Begriffe von der sowjetischen Propaganda missbraucht worden. Man kann das mit dem vergleichen, was in Deutschland geschehen ist, da wurden die wichtigsten Begriffe wie Arbeit, Brüderlichkeit usw. auch missbraucht. Leonid Reznitschenko (russ.) Heute verstehen wir langsam, dass es zum größten Teil immer die gleichen traditionellen Werte sind, nach denen die Menschheit schon zweitausend Jahre lang lebt. Nur dass diese Werte der Bevölkerung von den sowjetischen Medien aufgezwungen wurden, machte sie platt und geschmacklos. Die Werte wurden kompromittiert, das reichte von der Achtung vor älteren Menschen bis zur Liebe zum Buch. Und so ist Russland heute eine Art wertfreies Vakuum. ERZÄHLERIN Dazu kommen die persönlichen Enttäuschungen zweier Generationen. „Früher war ich bereit, mich sofort einer Protestaktion anzuschließen“, sagt Leonid Reznitschenko, der außerdem noch als Redakteur bei einem Bulletin für Menschenrechte tätig ist. „Heute würde ich nie mehr auf die Straße gehen“, ergänzt er. Leonid Reznitschenko (russ.) Im Jahr 1991, während des Putsches, wurden bestimmte Persönlichkeiten zu unseren, wie man in der englischsprachigen Welt sagt, Champions, das heißt, sie drückten unsere Hoffnungen, unsere Zuversicht und unsere Ideen aus. Zwei Jahre später stand ich selbst auf den Barrikaden und war bereit zu morden und zu sterben im Kampf gegen einige dieser Champions. Und wieder zwei Jahren später stand ich in Opposition zu jenen, deren Ruf ich zuvor auf die Barrikaden gefolgt war. Schon 1995 war ich ein politischer Gegner Jelzins, weil die Politik sich geändert hatte. Die demokratischen und liberalen Werte, deren Träger in meinem Bewusstsein Jelzin war, wurden von ihm verraten, wie ich damals dachte. ERZÄHLERIN Die moralischen Autoritäten, die Vorbilder aus Politik und Kultur, die in die neue Zeit geführt hatten, schienen zu versagen. Die russische Intelligenzija verlor nun vollends die Orientierung. Leonid Reznitschenko (russ.) Ich sah die Folgen einiger gerechter und sauberer Ideen, nachdem sie realisiert waren, und sie hatten sich weder als sauber, noch als gerecht entpuppt. Diese Erfahrung ist bleibend. Der ökonomische Liberalismus verwandelte sich in ökonomisches Verbrechertum und soziale Ungerechtigkeit, die Freiheit des Wortes wurde zur Degradierung der Kultur. MUSIKAKZENT SPRECHER Kapitel 2: „Ein Dieb ist mir lieber als ein Blutsauger.“ Der Blick zweier Literaten. Olga Sedakowa (russ.) Alle hatten gewusst, wie man mit der Macht umgehen muss, ich spreche von Menschen, die denken können. Aber sie wussten nicht, wie sie mit dem Geld, dem Handel und dem Markt umgehen sollten. ERZÄHLERIN Olga Sedakowa ist kein Medienstar. Ihre Gedichte wurden zur Sowjetzeit nur im „Samisdat“ veröffentlicht, das heißt, ihre Manuskripte wurden privat vervielfältigt und in Umlauf gebracht. Heute sind ihre Bücher nicht nur in der Russischen Föderation sondern auch in den intellektuellen Kreisen Westeuropas bekannt. Olga Sedakowa (russ.) Die Menschen begannen zu glauben, wenn du nicht viel Geld verdienen kannst, läuft etwas falsch. Dabei meine ich nicht die jungen Leute, sondern erwachsene Menschen, die früher absolut uneigennützig waren. Es ist eigenartig, wie sie heute darüber sprechen. Ich traf Menschen, die von ehemaligen Freunden erzählten, von denen sie nun zu hören bekamen: „Man wird aber dafür bezahlt!