KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : Literatur Titel : "Ein Traum mit Sahne". 50 Jahre Berliner Künstlerprogramm des DAAD AutorIn : Carsten Probst und Barbara Wahlster Redakteurin : Barbara Wahlster Sendetermin : 8.12.2013 Regie : Klaus-Michael Klingsporn Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig © Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Enard Sprecher 1: Ich mag das Kino von Fassbinder sehr. Und diese dunklen Bilder von Döblins „Berlin Alexanderplatz“ im Fernsehformat waren Teil meiner persönlichen Berlin-Mythologie. Je mehr ich mich in der Stadt bewege, desto stärker verändert sich mein Bild besonders hinsichtlich Maß und Größe und Verschiedenheit. Dieser Fluch des Gigantismus, könnte man sagen. Hektar um Hektar: Stadt und Natur – ich bin an sehr dichte europäische Städte gewohnt: Barcelona, Paris oder Rom. Das ist schon ein Schock. Tacita Dean Sprecherin: Eigentlich kam ich als Künstlerin, die über das Meer arbeiten wollte. Aber dann landete ich auf einem fest auf Land verankerten Ort. Auf meinen Bildern seither sehen Sie eine Menge Bäume. Jemand sagte mir einmal: Das Meer ist das Symbol Englands, und Bäume sind das Symbol Deutschlands. Ich arbeitete mit verschiedenen Leuten hier, etwa mit Gerhard Steidl, dem Verleger, und meine Arbeit veränderte sich in der Zusammenarbeit mit diesen verschiedenen Leuten total. Vielleicht war es gerade mein Leben hier, das mir erlaubte, über England zu arbeiten, über meine Familie, mehr als ich es je tun konnte, als ich noch dort war. Hier habe ich mehr Distanz. Und ich habe aufgehört, mich hier als Fremde zu fühlen. In gewisser Weise fühle ich mich inzwischen behaglich hier, und ich freue mich immer, hierher zurückzukommen. Liao Yiwu Übersetzerin: Es kann sein, dass Berlin nicht die schönste Stadt der Welt sein mag, aber sie ist wohl für die bedeutendste Stadt – warum? Weil diese Stadt über Erinnerungskultur verfügt. Diese Stadt hat auch einen ganz tiefen Background von einem Diktatur; das kenne ich und ich fühle mich so vertraut mit dieser Stadt. Pavel Bra?la Sprecher 2: Als ich in Berlin ankam, war es August, die ersten Tage im August. Ich kam direkt aus Moldawien, wo es richtig heiß war, so um die vierzig Grad. Wirklich, ziemlich heiß! Ich trug Flip Flops, Shorts, ein T-Shirt, was man so trägt im Sommer, stieg aus dem Flugzeug - und es waren elf Grad. Es war superkalt. Das waren meine ersten Eindrücke - eine klare Ansage: Hier bist du an einem Ort, der speziell ist. Sei auf alles gefasst! Diese Stadt ist nur für starke Menschen. Autoren CP & BW im Wechsel: Mathias Enard, französischer Schriftsteller, lebt in Barcelona und ist in diesem Jahr Gast des Künstlerprogramms. Tacita Dean, Videokünstlerin aus England, lebt seit ihrem DAAD-Stipendium 2000 in Berlin. Liao Yiwu, chinesischer Schriftsteller und Dissident, lebt seit seinem DAAD-Aufenthalt 2012 im Exil in Berlin. Pavel Bra?la, Video- und Performancekünstler aus Moldawien, Gast des Berliner Künstlerprogramms im Jahr 2005, lebt in Chisinau und Berlin. Pavel Bra?la Sprecher 2: Jeder auf dem Flughafen trug Jackett - und ich stand da also: in meinem Hawaii-T-Shirt. Man sah sich nach mir um, wie nach einem Alien. Gut, das war nur der erste Eindruck. Danach hatte ich eine fantastische Zeit. Berlin ist ein Paradies für einen Künstler. Du hast ein nettes Apartment, einen Ort, wo du ausstellen kannst. Du hast eine sehr nette Community, die sich um dich kümmert und dich in die Kunstszene einführt. Connections und so weiter. Sie kümmern sich wirklich um dich. Du kommst als völlig Fremder, auch wenn du vorher schon mal in der Stadt gewesen bist, so wie ich. Aber jetzt findest du hier sofort deinen Platz. Es ist einfach eines der besten Aufenthaltsstipendien, die es gibt. Text BW: Die Künstlerinnen und Künstler, die vom Künstlerprogramm des DAAD eingeladen werden, ziehen mit Partnern, Kindern und manchmal auch mit Haustieren in eine der quer durch den alten Westen der Stadt angemieteten Wohnungen oder Ateliers. Dass da womöglich im Laufe der Jahre besondere Schichtungen und geheime Korrespondenzen zwischen den Bewohnern und den Künsten entstanden sein könnten, erscheint dem französischen Schriftsteller Mathias Enard eher unheimlich. Enard Sprecher 1: Ich weiß, dass hier bis zum vergangenen Juli ein russischer Autor wohnte. Und tatsächlich hatte ich den Impuls, beim DAAD nachzufragen, wer meine Vorgänger waren. Als ich dann nachgedacht habe, fand ich es keine so gute Idee mehr. Sich so eingebettet zu fühlen inmitten von Autoren, Dichtern, Künstlern, Filmemachern - das hat ja durchaus auch etwas Beunruhigendes. Wahrscheinlich ist es klüger, das alles zu vergessen und etwas Neues zu beginnen. Text CP: Der peruanische Installationskünstler Armando Andrade Tudela kam 2008 aus dem französischen Saint-Etienne mit seinem DAAD-Stipendium nach Berlin. Auch für ihn waren die ersten Eindrücke eher verunsichernd: Armando Andrade Tudela Sprecher 2: Es war ziemlich aufregend am Anfang, ziemlich neu natürlich auch. Wir hatten plötzlich eine riesige Altbauwohnung, in der Donald Judd früher mal gewohnt hatte – verstehen Sie? All solche Sachen – als ob du zu einer Party eingeladen wirst, die viel interessanter wird, als du eigentlich wolltest. Es war nett: ein kleiner Schock, wenn man gerade aus der französischen Provinz kommt, wo die Kunstszene nicht unbedingt herausragend ist. Ich kannte da ein paar