DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Feature Dienstag, 21.10.2008 Redaktion: Marcus Heumann 19.15 - 20.00 Uhr "Vom Kunstmaler zum Rundfunkverbrecher" Heinrich Will und das Gießener Freitagskränzchen Von Sabine Weber URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ? Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - Musik Beethoven, 5. Sinfonie, 1. Satz O-Ton Josef Goebbels Ich halte den Rundfunk für das allermodernste und für das allerwichtigste Massenbeeinflussungsinstrument, das es überhaupt gibt. O-Ton BBC Paukenschläge - "Hier ist England. Hier ist England. Hier ist England." O-Ton BBC Frau Wernicke 1941 Neeneenee, da will ich nichts von wissen, Kinder. Nee, det Radio dreh ich nicht an. Nee, nee, nichts zu machen. Wie leicht drehste da ein bisschen zu weit und haste nicht gesehen, biste `n Volksschädling. Atmo Sendersuchen (Pfeifen, Rauschen, Sprachfetzen) O-Ton Michael Hensle Die Bezeichnung "Rundfunkverbrechen" ist eigentlich eine ganz merkwürdige und zugleich denkwürdige Bezeichnung, weil im Grunde genommen etwas zum Verbrechen erklärt wurde, ich betone noch mal ausdrücklich "Verbrechen", also nicht nur Vergehen, was bislang durchaus gang und gäbe war, nämlich sich seines Rundfunkapparates zu bedienen, indem man durchaus auch mal andere Sender einschaltete als die Offiziellen und durchaus auch mal Auslandssender, die deutschsprachigen Nachrichten hörte oder sonstige Sendungen hörte. Und das wurde dann mit der Verordnung vom 1.9.1939 per Gesetz verboten. O-Ton Gaby Rehnelt Mein Vater hat Heinrich Will öfters gewarnt. Heinrich Will war bekannt dafür, dass er Äußerungen gegen den Nationalsozialismus gemacht hat. In der Bahnhofstraße in Gießen gab es ein Tabakgeschäft Geller - da trafen sich oft solche Leute und schimpften; der Mann von der Tabakfrau war Polizist, der hat auch oft zum Heinrich Will gesagt, er solle doch bitte seinen Mund halten. Atmo Sendersuchen O-Ton Axel Ulrich Die Fakten sind die. Da gab es Leute, die haben sich getroffen, die sitzen zusammen, treffen sich jeden Freitag, diskutieren, hören Feindsender. Sie haben also sicherlich auch Äußerungen untereinander getätigt, die von den Nazis als regimefeindlich interpretiert werden mussten, zwangsläufig, und es ist eins zu eins halt eben erzählt worden von einer Frau, die Gestapo-Kontakte hatte. Atmo Sendersuchen O-Ton Gisela Ludwig Ich weiß nicht, wer das geprägt hat, diesen Begriff "Freitagskränzchen" - in einem Kränzchen werden keine Leute zum Tod verurteilt. O-Ton BBC Paukenschläge Kinderreim Drei kleine Meckerlein, die hörten Radio. Der eine stellte England ein, da waren's nur noch zwo. Atmo Glocken Big Ben Sprecherin Vom Kunstmaler zum Rundfunkverbrecher. Heinrich Will und das Gießener Freitagskränzchen. Ein Feature von Sabine Weber Musik Albert Vossen: Nr. 5 "Denk an mich" (1940) - instrumental Sprecherin Gießen, 6. Februar 1942. Die kleine oberhessische Stadt liegt unter einer dichten Schneedecke. In einer behaglichen, mit Biedermeiermöbeln und Orientteppichen eingerichteten Wohnung läuft das Radio. Es ist ein Telefunken-Super Nr. 876 mit Klangreglern, Schnellabstimmung und hervorragendem Empfang - im Gegensatz zu den sonst üblichen Volksempfängern, die absichtlich nur für den Empfang lokaler Sender optimiert sind. Sein Besitzer, der 73-jährige Gelehrte Dr. Alfred Kaufmann, ist gerade nach Hause gekommen. Er packt seine spärlichen Einkäufe aus und bereitet sich, wie fast jeden Freitagabend, auf den Besuch einiger Freunde und Bekannter vor - sein "Freitagskränzchen". Sprecherin Um 20 Uhr 30 hört Kaufmann noch die Nachrichten auf dem Schweizer Sender "Radio Beromünster" - dann kommen seine Gäste. Im Telefunken-Super wird Musik eingestellt, man beginnt sich angeregt zu unterhalten. Musik Albert Vossen: Nr. 20 "Mir geht's gut" Sprecherin Ein Großteil des Gesprächs wird von Kaufmann selbst bestritten. Als Pfarrer