“ Also, das, wofür man Geld erhält, wird im Voraus gerechtfertigt! ERZÄHLERIN Der Tanz um das goldene Kalb hatte begonnen und mit ihm die Legitimierung und Romantisierung von Raub, Diebstahl und Betrug. Ein neuer Begriff gab dem Ganzen Namen, Wert und Sinn: „Glamour“. Während zum Beispiel die Bücher von Alexander Solschenizyn lediglich in einer Auflage von 3000 Stück auf den Markt kommen, sonnt sich die Glamour-Autorin Oksana Robski mit ihren Geschichten aus der Gesellschaft im Erfolg einer Gesamtauflage von über einer Million. Der Ratgeber von Oksana Robski und Xenia Sobtschak „Wie heiratet man einen Millionär“ dürfte zum Nationalbestseller werden. In intellektuellen Kreisen behilft man sich am moralisch-ethischen Stammtisch mit einem Zitat von Joseph Brodsky: „Ein Dieb ist mir lieber als ein Blutsauger“. Für Olga Sedakowa ist es nicht statthaft, zwischen zwei Qualitäten des Bösen zu wählen: Das Böse sei absolut, sagt sie, und bleibe, egal ob größer oder kleiner, ob Diebstahl oder Ausbeutung, immer das Böse. Olga Sedakowa (russ.) Diese Zeile von Brodsky ist ironisch gemeint, er wollte natürlich nicht sagen, der Dieb sei gut. Aber das ist zu einer Entschuldigung der alltäglichen unmoralischen Taten geworden: Im Vergleich zur Ideologie ist alles andere doch nicht so schlimm. ERZÄHLERIN In einer Gesellschaft, in der die Fähigkeit zu lügen und zu betrügen als Wettbewerbsvorteil und Teil des „Glamour-Lifestyles“ gilt, wird Olga Sedakowa zur Exotin. 2003 hatte die Dichterin den renommierten Solschenizyn-Preis erhalten, der für literarische oder wissenschaftliche Leistungen vergeben wird, unter einer Bedingung: Der Preisträgerin oder dem Preisträger muss der Ruf vorauseilen, eine integere, ehrliche Persönlichkeit zu sein. Olga Sedakowa (russ.) Wenn man über das eigene Gewissen nachdenkt, hat man ein Instrument, das einem zeigt, was gut und was schlecht ist. Ich kann nicht für alle Menschen sprechen, aber ich fühle, was ich machen darf und was nicht. ERZÄHLERIN Der Dostojewskij-Forscher Igor Wolgin ist überzeugt, dass für den heutigen Homo post soveticus ein Gewissen überflüssig ist: Igor Wolgin (russ.) Das Gewissen behindert nur deine Karriere und deine Selbstverwirklichung. Mach es wie Raskolnikow in „Schuld und Sühne“, „beweise, dass du nicht ein zitterndes Geschöpf bist, sondern dass du im Recht bist“. Du musst dein Gewissen einschläfern. Während bei Raskolnikow das Gewissen irgendwann wach wird, bringt der moderne Raskolnikow jemanden um, nimmt seine Millionen und geht ruhig weiter. Es gibt viele Raskolnikows heute, die zwar nicht physisch, aber moralisch morden und daraus ihr Startkapital gewinnen. ERZÄHLERIN Olga Sedakowa sieht die Gründe für den heutigen Zustand der Gesellschaft auch in der schlecht verarbeiteten Sowjet-Vergangenheit. SPRECHERIN „Die unterdrückte Vergangenheit führt zu Neurosen oder, wenn man an Platon erinnert, zu einer ‚zerrissenen Seele’. Die zerrissene Seele ist der heutige Zustand Russlands.