Kunststudenten, machte Musik. Aber plötzlich war ich hier inmitten einer riesigen Community mit lauter interessanten Künstlern gelandet. Ständig wurde versucht, uns zusammenzubringen. Es war auch eine Zeit, wo sich innerhalb des DAAD etwas veränderte, neue Leute ins Team kamen, und es war erstaunlich zu sehen, wie ich mich plötzlich quasi inmitten all dieser Leute wiederfand. Liao Yiwu Übersetzerin: Was mich so schockiert hat, war eigentlich die Wohnung – als ich das Programm angetreten bin mit dem DAAD-Programm, da hab ich eine Wohnung bekommen. Und bin in sie eingetreten – da war ich schockiert: eine wunderschöne Riesenwohnung. Und da hab ich mir gedacht, so ein Schriftsteller aus dem chinesischen Bodensatz, habe ich es überhaupt verdient? Und all meine Vorfahren – Konfuzius, Lao Tse, Zhuang Zi - sind eigentlich eher meine Vorbilder. Und ich kann nicht glauben, dass sie jemals in so einer wunderschönen Wohnung wie dieser gelebt hätten. Text CP: Der chinesische Dissident, Dichter und Schriftsteller Liao Yiwu hat dank seines Stipendiums hier eine Basis für sein Exil gefunden – wie vor ihm etwa Antonio Skarmeta nach dem Putsch in Chile. Andere, vor allem osteuropäische Künstler, machten beim DAAD-Station – vor der Wende, aber auch während des Jugoslawienkrieges. Der ungarische Maler László Lakner kam 1973 – und blieb: László Lakner Das erste Jahr war die schönste Zeit in meinem Leben, könnte man sagen. Also, es klingt jetzt fast kitschig, aber ich war in Aufbruchstimmung. West-Berlin war in Aufbruchstimmung, und auf dem Ku'damm zu spazieren, das war einfach eine unvorstellbare Freude und Glück für mich. Ich war in Ungarn in einer Situation – ich war nicht verfolgt, das wäre falsch zu sagen, es war nicht 1945, sondern wir schrieben eben 1973 – mindestens ich war auf eine Liste gekommen, für Künstler, die in drei Kategorien aufgeteilt waren in dem ungarischen Kulturministerium, die ich so übersetzen würde: Die Unterstützten, die Geduldeten und die Verbotenen. Und ich war eben – war nicht in die Verbotene, aber in die sogenannte Geduldete Kategorie gekommen. Also keine Chance hatte ich in Ungarn, weiter zu malen. Liao Yiwu Übersetzerin: Das war erstmal die Wohnung und jetzt kommen wir mal zu der Leitung, die künstlerische Direktorin Frau Katharina Narbutovic: Für mich ist sie ja so gut wie ein Engel und unter dem Flügel des Engels habe ich mich so wohl gefühlt und so sicher gefühlt. Und dann habe ich den Kapucinski Preis bekommen und als Schriftsteller im Exil habe ich mir gedacht, das muß eigentlich durch Katharina Narbutovic gekommen sein. Mit großer Freude bin ich nach Warschau gefahren, habe ich den Preis entgegengenommen; dann kam ich zurück und wie bitte: Friedenspreis. Ich bin der Friedenspreisträger? Die Freude war riesig. Dann habe ich im Internet nachgeforscht und vor mir waren Leute wie Albert Schweizer, Havel, Habermas? Das ist eine Überraschung jenseits von meinem Horizont. Deshalb würde ich sagen: Mein Glück hat mit DAAD begonnen. Text CP Für manche Künstler, die eingeladen werden, gilt das bis heute – auch wenn sie sich nicht unbedingt als Exilanten begreifen, gelingt es ihnen, mithilfe der Einladung nach Berlin, die zuweilen schwierige Lebenssituation in ihren Heimatländern hinter sich zu lassen. Wie Danilo Duenas – der kolumbianische Maler, Zeichner und Installationskünstler kam im Jahr 2004 aus Bogota nach Berlin. Danilo Duenas Sprecher 2: Die Zeit, bevor ich das Stipendium erhielt, war für mich eine Zeit, in der ich beinahe Schiffbruch erlitten hatte; in dem Sinn, dass man ständig dabei ist, zu reden, etwas zu tun, Dinge zu vertiefen, zu schreien - aber alles das ohne Antwort. In Kolumbien zu leben, war schwierig in dieser Zeit. In dieser Gesellschaft übernimmt keiner Verantwortung für irgendetwas! Hier in Deutschland zu sein, über das ich vorher überhaupt nichts wusste, außer von meiner Frau, die früher einmal zwei Jahre in Bonn gelebt hatte - dieses Deutschland kam mir jetzt vor wie der Ort, von dem ich immer glaubte, er müsse irgendwo existieren, an den ich aber bisher nie gelangt war. Ich glaubte immer, er müsse existieren schon aufgrund der Schönheit, die diese Vorstellung hatte. Es war in gewisser Weise das verheißene Land, das ich immer erreichen wollte und das ich plötzlich, während meines Stipendienjahrs, in seiner Existenz bestätigt fand. Text BW: Für Samanta Schweblin, Schriftstellerin aus Buenos Aires, war schon der ganz normale Alltag in ihrer Heimat eine ständige Gratwanderung. Die Ausnahmesituation, in die sie dann ihr Stipendium 2012 in Berlin versetzte, und auch die damit verbundene finanzielle Absicherung sorgten bei ihr für einen kreativen Schub: Schweblin Sprecherin: In Lateinamerika ist es sehr problematisch, sich freie Zeit leisten zu können. Weil Du viele Stunden für wenig Geld arbeiten musst. Um Dir Zeit zu kaufen, brauchst Du also einen Plan A und einen Plan B. Mit Plan A verdienst Du das Geld, um Plan B zu realisieren und das zu tun, woran mir wirklich liegt: Schreiben. Insofern war das erste Jahr mit dem DAAD sehr seltsam. Ich war in einer künstlichen Situation: d.h. ohne Plan A konnte ich plötzlich full-time mit meinem eigenen Kopf arbeiten – 24 Stunden am Tag. Dadurch habe ich gelernt, auf völlig neue Weise zu arbeiten. Text CP: Der französische Maler Bernard Frize erhielt 1993 die Einladung zu einem Aufenthalt in der Stadt und pendelt seither zwischen Paris und Berlin. Bernard