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Und dann spricht Boris Jelzin mit schwerer Zunge den folgenschwersten Satz seiner politischen Laufbahn: Take 1 O-Ton Jelzin, russisch, ohne overvoice, freistehend Autorin: "Am letzen Tag des alten Jahrhunderts", sagt Jelzin, "reiche ich meinen Rücktritt ein. Ich möchte Sie um Vergebung bitten." Atmo 1 ehemalige, Jelzinsche Nationalhymne (ohne Text) freistehend, dann unter folgendem Text unterlegen Autorin: Nach der Fernsehaufnahme lädt Zar Boris Weggefährten zu einem Glas Sekt ein. Es gibt Grund zum Feiern, denn die Nachfolge ist geregelt. Als neuer Herrscher bezieht ein ehemaliger Oberleutnant des Geheimdienstes den Kreml - ein bleichgesichtiger blonder nervöser Mann mit stechenden Augen. Genau drei Monate später leistet dieser Mann seinen Amtseid. Take 2 O-Ton Putin, russisch Sprecher - overvoice Ich schwöre, als Präsident der Russischen Föderation die Rechte und Freiheiten der Menschen und Bürger zu achten und zu schützen, die Verfassung der Russischen Föderation einzuhalten, die Souveränität, die Unabhängigkeit, die Sicherheit und territoriale Unversehrtheit des Staates zu schützen und dem Volk zu dienen. Atmo 2 Kremlglocken freistehend Autorin: Die Kremlglocken läuten eine andere Ära ein. Wladimir Putin ist mit 48 Jahren noch jung, als er sein Amt antritt. Der neue Kremlchef gibt sich unterkühlt, bisweilen zynisch und stets humorlos. Ein zurückhaltender Mensch, bemerkenswert intelligent, aber nicht intellektuell. Bereits nach den ersten Monaten seiner Herrschaft wird vielen klar: Der Geheimdienstoffizier Putin ist machtbesessen und vom russischen Nationalismus geprägt. Wohl nicht zufällig machen immer mehr böse Witze die Runde. Zum Beispiel dieser: Zitator: Putin bittet Stalin im Traum, ihm zu helfen, das Land zu regieren. Stalin sagt: Erschieße die Demokraten und streiche dann den Kreml blau an. Warum blau? fragt Putin. Ha, sagt Stalin, ich wusste doch, dass Du mich nicht nach dem ersten Teil fragst. Autorin: Der Witz hat einen ernsten Hintergrund: Russland erlebte nach Putins Amtsantritt eine Stalin-Nostalgie. Jossif Wissarionowitsch Stalin, der Diktator, gilt als Vorbild für den autoritär regierenden damaligen Präsidenten. Der Direktor des Moskauer Levada-Zentrums für Meinungsforschung, Lew Gudkow, sagt über Putin: Take 3 O-Ton Lew Gudkow, russisch Sprecher - overvoice Er redet nicht nur stolz darüber, dass er sich weiterhin für einen Tschekisten, einen Geheimdienstmann, hält. Denn es gibt ja, wie er sich ausdrückte, keine ehemaligen Tschekisten. Als er im Jahr 2000 an die Macht kam, hat er einen Toast auf Stalin ausgesprochen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein deutscher Kanzler einen Trinkspruch auf Hitler ausspricht. Das ist undenkbar. Autorin: Ein anderes Vorbild ist der Reformer-Zar Peter der Große. Die Mit- arbeiterin des Deutschen Historischen Instituts in Moskau, Ingrid Schierle, erläutert, weshalb. Take 4 O-Ton Ingrid Schierle Das kann man dadurch erklären, dass mit Peter dem Großen die Ge- schichte des russischen Imperiums beginnt in der heutigen Wahr- nehmung. Das ist also imperiale Geschichte. Und Peter der Große steht für diese Größe, die Slawa - Ruhm - und die Macht dieses Reiches. Da kann man eine Kontinuitätslinie ziehen und die wird von der gegenwärtigen Geschichtspolitik intensiv gefördert und propagiert. Autorin: Die