COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandrundfahrt 1. März 2008 "'...Es ist ein seltsames Land...' Worpswede und das Teufelsmoor" Autorin: Susanne von Schenck O-Ton Jingle Kennmusik O- Trailer 0.16 OT Also wir Worpsweder empfinden Worpswede gar nicht museal. Für uns gibt es eine Gegenwart und die ist bestimmt durch hier auch immer wieder anreisende Künstler. Also das lebt hier alles noch, und es wird immer wieder neue Künstlerdorfgeschichte gebildet, sozusagen. O-Ton Kennmusik O-T Trailer 0.19 Worpswede und das Teufelsmoor oder anders rum. Die große Weite, keine Bäume, große Wiesenlandschaften, wenn man denn das Spiel der Weite mit dem Himmel, den Wolken und dergleichen war und ist auch heute noch faszinierend. O-Ton Kennmusik OT Trailer 0.16 Hier ist das Kinderdorf und ich vermisse auch meine Eltern - Jannis, die vermisst aber auch jeder hier so. Aber ich vermiss meine auch, aber wir können sie ja regelmäßig besuchen, aber wir können nicht mehr zu ihnen. Nur wenn wir erwachsen sind, 15, 16. O-Ton Kennmusik OT Trailer 0.16 Also im neuen Jahr ist es immer so, dass der Vollmond im Teufelsmoor morgens untergeht. Also man hat hier wirklich doch Naturschauspiele, die das übersteigen, was man sonst so erlebt hat. über O-Ton Jingle Kennmusik Sprecher vom Dienst "'...Es ist ein seltsames Land...' Worpswede und das Teufelsmoor" Eine Deutschlandrundfahrt mit Susanne von Schenck Stadtflucht OT 09 K. Diek. Strunk 0.15 Also ich mach die Strunken hier ab, reiß das so ab, dann wird das abgewaschen, macht man das klein und dann kocht man das nachher. Autorin Katharina Diekmann zerpflückt gewissenhaft einen malerischen Grünkohl. Den soll es zum Mittagessen geben, zusammen mit Pinkel, wie die Leute in der Bremer Region die seltsamen, dicken Würste nennen. Ihr Mann Rolf freut sich schon. OT 15 Rolf Diek. Pinkel 0.22 Der Pinkel wird eben zusammengesetzt aus dem Fleisch und Speck und Zwiebeln und was alles dazugehört und der kommt normalerweise in den Mastdarm des Rindes. Dieser Mastdarm wird als Pinkel bezeichnet. Daher kommt der Name wahrscheinlich. Sehr appetitlich klingt das nicht, aber das ist speziell hier oben für Bremen. Andere finde es genierlich, aber hier ist das so. Autorin Wenn beim Kochen etwas fehlt, müssen die Diekmanns nur die Treppe nach unten gehen. Denn im Erdgeschoß des bald 200 Jahre alten Hauses betreiben sie einen Biofeinkostladen. Das gepflegte Geschäft in der Finndorfstraße, mitten in Worpswede, ist eine wohltuende Alternative zu all den Supermarktketten, die die Straße gleich hinterm Ortseingangsschild säumen. OT 10 K. Diek. 5. Gen. 0.08 Mein Urgroßvater hat das Geschäft hier gegründet und wir machen das Geschäft jetzt in der 5. Generation, mal gucken, was davon wird. Autorin "Stolte" steht noch in großen Buchstaben über dem Eingang des Ladens. Ohne Kaufmann Stolte, Katharina Diekmanns Vorfahren, wäre das kleine Worpswede vermutlich nicht zu dem geworden, was es heute ist. Brigitte Garde von der Worpsweder Touristeninformation erzählt gerne, wie damals alles anfing. OT 03 Garde, Stolte 0.42 Der Kaufmann Stolte hat seine Tochter Mimi 1884 nach Düsseldorf geschickt. Sie sollte dort das Haushalten lernen bei ihrer Tante, so als Vorbereitung auf die Ehe. Und im Haus der Tante lernte sie den Kunststudenten Fritz Mackensen kennen, der dort einen Freitisch hatte, eine Art Mensaersatz, und die beiden jungen Leute freundeten sich an. Mimi Stolte schwärmte ihm von ihrem Heimatdorf Worpswede vor und verband das mit einer Einladung für die Ferien, die Fritz Mackensen gerne und dankbar annahm. Er kam gleich im selben Jahr noch, im September 1884, damals über Bremen und dann mit der Kutsche über das Land nach Worpswede und war schon auf der Herfahrt völlig gefangen von dem Licht und von den Farben. Autorin Und blieb. Und holte bald seine Freunde von der Düsseldorfer Kunstakademie nach: Fritz Overbeck, Heinrich Vogeler. Weg von den Akademien, hin zur Natur - das war ein Trend, der sich im ausgehenden 19. Jahrhundert durch halb Europa zog: im französischen Barbizon oder Pont Aven, in Ascona in der Schweiz, in Murnau, in Hiddensee oder eben in Worpswede. Überall ließen sich Künstler nieder. Musik 1: Piano Sonate in B-dur - Molto moderato K: Franz Schubert, I: Malcolm Bilson Hungaroton, Bestell-Nr. HCD 41006, ohne LC-Angabe Zitatorin "Schön in der Stille, da versuchte ich alles Eitle, was die Großstadt mit sich brachte, abzustreifen." Autorin schrieb Paula Modersohn Becker, Worpswedes berühmteste Künstlerin. Das besondere Licht, Flora und Fauna, ungewöhnliche Landschaftsformationen und nicht zuletzt romantische Sehnsüchte nach einem einfachen, unverdorbenen Leben waren die Motive für die Stadtflucht der Künstler. Nicht nur damals. OT 02 Markus 0.22 Poesie Die Licht und Naturschauspiele, wegen derer die Künstler vor hundert Jahren hergekommen sind, von denen profitieren wir auch heute noch. Die sind natürlich hochinspirativ für jeden Maler von den Farben her, und unglaublich poetisch. Worpswede hat eine Poesie, die man sonst so kaum kennt. Autorin Marcus Landt, Anfang vierzig, zog vor acht Jahren mit