Frize Sprecher 2: Ich habe immer die Qualität der Beziehungen zu den Leuten hier genossen. Das ist etwas, das ich so nicht gewohnt war. Das ist heute noch so. Ich mag die Kunst-Community hier – natürlich nicht alles und jeden, aber auf einer bestimmten Ebene. Es gibt hier nicht diese dauernde Konkurrenz, wie Sie sie in vielen anderen Städten vorfinden. Die Gespräche über Kunst, die hier möglich sind, führen mich zu Interessen jenseits des Kunstmarktes und der Galerienszene – zum Beispiel zur Kunstgeschichte der Stadt. Kürzlich war ich in der Berlinischen Galerie und habe mir dort die große Ausstellung "Berlin - Wien" angesehen. Man kann vielleicht sagen, dass es da und dort noch bessere Werke gegeben hätte, die man hätte zeigen können - aber dennoch ist es so interessant, denn es ist so verschieden von meiner Vorstellung von Kunstgeschichte, die – zugegeben – auf einer französisch-italienisch geprägten Kunstgeschichte beruht, wie ich sie während meines Studiums kennengelernt habe. Aber eben gerade das fasziniert mich immer wieder, seit ich in Berlin bin: Der Umstand, dass es hier ein ganz anderes Verhältnis zum Leben gibt, eine andere Art von Philosophie, eine andere Art von Kunstgeschichte. Alles ist anders – und ich lerne jeden Tag etwas Neues hinzu, und das ist, was mir gefällt. Herliany Sprecherin: Als Schriftsteller hat man in Indonesien keine großen Schwierigkeiten: Schreiben ist nicht das Problem, Phantasie und Kreativität sind nicht das Problem. Womit wir zu kämpfen haben sind ökonomische Probleme. Wir sind alles andere als ein Wohlfahrtsstaat. Und das bedeutet, dass viele Menschen nicht einmal genug zu essen haben. Da kommt Literatur, da kommt Kunst erst an zweiter Stelle. Viele meiner Kollegen in Indonesien müssen sich mit dem Überleben befassen. Hier ist es offensichtlich, dass keiner der Künstler, die ich sehe, mit dem Hunger zu kämpfen hat. Und vom Schreiben allein kann kein Schriftsteller, keine Schriftstellerin überleben. Es ist einfach schwierig Geld zu verdienen – sei es mit Veröffentlichungen in Zeitungen, sei es durch Buchveröffentlichungen oder in Verlagen. Vor allem für diejenigen außerhalb der Insel Java ist es sehr schwer. Text BW: Dorothea Rosa Herliany aus Indonesien will während ihres derzeitigen Berlin-Aufenthaltes eine Prosaarbeit fertig stellen – andere endlich ohne Ablenkung an einem Gedichtband arbeiten. Mathias Enard legt sich noch nicht fest – und die südafrikanische Schriftstellerin Antjie Krog hat für ihren derzeitigen Aufenthalt ein ziemlich grundsätzliches Projekt: Enard Sprecher 1: Ich bin mit mehreren Vorhaben hierher gekommen. Ich arbeite immer an mehreren Romanen gleichzeitig, bis einer sich loslöst und nach Vorne rückt und den ich dann auch zuerst fertig schreibe. Ja, ich hatte mehrere Pläne, in unterschiedlichen Stadien – und bin immer noch neugierig, was ich hier schließlich machen werde. Allein schon die Reise öffnet Perspektiven, die man nicht unbedingt zuvor schon hatte; die Verschiebung, bringt das. Ich spreche für mich persönlich, wenn ich sage, es ist wichtig, sich zu bewegen, sich zu erneuern, neue Horizonte zu entdecken, offen zu sein für Dinge, die anderswo passieren Krog Sprecherin: Mit den Jahren haben sich meine Gedichte und meine Prosa, meine nicht-fiktionalen Texte, auseinanderentwickelt und zwei verschiedene Wege eingeschlagen. Meine Sachtexte sind politisch geworden und meine Lyrik absolut persönlich. Und ich möchte die beiden Stränge wieder zusammenbringen. Ich möchte, dass meine Dichtung wieder politisch wird, wie sie das über viele Jahre war. Ich kam mit dem Wunsch hierher, politisch über Südafrika zu schreiben - aber auch über Armut zu schreiben und über die eigene Position dazu. Wie zum Beispiel kann man über Verliebtsein schreiben, wenn die Vergewaltigungs-Statistiken so extrem hoch sind? Wie kann man über seinen schönen Garten schreiben, wenn Obdachlosigkeit ein so vordringliches Problem ist. Es geht um die eigene Position im Kontext von Leid und Armut. Damit beschäftige ich mich hier. Text CP: Der Unterschied zwischen den Lebenswelten - der bisher gewohnten und der neuen, oft wenig bekannten in Deutschland – ist eine spezielle Herausforderung, nicht nur hinsichtlich der völlig veränderten eigenen Lebensumstände, sondern auch in Bezug auf das eigene Werk. Der moldawische Videokünstler Pavel Bra?la war wenige Jahre vor seinem Berlin-Stipendium bereits zur documenta nach Kassel eingeladen worden, wodurch sich für ihn schlagartig alle Türen zum westlichen Kunstbetrieb geöffnet hatten. Pavel Bra?la Sprecher 2: In Fragen des Kunstmarktes und solcher Sachen bin ich nicht so bewandert. aber Anerkennung zu finden, akzeptiert zu sein als Künstler aus dem Osten - dafür müssen Sie schon einigermaßen originell sein. Und Sie müssen gut informiert sein über den Kunstbetrieb und irgendeine Form des Ausdrucks finden, die vielleicht nicht immer voll verstanden wird, die aber zumindest rezipiert werden kann im westlichen Kunstbetrieb. Das Problem mit meiner Heimat Moldawien ist, dass wir dort hundert Jahre zurück sind. Ich unterrichte da als Gastprofessor an der Kunsthochschule. Und das größte Problem dort ist, genau so wie in Russland, dass die Kunstgeschichte dort mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts endet – beim Postimpressionismus. Wir haben da also eine Lücke von gut hundert Jahren. Und das ist der Grund, weshalb man sich sehr bewusst