Geschichte wird in Russland den Bedürfnissen der jeweiligen Herr- scher angepasst. Das ist heute so, das war schon so, als im Jahre 1839 der französische Gesandte Astolphe de Custine Russland bereiste. In seinen berühmten prophetischen Briefen schreibt er: Zitator: In Russland gehört Geschichte zum Krongut. Die Erinnerung an das, was an dem vergangenen Tage geschah, ist das Besitztum des Kaisers. Er verändert nach seinem Gutdünken die Annalen des Landes und teilt jeden Tag an sein Volk die historischen Wahrheiten aus, die gerade mit der Fiktion des Augenblicks zusammenpassen. Autorin: Zar Peter der Große ist in die russische Geschichte als großer Moderni- sierer eingegangen. Er schuf das russische Imperium und betrieb eine Europa zugewandte Politik. So holte er etwa europäische Militärexperten ins Land, kaufte ausländische Waffen und schuf nach europäischem Modell Russlands erste professionelle Armee und Flotte. Die Impulse jener Petrinischen Reformen des 18. Jahrhunderts, davon ist der Moskauer Historiker Boris Chawkin überzeugt, spürt man in Russland bis heute. Take 5 O-Ton Boris Chawkin, deutsch Peter der Große hat Russland nach Europa umgewandt und Russland war dagegen. Russland wollte etwas Schlafendes bleiben wie China zum Beispiel. Aber die Modernisierung von China haben wir jetzt, die Modernisierung von Russland wird schon seit 300 Jahren durchgeführt. Wir gehören zu Europa geschichtlich, unsere Mentalität ist mehr europäisch als chinesisch, aber sie ist viel größer und komplizierter als Europa. Deshalb können viele Europäer Russland nicht begreifen, weil Russland nicht Europa und nicht Asien ist, es ist sich selbst ein Rätsel. Autorin: Unter Präsident Putin ist ein Modell von Russland als einer Macht ent- standen, die ihre einstige Größe zurückgewinnen will und sich mit einer ruhmreichen Geschichte schmückt. Im Staatsfernsehen und in neuen Schulbüchern wird Stalin verfälschend als bedeutender Manager und charismatischer Führer dargestellt. Der Soziologe Lew Gudkow sagt: Take 6 O-Ton Lew Gudkow, russisch Sprecher - overvoice Stalins Autorität beruht auf einem Charisma aus zweiter Hand. Es ist kein echtes Charisma, sondern ein von der Propaganda geschaffenes. Die Stalin-Nostalgie hat bei uns nicht zufällig mit Putins Amtsantritt begonnen. Stalin ist Symbol einer Großmacht, die untergegangen ist. Seine Person ist gleichsam der Ersatz für die verlorene nationale Größe Russlands. Atmo 3 Militärmusik Dem vorherigen Text unterlegen, dann freistehend und dem folgenden Text unterlegen. Autorin: Vor allem der Sieg der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg spielt für diese rückwärtsgewandte Politik eine große Rolle. Take 7 O-Ton Lew Gudkow, russisch Sprecher - overvoice Putin tritt als Verbindungsglied zur sowjetischen Vergangenheit auf, als derjenige, der das imperiale Russland wiedererstehen lassen will. Deshalb ist die Stalin-Renaissance für seine Umgebung so außerordentlich wichtig. Autorin: Der erste russische Präsident, Boris Jelzin, hatte einst die stalinsche Sowjethymne durch das patriotische Lied des Komponisten Michail Glinka ersetzt. Diese Hymne wurde zum Symbol für das freie demokratische Russland. Jelzins Nachfolger Putin hat Anfang 2000 die alte Nationalhymne wieder eingeführt, wenn auch mit einem neuen Text. Atmo 4 neue (Stalin)-Hymne freistehend dem folgenden Text unterlegen. Take 8 