COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Susanne Billig, Petra Geist Manuskript für DeutschlandRadio Kultur: Pfeile, Kreise, Torten Informationsgrafiken erobern die Welt Susanne Billig und Petra Geist __________________________________________________________________ Musik 1 Elektronische Klänge S P R E C H E R 1 Eine Karte, sehr schmucklos. Ein rotes Band zieht in zwei Wellenbewegungen von links nach rechts. An seinem breiten Beginn steht die Zahl "422.000". Doch das Band verjüngt sich; am Ende ist es nur noch ein Drittel so stark. Das Ende heißt "Moskau". O-Ton 1 Sandra Rendgen Minard war ein Ingenieur und gilt als der Erfinder von flow-maps; das Besondere an flow-maps ist, dass sie die Verteilung und Bewegung von Gütern auf einer bestimmten geografischen Oberfläche zeigen. S P R E C H E R 1 Nun führt ein schwarzes Band den ganzen Weg zurück. Schmal ist es, dünnt sich an dem Fluss "Beresina" nochmals dramatisch aus und erreicht als feiner Faden den Ausgangspunkt. Dort steht die Zahl "zehntausend". O-Ton 2 Sandra Rendgen Und später, als er schon in Pension war, hat er eine sehr berühmte Infografik angefertigt und dieses Prinzip angewandt auf einen historischen Sachverhalt, nämlich den Feldzug von Napoleon in Russland, und hat dort sowohl die geografische Bewegung der französischen Armee dargestellt und das Ganze kombiniert mit den Zeitverlauf und auch den Temperaturen, die für den Feldzug eine wichtige Rolle spielten. S P R E C H E R 2 Sparsam eingezeichnet ein paar Orts- und Flussnamen. Temperaturen - bis minus sechsundzwanzig Grad. "Mit Rot werden die Männer dargestellt, die in Russland einmarschierten, mit Schwarz jene, die es verlassen haben", steht nüchtern über der Karte. O-Ton 3 Sandra Rendgen Und man sieht dann, welche kleine Grüppchen von versprengten Leuten eigentlich nur nach Frankreich zurückkehrten - und darauf kann man eigentlich auf einen Blick auch erkennen, was für ein desaströses Unterfangen das war. Musik 2 Kreuzblende: Dynamische elektronische Klänge AUTORIN 1 Bilder fluten die Welt. Piktogramme schleusen Reisende durch Großflughäfen und Fernbahnhöfe. Bunte Grafiken bringen - vielleicht - die komplexen Verflechtungen der Finanzmärkte auf den Punkt. Tortendiagramme symbolisieren Wählerwillen und Demokratie. Hemmungslos vertraut sich die Gesellschaft dem Bild an - als Erklärer und Deuter einer von Daten überschwemmten Welt. Doch die Geschichte der Informationsgrafik reicht weit zurück. Nicht nur bis zu Charles Minard, der 1861 mit dem rot-schwarzen Napoleon-Feldzug den großen Klassiker des Mediums schuf - sondern weiter, viel weiter zurück. Musik 3 Leise Trommel, ruhige Flöte dazu AUTORIN 2 Schon in der Steinzeit beginnen Menschen, ihre Wirklichkeit in Bilder zu fassen. Auf Höhlenmalereien greifen Jäger mit Lanzen Tiere an. Was steckt hinter diesen Bildern? Religiöser Zauber? Oder Schulungsmaterial für angehende Jäger? Achttausend Jahre alt sind die Wandmalereien von Çatal Hüyük in Anatolien. Sie zeigen den Grundriss der Siedlung und darüber den Doppelgipfel des nahe gelegenen Vulkans, als Seitenansicht. Tausendfünfhundert vor Christus wird der Stadtplan der babylonischen Stadt Nippur in Ton geritzt. Ausgrabungen konnten es überprüfen: Der Plan ist