“ MUSIKAKZENT SPRECHER Kapitel 3: Der Blick eines Glamourjournalisten ERZÄHLERIN Es war einmal ein Historiker, ein Spezialist für mittelalterliche Klöster, der lief zum Glamour-Journalismus über und brachte es bis zum Chefredakteur der russischen Ausgabe der Männerzeitschrift GQ. Sein Name ist Nikolai Uskow. Mit ihm, einem sympathischen, lässig elegant gekleideten Enddreißiger, analysiere ich die zerrissene russische Seele im Goldrausch des neuen Jahrtausends. Nikolai Uskow (russ.) Ich bin Historiker und Journalist von Beruf. Und als Historiker und Journalist beurteile ich nicht, ob etwas nun gut oder schlecht ist. Ich nehme die Dinge, wie sie sind. Natürlich sieht das merkwürdig aus, vor dem Hintergrund eines armen Landes. ERZÄHLERIN Als Intellektueller entwickelt Nikolai Uskow eine Theorie, die das schamlose Benehmen der russischen Elite rechtfertigt. Die Gewinner der postsowjetischen Ära dürften nun zum ersten Mal unbescheiden sein, die Verlierer müssten sich schämen, weil sie die Chance ihres Lebens endgültig verpasst haben. Nikolai Uskow (russ.) Man muss sich von dem Schuldgefühl gegenüber dem Volk befreien. Warum hat dieses Volk selbst keine Schuldgefühle? Dieses Volk will nicht studieren, nicht arbeiten, sondern lieber trinken. Natürlich sind die Bedingungen wichtig, aber viel ist von den Menschen selbst abhängig. Die heutige politische Elite kommt doch von unten. Die ihr angehören, haben es geschafft, zu Macht und zu Geld kommen, Karriere zu machen, die anderen nicht. Warum müssen die Erfolgreichen Schuldgefühle haben und sie nicht? Wir leben doch in einer Zeit vieler Möglichkeiten. Deshalb möchte ich die Elite nicht nur kritisieren. Sie hat verdient, was sie besitzt, sie hat geschuftet und hat es geschafft. Klar, nicht ganz ohne kriminelle Energie. ERZÄHLERIN Nikolai Uskow erinnert auch an die Vorlieben früherer russischer Eliten und führt den Fürsten Potjomkin an, der ein Favorit Katharinas der Großen war und sich für den Preis seiner Mantelknöpfe auch vierzigtausend Leibeigene hätte kaufen können. Putins Armbanduhren seien da schon günstiger zu bekommen gewesen, meint Uskow und präsentiert dazu gleich seine nächste Theorie: Glamour lasse sich als neue nationale Idee Russlands verkaufen! Kein Scherz. Nikolai Uskow war Mitorganisator der Veranstaltung „Glamour als nationale Idee Russlands“ auf dem „Russischen ökonomischen Forum“ 2006 in London. Nikolai Uskow (russ.) Seit 2003 wird am Modell des sogenannten Staatskapitalismus gebaut, alle strategischen Bereiche der Wirtschaft unterstehen der Präsidialverwaltung. Die Mitglieder sind entweder Chefs von Unternehmen oder gehören zu deren Aufsichtsrat. Der Präsident wird zum Chief Executive of the Corporation Russia, also zum Chef des Unternehmens Russland. Aber dahinter steckt keine Ideologie. Das Konsumieren, das Leben nach der eigenen Façon, die Demonstration des eigenen Erfolges, die Idee, dass „ich im Leben erfolgreich bin“, das alles ist sehr wichtig für Inhaber der Macht, für die Elite. Ihr Reichtum zeigt: Wir sind erfolgreich, wir haben einen wichtigen Platz in diesem Unternehmen gefunden. ERZÄHLERIN Putin und seine Elite kleiden sich im Gegensatz zu ihren Vorbildern aus der Zeit Katharinas der Großen relativ bescheiden; der Preis für ein Menschenleben gilt ihnen dennoch nichts. „Der Mensch an sich ist für sie Staub unterm Stiefel“, hatte die im Oktober 2006 ermordete Journalistin Anna Politkowskaja einmal gesagt. Sie leiten tödliches Gas in das Moskauer Musical-Theater und lassen in Beslan die tausend im Schulgebäude gefangenen Geiseln mit Flammenwerfern beschießen. Sie lügen schamlos. Sie streichen die kostenfreie Medikamentenabgabe an mittellose Rentner und verhöhnen sie wie Gesundheitsminister Surabow, als er sagte: „Der Preis meiner Socken ist höher als ihre Rente.