O-Ton Lew Gudkow, russisch Sprecher - overvoice Ungeachtet aller sichtbaren Brüche zwischen dem Sowjetregime und dem heutigen Regime gibt es bis heute große Ähnlichkeiten. Das Sowjetsystem ist zwar untergegangen, aber seine Institutionen sind geblieben, von der Schule bis zum Gericht, der Polizei, dem Hochschul- wesen, der Armee, dem System der Machtgewinnung. Das politische System als solches hat sich sehr wenig verändert. Autorin: Wladimir Putin hatte am Ende seiner zweiten Amtsperiode als Präsident eine sowjetisch anmutende Vision. Take 9 O-Ton Wladimir Putin, russisch Sprecher - overvoice Wir sind in der Tat ein sehr schwieriges, ein sehr großes Land mit kolossalem Potenzial. Ein großes Volk. Wir haben heute die Voraussetzung für die Entwicklung des Landes und des Staates auf einer erneuerten Grundlage für viele, viele Jahrzehnte im Voraus geschaffen. Die überwältigende Mehrheit unseres Volkes ist von einer glänzenden Zukunft überzeugt. Atmo 5 Stalin-Lied "Das Leben ist besser und fröhlicher" Autorin: Das Leben ist besser und fröhlicher geworden - dieses populäre Lied hatte man in der Sowjetunion im Jahr 1937 gesungen, dem Beginn des stalinschen Großen Terrors, dem Millionen Menschen zum Opfer fielen. Auch in äußerst tragischen Situationen haben die Menschen in Russland immer von einem besseren und schöneren Leben geträumt. Doch der Verwirklichung dieses Traumes standen sie sich selbst im Wege. Maxim Gorki, Lieblingsautor der Bolschewiki, schrieb im März 1918: Zitator: Wir Russen sind unserem Wesen nach Anarchisten. Wir sind eine grausame Bestie und in unseren Adern rollt noch immer das verbrecherische, böse Sklavenblut - das giftige Erbe der Tataren und der Leibeigenschaft. Autorin: Gorki spielt auf die Leibeigenschaft der Bauern an, die der französische Gesandte Astolphe de Custine Mitte des 19. Jahrhunderts bei seinen Reisen durch russische Dörfer erlebt hat: Zitator: Sie können sich keine Vorstellung machen, wie ein Herr, der Besitz von seinem Gute nimmt, das er erkauft hat, von seinen neuen Bauern empfangen wird; dieser Knechtssinn muss den Bewohnern unserer Länder unglaublich vorkommen. Männer, Frauen und Kinder, alle fallen vor ihrem neuen Herrn auf die Knie. Alle küssen ihm die Hände, bisweilen die Füße. Die, welche in dem Alter sind, dass sie sündigen können, beichten dem Herrn freiwillig ihre Vergehen, denn er ist für sie das Ebenbild, der Gesandte Gottes auf Erden. Warum betet man den Herrn, diesen neuen Gott an? Weil er soviel Geld hatte, um die Scholle kaufen zu können. Der Emporkömmling erscheint mir als Ungetüm in einem Lande, wo der Mensch der Reichtum des Menschen ist. Autorin: 1861, vor 150 Jahren, hat Zar Alexander der Zweite die Leibeigenschaft aufgehoben. Die Bauern erhielten von dem so genannten Befreier-Zaren ihre persönliche Freiheit, waren aber nicht frei. Denn fortan verfügten nicht mehr adelige Grundbesitzer über sie, sondern die gestärkte Dorf- gemeinschaft, Obschtschina. Das war eine Solidarhaftungsgemeinschaft, die in bestimmten Zeitabständen das Ackerland neu an die Bauern umverteilte. Erst 1903 wurde diese bäuerliche Solidarhaftung der Dorfgemeinde aufgehoben. Drei Jahre später konnte jeder Bauer seine Parzellen als Privateigentum registrieren lassen, ohne die Gemeinde fragen zu müssen. Maxim Gorki schreibt: Zitator: Der Zar hat die Bauern den Grundbesitzern fortgenommen und ist