korrekt. Musik 4 Altägyptische Klänge AUTORIN 3 Im ausgehenden dritten Jahrtausend erlebt die Menschheit im Vorderen Orient ihre erste Bilderflut. Auf Fels gemalt, in Ton geritzt, auf Papyrus gezeichnet entstehen die ersten Karten, Gebäude-Grundrisse, Stadtpläne, Kataster. Was macht das Bild auf einmal so attraktiv? Eine neue Ebene kommt hinzu - die Hieroglyphen. O-Ton 4 Sandra Rendgen Wir haben hier ein Beispiel gewählt aus der Grabkammer von Ramses dem Vierten - und da sind tatsächlich Informationen niedergelegt über das Leben des Verstorbenen, und die werden angereichert mit Bildern, zum Beispiel von Gottheiten. Und daraus ergibt sich dann im Prinzip ein Panorama von Informationen - und auch von Wünschen, die man den Verstorbenen mit auf den Weg gibt. AUTORIN 4 Die Kunsthistorikerin Sandra Rendgen hat ein kiloschweres Buch, das Buch, über Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Informationsgrafik zusammengetragen. Auf seinen großformatigen Seiten kann man die auch die altägyptischen Bilder betrachten - und findet die Grundideen der Informationsgrafik bereits vollendet vor: O-Ton 5 Sandra Rendgen Es geht um eine Mischung aus Bildelementen und Textelementen. Das ist ja etwas, das die Informationsgrafiken sehr unterscheidet von Fließtext, von langem Text: dass man hier eine Auflösung in kleinere Textbausteine hat - und die eben mit Bildelementen und grafischen Elementen kombiniert. AUTORIN 5 Ein Zwitter ist die Informationsgrafik, mischt Bild und Text zu einem neuen, unverwechselbaren Medium. Sachverhalte, Informationen, Tabellen verwandelt sie in ein optisches Erlebnis. Objektiv, sachlich, informativ - das sind die Modebegriffe von heute. Die Frühzeit des Mediums stand solchen Idealen denkbar fern. Die Kartografen des Mittelalters trennten nicht zwischen Geografie und Religion - für sie gehörte beides zur Landschaft. Das zeigt die berühmte "Ebstorfer Weltkarte", die um dreizehnhundert in Norddeutschland entstand. Musik 5 Flöte 13. Jhd. S P R E C H E R 3 Die Welt, so wie man sie damals kennt, auf einer Fläche von dreieinhalb Metern Durchmesser. Die drei bekannten Kontinente Europa, Asien, Afrika richten sich nach Osten hin aus, in ihrem Zentrum liegt das heilige Jerusalem. Tiere und Fabelwesen bevölkern die Karte, dazu Menschen, Gebäude und Szenen von Geschichten. Die Welt schwebt nicht im luftleeren Raum. Sie liegt eingebettet in die Figur Christi. AUTORIN 6 Der Sohn Gottes trägt und umfängt alles Sein. Dieser Karte geht es nur am Rande um topografische Genauigkeit. Sie ist ein "Weltbild" - im übertragenen wie im wörtlichen Sinne. Im fünfzehnten Jahrhundert beginnt der Siegeszug der exakten Naturwissenschaften. Der französische Mathematiker René Descartes entwickelt das Koordinatensystem mit X- und Y-Achse. Die Welt wird zerteilt und vermessen, exakte Zahlen füllen akkurate Tabellen. Und: Die Forscher möchten ihr aufwändig gesammeltes Wissen nicht für sich behalten, sondern einem breiten Publikum weitergeben, auch mit neuen Bildern. "Die Welt lesbar machen", lautet ihr Programm. Die ersten Atlanten kommen auf - sie zeigen den menschlichen Körper, die Länder der Erde oder gleich alles, was Forscher zu wissen meinen über die Welt. Musik 6 Dynamische Klänge AUTORIN 7 Im späten