seiner Frau Ina aus dem italienischen Pennabilli ins norddeutsche Flachland . Beide gehören zu den wenigen jüngeren Künstlern in Worpswede. Atmo 1 Wohnung Autorin Landts wohnen gegenüber des Biofeinkostladens Stolte. Im Wohnzimmer toben ihre drei Jungen, in der großen Wohnküche hat Ina Landt ein Blech mit Quarkkuchen auf den Tisch gestellt. An den Wänden hängen ihre Radierungen: "Hasen" oder "Gräser im Wind". Für ihre großformatigen Farbkompositionen ist die Wohnung allerdings zu klein. OT 04 Ina spät rauskommen 0.29 Also, das Wunderbare an uns ist, das unsere großformatige Malerei noch relativ unentdeckt ist. Das genießen wir selber auch sehr, weil dieser Trubel in der Kunstszene - das ist nicht so ganz unser Ding. Unser großes Vorbild ist das der Buena Vista Social Club. Die Leute haben ihr Leben toll gelebt und haben musiziert und haben einfach ein schönes, schlichtes Leben geführt und hatten ihren Auftritt dann noch mal so mit sechzig, siebzig, da sind sie rausgekommen. Und so ungefähr planen wir das auch. Autorin Ina Landt ist groß und schlank, hat langes lockiges Haar und einen klaren Blick mit leichtem Schalk . Ihre Auffassungen heben sich vom herrschenden Zeitgeist in der Kunstszene ab. Mit ihrem Mann Markus denkt sie immer wieder über den erweiterten Kunstbegriff im Sinne von Joseph Beuys nach - eine Verschränkung von Kunst und Leben. OT 06 Ina halbherzig 0.29 Die Halbherzigkeit ist das größte Problem der Menschen, also es fängt am Arbeitsplatz an. Geht man aus vollem Herzen zur Arbeit oder nicht, die Frage kann sich jeder mal stellen. Der Künstler hat es da ziemlich einfach, der geht aus vollem Herzen zur Arbeit, und deshalb ist er auch ein schönes Vorbild, was diesen Arbeitsbereich betrifft. Weil, wir interessieren uns für den erweiterten Kunstbegriff, für die Kunst, die sich nicht nur am Bild an der Wand orientiert, sondern die in die Gesellschaft hineingeht und die Gesellschaft verändert. Musik 2: Open House K.+T.+I.: Lou Reed und John Cale Metal Machine Music/John Cale Music, LC 03228 Sire, Bestell-Nr. 926140-2 Keimzelle OT 01 Arnold 0.12: Haus ist Keimzelle des Ortes Das Haus ist insofern auch ein ganz wichtiger Ort für Worpswede, weil es die Keimzelle des Ortes ist, die künstlerische und wie ich immer so sage, das ehemalige geistige und künstlerische Zentrum. Autorin Und das leitet Beate Arnold seit gut drei Jahren. Der Barkenhoff, das ehemalige Wohnhaus von Heinrich Vogeler, bietet heute als Museum eine Zeitreise durch fünf Jahrzehnte künstlerischen Schaffens dieses vielseitigen Menschen. 1895 hatte Heinrich Vogeler das einfache Bauernhaus am Rande des damals verschlafenen Moordorfes gekauft und im Lauf der Jahre zu einem Gesamtkunstwerk im Geist des Jugendstils umgebaut. OT 03 Arnold gestylt 0.27 Er hat alles durchgestylt, vom Türbeschlag bis zur Tapete, und das ist eben auch ein ganz deutliches Zeichen für einen reinen Jugendstilkünstler, alle Lebensbereiche zu gestalten. Und er hat wahrscheinlich den Bleistift und seinen Pinsel nie aus der Hand gelegt. Autorin In Vogelers Barkenhoff kamen sie alle damals zusammen, wie sich Martha Vogeler, die Frau des Künstlers, in einer Rundfunkaufnahme aus den 50er Jahren erinnert. OT 11 Martha Vogeler 0.23 (reißt ab, es liegt Musik drunter) Es war im Jahr 1900. Da war Rainer Maria Rilke bei uns oder er kam zu uns im Winter. Und es war sofort ein sehr großer Eindruck, den ich von ihm hatte. Wir haben dann sehr schöne Abende gehabt. Zitator "Eigentlich ist das ein Märchen." Musik 3: Piano Sonate in C-dur D.840 - Moderato K: Franz Schubert, I: Malcolm Bilson Hungaroton, Bestell-Nr, HCD 41006, ohne LC-Angabe Autorin Schrieb der berühmte Rilke über den Barkenhoff, in dem er sich gerne einquartierte und Hof hielt. Zitator "Ich sitze in einem ganz weißen, in Gärten verlorenen Giebelhaus unter schönen und würdigen Dingen, in Stuben, die voll von der Stimmung eines Schaffenden sind." Autorin Im Barkenhoff begegnete er auch der Bildhauerin Clara Westhoff, die er später heiratete. "Da kommt Clara mit ihrem Rilkchen unterm Arm", spottete Otto Modersohn manchmal, wenn er die beiden sah. Musik 3 kurz hoch Autorin Das harmonische Zusammensein der Künstler währte nicht ewig. In der "Großen Kunstschau", einem der zahlreichen Worpsweder Museen, gibt ein Gemälde Heinrich Vogelers die Stimmung der sogenannten "Künstlerfamilie" wieder: "Sommergarten" heißt es. Musik 3 kurz hoch Ein bißchen Landidyll, ein wenig Arkadien - Rosen und Hortensien blühen, der Buchsbaum wächst im Topf. Acht Personen sind auf dem großformatigen Bild zu sehen: im Zentrum steht die schöne schlanke Martha Vogeler in einem fließenden Gewand und blickt sinnend in eine unbestimmte Ferne. Otto Modersohn im Hintergrund schaut finster, Clara Westhoff am Tisch sieht verbittert aus, Paula Modersohn-Becker ist in sich gekehrt. Die anderen musizieren. 