“ Sie investieren Millionen US Dollar in die Werbung für die Stadt Sotschi als Standort der Olympischen Winterspiele 2014. Wie der Sender „Echo Moskau“ berichtet, könnten mit diesem Geld alle an Leukämie erkrankten Kinder der Russischen Föderation gerettet werden. Der Antrag zur Rettung der Kinder wurde von der Regierung abgelehnt. Das mag Betroffene zu Protesten herausfordern, aber allen anderen ist es egal. Sie haben ihre eigenen Sorgen. Mitgefühl und Solidarität haben eben abgewirtschaftet. MUSIKAKZENT SPRECHER Kapitel 4: Der Homo cynicus. Blick eines Soziologen. ERZÄHLERIN Gelten die Verhaltensmuster der Machtelite als Vorbild? Gerade wird von der UNESCO die Summe der Bestechungsgelder bekannt gegeben, die russische Abiturienten alljährlich bezahlen, um an die Hochschulen zu kommen: Es sind etwa 520 Millionen US Dollar, die in die Taschen von Hochschulmitarbeitern wandern. Lew Gudkow (russ.) Die Machtelite unterscheidet sich vom Niveau der Masse nicht, sie artikuliert deren Vorstellungen, und die Masse erkennt die Reaktionen der Machtelite als ihre eigenen. ERZÄHLERIN Lew Gudkow leitet das renommierte Meinungsforschungsinstitut Lewada, das sich als unabhängig und nichtkommerziell bezeichnet, sich selbst trägt und als sehr seriös gilt. Lew Gudkow (russ.) Ich möchte nicht zum hundertsten Mal an Putins Versprechen erinnern, die Terroristen „im Klo zu ersäufen“. Dieser KGB- und Kriminellen-Jargon wurde sofort als Code begriffen. Die Menschen erkannten ihren Führer. Sie spürten, dass die Machthaber aus ihren eigenen Kreisen stammen, nicht höher, nicht niedriger sind als sie selbst, dass sie zu ihnen gehören. Und darum werden sie nicht geachtet. Die Menschen verstehen, das sind keine Politiker, es sind Günstlinge. ERZÄHLERIN Seit achtzehn Jahren betreibt das Lewada Meinungsforschungsinstitut eine Untersuchung zum Thema „Der sowjetische Mensch“. Professor Lew Gudkow bewertet die Ergebnisse. Er sagt, der „postsowjetische Mensch“ gleiche dem „sowjetischen Menschen“, dem Homo soveticus. Der an der Hierarchie orientierte, pessimistische Mensch, der „zwiedenkende“ Mensch, Doublethink - wie bei Orwell - existiere immer noch. Der Homo post soveticus unterscheidet sich demnach kaum von seinem Vorgänger und dient brav dem immer gleichen Ziel, der Konservierung bestehender Verhältnisse. Lew Gudkow (russ.) Es ist ein zynischer Mensch. Für mich kam das sehr unerwartet, und ich begann, mich näher damit zu beschäftigen. Zynismus ist immer eine Reaktion auf einen vorhergehenden Enthusiasmus, auf die frühere Begeisterung für hohe Ideale. Im Großen und Ganzen ist der russische Zynismus die Reaktion auf den Verlust der Ideologie. ERZÄHLERIN Eines der Hauptmerkmale des Zynikers sei das Misstrauen gegenüber allem und jedem, auch gegenüber dem Westen, sagt Gudkow: Lew Gudkow (russ.) Die Vorstellung von einem „normalen“ Leben kommt vom Westen, aber gegenüber dem Westen sind zugleich ein permanentes Misstrauen und ein