achtzehnten Jahrhundert entsteht eine neue Wissenschaft - die Statistik. Auch sie hat ihre Vorläufer: Schon vor fünftausend Jahren listeten die Beamten der alten Hochkulturen Viehbestände, fein säuberlich nach Kategorien getrennt, in Zeilen und Spalten auf - per Keilschrift auf Tontafeln geritzt. Der Statistik-Boom im achtzehnten Jahrhundert hat handfeste Gründe: Der Staat bläht seine Verwaltung auf, damit wächst der Hunger auf Daten. Doch die langen Tabellen überfordern die Nutzer. Da tritt ein Mann auf den Plan, der die Informationsgrafik revolutionieren wird - es ist der schottische Ingenieur und Volkswirt William Playfair. O-Ton 6 Sandra Rendgen Playfair ist der erste, der tatsächlich ökonomische Kennzahlen grafisch umgesetzt hat und daher auch als der Erfinder von Balkendiagrammen und Liniendiagrammen gilt - und das ist ein neues Moment, weil: Diese Darstellung von statistischen Daten hat es vorher so in dieser Form noch nicht gegeben. AUTORIN 8 1786 veröffentlicht William Playfair seinen berühmten "Wirtschaftlichen und Politischen Atlas" mit dreiundvierzig grafischen Analysen. Playfair möchte aufklären: Wie sind die Verhältnisse am Vorabend der Industrialisierung? Wie steht es um die soziale Frage, um Hunger, Handel, Ökonomie? In dieser Zeit werden Statistiken nicht veröffentlicht, sondern als Geheimsache des Staates behandelt. Playfair bricht aus. Sein Atlas möchte die Gesellschaft lesbar machen - auf einen Blick. Wenn er mehrere Kurven in eine Grafik zeichnet, färbt er den Raum zwischen den Kurven ein, so dass auf dem Bild eine Art See entsteht. Eine bis heute simple, aber wirkungsvolle Methode, um Differenz sichtbar zu machen. Joachim Krausse, Professor für Designtheorie in Dessau: O-Ton 7 Joachim Krausse Und an der Stelle kommt, ob man will oder nicht, ein fiktionales Element mit hinein. Im Hintergrund, spürt man, wird eine Geschichte erzählt. Das hat mit der Wissenschaft erst mal gar nichts zu tun. Es hat etwas zutiefst Menschliches, weil: Wir nehmen Dinge nur auf in dem Maße, wie sie uns entgegenkommen durch solche Elemente. Und das ist die Aufgabe der Gestaltung. Geräusch 1 Frühe Industrialisierung - alte Fabrikhalle mit Dampfmaschine AUTORIN 9 William Playfair ist kein Grafiker - er beginnt seine Laufbahn als Assistent des schottischen Erfinders James Watt. Eine von Watts technischen Ideen besteht darin, ein Gerät zu entwickeln, das den Dampfdruck innerhalb von Dampfmaschinen misst und als Diagramm aufzeichnet. Mit seinen Messungen möchte er die Dampfmaschine kontrollieren - und Playfair hofft, auch die gesellschaftliche und ökonomische Entwicklung zu Beginn der Industrialisierung messen, abbilden und so kontrollieren zu können. O-Ton 8 Joachim Krausse Er sieht in der Entwicklung der Thermodynamik ein Modell, mit dem man gesellschaftliche Entwicklung analysieren kann. Es ist eigentlich eine hydro- pneumatische Theorie des Wirtschaftsgeschehens. Er möchte den krisenhaften Entwicklungen in der Ökonomie auf die Spur kommen, und fertigt dazu einen Atlas an mit diesen ökonomischen Diagrammen. Musik 7 & Geräusch 2 Marschmusik der Zeit, dazu Kanonen-Grollen AUTORIN 10 Auch sie kämpft mitten in der Krise - hundert Jahre später, jüngste Tochter einer begüterten britischen Familie und