sein sollte - bewusst ist das Wort! - sehr bewusst über das, was in der Gegenwart geschieht. Krog Sprecherin: Neben all der Schönheit und der Energie, spielt das Fehlen von Armut hier in Berlin eine entscheidende Rolle. In Südafrika vergeht kein einziger Tag, an dem nicht irgendjemand an meine Tür klopft und um Geld oder um Essen bettelt oder Schlimmeres; und hier: da kann ich ganz offen weiß sein, ich bin nicht länger schuldig, weiß zu sein, ich muß die Tatsache, dass ich weiß bin nicht verstecken. Ich bin einfach nur normal, kann durch die Straßen laufen, ohne bemerkt zu werden; ich sitze im Bus und falle nicht auf. Für mich ist es eine wundervolle Stadt. Wenn ich ein zweites Leben hätte, würde ich gerne hier leben wollen. Sie belebt mich zutiefst … Text BW: Viele der Stipendiaten leben weiterhin im Spannungsfeld von Zugehörigkeit und Fremdsein, auch wenn sie danach in Berlin geblieben sind. Der Filmemacher Sebastián Lelio aus Chile und die Schriftstellerin Samanta Schweblin aus Argentinien betreiben in Kreuzberg mittlerweile ein eigenes Restaurant, das „Gloria“ – benannt nach dem preisgekrönten Erfolgsfilm von Lelio auf der Berlinale 2012. Lelio Sprecher 1: Ich glaube man geht doch weg, um besser sehen zu können. Man geht, um etwas entziffern zu können. Selbstverständliche Zugehörigkeit fördert eine Art von Blindheit. Wenn man sich davon entfernt, weggeht und die Schiffe verbrennt, wie wir sagen, also alle Bande kappt, dann schaust Du aus der Entfernung, aus der Fremde auf das Vertraute. Dann klären sich die Augen. Ich suche die Distanz, um besser zu sehen. Malen aus größerem Abstand, erlaubt einem, die Summe des Ganzen zu sehen. Das ist doch genau der Grund, warum viele Künstler, viele kreativ Tätige, ihre Länder verlassen. Mir scheint das sehr natürlich und das hat nicht zu tun mit dem Gefühl, dass du dich beengt und in einem Käfig fühlst. Du hast auch eine Art von Verantwortung dem eigenen Land gegenüber. Wenn du es verlässt, dann kannst Du vorher Unsichtbares lesen, weil man eben drinnen völlig umnebelt war. Schweblin Sprecherin: Für jemanden, der schreibt, ist die ungeklärte Situation zwischen den Sprachen phantasieanregend. Das ist extrem aufregend. Auch zuzuhören, wenn jemand eine andere Sprache spricht und nicht genau zu wissen, worum es geht, nur zu vermuten. Das ist fantastisch. Alles Geschriebene, das man tagsüber sieht, ist ohne Bedeutung. Man muss also mehrere Räume füllen. Das heißt man interpretiert unablässig. Wie beim zappen, man sieht Bilder ohne zu wissen, was dahinter steckt. Diese Lücke muss man füllen; also erfindest Du, was du willst. Abgesehen davon ist es dann im Alltagsleben doch etwas schwieriger mit dem Deutschen. Text CP: Fremdheit - Sprachbarriere: Nicht immer wird das nur als negativ, sondern auch als produktiv im Sinne der eigenen, künstlerischen Arbeit wahrgenommen, wie bei dem peruanischen Künstler Armando Andrade Tudela, der seit fünf Jahren in Berlin ist, oder bei Tacita Dean, die schon seit dem Jahr 2000 hier lebt. Armando Andrade Tudela Sprecher 2: Etwas, das wirklich wichtig wurde, seit ich hier bin, ist das Werk von Sigmar Polke, das mich schon früher immer fasziniert hat. Ich hatte früher schon einige Bücher über ihn gekauft, aber ich verstand ihn erst hier wirklich, den Kontext, in dem sein Werk entstanden ist. Das Interesse daran, der Einfluss, den es auf mich hatte, war aus der örtlichen Distanz heraus entstanden. Da ich Berlin und Deutschland, die Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg inzwischen besser kennengelernt habe, verstehe ich die kritische Dimension seiner Bilder. Auf diese Weise hat sich Polkes Einfluss auf meine Arbeit geformt, und zwar in Hinsicht auf eine stärkere kritische, politische Position. Das hat mir mehr gebracht als nur mit Leuten herumzuhängen, die zeitweise in Berlin sind. In diesem Fall hat die Sprachbarriere mich sogar davor bewahrt, zu sehr beeinflusst zu werden von Deutschland und geholfen, mir die Situation in Deutschland bewusster zu machen. Tacita Dean Sprecherin: Mit dem DAAD-Stipendium erhielt ich die Gelegenheit, nach Berlin zu kommen. Ich war nicht besonders fest an London gebunden. Dort hatte ich eine lausige Wohnung gemietet und beschloss, das alles mal ein Jahr hinter mir zu lassen, packte mein Auto voll und fuhr nach Berlin mit Matthew, meinem Mann. Ich dachte: Ich ziehe mich einfach mal ein Jahr raus aus allem. Aber dann war ich ziemlich erstaunt. Ich spreche ja kaum ein Wort Deutsch, aber ich staunte, wie wohl ich mich trotzdem hier fühlte. Viele Dinge hatten sich verändert. Ich fühlte mich hier weniger als Engländerin, sondern viel mehr verbunden mit Europa, mehr als ich es in England je tat. Ich genoss diese Nähe zu anderen Ländern, die Möglichkeit, einfach über Land zu reisen zu allen diesen Ländern. Text BW: Sebastián Lelio, chilenischer Filmemacher, Stipendiat im Jahr 2012: Lelio Sprecher 1: Ich arbeite audiovisuell – das heißt, ich bin völlig fixiert auf Hören und Sehen und Lesen. Nicht zu verstehen, hat mir zunächst durchaus gefallen. Heute passiert es mir, dass ich Lust habe, die Zeitung aufzublättern. Ein wenig kann ich mir da zusammenreimen. Aber ich müsste erst noch mal studieren. Man lernt diese Sprache nicht auf der Strasse. Ich würde sie zwar gerne lernen, aber ich habe keine Zeit dazu. Mich frustriert das vor allem im Kino hier in Berlin. Entweder ist alles auf Deutsch synchronisiert oder