14 Ham Sommerabend 0.24 Die Individuen sind einzeln dargestellt und sehr isoliert. Und es gibt schon Äußerungen dazu, dass es eigentlich der Abgesang der Künstlerkolonie Worpswede ist. Zu der Zeit gab es schon Auflösungserscheinungen 1902, einige waren schon nicht mehr dabei, einige haben sich auch miteinander nicht so gut verstanden. Das nimmt er eigentlich vorweg schon in diesem Bild. Autorin Sagt Karen Hammer von der "Großen Kunstschau" über Heinrich Vogelers "Sommergarten". Das Bild entstand zwischen 1902 und 1905. Der Maler selbst hat es nicht gemocht und wollte es vernichten. Die Künstler trennten sich wieder, und auch Martha Vogeler, Heinrichs Frau, verließ ihren Mann und zog 1920 mit ihren drei Töchtern in das Haus im Schluh - eine idyllische Hofanlage mit drei reetgedeckten Häusern: Museum, Handweberei und Gästepension. Atmo 2 Frühstück im Haus im Schluh Autorin Auch heute noch kann man im Haus im Schluh wohnen, zwischen Möbeln und Gemälden von Heinrich Vogeler. An dem großen Esstisch des Künstlers wird gefrühstückt, und die Zimmer sind noch genauso eingerichtet wie in den zwanziger Jahren: charmant, ohne Telefon, ohne Fernseher - der Aufenthalt im Haus im Schluh wird zu einer Zeitreise. OT 07 Dan. Waschen 0.15 Wenn man hier diese Schranktür aufmacht, dann sieht man die Waschgelegenheit in diesem Haus, das eine Schüssel und eine Kanne. Sie wird meistens nicht mehr benutzt, es sei denn jemand macht das und erzählt hinterher: Und dann hab ich Waschen gespielt. Autorin Daniela Platz ist die Urenkelin von Martha Vogeler. Die gelernte Architektin ist wieder an den Ort ihrer Kindheit, in das Haus im Schluh, zurückgezogen. Sie kümmert sich um die Pension und betreut zusammen mit ihrer Cousine Berit Müller auch die Heinrich Vogeler Stiftung. OT 04 Dan. Familie 0.25 Wir legen sehr viel Wert darauf, dass man hier im Haus die Familie Vogeler noch treffen kann und dass in durchgehender Tradition die Familie das Ganze betreut und man denen begegnet. Und ich denke, dass auch ein Teil des Rufes Heinrich Vogelers seiner geschiedenen Frau Martha zu verdanken, denn sie hat hier das Ganze bewahrt. Autorin Und Heinrich Vogeler? Nach den tiefgreifenden Erfahrungen des ersten Weltkriegs bricht sein Konzept einer idyllischen "Insel der Schönheit" auf dem Barkenhoff zusammen. Er macht sein Haus nun zu einem Zentrum reformerischer und sozialutopischer Bewegungen. Bis Mitte der zwanziger Jahre lebt er dort, dann zieht es ihn immer wieder nach Russland. Von dort, so Beate Arnold, Leiterin des Barkenhoffs, kehrt er nicht wieder zurück. OT- 05 Arnold Tod 0.19 Weil er nach dem Einmarsch der Deutschen 1941 deportiert worden ist und auf einer Kolchose gelebt hat, dort gearbeitet hat. Dort hat ihn sein Geld, seine Pension, die ihm zustand, nicht erreicht, und er hat letztendlich auf Grund von Krankheit, Hunger und Not dann den Tod gefunden 1942. Musik 4: Der Panther, gelesen von Otto Sander T: Rainer Maria Rilke, K+I: Richard Schönherz & Angelica Fleer RCA, LC 00316, Bestell-Nr. 74321 78280 2 Die Funker Atmo 3 Funksprüche Autorin Und plötzlich Sizilien. Das passiert, sagt Funkamateur Gebhard Licht, der in einem abgelegenen Haus in Worpswede wohnt. Ein Sandweg führt von der Straße durch eine kleines Wäldchen dorthin. Wer bei Gebhard Licht auf dem Sofa sitzt, hört ständiges Rauschen und Quietschen im Hintergrund. Denn seine große Funkanlage ist direkt neben dem Wohnzimmer aufgebaut. Der Lehrer an einer Worpsweder Schule gehört seit vielen Jahren zum ortsansässigen Verein der Funkamateure. Und da kann man Geschichten erzählen. 01 Licht Anfang 0.22 Eine Ehefrau eines Funkamateurs wollte nach Weißrussland fahren und hatte gesagt, mich interessiert, ob ich Pullover mitnehmen muß, wie das Wetter ist. Dann hat sich dieser Funkamateur an seine Station gesetzt, und hat: allgemeiner Anruf, CQ Weißrussland, heißt das bei uns und dann kam der Sergej und hat die Auskünfte erteilt. Autorin Ein Funkspruch mit Folgen. Denn zwei Jahre später, 1993, fuhr Eva Rentzow, ebenfalls eine Worpsweder Funkamateurin, zu besagtem Sergej nach Minsk. Diese Reise veränderte ihr Leben. 02 Eva Schlüsselerlebnis 1.16 Es war ein Tag im April, die Stadt war vereist und verschneit, es sah sehr trist aus, diese riesigen Plattenbauten in Minsk. Mein Mann und ich hatten uns selbständig gemacht. Wir gingen über so einen Platz zwischen den riesigen Häusern und da stand eine kleine schwarz gekleidete Person. Der kamen wir immer näher und die sprach uns an. Man sah der Frau an, dass sie hungerte. Und da stand ich dem Hunger persönlich gegenüber. Ich habe eine Fünfdollarnote aus der Tasche gezogen und ihr die in die Hand gedrückt und später erfahren, dass diese fünf Dollar drei Monate Überleben bedeuteten für diese Frau. Drei volle Monate. Autorin Eva Rentzow ist eine zupackende Frau. Die Not der Menschen in Weißrussland ließ ihr keine Ruhe. Die gelernte Zahntechnikerin hatte damals ihre Stelle verloren. Vorsehung, sagt die 57jährige heute. So konnte sie sich einer neuen Aufgabe widmen: dem Verein Licht Strahl Ost. Sie sei blauäugig gewesen. Beim ersten Hilfstransport nach Weißrussland hatte sie keine Ahnung von Zollbestimmungen und möglichen Schwierigkeiten, die ihr auf der gut 1500 km langen Strecke zwischen dem kleinen Worpswede und dem großen Minsk widerfahren konnten. Atmo LKW (Archiv) Damals war sie zwölf Tage unterwegs - mit