Pionierin der modernen westlichen Krankenpflege: Florence Nightingale. Im Krim-Krieg stehen sich von 1853 bis 1856 Russland und das Osmanische Reich mit einigen europäischen Alliierten gegenüber. An die fünfhunderttausend tote Soldaten soll dieser verlustreiche Krieg gekostet haben - der erste moderne Stellungskrieg. Doch die meisten Männer starben nicht im Kampf, sondern in verdreckten, schlecht ausgestatteten Lazaretten. Die mathematisch hoch begabte Florence Nightingale trägt akribisch Daten zusammen. Und sie sucht das eine Bild, das den Skandal offensichtlich macht. O-Ton 9 Sandra Rendgen Sie hat diese Zahlen in ein Diagramm gebracht, eine Form des Kreisdiagramms, das sie auch entwickelt hat - man nennt es auch das polar-area-Diagramm - und darin kann man sehen, über den Ablauf von Monaten, wie viele Soldaten gestorben sind und an welcher Ursache. Musik 8 Elektronische Klänge S P R E C H E R 4 Ein Kreisdiagramm. Auf den ersten Blick sieht es mit seinen schmalen Längs- und Querstreifen und den vielen blauen Arealen aus wie der Nordpol eines Globus. Doch es gibt auch tortenförmige Segmente in der Farbe Rosa. Sie stehen für Tod durch Verwundung - und versinken in der riesigen blauen Fläche, dem Tod durch Infektionskrankheiten. O-Ton 10 Sandra Rendgen Das ist ein sehr berühmtes Beispiel dafür, dass ein Diagramm, indem es Größenverhältnisse zeigt, sehr deutlich macht, wenn Größenverhältnisse zum Beispiel sehr unverhältnismäßig sind. Oder Zahlen sehr ungleich sind. Man sieht hier gleich auf den ersten Blick, dass es eine unglaubliche Menge von Soldaten ist, die an Infektionskrankheiten verstorben sind, während nur wenige bei den eigentlichen Kampfhandlungen umkamen - und daher hat das auch eine sehr große visuelle Überzeugungskraft. Musik 9 Arbeiterlied oder Lied aus dem Wien der 1920er Jahre. Musik-/Geräuschcollage, die diese Zeit akustisch illustriert AUTORIN 12 Mit dem Zwanzigsten Jahrhundert beginnt der Aufstieg der politischen Massenbewegungen. Arbeiter drängen auf Demokratisierung und Emanzipation. Wieder ist es kein Grafiker, der die Informationsgrafik in die neue Zeit führt, sondern ein österreichischer Ökonom und Wissenschaftstheoretiker: Otto Neurath. Ein Hüne von einem Mann - später signierte er seine Bilder mit einem Elefanten -, vielseitig gelehrt, sprudelnd vor Witz, Vitalität und von unermüdlicher Schaffenskraft. Otto Neurath war beseelt von dem Gedanken einer umfassenden Volksaufklärung - mit den Mitteln der Statistik. O-Ton 11 Joachim Krausse Er war überzeugt davon, dass Kreise der Bevölkerung mit der Statistik befasst werden, die bis dahin ausgeschlossen waren von der Kenntnis statistischer Informationen. Also man sollte Bescheid wissen über wesentliche Zusammenhänge in der Gesellschaft. AUTORIN 13 1924 gründet Otto Neurath das "Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum Wien". Wohnen, Gesundheit, Arbeitswelt lauten die Themen der Ausstellungen, die auch abends noch geöffnet sind, um Arbeitern den Besuch zu ermöglichen. Otto Neurath persönlich führt nach Mitternacht Straßenbahnfahrer an den Informationstafeln vorbei. Der Volksaufklärer holt die Statistik aus den Amtsstuben und bringt die Zahlen unter die Leute. Und er tut sich, auf der Suche nach einer