a. D., Orientalist und Vortragsredner ist er ein begnadeter Erzähler, dem der Kunstmaler Heinrich Will und seine Frau Elisabeth, die Verkäuferin Stefanie Hawryszkow, die Lehrerin Emilie Schmidt, die Professorengattin Hildegard Falckenberg und die mit einem deutschen Archivar verheiratete Schwedin Dagmar Imgart gerne zuhören. Allmählich kommt das Gespräch auf die neuesten Gießener Nachrichten, schließlich auf die weltpolitische Lage: Man macht sich Luft über die Unsinnigkeit der deutschen Eroberungspläne. Sprecherin Es wird 22 Uhr. Heinrich Will, der wegen seines Rheumas nahe der Heizung und damit auch in der Nähe des Radiogeräts sitzt, stellt den Londoner Sender ein. O-Ton BBC Pauken "Hier ist England. Zunächst die Nachrichten in Schlagzeilen." Sprecherin Plötzlich klingelt es an der Tür. Dr. Kaufmann stellt rasch wieder auf den Deutschlandsender um. Heinrich Will geht in den Flur und öffnet. O-Ton Gaby Rehnelt Es war eben die Gestapo. Und die ging sofort rauf, die wussten wohl auch schon - es war der hintere Eingang, man kann auch bei dem Haus vorne rein, aber es war der hintere Eingang; hat dann sofort alle mitgenommen. Und das Schreckliche war: Die Liesl Will hätte in der Tür gestanden mit erhobenen Händen. Die Frau Imgart wurde mit verhaftet und das ganze Kränzchen wurde im Gänsemarsch abgeführt durch die Anlage bis zur Neuen Bäue, wo das Gestapo-Quartier war. Sprecherin Dort werden Heinrich Will, Alfred Kaufmann und die fünf Frauen in Einzelzellen gesperrt und bis in die frühen Morgenstunden verhört. Die Protokolle werden auf Vordrucken festgehalten, die bereits Angaben zur Person und einen vorgefertigten Text mit den ersten Aussagen aufweisen - die Verhaftung durch die Gestapo ist offensichtlich von langer Hand vorbereitet gewesen. Am folgenden Morgen werden weitere Mitglieder des Freitagskränzchens verhaftet: in Bremen Kaufmanns Freundin Meta Bote, in Hausen der 56-jährige Pfarrer Ernst Steiner und seine Frau Helene, in Gießen die Lehrerin Antonie Baur und die Medizinstudentin Renate Roese, mit 21 Jahren die Jüngste im Bunde. Alle Verhafteten werden bei Eiseskälte in einem offenen Wagen nach Darmstadt transportiert. Dort folgen mehrwöchige Verhöre. Am Ende müssen fast alle Teilnehmer des Freitagskränzchens für die gemeinsamen Abende bei Dr. Kaufmann einen hohen Preis zahlen. Besonders schwer wird es Heinrich Will und seine Frau Elisabeth treffen. Atmo Schreibmaschine Zitator 1 Heinrich Will, Kunstmaler, 46 Jahre, Gießen Verhör vom 7. Februar 1942 Zitator 2 Einer Partei oder Gliederung habe ich vor der Machtübernahme nicht angehört. In der Öffentlichkeit habe ich mich überhaupt noch nicht politisch betätigt. Ich bin Kunstmaler von Beruf. In Frankfurt/Main, Berlin, Düsseldorf, Wien und Rom habe ich studiert. Im Jahre 1928 habe ich mich in Gießen niedergelassen. In Wien habe ich meine jetzige Frau, die von Juden abstammt, kennen gelernt. In meinem Schaffen habe ich eine gute solide Malerei immer gepflegt. Ich habe mich niemals den modernen Richtungen angeschlossen. O-Ton Friedhelm Häring Die Vorbilder für Will sind Max Liebermann, Max Slevogt; das heißt die großen Künstler des so genannten deutschen Impressionismus. 1881 ist zum Beispiel Max Beckmann geboren, der die Welt auf den Kopf stellt und ruiniert und Perspektiven verändert und auf den Ersten Weltkrieg mit einem ungeheuren Weltekel reagiert. Sprecherin Friedhelm Häring, Direktor der Oberhessischen Museen in Gießen. O-Ton Häring Will ist 1895 geboren - und malt ganz schöne Landschaften; wirklich bezaubernd, leicht im Strich, gediegen in der Ausbildung. Die Meisterklasse hat er als nächstes hier in Wien besucht. In Wien hat er dann auch seine Frau kennen gelernt, eine geborene Klein, Elisabeth Henriette Klein, die er dann heiraten wird. Sprecherin Die Schwester von Renate Roese, Musikpädagogin Gisela Ludwig, lernt schon als Kind das Ehepaar Will