falschen Papieren und einem altem LKW, dessen Bremsen auf dem Rückweg ihren Geist aufgaben - aber erst kurz vor Worpswede. Seitdem glaubt Eva Rentzow an eine höhere Instanz. OT 03 Eva lauter Wunder 0.10 Wir hatten nichts und es kam alles dazu wie von Zauberhand, wie von Wunder gesteuert, was wir brauchten, um den Verein vorwärts zu treiben. Autorin Der Verein Licht Strahl Ost hat inzwischen sechzig Mitglieder und feiert in diesem Jahr sein fünfzehnjähriges Bestehen. Eva Renztow kann ihre Fahrten nach Weißrussland inzwischen gar nicht mehr zählen. Sie spricht zwar kein russisch, 5urch ihr resolutes Auftreten verschafft sie sich aber auf ihre Weise Gehör. Zum Beispiel, als sie mit einem LKW voll Hühnersuppenkonserven nach Minsk kam. Es fehlte aber ein Stempel vom Minsker Gesundheitsamt, um die Suppen auszuliefern. 04 Eva Hühnersuppe 1.00 Wir sind an dem Tag über acht Stunden im Zickzack durch diese Riesenmetropole gejagt worden, von einer Behörde zur anderen. Am Nachmittag kurz nach vier Uhr standen wir dann völlig entnervt vor zwei Türen. In dem einen telefonierte eine Dame privat, und in dem anderen stand in kyrillischen Buchstaben etwas, das konnte ich nicht lesen, und Sergej sagte: Da dürfen wir nicht rein, da ist der Chef. Oh, hab ich gesagt, gut zu wissen. Ich klopf an die Tür, mach die Klinke auf, geh rein, und dann saß da an einem Schreibtisch ein sehr dicker Mann mit einem kleinen Kopf vor einem sehr vollen Aschenbecher und telefonierte. Ich war so in Wut über diese Odyssee durch Minsk, dass ich den Mann den Telefonhörer aus der Hand genommen hab, hab aufgelegt und hab ihn in Deutsch angepfiffen: Da kommt jetzt ein Stempel hin. Denn ohne den Stempel hätten wir die Zollgenehmigung nicht gekriegt. Der war so verdattert, hat den Stempel genommen, mich angeguckt und ihn dann irgendwo auf das Blatt gehauen. Autorin Seit zwei Jahren kann sie ihre Lieferungen nicht mehr nach Weißrussland bringen. Die administrativen Hürden sind zu groß geworden, und der Verein Licht Strahl Ost kann von den Spenden nicht die Bestechungsgelder zahlen, die immer wieder verlangt werden. Und so bringt Eva Rentzow ihre Hilfstransporte erst einmal bis nach Polen. 07 Eva, Ansprechpartner 0.35 Das sind wundervolle Menschen dort, warmherzig, liebenswert. gastfreundlich, dass man sich fast geniert. Wenn man dorthin kommt, wird eingeladen, dass sich die Tische biegen, obwohl draußen vor der Tür Hunger ist und ich glaube, die Menschen teilen mit uns wirklich alles, was sie haben. Und sie haben manchmal nicht viel. Wir haben jede Menge Ansprechpartner. Und wenn wir keinen mehr haben, rufen wir das Funkgerät CQ - wir brauchen Ansprechpartner, wir brauchen unsere Hilfe. Was meinen Sie, dann laufen die uns aber die Türen ein. Musik 5: Hochzeitskantate - Wenn die Frühlingslüfte streichen, BWV 202 K: J.S. Bach, T: E.Neumeister, I: Barbara Hendricks und das Kammerorchester C.Ph.E.Bach EMI, LC 6646, Bestell-Nr. CDC 7 49843 2 Große Kunstschau Atmo 4 Straße Autorin Zwei stark befahrene Durchgangsstraßen, Goldschmieden, Bildergalerien, Töpferwerkstätten, Kunsthandwerksläden, Cafés, Supermarktketten, Pizzerien - das ist Worpswede im 21. Jahrhundert. "Staatlich anerkannter Erholungsort" steht auf dem Ortsschild. Vermutlich würde sich keiner der Künstler der ersten Stunde heute dort niederlassen. Nach Worpswede strömen vor allem die Touristen. Jährlich 270.000 Gäste auf 9500 Einwohner hat Brigitte Garde von der Worpsweder Touristeninformation gezählt. OT 02 Garde Touristen 0.16 Die Worpsweder sind natürlich einerseits ganz stolz auf diesen Weltruhm dieses Künstlerdorfes, haben aber eigentlich keine wirkliche Identität als Bewohner des Künstlerdorfes. Der Tourismus ist auch ein Faktor, der manchem Bewohner ein bisschen lästig ist. Autorin Hinter dem Parkplatz, auf dem samstags der Worpsweder Wochenmarkt stattfindet, dehnt sich ein Kiefernwäldchen aus. Darin steht ein rotes Backsteinensemble mit einer Kuppel, bunten Dachreitern und wild versetzten, vor- und zurückspringenden Backsteinen. "Schafft Bewegung und Leben in den Baukörper", hatte Bernhard Hoetger, der Architekt des Gebäudes, Mitte der 20er Jahre gefordert. Architektur als etwas seelisch-erfahrbares, etwas Lebendiges - das war seine Vorstellung. In der Abgeschiedenheit Worpswedes konnten sich diese expressionistischen Bauwerke erhalten. 01 Ham Hoetger Archit. 0.32 Hoetger ist inspiriert gewesen von indianischer Kultur, von Wikingern, vom Buddhismus, von den Ägyptern, der ist sehr viel gereist, hat sich für viel Kulturen interessiert. Er wird auch in der Literatur als Eklektiker verstanden, weil er alles so zusammengetragen hat. Manchmal denkt man, was ist denn nun eigentlich seine eigene Leistung, aber wenn man das ganz Werk dann komplett sieht, sieht man, dass er immer am Zeitgeist gearbeitet hat, auch in den Skulpturen, sich damit auseinandergesetzt hat und versucht hat, neue Wege zu finden. Autorin Karen Hammer leitet die frisch sanierte "Große Kunstschau", wie der linke Gebäudeteil mit der Kuppel genannt wird. Der rechte beherbergt das "Kaffee Worpswede". Weil man in Worpswede irgendwann unweigerlich auf Paula Modersohn- Becker stößt, so hängt natürlich auch Bernhard Hoetger, der eigentlich Bildhauer war, mit ihr zusammen. 