allgemein verständlichen universellen Bildsprache, mit einem begnadeten Grafiker zusammen: O-Ton 12 Joachim Krausse Gerd Arntz gehörte zur Kölner Künstlergruppe der Progressiven. Deren Ansatz war mit einer ganz vereinfachten Darstellung von Menschen in den Bildern zu arbeiten. Aber so, dass sie das auf das Wesentliche konzentrieren. Dass es deutlich wird an einer Figur: Ist das ein Fabrikdirektor? Ist das ein Arbeiter? AUTORIN 14 Höhepunkt der Zusammenarbeit von Otto Neurath und Gerd Arntz wird 1930 der "Atlas Gesellschaft und Wirtschaft" - einhundert Tafeln, im Steindruckverfahren hergestellt. Musik 10 Elektronische Klänge S P R E C H E R 5 Kraftwagenbestand der Erde. Silberfarbener Hintergrund. Silhouetten von Wolkenkratzern und Ölbohrtürmen, sachlich und zugleich fein, in einem eleganten Braun. Ein schwarzes Auto steht für zweieinhalb Millionen Kraftwagen. 1914 - ein Auto weltweit. Vierfünftel davon gehören Amerika, einfünftel dem gesamten Rest der Welt. 1920 - Amerika vier Autos, Rest der Welt ein halbes. 1928 - Amerika neun, Rest der Welt drei Autos. AUTORIN 15 Die Motorisierung der Erde beginnt in Amerika und erobert die Kontinente - gradlinig und eindrücklich visualisiert. Um eine große Menge darzustellen, hatten Grafiker zuvor die Zeichen auf den Bildern aufgeblasen - eine große Kuh für viele Kühe, eine kleine Kuh für wenige. Otto Neurath stellt ein einzelnes Zeichen - hier das schwarze Auto - für eine definierte Menge und macht die Informationsgrafik damit in einem Schritt exakter und leichter verständlich. Musik 11 Elektronische Klänge AUTORIN 16 Die Industrialisierung hat die Welt für die einfachen Menschen unübersichtlich und fremd werden lassen. Otto Neurath und Gerd Arntz stellen sich dem entgegen - mit bewusst einfach gehaltenen, leicht zu entziffernden Zeichen. Aus ihrer fruchtbaren Zusammenarbeit geht eine neue Bildsprache hervor, die heute selbstverständlich scheint. Die Figur, die sich auf den ersten Blick als Arbeiter oder Fabrikdirektor entziffern lässt - sie ist nichts anderes als die Geburtsstunde des modernen Piktogramms. Heute begegnet es uns täglich dutzendfach auf Verkehrszeichen und Gefahrenhinweisen, als Regenwolke im Wetterbericht oder als Smiley in einer Email. Geräusch 3 Atmo U-Bahnhof, quietschende U-Bahn AUTORIN 17 1933 entsteht eine der berühmtesten Grafiken überhaupt - in ihrer Gradlinigkeit ein wahrer Geniestreich, aus den Städten der Welt heute nicht mehr wegzudenken und hundertfach kopiert. Musik 12 Elektronische Klänge S P R E C H E R 6 Ein fast abstraktes Bild, sehr klar. Bunte Linien auf beigefarbenem Untergrund. Manche laufen von oben nach unten, manche biegen im rechten Winkel in die Waagerechte, manche von links nach rechts, einige verlaufen schräg, alle kreuzen sich mit mindestens einer anderen Linie. Ortsnamen in regelmäßigen, kurzen Abständen. AUTORIN 18 Solch ein Bild ist nicht einfach da - es muss erfunden werden. In diesem Fall heißt der Erfinder Harry Beck. Seine Übersicht verzichtet auf eine exakte Geografie, lässt die Abstände der U-Bahnhöfe alle gleich lang aussehen und bietet als einzigen geografischen Orientierungspunkt die stilisierte Themse im Hintergrund. O-Ton 13 Sandra Rendgen Vorher waren U-Bahn-Pläne tatsächlich immer so