die Filme laufen in der Originalsprache. Da kann ich dann nur Spanisch, Englisch oder mit größter Mühe Französisch verstehen. Meine Kinogewohnheit mehrmals die Woche ist hier gestorben. Das ist das einzige, was mich wirklich stört. Text BW: Antije Krog, Schriftstellerin aus Südafrika, und Mathias Enard aus Frankreich, beide Zur Zeit Stipendiaten des Berliner Künstlerprogramms: Krog Sprecherin: Auch wenn Afrikaans nicht Deutsch ist, so scheint es doch, als würden die Sprachen ein gemeinsames historisches Gedächtnis teilen. Ich sehe viele deutsche Wörter, die es nicht gibt im Afrikaans, aber die das Afrikaans erinnert. Und das reichert meine Dichtung an – ganz wunderbar. Ich bin immer wieder erstaunt über das, was hier passiert. Berlin ist eine Stadt voller Geschichte und ich lerne, wenn ich sehe, wie diese Stadt mit der Geschichte umgeht. Ein kleines Beispiel: Man gab mir ein Buch mit Pergamon-Gedichten von Gerhard Falkner. Und ich war völlig erstaunt, denn eine der großen Fragen, denen sich ein Schriftsteller heutzutage stellen muß, ist, wie man mit all den modernen Technologien umgehen soll: den SMS, den Skypes, den emails. Es müßte Teil der Dichtung werden, aber wie um alles in der Welt soll das gehen? Und dann sind da diese Pergamon Gedichte, die uralte griechische Dichtung von unglaublicher Schönheit mit moderner Technologie verbinden. Enard Sprecher 1: Die Idee, bei Null anzufangen ist natürlich reizvoll; auch wenn das nicht geht. Zumindest doch mit einer neuen Erfahrung zu beginnen an einem neuen Ort, mit einer neuen Sprache und Umgebung. Und darin einem Wunsch, einem Bedürfnis nachzugeben nach Neubeginn und nach einem Lernprozeß; damit verbunden natürlich der Wunsch, meine Literatur zu verändern, mich von der Stadt, von Berlin, von Deutschland durchströmen zu lassen und zu sehen, was das in mir auslösen würde. Musikbreak? Text BW : Wenn sich der schwedische Schriftsteller Lars Gustafsson zurückerinnert an seine Zeit beim DAAD im Jahr 1972, dann beschreibt er eine für Gäste heute nur noch schwer nachvollziehbare Situation – und eine, die ursprünglich Pate stand für den Versuch, die Welt an die Spree zu bringen. Gustafsson Es gab vor allem die Mauer. Ja, ein dunkles Berlin mit Steinkohlenrauch. In der Nacht hörte man die Erschießungen bei der Mauer von Zeit zu Zeit. Ein Besuch in Ostberlin war ja ein Unternehmen, das einen Tag in Anspruch nahm. Und es war lehrreich, es war nicht gut, aber es war lehrreich, in einer solchen Stadt zu leben. Und an nebligen Tagen hörte der Flugverkehr auf. Man fühlte sich wirklich isoliert Mit dem Zug zu fahren, war ja widerlich. Es kamen also uniformierte Inspekteure und fragten, welche Bücher man mit sich hat. Aber intellektuell isoliert war man wirklich nicht. Es gab also diese wunderbare, kreative Walter Höllerer mit seinem literarischen Kolloquium. Es gab die Anfänge von der Jungbuchhändlerkeller, wo man spannende neue Autoren treffen konnte. Und es gab natürlich diese Autoren meiner Generation, die man leicht treffen konnte. Mein Sohn John wurde ein bisschen kritisiert in der schwedischen Schule in der Landhausstraße. Es wurde ihm vorgeworfen, dass er die Deutschaufgaben nicht gelesen hatte. Und dann sagte er, ich saß die halbe Nacht mit Günter Grass und meinem Vater im Bundeseck. Und so war es tatsächlich. Günter Grass wohnte in der Stierstraße, Johnson irgendwo in der Nähe, Enzensberger in der Fregestraße und Max Frisch in der Sarazinstraße. Wir reden also von weniger als einem Quadratkilometer und da saß die deutsche Literatur mit ein paar wichtigen Ausnahmen, die nicht da saßen. Ja, mit Johnson habe ich tatsächlich Details in meinem Roman Sigismund diskutiert und er hatte viele gute Ratschläge, obwohl der Roman ziemlich verschieden von Jahrestage ist. Aber er hatte gute Ideen. Uwe Johnson war ein sehr sympathischer Mann. Ein bisschen in sich vertieft, aber sympathisch. Damals rauchten wir ja alle Pfeife, wir hatten Brillen mit dicken Bögen, Wollpullovern und Bärte und haben Pfeife geraucht. Text CP: Ganz ähnlich Lázló Lakner, der ungarische Maler, der 1973 aus Budapest nach Berlin kam und hier das Szenario des Kalten Krieges von der anderen, der westlichen Seite aus erlebte: László Lakner Als ich in Berlin – West-Berlin – mit DAAD-Stipendium mich aufhielt und mein Passport ablief nach vier Monaten, als ich erstmal daran denken konnte, vor hier aus wegzureisen, dann war es schon gefährlich.Also da waren ständige, strenge Kontrollen an der Grenze, egal ob man mit Auto oder mit Zug rüberfahren wollte, müsste man erst einmal stoppen, in einer Reihe stehen mit Auto, die Ausweise irgendwo auf einem Laufband einsetzen. Und erst wagte ich, mit Zug und Auto zu fahren, als ich einen provisorischen deutschen Pass bekommen habe. Text CP: Lakner hatte Glück - nicht nur weil ihm das Berliner Stipendium zahlreiche neue Kontakte zu westlichen Galerien ermöglichte, sondern auch, weil man seine konzeptuell geprägte Malerei hier schnell verstand und er von unverhoffter Seite Freunde und Unterstützer fand: László Lakner Natürlich, das ist ganz klar, einen ganz wahnsinnigen Einfluss hat Berlin auf mich gemacht und überhaupt die internationale Kunst, die ich hier so von der Nähe kennengelernt habe. Erst hier habe ich Ausstellungen gesehen, wo meine schon in Ungarn hochgeschätzten Meister zusammen ausgestellt waren. Das DAAD arbeitet auch daran, dass die eingeladenen Künstler irgendwie