1906 lernt er sie in Paris kennen. Er ist fasziniert von ihr, bestärkt die junge Malerin in ihrer Kunst und betreibt auch später eifrig die Vermarktung ihrer Bilder. Jedes siebte Werk von Paula Modersohn-Becker war, so Karen Hammer, in Hoetgers Besitz. 12 Ham Geschäfte 0.16 Er war sehr geschickt, er hat ja auch schon Paris mit Kunstwerken gehandelt und das haben ihm viele geneidet, dass er so erfolgreich war. Andere sagen wiederum, die große Kunstschau konnte er nur bauen, weil es so erfolgreich mit den Bildern von Paula Modersohn-Becker gehandelt hat und damit Geld verdient hat. Autorin 1914, sieben Jahre nach dem Tod der Malerin, zog Bernhard Hoetger selbst nach Worpswede. Fortan entwarf er zahlreiche Gebäude: das Ensemble um "Die große Kunstschau", das Philine Vogelerhaus - heute die Worpsweder Touristeninformation - oder das Paula Modersohn- Becker Haus in Bremen. Der unermüdliche und auch umstrittene Künstler ließ es ich nicht nehmen, auch das Grabmal der Künstlerin auf dem Worpsweder Friedhof am Weyersberg zu gestalten. Allerdings war es mit einer opulenten Mutter-Kind Figur ganz anders, als Paula Modersohn-Becker es sich vorgestellt hatte. Musik 6: Piano Sonate B-Dur - Molto moderato K: Franz Schubert, I: Malcolm Bilson Hungaroton, ohne LC-Angabe, Bestell-Nr. HCD 41006 Zitatorin "Ich weiß, ich werde nicht sehr lange leben. Aber ist das denn traurig? Ist ein Fest schöner, weil es länger ist? Und mein Leben ist ein Fest, ein kurzes, intensives Fest." Autorin schrieb die Künstlerin bereits 1900 in ihr sehr lesenswertes Tagebuch. Ihren frühen Tod vorausahnend, hatte sie sich, so Brigitte Garde, beizeiten Gedanken über ihre letzte Ruhestätte gemacht. 08 Garde schlichtes Grab 0.25 Sie hat sich eine Situation vorgestellt, ne ganz einfache schlichte Grabstelle an einer Hecke gelegen, sozusagen mit dem Blick in die Landschaft von einem kleinen Zaun umgeben mit einem Kiesweg um einfache Grabtafel ohne Worte an deren Kopfenden zwei Wacholder stehen, Heckenrosen und weiße Nelken, schrieb sie, die würden mich wohl auch freuen. und eine weiße Bank, auf die sich die Besucher zu mir setzen können. Autorin Angeregt durch eine zeitgenössische Künstlerin hat eine Gruppe von Worpswedern im vergangenen Jahr zum 100. Todestag der berühmten Malerin ganz am Rande des Friedhofs ein zweites Grab eingerichtet. Das entspricht nun den ursprünglichen Vorstellungen Paula Modersohn Beckers. Musik 7: Kleine Romanze für Violoncello und Klavier D-dur, op.79e Nr. 2 - Andante K: Max Reger, I: Emmannuelle Bertrand, Pascal Amoyel Harmonia Mundi, LC 07045, Bestell-Nr. HMC 901836 Mölle OT 01 Möll. auf Platz, aufräumen 0.45, runterziehen So, Aljoscha hör mal bitte kurz zu. Nee, die Zange, die behalte ich jetzt. Also ich möchte euch kurz herzlich einladen, dass ihr trotz der widrigen Wetterumstände hierher gefunden habt. Aber ihr kennt ja meinen Standardspruch. Wetter ist Kleidungssache.... Autorin Sie nennen ihn Mölle. Mölle ist fast zwei Meter groß, trägt Gummistiefel und eine Regenjacke. In der Hand hält er eine langstielige Zange. Einmal im Monat trommelt er die Kinder des SOS Kinderdorfs in Worpswede zusammen: Hofdienst. Wegen des schlechten Wetters haben sich heute nur knapp fünfzehn Jungen und Mädchen, mit Stöcken und Plastiktüten bewaffnet, unter einem Schutzdach um Mölle herum versammelt. OT 02 Kinder vermissen ihre Eltern 0.34 Hier ist das Kinderdorf und ich vermisse auch meine Eltern - Jannis, die vermisst aber auch jeder hier so. Ich vermiss meine ja auch, aber wir dürfen sie ja regelmäßig besuchen, aber wir können nicht mehr zu ihnen. Nur wenn wir erwachsen sind, 15, 16. - Aber wir hören unsere Eltern jeden Samstag per Telefon. Autorin Jannis, Florian und Mirco leben im SOS Kinderdorf in Worpswede. Der neunjährige Mirco wurde schon als Baby aufgenommen und Florian lebt zusammen mit seinen leiblichen Geschwistern in einer Kinderdorffamilie. OT 04 Florian Kinderdorfbrüder 0.05 Die ganzen, die noch hier im Kinderdorf leben, sind unsere Kinderdorfbrüder. Atmo 5 beim Aufräumen 0.12 Autorin Eine halbe Stunde später ist der Platz wie leergefegt. Die Kinder, verteilt auf zwölf in rotem Klinkerstein erbaute Häuser, sind ins Trockene zurückgekehrt. Mölle, der eigentlich Rene Möllenkamp heißt, hat in Haus 1 Teewasser aufgestellt. OT 08 Möll. Geschichte, 0.19 1949 hat Hermann Gmeiner die Kinderdörfer gegründet und das hat sich dann ausgebreitet so nach und nach, Dorf für Dorf. Unser Dorf gibt es jetzt seit 42 Jahren. Ja, jetzt haben wir zwölf Häuser, momentan haben wir 54 Kinder hier, das jüngste ist 1 1/2, der älteste ist gerade 18. Autorin Weltweit gibt es über fünfzig Kinderdörfer, fünfzehn davon in Deutschland. Im Wechsel sind ein Hausvater und eine Hausmutter für meist vier bis fünf Kinder zuständig. Rene Möllenkamp arbeitet seit vierzehn Jahren im Worpsweder SOS Kinderdorf. OT 07 Möll, Sozial 0.21 Ich habe vorher im übergreifenden Bereich gearbeitet als Sozialpädagoge und Beratung gemacht und die