gestaltet, dass sie sich an der konkreten Karte einer Stadt orientiert haben, was dazu führte, dass der Verlauf der U-Bahn-Linien - und vor allem die Kreuzungspunkte von verschiedenen Linien - extrem unübersichtlich waren. AUTORIN 19 Harry Beck abstrahiert die Linien, lässt sie grundsätzlich horizontal, vertikal oder diagonal verlaufen. Was für eine Idee! Und weil Harry Beck Elektroingenieur war, sieht sein U-Bahn-Plan aus wie ein Schaltkreis. O-Ton 14 Joachim Krausse In diesen komplexen Welten, da wird Informationsgrafik das Gebot der Stunde. Denn es leistet diese Reduktion von Komplexität - das, was ja das Geschäft des guten Designs ist: Komplexität so zu reduzieren, dass der Nutzer handlungsfähig ist auf rasche Weise und ohne den Überblick zu verlieren. Musik 13 Moderne, dynamische Klänge AUTORIN 20 Spätestens mit der Jahrtausendwende ist der Siegeszug der Informationsgrafik nicht mehr aufzuhalten. Der Computer entwickelt sich zu einem Massenphänomen. Bisher unvorstellbare Datenmengen lassen sich hin und her schieben. Regierungen, Unternehmen, Institutionen veröffentlichen im Tagesrhythmus Zahlenkolonnen zu allen erdenklichen Angelegenheiten - und das Internet gestattet den Zugriff in Sekunden. Doch es ist eine Binsenweisheit, dass Statistiken von Interessen geleitet werden - in Computeraffinen Zeiten wird sie nur allzu gern übersehen. Gerd Bosbach, Professor für Statistik an der Fachhochschule Koblenz und Autor des Buches "Lügen mit Zahlen": O-Ton 15 Gerd Bosbach Eine Statistik ist eine zahlenmäßige Erfassung eines Teiles der Wirklichkeit. Und damit ist schon ganz offensichtlich, dass Statistiken nicht per se objektiv sind. Die Frage ist: Welche Teile der Wirklichkeit erfasse ich und wie bewerte ich die mit Zahlen? Damit bleibt zwangsläufig eine ganze Menge außen vor - und damit kann man auch ein Bild völlig falsch darstellen. AUTORIN 21 Und so wenig Statistiken objektiv sind, so wenig arbeiten Grafiker und Bildjournalisten ausnahmslos gewissenhaft. Leicht kann eine Informationsgrafik Seriosität und Objektivität vortäuschen, wo es keine gibt. Die grafischen Tricks sind so simpel wie wirkungsvoll. Eine echte Manipulation findet statt, wenn die Flächen im Bild größer oder kleiner sind als die zugrundeliegenden Zahlen. Doch auch schon einfache Quer- und Längsstreifen können einzelne Bildbereiche optisch aufpumpen oder schrumpfen lassen. Nicht selten platzieren Grafiker auch Verbindungslinien oder gar Pfeile ins Bild, um die Blickrichtung des Lesers zu lenken. Und sehr beliebt ist die Manipulation der X- und Y-Achse eines Diagramms. Musik 14 Elektronische Klänge S P R E C H E R 7 Aus einer deutschen Tageszeitung. Senkrecht steht die Y-Achse im Bild. Euro- Beträge sind in fünfhunderter-Schritten markiert - von eintausendfünfhundert bis dreitausend Euro. Die waagerechte X-Achse zeigt die Jahre 1996 bis 2004. Schwarze Säulen wachsen nach oben. Die Säule von 1996 sieht winzig aus. Die Säule von 2004 schließt enorm in die Höhe. Der Titel der Grafik: "Gesundheitsausgaben in Deutschland pro Kopf". AUTORIN 22 Das Bild eines dramatischen Anstiegs - erzeugt mit einem Trick: Die Y-Achse beginnt nicht bei null, sondern erst bei tausendfünfhundert. Auf diese Weise wirkt ein moderater Anstieg von zweihundert