einen Kontakt finden hier in Berlin für ihre Kunst, und fast alle Künstler, die vom DAAD eingeladen waren, haben dann hier auch Ausstellungen machen können. Dort war von mir mein erstes ausgestelltes Bild, ein verschnürtes Georg-Lukács-Buch. Das Thema habe ich komischerweise erst als Fotowerke gemacht. Und dann, als ich nach Berlin kam, wagte es ein deutscher Diplomat, damals aus Budapest ein Bild, nämlich dieses Georg-Lukács-Buch, aufgerollt nach Berlin gebracht hat mit seinem Auto. Es war hier wieder aufgespannt, ausgestellt, und das kaufte der Berliner Senat sofort, so kam ich nach Berlin: ich war schon vertreten mit einem Bild im Senat. Text CP: Das alles ist Geschichte. Doch die Spuren dieser Geschichte prägen das Gesicht der Stadt bis heute. Für die Videokünstlerin Tacita Dean macht gerade das Berlin zu einem einzigartigen Ort historischer Erfahrung: Tacita Dean Sprecherin: Ich erinnere mich daran, wie deutlich wahrnehmbar die Teilung der Stadt und des ganzen Landes war und immer noch ist. Sie konnten sie immer noch riechen, Sie wussten, wenn sie im Osten waren, dass sie diesen Geruch von Braunkohleöfen einatmen. Im Jahr 2000, während meines Stipendiums, gab es auch noch den dauernden Streit um die Zukunft des Palastes der Republik und immer neue Beschlüsse und Resolutionen, und kaum eines dieser Gebäude ist noch erhalten. Oder der Potsdamer Platz – nichts ist da jetzt mehr, wie es vorher war. Der Punkt für mich an Berlin war und ist bis heute, dass es eine Stadt in Bewegung ist, nichts stand damals endgültig fest, es war und ist offen, interpretiert zu werden bei jedem, der will. Und das liebe ich. London und seine Institutionen sind festgelegt, ihre Identität ist felsenfest zementiert. Berlin nicht. Gerade für mich als Künstlerin wirkt die Kunstszene hier im Vergleich sehr offen und das Leben hier ziemlich aufregend. Das war einer der Gründe, weshalb ich geblieben bin. Es kommt mir so vor, als könne ich meine Tage hier mehr genießen. In London verlierst du viel Zeit, hier nicht, hier hast du mehr vom Tag. Vielleicht liegt es einfach daran, dass ich Deutsch nicht so gut verstehe und dass ich dadurch mehr Zeit mit meinen Gedanken verbringe, was einfach wunderbar ist und was mir in London einfach nicht gelingen würde. Text CP: Für den französischen Maler Bernard Frize, der 1993 in die Stadt kam, und den moldawischen Videokünstler Pavel Bra?la bildet der historische Kosmos Berlins einen Hauptgrund für ihre Entscheidung, in der Stadt zu bleiben: Bernard Frize Sprecher 2: Zunächst einmal schätze ich mich glücklich, in dieser Zeit kurz nach der Wende in Berlin gewesen zu sein. Ich war zwar schon zuvor im Ostteil der Stadt gewesen, aber natürlich nicht so oft, wie es jetzt möglich war. Ich konnte den Wandel in der Stadt beobachten, der jetzt vor sich ging. Ich hatte Freunde, die damals bei der Treuhand arbeiteten, begleitete sie öfter, um zu sehen, was im Osten geschah. Aber abschließend darüber zu urteilen? Dafür weiß ich nicht genug von Deutschland, und ich glaube, für einen Ausländer ist es schwierig, ein vollständiges Bild von diesem Prozess zu bekommen. Aber dennoch – all das zu erleben war zutiefst bewegend für mich und auch sehr interessant – und eigentlich berührt es mich bis heute. Zum Beispiel, was ich bis heute immer wieder beobachte, sind die Vietnamesen in Berlin, eine in sich geschlossene Welt, total faszinierend. Pavel Bra?la Sprecher 2: Ich habe Freunde sowohl aus Ost-, als auch aus Westdeutschland – und noch immer spürt man den Unterschied. Mit den ostdeutschen Freunden erlebe ich schnell, dass ich aus der früheren Sowjetunion stamme, wir finden schnell gemeinsame Erinnerungen. Mit den Westdeutschen ist es ein bisschen anders. Manchmal beschwert man sich unterschwellig übereinander. Aber Deutschland, und besonders Berlin, ist für mich der Ort, wo jeder lernen kann, wie man eine tolerante Gesellschaft werden kann. Ich sage meinen Freunden: Ihr habt doch ein wunderbares Land, ihr habt hier alles! Vielleicht übertreiben es die Deutschen manchmal – aber die Deutschen erinnern sich an ihre Vergangenheit. Sie können sie nicht ignorieren. Sie wollen nicht, dass sich das wiederholt. In Osteuropa haben wir jetzt viel mehr nationalistische Stimmungen, Russland, die Ukraine. In Berlin spüren Sie so etwas nicht, ich jedenfalls nicht. Deshalb bin ich geblieben. Musikbreak ? Text BW: Sie leben nicht mehr alle in Friedenau – und auch die Namen der Künstlerinnen und Künstler in Berlin haben sich verändert. Sie sind vor allem internationaler geworden, kommen mittlerweile aus allen Teilen der Welt, auch aus den von internationalen Märkten weniger beachteten Kontinenten. Den Kontakt untereinander skizzieren folglich auch alle unterschiedlich. Bernardo Carvalho, Schriftsteller aus Brasilien, lebte 2011 als Stipendiat des Künstlerprogramms in Berlin. Carvalho Sprecher 1: Die Stipendiaten und auch meine brasilianischen Freunde, die in Berlin leben oder ehemalige Stipendiaten sind zwar mit den Künsten verbunden. Erstaunlicherweise sprechen wir aber nicht über ästhetische Fragen. Persönlich interessiert mich das durchaus und ich lese auch viel Theorie. Aber ich vermute hinter solchen Gesprächen immer eine gewisse Überheblichkeit – also halte ich mich zurück. Unsere Diskussionen haben sich nicht um Kunst gedreht. Wir haben viel geredet, getrunken, sind ins Kino und ins Theater gegangen. Ich bin extrem viel im Theater