Vernetzung gemacht zu Behörden, leiblichen Eltern, was man sich alles so vorstellt in einer sozialarbeiterischen Arbeit. Seit einem Jahr arbeite ich auch in der Vollvertretung. Das heißt, wenn die Kinderdorfmutter frei hat oder Urlaub hat übernehm' ich ihren Dienst komplett und manage das hier als Hausvater. Autorin Hausvater: d.h. Kochen, Weihnachten feiern, gemeinsam in die Ferien fahren, Wäsche waschen, Hausaufgaben kontrollieren. Zum Beispiel die des 12jährigen Eric, der gerade über dem scharfen ß brütet. Atmo 6 Mölle Hausaufgaben, runterziehen In Mathe musst Du noch was machen. Arbeitsblatt, Nummer, zeig mal. Deutsch hast du fertig, das sieht ja ganz ordentlich aus.... Autorin Erics Vater ist drogenabhängig, die Mutter arbeitet im Schichtdienst und ist mit der Erziehung des Kindes vollkommen überfordert. Jahrelang war Eric sich selbst überlassen. Vor einem Jahr kam er ins SOS Kinderdorf. OT 12 Möll. Sucht 0.42 Also wir haben es hier wirklich - das ist für mich fast einmalig - mit dem Suchtthema Playstation, Computerspiel zu tun. Sechs, sieben, acht Stunden am Tag Fernsehen zu gucken und Playstation zu spielen, ist völlig normal. Ein Wochenende mit zwanzig Stunden durchspielen auch völlig normal. Demzufolge sind die Kinder alle reizretardiert. Fühlen, schmecken, riechen, sich selber spüren, es ist alles völlig unterentwickelt. Aber ich bin vor zwei Tagen bei Windstärke fünf mit ihnen einfach mal ne halbe Stunde Fahrrad gefahren. Sie ächzten und stöhnten und schrieen und wollten nach Hause. Solche einfachen Sachen müssen erstmal erarbeitet werden. Autorin Außer Eric und Rene Möllenkamp leben noch der 13jährige Alexander und der 18jährige Denis in Haus 1. Oben sind die Schlafzimmer, im Erdgeschoß Küche, Ess- und Wohnzimmer. Große Polstermöbel laden zum Sitzen ein, auf den Fensterbänken wuchern Grünpflanzen: eine wohnliche Atmosphäre. Atmo Haustür (Archiv) OT 14 Alex Polizei 0.19 Moin Alex, jetzt komm mal kurz her. Wie war es denn bei der Polizei - Der hat mich gefragt, was ich da gemacht hab oder ob ich's gemacht hab, hab ich auch die Wahrheit gesagt. Da hat jemand in der Schule ein Hakenkreuz an die Wände geschmiert und dann behauptet, dass ich und meine Freunde das waren. Ja und ich laß es nicht auf mir sitzen, wenn man so etwas behauptet. Autorin An Erzieher und Sozialpädagogen stellt die Arbeit im SOS Kinderdorf hohe Anforderungen. Die Schützlinge, wie Rene Möllenkamp die Kinder nennt, waren in ihren Elternhäusern häufig Gewalt, Drogen und Alkohol ausgesetzt. OT 11 Möll. 0.06 Alles das, was man sich in seiner Phantasie hier vorstellen kann, haben wir hier an Ursprungsfamilien. Autorin Manche Fälle verlaufen positiv. Erics Mutter beispielsweise kommt regelmäßig zu Beratungsgesprächen nach Worpswede. In drei Jahren soll Eric zu ihr zurückkommen. Aber oft interessieren sich die Eltern nicht mehr für ihre Kinder. OT 09 Denis Alk. 0.14 Ich bin hierher gekommen, weil meine Eltern Alkoholiker waren und weil die Eltern nicht imstande waren, uns zu erziehen, bei der Oma konnten wir nicht bleiben, weil die hatte schon ordentlich Kinder gehabt von uns. Autorin Mit 18 Jahren ist Denis der älteste im SOS Kinderdorf. Er macht eine Ausbildung zum Koch. Vor zehn Jahren kam er nach Worpswede. Seine alkoholabhängigen und obdachlosen Eltern haben neun Kinder in die Welt gesetzt. Sie sind auf verschiedene Einrichtungen verteilt. Denn im SOS Kinderdorf in Worpswede war nicht genügend Platz für alle neun. Musik 8: Like a Rolling Stone K+T+I: Bob Dylan Columbia, LC 00162, Bestell-Nr. 38831 Schaurig-schön Autorin Mitten im Worpsweder Teufelsmoor ist die Welt zu Ende: kein Haus weit und breit, kein Hochspannungsmast. Stille, Einsamkeit, Weite, Wind und Wolken, eine verhangene Sonne. Nur bei genauerem Hinsehen erblickt man in der Ferne eine Bahntrasse in der einsamen Landschaft: für den Torf, der seit den 20er Jahren industriell im Teufelsmoor abgebaut wird. Früher wurde Torf mit der Hand oder mit Stecheisen abgetragen, auf Kähne verladen und über ein eigens im Moor angelegtes Kanalsystem bis nach Bremen transportiert. Hans Gerhard Kulp von der biologischen Station in Worpswede betreut auch das Teufelsmoor. Es erstreckt sich auf einer Fläche von ca. 600 km2 zwischen Bremen und Bremervörde. OT 07 Kulp gr. Moor, 0.30 (im Auto aufgenommen) Das Teufelsmoor ist das größte besiedelte Moor in Deutschland, das ist besondere, das besiedelte. Das ist im 18. Jahrhundert kolonisiert worden und hier sind viele Ortschaften mitten im Moor, während woanders in Deutschland nur von den Rändern angeknabbert wurden, sind hier von den Bauern mitten ins Moor gezogen und haben unter den sehr schwierigen Verhältnissen das Moor kultiviert und betreiben Landwirtschaft. Autorin Damals benutzte man Torf als Brennstoff, heute wird er für Blumenerde abgebaut und vor allem nach Holland exportiert. Allerdings laufen die Abbauverträge demnächst aus. Ein Teil der Flächen ist bereits "wiedervernässt" worden: dort kann sich das Moor regenerieren. Die Torfwerke wollen aber neue Anträge stellen. Dann würde im Teufelsmoor in den kommenden dreißig Jahren weiter