Euro in der Grafik fast wie eine Verdoppelung der Kosten. O-Ton 16 Gerd Bosbach Man hat sofort den Eindruck: Kostenexplosion! Wenn das dann noch bei der Grafik oben drüber steht, "Kostenexplosion" - dann guckt keiner mehr genau hin, und man glaubt, man hätte es mit angeblich objektiven Statistiken bewiesen bekommen. AUTORIN 23 Hätte die Grafik die Euro-Werte auf der Y-Achse bei null beginnen lassen, so hätte sich die Steigerung nur als sanfter Anstieg der schwarzen Säulen bemerkbar gemacht. Natürlich kann ein Grafiker frei wählen, bei welchem Betrag, welchem Jahr, welcher Größe er die Werte auf einer Achse beginnen lässt - genau hier werden zahllose Diagramme tendenziös. O-Ton 17 Gerd Bosbach Möchte ich darstellen, dass etwas bergauf geht, und wir haben einen wellenfarbigen Verlauf, dann stelle ich mich bei meiner Grafik an eine untere Stelle der Welle und zeige nur den Teil, wie es bis zum nächsten Hochpunkt hochgeht - und schon habe ich eine Grafik, wo alles nur blendend nach oben geht. AUTORIN 24 Wenn die Wirtschaftsseiten der Zeitungen überquellen von bunten Bildchen zweifelhafter Aussagekraft, schlägt die Stunde engagierter Grafikerinnen und Grafiker. Sie suchen nach visuellen Darstellungsformen, die bewusst meinungsstark sind - und gleichzeitig von hoher Sorgfalt und Wahrhaftigkeit zeugen. Musik 15 Elektronische Klänge S P R E C H E R 8 Wie korrelieren Lebenserwartung und Einkommen in den Ländern der Erde? Wie sieht ihr CO2-Fußabdruck aus? Wäre die Erde ein Dorf mit hundert Menschen - wie viele von ihnen hätten dann ein Dach über dem Kopf? Oder Zugang zu sauberem Wasser? Oder eine Schulbildung für die Kinder? Oder jeden Tag ausreichend zu essen? Oder eine Existenzsicherung im Alter oder... (ausgeblendet, Autorin drüber) AUTORIN 25 Auch viele Printmedien setzen heute auf engagierten Datenjournalismus. Im englischen "Guardian" ist die Informationsgrafik zu einer neuen Form der Berichterstattung avanciert, mit ausdrucksstarker Bildsprache und kräftigen Farben. Die Macht der Statistik - sie liegt endgültig nicht mehr in geheimen Regierungsschubladen. Der "Guardian" dreht 2008 den Spieß um: O-Ton 18 Sandra Rendgen Es gibt eine Grafik, für die sie auch sehr berühmt sind, "UK Government Spending", und da haben sie versucht, alle Budgets von allen britischen Ministerien herauszufinden und eine Übersicht zu erstellen: Welches Ministerium gibt wie viel aus? Und man ist beim Guardian sehr stolz, dass diese Daten selbst recherchiert wurden - und dann letztlich sogar die Regierung auf diese Daten zurückgegriffen hat, weil bei der Regierung niemand diese Informationen hatte. AUTORIN 26 Seit dem Jahr 2003 hat das junge Einundzwanzigste Jahrhundert sogar einen eigenen Atlas - den "Atlas der Globalisierung", herausgegeben von der französischen Monatszeitung "Le Monde Diplomatique". Wie es sich in Zeiten der Beschleunigung gehört, erscheint er alle drei Jahre neu. Erfasst werden die wichtigen Themen der Zeit - seltene Erden und neue Player im Ölgeschäft, Bildung für Kinder, Rechte für Frauen, weltweiter Zugang zum Internet. Musik 16 Elektronische Klänge S P R E C H E R 9 Hellblauer Hintergrund, die Kontinente grau. Die Zeit: Das Jahr zweitausend. Auf jedem Kontinent liegt eine rote Kugel - die