ständiger Verdacht zu beobachten: „Die westlichen Länder“, heißt es, wollen Russland kolonisieren, auf die Knie zwingen, beleidigen usw. Der Opferkomplex und das Gefühl, beleidigt zu werden, sind keine Antwort auf reale Vorgänge sondern dienen der eigenen Identifikation. Die Vorstellung von der Welt, die schlecht zu uns ist, wird immer stärker, dabei gibt es in der Geschichte Russlands keine positivere Periode und keine wohlwollendere Einstellung unserem Land gegenüber. Nach unseren Untersuchungen glauben heute 77 Prozent der Bevölkerung, dass Russland Feinde habe, 1989 waren es nur 13 Prozent. ERZÄHLERIN Aber nicht nur gegenüber dem Westen hat der Homo post soveticus seine Bedenken. Nach jüngsten Umfragen des Lewada Instituts ist unter den ehemaligen Sowjetrepubliken das kleine Estland der Hauptfeind. 60 Prozent der Russen sehen Estland als Feind Russlands an, 46 Prozent der Russen meinen, dass Georgien zu den Feinden Russlands zählt, 23 Prozent rechnen die Ukraine dazu. Und innerhalb Russlands sind Gastarbeiter und ausländische Studenten, Migranten und Männer mit dunklem Haar und Bart auf einmal Feinde. „Russland wird zu einem der fremdenfeindlichsten Länder“, sagt der Soziologe Lew Gudkow. Das Misstrauen werde zur entscheidenden Qualität der Gesellschaft. Besonders deutlich sei das am Beispiel des Tschetschenien-Krieges zu erkennen. Lew Gudkow (russ.) Wenn wir fragen, warum der Tschetschenien-Krieg kein Ende nimmt, bekommen wir zur Antwort: „Weil die Armeeführer korrupt und käuflich sind.“ Wenn wir weiter fragen: „Was bewegt die tschetschenischen Separatisten?“ erfahren wir, dass der Willen der Tschetschenen oder ihr Streben nach Unabhängigkeit nicht akzeptiert wird, sogar das Gefühl der Rache wird nicht akzeptiert. Die Menschen schreiben selbst noch den Selbstmordattentätern Geldgier, Eigennützigkeit usw. zu. Wenn wir nur dieses eine Beispiel betrachten: Kann Geldgier bei jenen eine Rolle spielen, die in den Tod gehen? Aber die Menschen schreiben ihnen diese Motive zu, obwohl sie absurd sind. Das heißt, oben drauf liegt – wie ein Deckel – eine nihilistische zynische Vorstellung. Niemandem wird geglaubt. Man kann jeden kaufen: Politiker, Richter, Beamte. ERZÄHLERIN Und so lebt der Staatsbürger der Russischen Föderation in chronischer Unzufriedenheit mit permanenter unterschwelliger Aggression. Lew Gudkow (russ.) Dieser Mensch ist überhaupt nicht solidarisch. Deshalb entwickelt sich hier die Zivilgesellschaft sehr schwer, genauer gesagt, sie befindet sich im Embryonal-Zustand. MUSIKAKZENT SPRECHER Kapitel 6. Der Homo cynicus auf dem „Marsch der Unzufriedenen“. Blick eines politischen Journalisten. ERZÄHLERIN Es sei sehr schwer, in Russland Menschen für eine Protestaktion zu gewinnen, meint der Journalist Valerij Panjuschkin. Sie verstehen alles, aber… Valerij Panjuschkin (russ.) Vor allem verstehen sie, dass Öl über sechzig Euro pro Barrel kostet. Sie wissen, wenn die Preise so hoch sind, können sie leben, wie sie jetzt leben, und dann „nach uns die Sinnflut“. ERZÄHLERIN Valerij Panjuschkin, eine der „Edelfedern“ Russlands, habe ich im Dezember 2006 kennengelernt. Damals, kurz nach dem Tod von Anna Politkowskaja, hatte der ehemalige politische Kolumnist der führenden Wirtschaftszeitung Kommersant und Autor des