Torf abgebaut. OT 04 Wellbr. kein Abbau 0.31 Ich persönlich bin nicht der Meinung, daß es gut ist und daß es notwendig ist. Man braucht in vielen Bereichen, wo der Torf eingesetzt wird, eigentlich den Torf nicht und man kann ihn problemlos mit anderen Produkten ersetzen. Man sollte eigentlich den Torf da lassen, wo er ist. Der Torf gehört ins Moor und da ist er am besten aufgehoben Autorin Johann Daniel Wellbrock besitzt einen landwirtschaftlichen Betrieb mitten im Teufelsmoor - bereits in der 15. Generation. Seine Vorfahren haben das unwirtliche Moorgebiet urbar gemacht. Allerdings: nicht alle Bauern im Teufelsmoor denken so wie der bedächtige Johann Daniel Wellbrock. Viele können nicht nachvollziehen, daß die Flächen, die einst unter Mühen kultiviert wurden, nun wieder Moor und daß die Kanäle wieder zugeschüttet werden sollen. Atmo 01 Schritte im Moor Autorin Für Hans Gerhard Kulp von der biologischen Station gibt es neben dem Naturschutz noch einen weiteren Grund, den Torfabbau einzudämmen: denn Torf speichert Kohlendioxid. OT 12 Kulp 0.41 Das macht heute natürlich hellhörig, weil wir alle wissen, dass der Anstieg des Co2s in der Atmosphäre der Hauptverursacher des Treibhauseffektes ist und deswegen haben wir nachgerechnet: Das was hier noch zusätzlich beantragt ist, abbauen würde, würde noch mal eine Millionen Tonnen CO2 zusätzlich mobilisiert, sozusagen ohne Not, denn man kann Torf auch ersetzen durch Komposte und man sollte das Moor lieber in Ruhe lassen, man sollte es naß halten, damit sich der Torf nicht zersetzt und den Treibhauseffekt verstärken. Musik 9: Dentro la tasca di un qualunque mattino K+T+I: Gianmaria Testa Editions Quai No 3 Paris, LC 08972 Exil, Bestell-Nr. 6952-2 Kollbecks Moorhuhn Atmo Regen (Archiv) Autorin Die Arche Noah in Ostersode, einem Ortsteil von Worpswede, trägt dieser Tage ihren Namen zu Recht. Es ist soviel Regen gefallen, daß die Hamme, der Fluß, der die Region durchzieht, über die Ufer getreten ist. Alles steht unter Wasser, und Fritz Günther Röhrssens altes Niedersachsenhaus ragt wie eine Insel aus den überschwemmten Flächen empor. Der Landwirt hat die halbe Nacht damit verbracht, seine Tiere ins Trockene zu bringen: das Exmoor Pony, die Thüringer Waldziege, die Bentheimer Schweine, die Meissener Widderkaninchen. Atmo 8 und 8b, Hühner/Hahn Autorin Und seine Hühner: Vorwerkhühner und Kollbecks Moorhühner. 500 Stück Federvieh leben auf Fritz Günther Röhrssens Anwesen, einem Archehof. So darf sich ein landwirtschaftlicher Betrieb nennen, auf dem mehr als drei vom Aussterben bedrohte Nutztierrassen gezüchtet werden. 1995 wurden die Archehof Projekte ins Leben gerufen. Inzwischen gibt es über neunzig solcher Höfe in Deutschland. Die Gesellschaft zur Erhaltung alter Nutztierrassen - Fritz Günther Röhrssen ist der zweite Vorsitzende - hat rund neunzig Rassen auf ihre rote Liste aufgenommen. Atmo 8 Hühnerfüttern (s.o.) Autorin Lange Jahre war Fritz Günther Röhrssen Kaufmann. Wenn man den heute 74jährigen in Gummistiefeln und Windjacke im Stall mit seinen Tieren erlebt, hat man den Eindruck, er habe nie etwas anderes gemacht als seinen Hof. Aber erst vor fünfzehn Jahren übergab er sein Bremer Unternehmen Sohn und Teilhaber und kümmert sich seitdem auf seiner Arche Noah um die Erhaltung bedrohter Tierrassen. OT 05 Rör Jugendtraum 0.26 Hier habe ich mir eigentlich als Landwirt einen Jugendtraum erfüllt. Meine Eltern waren so arm, dass sie mir keinen Bauernhof kaufen konnten, so musste ich erst Geld verdienen. Ich war auch Europamanager eines amerikanischen Konzerns, bevor ich meine eigenen Firmen hatte, fühle mich aber hier im einfachen Leben absolut wohl. Das hab ich immer angestrebt, und jetzt kann ich es mir Gott sei Dank leisten. Atmo 8 Hühnerfüttern 0.56 Autorin Auf das Huhn ist Fritz Günther Röhrssen erst vor wenigen Jahren gekommen. Dem Hamburger Vorwerkhuhn, einer Freilandrasse, drohte das Aus. Mit einer Legeleistung zwischen 140 und 160 Eiern pro Jahr war das Federvieh für die Landwirtschaft nicht einträglich genug. Zum Vergleich: in den Legebatterien kommen die Hühner auf einen Schnitt von 320 Eiern pro Jahr. Fritz Günther Röhrssen nahm Kontakt zur Bundesforschungsanstalt auf: Nach jahrelangen Versuchen gelang es ihm, eine neue Rasse zu züchten: Kollbecks Moorhuhn OT 09 Rör Kreuzung 0.38 Wir haben von der Hühnerindustrie eine große Unterstützung bekommen, eine Vorlinie für die heutigen Wirtschaftshühner, die wir für die Einkreuzung in das Vorwerkhuhn zur Verfügung bekommen haben. Und die haben dann uns dahin gebracht, dass unser neues Huhn, das Kollbecks Moorhuhn 240-280 Eier legt, d.h. für die Landwirtschaft wieder brauchbar ist und dadurch haben wir über dieses Huhn die nachhaltige Rettung des Vorwerkhuhns zuwege gebracht. Autorin Die Investitionen haben sich gelohnt. Inzwischen beliefert Fritz Günther Röhrssen Nebenerwerbsbetriebe mit seinen Moorhühnern. Weil er mit den Bestellungen gar nicht nachkommt, hat er andere Höfe gefunden, die inzwischen ebenfalls Kollbecks Moorhühner züchten. Nun ist allerdings eine Lieferung zurückgekommen. Ein großer Karton, den Praktikantin