Bevölkerung. Darin eine kleinere, ockerfarbene Kugel - die Menge der Internetnutzer. Nordamerika: Die ockerfarbene Kugel ist schon halb so groß wie die rote. Europa: liegt deutlich zurück. Afrika: Die ockerfarbene Kugel ist kaum zu sehen. Zeitsprung 2010. Nordamerika: Nur noch ein feiner roter Ring umgibt das Ocker. Europa ebenso. Selbst in Afrika schwillt die Kugel der Internetnutzer erheblich an. AUTORIN 27 Alles auf einen Blick, die Reduktion aufs Wesentliche - schlagartig erhellt die Grafik die enorme Dynamik des Internets. Gezeichnet hat sie der französische Geograf, Kartograf und Journalist Philippe Rekacewicz. Er lernte sein Handwerk bei den Vereinten Nationen. Einen modernen Atlas herauszubringen, der Zahlen und Statistiken in engagierte Grafiken transformiert und auf diese Weise die globalen Verhältnisse begreifbar macht - das war seine Idee. Es erscheint auch eine Ausgabe in deutscher Sprache und viele Schulbuchverlage drucken die sorgfältigen Schaubilder gerne nach. Sachte greift die deutsche Redaktion von "Le Monde Diplomatique" in die französischen Originale ein - um dem deutschen Geschmack Genüge zu tun. Redaktionsleiterin Barbara Bauer: O-Ton 19 Barbara Bauer Die französische Grafik ist manchmal ein bisschen verspielter und nicht ganz so kompakt und konzentriert auf die reine Information. Und das verändern wir auch ein bisschen. Wir sind strikter, finden wir, weniger rhetorisch. Mit dem Blick auf das Bild und die Karte soll man sofort verstehen, was man hier sieht. Welche Ungerechtigkeit, welche Handelsströme, welche Form der Ausbeutung des Meeres und so weiter. Die Information soll sofort anschaulich werden. AUTORIN 28 Der Atlas versteht sich als inhaltliches Korrektiv: In den Wirtschaftsteilen der Zeitungen dominieren die klassischen Kurven vom Auf und Ab der Aktienkurse. Dem Atlas der Globalisierung reicht das nicht. Er schürft tiefer, beleuchtet Ursachen - und fordert zum Mitdenken auf. Niels Kadritzke, Redakteur: O-Ton 20 Niels Kadritzke Deswegen ist es unglaublich wichtig, dass wir bei dem Atlas in einem Sonderteil nachliefern - alle Quellen. Und das kann jeder nachprüfen. Und sollte es auch! Musik 17 Elektronische Klänge AUTORIN 29 Zehntausend Jahre alt ist die Geschichte des informierenden Bildes, und bis heute müssen Betrachterinnen und Betrachter lernen, solche Bilder einzuordnen, zu lesen und zu verstehen. Zwangsläufig reduziert die Informationsgrafik die Komplexität der Welt - und kann im Idealfall auf beeindruckende Weise helfen, die Verhältnisse der Welt ein bisschen besser zu begreifen. Barbara Bauer vom Atlas der Globalisierung ist optimistisch: O-Ton 21 Barbara Bauer Man kann jetzt sagen, das Fernsehen verdummt die Leute, alles wird immer plumper - aber ich glaube das nicht. Ich glaube, es gibt ein genauso starkes Bedürfnis auch danach, die Dinge wirklich zu verstehen. Es geht immer um den Erkenntnisgewinn! Also was sehe ich hier? Was erfahre ich über die Welt! Wem gehört das Land in Afrika? Was machen Investoren mit Wohnraum in Baden-Württemberg? Ich glaube, die Leute wollen es wissen. Musikende --- ENDE --- Literaturtipp: Sandra Rendgen, Hrsg. Julius Wiedemann, Information Graphics (deutsch-englisch), Taschen Verlag, Köln 2012, 480 Seiten, 49,99 Euro 1