jetzt also der alleinige Herr über sie. Und wieder erhebt sich die Frage: Was ist denn nun aber die Freiheit? Es wird plötzlich der Tag kommen, an dem der Zar erklären wird, was sie bedeutet. Der Bauer glaubt fest an den Zaren, den alleinigen Herren über alles Land und über alle seine Reichtümer. Der Zar hat den Grundbesitzern die Bauern fortgenommen - er kann den Kaufleuten die Dampfer und Läden fortnehmen. Der Bauer ist ein Anhänger des Zaren, denn er versteht, viele Herren zu haben ist schlecht, einer ist besser. Take 10 O-Ton Boris Orlow, deutsch Das war das wichtigste Ereignis in der russischen Geschichte in den zwei letzten Jahrhunderten. Zum ersten Mal bekam die russische Gesellschaft die Möglichkeit oder besser gesagt, hatte den Mut, eine große Zahl von Bauern zu befreien. Eigentlich entwickelte sich Russland nach diesen Reformen von Alexander dem Zweiten in die Richtung der Demokratie. Autorin: Der Moskauer Historiker Boris Orlow spielt auf die Modernisierungspolitik Alexanders des Zweiten an, der Russland von 1855 bis 1881 regierte. Zar Alexander verfügte nicht nur die Aufhebung der Leibeigenschaft, unter der rund vierzig Prozent der gesamten Bauern in Russland lebten. Er reformierte auch das Justizwesen und das Militär. Das Ende der Leibeigenschaft bedeutete für den Zaren allerdings ein Dilemma. Denn der entscheidende Schritt wurde nicht getan. Der Zar hat die Bauern zwar befreit, aber sie erhielten kein Land als persönliches Eigentum. Deshalb verloren viele Bauern das Interesse an der Landwirtschaft und wanderten in die Städte ab. Take 11 Boris Orlow, deutsch Das war der Ausgangspunkt für die weitere politische und wirtschaftliche Entwicklung in Russland, wo die Großgrundbesitzer ihre Rechte behalten wollten und die Bauern oder die Leute, die in die Städte gefahren waren und zu Arbeitern wurden, unzufrieden waren mit der Situation. Auf der Grundlage dieser Unzufriedenheit entstanden die ersten politischen Parteien. Autorin: Mit seiner Politik legte der Zar zwar die Grundlagen für eine gewisse Demokratisierung der Gesellschaft, gleichzeitig aber leitete er damit, ohne es zu ahnen, das Ende des Zarismus in Russland ein. 1881 wurde Alexander der Zweite ermordet. 36 Jahre später hatte sich die politische Situation so zugespitzt, dass die Februarrevolution von 1917 die Dynastie der Romanows hinwegfegte. Die sozialdemokratisch ausgerichteten Menschewiki kamen an die Macht, und die Bauern bekamen politische Freiheit. Ungeduldig warteten sie auf die Zuteilung von Land. Atmo 6 Dorfmusik/Gesang freistehend, dem folgenden Text unterlegen Autorin: Die Bevölkerung des Russischen Reiches war damals zu 80 Prozent bäuerlich. Deshalb war eine Landreform das soziale Kernproblem Russ- lands. Die Lage der Bauern wurde zur Überlebensfrage für die Revolutionsregierung. Das haben jene radikalen Revolutionäre schnell begriffen, die sich im Oktober 1917 an die Macht putschten: Lenins Bolschewiki. Das zweite Dekret, das sie nach ihrer Machtübernahme erließen, war das Landdekret: Die Grundbesitzer wurden entschädigungslos ent- eignet. Atmo 7 Revolutionslied freistehend, dem folgenden Text unterlegen Autorin: Bis zu gesetzlichen Entscheidungen über eine Landreform verfügten lokale Sowjets der Bauerndeputierten über den Boden. Zehn Jahre später wurde in der Sowjetunion das traditionelle Bauerntum vernichtet und die Kollektivierung