Katrin Schmuhn in Empfang genommen hat. OT 15 Kat. Küken 0.16 Da sind Hühnerküken drin, die wurden verschickt an einen anderen Hof. Das wird immer gemacht und das klappt auch immer. Das ist das erste Mal, dass derjenige nicht da war, als die zugestellt werden sollten. Und sie sind jetzt wieder zurückgekommen. Autorin Eilig trägt sie den Karton mit den piepsenden Küken in den Stall unter eine Infrarotlampe. Zum Glück haben alle flauschigen weiß-gelben Küken die Reise überlebt. Atmo 9 Kücken unter die Lampe geht nach Piepsen über in OT 14 Rör. Freiland 0.26 Im Moment und auch in Zukunft werden wir dafür sorgen, dass alle die, die mit uns zusammenarbeiten, keine Hühner unseres Typs, nämlich des Kollbeck Moorhuhns, abgeben an Hallenbetriebe. Es müssen Freilandbetriebe sein, denn dafür haben wir es gezüchtet und wir wollen unsere Hühner auch wirklich da haben, wo sie sich wohl fühlen und das ist das Freiland. Musik 10: Hello, it´s me K+T+I: Lou Reed u. John Cale Metal Machine Music/John Cale Music, LC 03228 Sire, Bestell-Nr. 926140-2 Zeitgenössisch Atmo 10 Treppe Autorin Stefan Roigk geht gerade die Treppe seiner Atelierwohnung hinunter. Der Klangkünstler ist erst vor wenigen Wochen aus Berlin nach Worpswede gekommen - als Stipendiat. Nun freut er sich, dass er auf dem Land die nötige Ruhe für seine Projekte hat. Nur nachts fühlt er sich gestört. Deshalb hat er eines der drei Zimmer abgeschlossen. O-T 05 Roigk Maus, 0.19 Da geh ich im Moment nicht rein, weil ich gerade auf der Suche nach der hier im Haus lebenden Maus bin, da steht eine Mausfalle, deswegen hab ich da auch zugemacht, weil ich die ganz gerne hätte. Die stört mich vor allem nachts, also ich bin des Öfteren unschön geweckt worden, weil die doch relativ laut ist. Autorin Auf dem Tisch in der großen Eingangsdiele steht eine Nähmaschine, vor kurzem ist eine Lieferung mit Gardinenstangen und Schaumstoffen eingetroffen. Gegenstände, die der Künstler allerdings nicht für die Ateliereinrichtung benötigt. OT 06 Nähmaschine 0.28 Ganz viele meiner Objekte bestehen einfach aus genähtem Material und das hat viel mit Wegpacken zu tun. Wenn ich nähe, kann ich Hohlkörper erstellen, die ich danach sehr platzsparend wegstellen kann. Wenn ich die dann ausstelle, können die schon größere Volumen annehmen, Unter Umständen fülle ich die, deswegen Schaumgummi, Vlies oder Steroporflocken, aber nähen ist einfach ne sehr praktische Möglichkeit Körper herzustellen, die in ihrer Form etwas flexibel sein können. Atmo Schritte auf gepflasterter Straße (Archiv) Autorin Abends sind die Straßen in Worpswede wie leergefegt. Der Vollmond scheint milchig, die Wolken ziehen, eine Katze huscht durch einen Garten: Augenblicke, in denen etwas von dem Zauber zu spüren ist, der die Künstler vor über hundert Jahren in das einstige Moordorf brachte. Das stellt auch die Malerin Ina Landt fest. OT 03 Ina 0.16 Mond Im neuen Jahr ist es immer so, dass der Vollmond im Teufelsmoor morgens untergeht. Also man hat hier wirklich Naturschauspiele, die das übersteigen, was man sonst so erlebt hat, das muß man wirklich sagen in Worpswede. Atmo 11 Atelier (auch etwas Wort) Autorin Vor kurzem haben Landts ein neues Atelier bezogen und es "Kunstrepublik Worpswede" getauft. Sie müssen es noch renovieren und malen daher ihre großformatigen Bilder zur Zeit im Freien: ca. drei bis vier Meter hohe Leinwände, in leuchtendem Blau oder mit abstrahierten bräunlichen Moorkähnen. Auf dem Mäuerchen neben dem Atelier liegen säuberlich gebündelt lange schmale Äste. Sie dienen als Leisten für die großen Leinwände und geben ihnen ein belebtes, beinahe organisches Aussehen. Das Atelier der Landts liegt der Nähe der Grundschule auf dem Weyersberg: ein kleines Backsteingebäude mit zwei Schornsteinen. Das Häuschen passe, so Ina Landt, zu ihrer Vorstellung von einem einfachen Leben. OT 20 Ina Franz von Assisi 0.27 Dieses Häuschen steht auch sehr eng in Verbindung mit Franz von Assisi. Franziskus ist für uns einfach ein wahnsinniges Vorbild. Der hat sein ganzes Hab und Gut an die Armen verteilt, das ist einfach was Revolutionäres in der heutigen Zeit. Weil jeder strebt danach, ein großes Haus zu haben, einen Wagen, dies und das und alle wollen dann hier show down machen. Und dieser Franziskus ist in unseren Augen so ein Revolutionär in seiner Bescheidenheit und in seinem inneren Glück. Autorin Im Gegensatz zu den Stipendiaten leben Ina Landt und ihr Mann Marcus dauerhaft in Worpswede. Ganz bewusst haben sie sich für den Ort mit seinen künstlerischen Wurzeln entschieden. OT 25 Marcus, Inspiration 0.36 Ein Ort, an dem eine Paula Becker-Modersohn solche Werke geschaffen hat, an diesen Ort will ich auch. Weil ich weiß, der Ort sorgt dafür, dass hier solche Werke möglich sind. Wenn wir in den ersten Jahren des Hierseins als junge Künstler daran anknüpfen, das aufzuarbeiten, was hier schon geleistet wurde, brauchen wir uns gar keine Sorgen zu machen. Das Eigene kommt sowieso. O-Ton Kennmusik Sprecher vom Dienst "'...Es ist ein seltsames Land...' Worpswede und das Teufelsmoor" Eine Deutschlandrundfahrt mit Susanne von Schenck 1