gewesen. Das gehört zu meinen wichtigen Berliner Erinnerungen, dass ich jederzeit in die Volksbühne oder in die Schaubühne gehen konnte – nicht immer wegen deutscher Stücke. Und dann die wirklich interessanten Theaterfestivals. Marthaler zum Beispiel – das war eine Entdeckung! Über solche Dinge haben wir uns ausgetauscht und uns gegenseitig geraten, was man sich ansehen sollte. Weiter sind wir nicht gegangen. Man konnte vermuten, womit sich die anderen beschäftigten, aber wir haben uns nicht getraut, ins Detail zu gehen. Text BW: Antije Krog, Schriftstellerin aus Südafrika: Krog Sprecherin: Die Struktur des DAAD ist ziemlich interessant, weil man nicht gezwungen wird zum Kontakt mit anderen Künstlern oder andersherum. Man kann gerne an Veranstaltungen und Diskussionen teilnehmen. Ich bin überzeugt davon, dass diese Möglichkeit Abstand zu halten ganz entscheidend ist für einen Künstler – weil man sich so nie gedrängt fühlt, mitmachen oder mithalten zu müssen; aber man kann sich immer anregen lassen. Was ich äußerst hilfreich finde, sind die Lesungen von jüngeren Lyrikern und zu sehen, wohin sie gehen, wie sie schreiben – stilistisch gesehen. Ich komme aus einer sehr oral geprägten Kultur. Wir schreiben in Südafrika für das Ohr und dafür, dass es sich sprechen lässt. Hier bewege ich mich in einer Kultur, die auf die Buchseite orientiert ist und das fühlt sich nicht zwanghaft an. Wie soll ich sagen: Ich habe den Eindruck, in Südafrika schreiben wir, um nicht unterzugehen, um nicht vor Scham zu sterben; während hier aus anderen Gründen geschrieben wird. Für mich ist es interessant die jungen Dichter zu lesen. Und zum ersten Mal kann ich DDR-Schriftsteller lesen. Wie schreiben Menschen, wenn sie ein Anliegen haben, wenn sie an etwas glauben – worauf stützen sie sich dann, mit welchen Mitteln arbeiten sie und in welche Fallen tappen sie? Text CP: Mathias Enard und Pavel Bra?la: Enard Sprecher 1: Das ist schon amüsant. Man kann im Kontakt stehen; einige der diesjährigen Gäste kenne ich auch – vom Sehen natürlich alle. Aber zufällig, wie es immer Zufälle gibt, haben José Manuel Prieto und ich herausgefunden, dass wir gemeinsame Freunde haben. Das bringt einander näher. Ich bin auch – vielleicht weil Schriftsteller eher miteinander reden – mit Eugene Osthashevski in Kontakt, einem Dichter mit russischen Wurzeln, der englisch schreibt und seit seiner Kindheit in den USA lebt. Es geht langsam, in kleinen Schritten – wie immer in Freundschaftsangelegenheiten. Das braucht Zeit und geht nicht von Heute auf Morgen. Pavel Bra?la Sprecher 2: Die Idee für meinen jüngsten Film "Chisinau - Die Stadt mit dem unaussprechlichen Namen" wurde inspiriert von Walter Ruttmanns Film "Berlin - Symphonie der Großstadt" - das ist zumindest der direkte Bezug. Aber in Wirklichkeit beeinflusst mich die Umgebung, in der ich mich ständig aufhalte, viel mehr: Die Leute auf der Straße, irgendwelche Zufallsbegegnungen mit anderen Künstlern, die mir dann Ideen eingeben. Hier trifft man Leute aus aller Welt. Es ist ein Zentrum, auch weil Berlin Künstler aus aller Welt anzieht. Man kann hier auch noch relativ mühelos eine Wohnung finden. Es ist jedenfalls billiger, hier eine vergleichbare Wohnung zu mieten, als in Chisinau. Text BW: Berlin als ein Zentrum der globalisierten Kulturindustrie – liegt darin nicht die Gefahr eines wachsenden Konformitätsdrucks, einer forcierten Angleichung der künstlerischen Produktion? Dorothea Rosa Herliany, Schriftstellerin aus Indonesien: Herliany Sprecherin: Wenn wir von Globalisierung sprechen, sollten wir die Frage der Identität nicht vernachlässigen. Wir sind eine multiethnische und multisprachliche Gesellschaft in Indonesien, und darum wird bei uns heftig darüber debattiert, was unsere Identität ausmacht, welches lokale Wissen uns prägt. Und selbstverständlich ist die Globalisierung etwas, das wir nicht verhindern, über das wir uns nicht beklagen können. Wir müssen damit umgehen, dass alles Lokale, überall zugänglich und genutzt werden wird. Nichts gehört nur uns allein. ()Im Javanischen gibt es einen Ausdruck, der hier gilt: sich treiben lassen, aber nicht getrieben werden. Das ist weise. Und natürlich muss man auch über den Kapitalismus und die Globalisierung sprechen, da es schon einige Gefahren gibt, die viele nicht sehen. Der Kapitalismus ist schlimmer als der Kolonialismus; nur auf den Markt, nicht auf die Menschen ausgerichtet. Großzügigkeit gibt es nur als Augenwischerei – wie auch viele soziale Programme nur zur Verschleierung dienen. Man kann sich dem Kapitalismus nicht entgegenstemmen. Er ist wie eine Flut, das Wasser fließt nach den Gesetzen der Natur überall hin – von Oben nach Unten. Von den hegemonialen Kulturen zu den untergeordneten Kulturen. Text CP: Pavel Bra?la und Sebastián Lelio: Pavel Bra?la Sprecher 2: Die erste Stadt, die ich im Westen besuchte, war Amsterdam. Ich kam aus der ehemaligen Sowjetunion und hatte diese ganzen Klischees über den Kapitalismus im Kopf: Alle hier sind glücklich. Jeder hat ein Auto. Jeder ist Millionär. Jeder genießt das Leben, arbeitet wenig, bekommt aber viel Geld dafür. Alles drehte sich um diese Dinge, zu denen wir nie Zugang hatten. Ich kam also in den Westen und hatte eine extrem verrückte Zeit, und die dauert bis heute an. Erst einmal sah ich natürlich, dass der Kapitalismus völlig anders war als gedacht. Aber was mir am meisten auffällt, ist: Wir leben ganz