der Landwirtschaft erzwungen. Take 12 O-Ton Oleg Chlewnjuk, russisch Sprecher - overvoice Die Bolschewiki dachten, Privateigentum sollte abgeschafft werden, der Sozialismus sollte auf gesellschaftliches und staatliches Eigentum ge- gründet sein. Das ist die ideologische Voraussetzung. Die Kollektivierung ist aber in großem Maße auch aus praktischen Erfordernissen des Staates heraus erfolgt. Die Parteiführung beschloss, dass es nötig ist, in schnellem Tempo die Industrie aufzubauen und dabei vor allem die Schwerindustrie zu entwickeln. Autorin: Dafür, sagt Oleg Chlewnjuk vom Moskauer Staatsarchiv weiter, benötigte der Staat Mittel und Menschen. Im System der forcierten Industrialisierung diente das Dorf als eine Art innere Kolonie. Die Bauern wurden ausgebeutet wie ein kolonialer Teil der Bevölkerung. Sie waren ans Dorf gefesselt, denn sie hatten keine Pässe. Sie wurden verpflichtet, in die neu geschaffenen Kolchosen, die staatlichen Agrarbetriebe, einzutreten. Vielfach wehrten sich die Bauern dagegen. Besonders großen Widerstand leisteten die Kulaken, also diejenigen in den Dörfern, die den größten wirtschaftlichen und politischen Einfluss hatten. Es ist kein Zufall, dass sie massenhaft umgebracht wurden. Take 13 O- Ton Oleg Chlewnjuk, russisch Sprecher - overvoice Das war die Vernichtung all derjenigen Schichten der Bevölkerung, die gegen die staatliche Politik gegenüber dem Dorf Widerstand leisteten oder leisten könnten. Autorin: Eine besonders bittere Konsequenz der russischen Geschichte: Die halbherzige Aufhebung der Leibeigenschaft 1861, die die Probleme der Bauern in Russland nicht löste, hat maßgeblich zu den revolutionären Umwälzungen des Jahres 1917 beigetragen. Und die Sieger, die Bolschewiki, haben mit gnadenloser Gewalt die Rechtlosigkeit der Landbevölkerung zementiert. Die Tür zu Emanzipation und politisch-sozialer Entwicklung auf dem Lande, die Zar Alexander der Zweite einen Spalt weit geöffnet hatte, wurde von den Bolschewiki wieder zugeknallt. Als Folge der Zwangskollektivierung verringerten sich die Bauernwirt- schaften. Die Bauern hatten kein Interesse an einer normalen Arbeit, da sie alle Produkte dem Staat abliefern mussten. Das ineffektive Agrarsystem führte immer wieder zu Hungersnöten, etwa zu Beginn der 1930er Jahren, auf dem Höhepunkt der Kollektivierung. Take 14 O-Ton Oleg Chlewnjuk, russisch Sprecher - overvoice Seit jener Zeit wurden rund 2 Millionen Menschen in die Verbannung nach Sibirien und in andere entfernte Regionen geschickt, vor allem Bauern mit ihren Familien. Zehntausende hat man erschossen. Hunderttausende starben in der Verbannung. Bis zu 2 Millionen Bauern, so schätzen Historiker, haben ihre Höfe selbst vernichtet oder die Höfe wurden vernichtet. Und schließlich sind wegen der Hungersnöte 1930/31 wahrscheinlich 5 bis 7 Millionen Menschen ge- storben, die meisten von ihnen Bauern. Wiederholung von Atmo 2: Kremlglocken freistehend dann dem folgenden Satz unterlegen: Autorin: Der Rote Platz in Moskau ist ein beliebtes Ausflugsziel, auch wenn man ihn aus Sicherheitsgrünen teilweise abgesperrt hat. Vor den Gittern drängen sich Touristengruppen und Schulklassen. Fremdenführer wer- ben für den Besuch des Lenin-Mausoleums an der Kremlmauer. Atmo 8 Roter Platz, Lärm, Stimmen freistehend Autorin: Die Diskussion darüber, ob Lenin aus dem Mausoleum entfernt und bestattet werden soll, wird