ersten Buches über den Öl-Magnaten Michail Chodorkowskij gerade zur Glamour-Zeitschrift GALA gewechselt. Zuvor war der Verlag Kommersant vom Staatskonzern Gasprom übernommen worden. Valerij Panjuschkin (russ.) Ich glaube, die Menschen in Russland haben merkwürdige Vorstellungen vom Leben. Einige der Grundwerte wie Freiheit, Glück, Wohlbefinden und so weiter existieren hier nicht oder nur verzerrt. ERZÄHLERIN Er wollte nicht mehr mit den „zynischen Lesern des Kommersant“ zu tun haben, wie er sagt, sondern mit den „weniger zynischen Lesern von GALA“, er wollte sie sogar umerziehen, namentlich die Leserinnen, oder ihnen zumindest einiges beibringen. Valerij Panjuschkin (russ.) Ich denke, wenn die Menschen mal über Freiheit, Glück und Schönheit nachdächten, würden sie nicht mehr Putin wählen. ERZÄHLERIN Sein pädagogisches Projekt, die GALA Leserinnen zum Besseren erziehen zu wollen, gab er allerdings schnell auf. Schon nach zwei Monaten wechselte Panjuschkin wieder zu einer politischen Zeitung, diesmal war es Wedomosti, ein oft zitiertes Wirtschaftsblatt. Seither schreibt er auch wieder politische Kolumnen, zum Beispiel über die „Märsche der Unzufriedenen“ in einigen Städten der Russischen Föderation, die mal mehr, mal weniger Anhänger finden und zum Symbol des demokratischen Protests wurden - im Fernsehen. SPRECHER „Sie sind mit Vielem schon lange nicht mehr einverstanden, aber Sie gehen nie auf die Straße. Sie trösten sich mit dem Gedanken, dass die Arbeit, die Sie täglich tun, viel mehr dem Gemeinwohl und der Demokratie dient als alle möglichen ‚Märsche’. Ich weiß das, ich habe mich auch mit diesem Gedanken getröstet. Sie glauben, es sei viel besser, den Kindern eine gute Bildung zu geben und zu warten, bis die gut ausgebildeten Kinder das Leben im Land gerecht einrichten. Das ist besser, als selbst auf die Straße zu gehen und Gerechtigkeit zu verlangen.“ ERZÄHLERIN Valerij Panjuschkin versucht in seinen Kolumnen nun nicht mehr, dem „zynischen Leser“ ins Gewissen zu reden, obwohl oder vielleicht gerade weil er ein Idealist geblieben ist. SPRECHER „Sie denken bestimmt, Sie werden lächerlich auf dem Marsch aussehen - in Ihrer schönen Kostümjacke und Ihren modischen Schuhen… Sie denken bestimmt, Kasparow ist doch kein dummer Mensch, sonst wäre er nicht Schachweltmeister geworden. Sie würden bestimmt bei Gelegenheit eine Partie mit ihm spielen wollen. Aber Kasparow als Politiker – das ist doch lächerlich. Es wäre doch besser, er spielte weiter Schach. Sie haben Angst, sich lächerlich zu machen. Und noch etwas: Sie haben Angst, zu den Extremisten gezählt zu werden. Die Menschen, die aus Panzern eine Schule beschossen, haben Ihnen erklärt: Wenn Sie mit Transparenten auf die Straße gehen, ist das Extremismus, und Sie haben Angst, ein Extremist zu sein. Denn Sie sind ein friedliebender Mensch… Und außerdem haben Sie Angst, zum Spielzeug in den Händen Unbekannter zu werden… Die ‚orangefarbene Pest’, die politischen Technologien…” ERZÄHLERIN Sicher ist, der kollektive Zynismus wird nicht ewig leben. Aber der Kampf gegen ihn hat gerade erst begonnen. Valerij Panjuschkin schreibt: SPRECHER „Irgendwann kommt der Tag, an dem auch Sie zum ‚Marsch der Unzufriedenen’ gehen. Aber nicht morgen. Morgen bleiben Sie zu Hause.” 1