ähnlich, Ost und West. Wir haben die selben Werte. Wir halten unsere Städte sauber, passen auf unsere Kinder auf, schicken sie zur Schule – Und für mich, in meiner Kunst, geht es darum, dass ich den Leuten in Moldawien, in Russland, in Kasachstan, wo auch immer zeigen will, dass sie das nicht vergessen. Lelio Sprecher 1: Seit 5 Jahren benutze ich Skype. Und wenn wir vom Verhältnis Zentrum/Peripherie sprechen, dann verschwinden diese Kategorien. Es gibt das Thema der physischen Anwesenheit und der Ortsveränderung. Aber das hat nichts mehr damit zu tun, wie es war, als man in den 1970er Jahren das Land verlassen hat. Vielleicht wäre ich jetzt deprimiert, wenn ich diese Möglichkeit der Verbundenheit mit meinem Produzenten, dem Skriptautor, mit denen ich arbeite, nicht hätte - ohne dieses soziale Netz, wäre ich total verloren. Jetzt kannst Du dasein und nicht dasein, das ist die Erfahrung unserer Zeit. Diese Möglichkeit der neuen Technologie, die Begriffe wie Anwesenheit und Abwesenheit infrage stellen, - nah und fern – anders akzentuieren: Das ist wunderbar und wenn du es gut benutzt – ohne dauernd in Chile Interviews zu geben und eine Meinung dazu zu haben was dort gerade passiert – dann scheint mir diese Art von Sozialisation super. Text CP: Der Peruaner Armando Andrade Tudela hätte sich vor seiner Erfahrung mit Berlin nicht vorstellen können, als Künstler im globalisierten Kunstbetrieb jemals irgendwo sesshaft zu werden. Armando Andrade Tudela Sprecher 2: Ich habe nie so sehr darauf geachtet, ob Berlin eine Stadt ist, in der alles in Bewegung sei. Bis dahin hatte ich ohnehin die Erfahrung gemacht, dass in ganz Europa ständig alles in Bewegung ist. Inzwischen bin ich fast sechs Jahre in Berlin - ich habe niemals irgendwo sechs Jahre lang ausgehalten. Okay, ich habe lange in Lima gelebt, bis ich mein Studium dort beendet hatte, dann zog ich dort weg. und dachte, ich halte es nirgendwo länger als zwei Jahre aus. Vielleicht liegt diese Entscheidung, hier zu bleiben, daran, dass Berlin nicht so stark von den Gesetzen des Marktes, des Geldes beherrscht wird. Die Leute hier sind, scheint mir, ein bisschen offener dafür, Dinge auszuprobieren, zum Beispiel in den Galerien. Ich fühle mich einigen dieser Leute verbunden, dem, was sie in ihren Räumen zeigen. Das wurde dann zu einer Standortentscheidung für mich. Text BW: Die Südafrikanerin Antije Krog und der Brasilianer Bernardo Carvalho sehen die Globalisierung aus literarischer Perspektive kritisch: Krog Sprecherin: Für uns in Südafrika kam die Globalisierung mit der englischen Sprache. Das Englische hat uns weggefegt; was aber noch schlimmer ist für mich, dass die englische Sprache heutzutage Schriftsteller züchtet wie man Rennpferde züchtet: mit all den Schreibschulen, in denen sie den Leuten beibringen, wie man eine Geschichte erzählt. Und wenn man diese Bücher liest, findet man in der Regel kaum etwas Neues darin. Sie werden angepriesen und überschwemmen uns, als wären sie das Wichtigste. Und wenn man sie ausgelesen hat, merkt man, dass man nichts bekommen hat. Meine Lust am Lesen, meine Messlatte besteht darin, dass ich ein anderer Mensch sein muss, wenn ich ein Buch zuschlage. Ich möchte jemand anderes sein. Und ich fürchte, dass die Globalisierung durch das Englische ein Problem ist. Ich finde es gesund, hier zum Beispiel beim Deutschen zu bleiben – selbst wenn ich die avancierte Literatur von heute noch nicht lesen kann. Ich versuche, Übersetzungen zu lesen. Und das ist interessant. Gerade komme ich aus Frankreich zurück und habe Michel Houellebecq und Julien Gracq gelesen – das hat mir die Augen geöffnet – gerade im Vergleich zu dem, was man im Englischen kriegt. Carvalho Sprecher 1: Ich glaube durchaus, dass die Kunst bedroht ist – in Brasilien, überall in der Welt. Nach einer exzessiven Individualisierung der Akteure haben sich Kollektive gebildet und das scheint mir nicht ungefährlich. Dabei könnte eine Errungenschaft des Westens verlorengehen, nämlich die Idee des Autors als Individuum, der etwas Einmaliges schafft. Das gibt es noch nicht so sehr lange, 2-300 Jahre etwa und nun stellt sich eine Bewegung dagegen, die wie eine libertäre, freiheitliche Bewegung aussieht. Aber mir scheint sie eher das Gegenteil zu sein. Weil sie eben die Idee des Autors verwirft zugunsten anderer Agenten, zugunsten sozialer, kollektiver Zusammenschlüsse. Ich glaube nicht an derartige Dinge. Ich halte das für eine Lüge und auch für eine Art Scheinheiligkeit, den Autor zu töten, als sei er per se ein Bourgeois und als sei die Idee der Individualität zwangsläufig an eine bourgeoise, kapitalistische Weltvorstellung gebunden. Ganz im Gegenteil: Für mich gehören sie zu den freiheitlichsten Errungenschaften des Abendlandes. Mich interessiert das über die Maßen, da ich mir nur schwer eine Welt ohne Individualität vorstellen kann und ohne Kreativität. Mich hält sie am Leben. Ich glaube wir befinden uns in einem Spannungsverhältnis zwischen einer Neuen Welt, die dabei ist zu entstehen und vergangenen Dinge, die aus meiner Sicht dennoch fortbestehen sollten, die man braucht, wenn man davon überzeugt ist, dass Kunst, dass Literatur notwendig sind. Ich glaube nicht, dass ich anachronistisch bin. Aber mir scheint es tatsächlich notwendig, dass wir uns einsetzen für Dinge, die vom Verschwinden bedroht sind und die angeblich mit dem Kapitalismus und der Bourgeoisie verknüpft sind. - - Ende - - 2