in Russland seit Jahren geführt. Zwei Drittel der Bürger Russlands sind inzwischen dafür, Lenin ganz normal zu beerdigen. Lenin, ohne den es wohl die Oktoberrevolution und die Gründung des Sowjetstaates so nicht gegeben hätte, gerät in Russland allmählich in Vergessenheit, sagt der Historiker Boris Chawkin: Take 15 O-Ton Boris Chawkin, deutsch Wer war Lenin - der kleine Mann, der eventuell ein deutscher Spion war oder nicht, das wissen wir nicht ganz. Aber er hat die Revolution 1917 geführt, für was, wissen wir nicht. Vielleicht wäre es ohne die Revolution besser gegangen. Lenin ist keine viel umstrittene Figur. Im Unterschied zur Zeit der Perestrojka ist die Leninzeit schon vorbei. Good Bye Lenin. Autorin: Lenins Projekt war, Russland auf neue ökonomische Gleise zu stellen, doch ohne Kapitalismus, sondern mit einer Orientierung auf soziale Garantien für die Werktätigen, sagt die Lenin-Forscherin Tatjana Koloskowa. Take 16 O-Ton Tatjana Koloskowa, russisch Sprecherin - overvoice Heute hat man Angst, davon zu reden. Mir scheint, man verschweigt bei uns jetzt die Oktoberrevolution, weil unsere Bevölkerung ohne sozialen Schutz lebt und die Machthaber nostalgische Stimmungen fürchten, die ihre geordnete Macht in Frage stellen und bedrohen könnten. Autorin: Kremlchef Michail Gorbatschow sah sich mit seiner Politik der Perestrojka, der Umgestaltung von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, seinerzeit als Erbe des Sozialutopisten Lenin. Gorbatschow wollte einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz schaffen. Er hat, wie einst Peter der Große, ein Fenster nach Europa geöffnet und hat den Bürgern seines Landes Freiheit, Selbstbestimmung und Menschenwürde geben. Atmo 9 Scorpions, Lied: Wind of change dem vorangehenden text unterlegen, kurz freistehend, dann dem folgenden Text unterlegen Autorin: Der Perestrojka Gorbatschows hat die Rockgruppe Scorpions aus Han- nover das Lied "Wind of change " gewidmet. 1990 spielte sie das Lied mit großem Erfolg auf ihren Tourneen durch die damalige Sowjetunion. Es wurde gleichsam zur Hymne der Perestrojka. Take 17 O-Ton Michail Gorbatschow, freistehend Autorin: "Die Perestrojka hat gesiegt", sagt Gorbatschow. "Sie hat die demokratische Umgestaltung so weit geführt, dass eine Umkehr nicht mehr möglich ist. Die Reformen sind schwierig, es wird Rückschläge geben, autoritäre Ausfälle, aber kein Zurück." Gorbatschow hat als Folge der Perestrojka die Macht verloren: im De- zember 1991 wurde er zum Rücktritt gezwungen. Das Sowjetregime ging unter. Der Historiker Boris Orlow meint, Gorbatschow sei letzten Endes doch gescheitert. Take 18 O-Ton Boris Orlow, deutsch Verschiedene Prognosen zeigen, dass maximal 20 Prozent der Bevölkerung für die weitere Entwicklung der Demokratie, für die weitere Entwicklung der Kultur sind. 80 Prozent sind nur für ein elementares Überleben in einer kritischen Situation. Von diesem Standpunkt aus kann man sagen, dass die denkende Schicht in Russland die 20 Jahre nicht genutzt hat, um eine demokratisch orientierte Atmosphäre in der Gesellschaft zu schaffen. Autorin: Aber die Intellektuellen kritisieren den autoritären Putin auf ihre Weise. So kursierte etwa im russischen Internet am Ende von Putins zweiter Amtsperiode 2008 eine Parodie aus Original-Zitaten: Atmo 10 Putin-Parodie freistehend, dann dem folgenden Text unterlegen Zitator: Wer könnte Präsident sein außer mir, denn ich hole die Kastanien aus dem Feuer. Atmo 10 (Fortsetzung) freistehend, dann dem folgenden Text unterlegen Zitator: Wer könnte Präsident sein, wenn nicht ich - denn keiner will die feindliche Übernahme des Kremls. Wir brauchen eine starke Präsidentenmacht. Wer könnte Präsident sein - ich. Und wir wissen, keiner ist dagegen, alle sind dafür. Atmo 10 noch mal kurz hochziehen Take 19 O-Ton Boris Orlow, deutsch In den Jahren, in denen Putin Präsident war, bekamen die Menschen regelmäßig ihre Renten, es gab viele Leute, die Autos gekauft haben, viele, die Wohnungen gekauft haben, es gab viele Leute, die als Touristen ins Ausland fuhren. Es herrschte die Atmosphäre in der Gesellschaft: Man muss unsere Hoffnung auf die weitere Entwicklung nicht mit den unklaren, demokratischen Strukturen verbinden, sondern mit dem aktiven Politiker, der an der Spitze des Staates steht und für uns sorgt. Die Mündigkeit als Zeichen einer erwachsenen Zivilgesellschaft entwickelte sich nicht in diesen zehn Jahren. Autorin: Doch in letzter Zeit sind viele Menschen aus ihrer Lethargie erwacht: Bei Protestkundgebungen klagen sie ihre Bürgerrechte ein und fordern den Rücktritt Putins, der heute Ministerpräsident ist. Atmo 11 Kundgebung freistehend, dann dem folgenden Text unterlegen Autorin: Ingrid Schierle vom Deutschen Historischen Institut in Moskau hält es für falsch, das westeuropäische Modell der Zivilgesellschaft auf Russland zu übertragen. Take 20 O-Ton Ingrid Schierle Ich denke, es gibt in der russischen Gesellschaft andere Formen, andere soziale Ordnungen. Das sind Formen des sozialen Zusammenhalts. die kennen wir in westlichen Gesellschaften nicht - also dieses sich gegenseitig beistehen, sich gegenseitig helfen, im Alltag viel mehr kommunizieren als wir das tun, unter Freundschaft noch etwas anderes verstehen. Autorin: Wie das ausgesehen hat, erläutert Boris Orlow, der in der vergleichsweise liberalen Chruschtschow-Ära um 1960 wie viele andere sowjetische Künstler und Intellektuelle auf Reformen in seinem Land gehofft hat. Take 21 O-Ton Boris Orlow, deutsch Mitte der 60ger Jahre hatten wir die sogenannte Küchendemokratie. Die Leute versammelten sich in den kleinen Küchen, tranken Tee und nicht nur Tee, sie träumten von der weiteren Entwicklung in Richtung Humanität. Wenn uns damals irgendjemand gesagt hätte, es kommt die Zeit, dass dieses Riesenland zerfallen wird, konnten wir sagen, du bist verrückt, es ist unmöglich, so ein Riesenland mit einer so großen staatlichen Struktur, mit dieser Armee. Und doch kam es 1991 zum Zerfall der Sowjetunion. Take 22 O-Ton Boris Chawkin, deutsch Ohne europäisches Denken geht es in Russland nicht. Russland wird ein demokratisches Land werden, Russland ist teilweise demokratisiert worden, aber Demokratisierung ist ein Prozess, und es wird lange dauern. Mit der starken Hand haben wir schon Genossen Stalin gehabt, den zweiten wollen wir nicht, danke, nie wieder. Autorin: Die Hoffnung des Historikers Boris Chawkin: Auch er ist zuversichtlich, dass sich in Russland eine neue politische Elite bil- den wird, die frei ist von der Last der Vergangenheit. Sie wird Russland modernisieren - und sei es, in hundert Jahren. ENDE Russische Schatten, S.474 aus: Maxim Gorki: Unzeitgemäße Gedanken... S. 178 Russische Schatten, S.399f Maxim Gorki: Meine Universitäten, S. 113 1