kennen. O-Ton Gisela Ludwig Er war ein bäuerischer Typ, was kein Negativum ist, so ein stämmiger. Die Liesl war ja gertenschlank und wie ne Wienerin ist. Also, die war ... Ich kann nur sagen, die war bezaubernd, wie ein Schmetterling - schwebt dahin und strahlt Liebe und Freundlichkeit aus ihren Augen. Die war ein bezauberndes Wesen. Er war für meinen Begriff, für unseren Begriff war er das Gegenstück von ihr. Aber: Gegensätze ziehen sich ja oft an. Sprecherin Heinrich Will wächst auf einem Bauernhof in Treis, einem Dorf nahe Gießen auf. Aufgrund einer schweren Kriegsverletzung von 1918 kann er nicht mehr auf dem elterlichen Hof arbeiten. Er besinnt sich auf sein Zeichentalent, studiert und findet sein Auskommen vor allem als Porträtist gutbürgerlicher Kunden. Anfang der Dreißiger Jahre sind er und seine Frau Elisabeth in der Gießener Gesellschaft fest etabliert. Dem Nationalsozialismus zeigt sich Heinrich Will zunächst nicht abgeneigt. Jörg-Peter Jatho, Lehrer a. D., NS-Forscher und Autor eines Buches über das Gießener Freitagskränzchen: O-Ton Jörg-Peter Jatho Nun war der Heinrich Will aber selber ein Nationalsozialist in dem Sinne, dass er schon 1926 in Treis, also seinem Heimatort, für die NSDAP agitiert hat, und dass er betont hat, die Helden vom November 23 würden noch mal als ganz große Männer rauskommen und würden die Geschichte bestimmen. Hat er auch insofern ja Recht gehabt, irgendwie. Am 1. April 1933 trat er in den NS-Kampfbund für deutsche Kultur ein, das war die wichtigste Kulturorganisation der Nazis, die war schon ab 1929 aktiv und unterstand Rosenberg, Alfred Rosenberg, der auch der Redakteur des Völkischen Beobachters war, und das war eine ganz klare Stellungnahme für einen Künstler. Jeder wusste, wer der Kampfbund war. O-Ton Goebbels Niemand von uns ist der Meinung, dass Gesinnung Kunst ersetzen könnte. Was wir wollen ist mehr als dramatisiertes Parteiprogramm. Sprecherin ... verkündet Josef Goebbels anlässlich der Eröffnung der Reichskulturkammer im November 1933. Wer als Künstler arbeiten und mit seinen Erzeugnissen an die Öffentlichkeit treten will, muss hier Mitglied sein. Im selben Jahr tritt Heinrich Will dort den Posten eines Bezirksleiters an. O-Ton Jatho Das heißt, der Heinrich Will hat die Künstler für die NSDAP in Gießen vertreten, also deren Belange. Man würde das vergleichen mit einer linken Gewerkschaft, ist aber natürlich was Anderes, weil es geht hauptsächlich um Propaganda, Indoktrination, also dass die Leute sich dem Führersystem einordnen. Das heißt er hat sozusagen für die NSDAP die Künstler in Gießen organisiert und war ihr Sprecher. Sprecherin Ab 1934 jedoch scheint sich Heinrich Will vom Nationalsozialismus abzuwenden. In dieser Zeit lernt der Dichter Georg Edward ihn kennen. Edward ist nach jahrzehntelangem Aufenthalt in den USA wieder nach Gießen gezogen. In seinen Tagebüchern zeichnet er die Geschehnisse unter den braunen Machthabern auf. Über Heinrich Will notiert er u. a.: Zitator 3 23. Juni 1934 - Besuche Herrn Will in seinem Atelier. Porträts, Landschaften, Stillleben, Akte. Will, der einmal ein enthusiastischer Nationalsozialist war, ist jetzt das genaue Gegenteil. 24. September 1934 - Nachmittags mit dem Maler Will zusammen, der sehr pessimistisch über die allgemeine Lage spricht und für die Kunst unter dem Hitlerschen Gangstertum fürchtet. Sprecherin Darüber, was Heinrich Will zu dieser Neupositionierung bewegt, lässt sich nur spekulieren. Dass von ihm seit seiner Tätigkeit als Bezirksleiter immer wieder verlangt wird, sich endlich von seiner jüdischen Ehefrau zu trennen, dürfte e i n Grund dafür sein. Als er dies auch nach Erlass der Nürnberger Rassegesetze nicht tut - die u. a. die Eheschließung zwischen Juden und Nichtjuden verbieten - wird er aus der Reichskulturkammer ausgeschlossen. Damit verliert er sein Amt und darf bei Strafe nicht mehr ausstellen. Dem Ehepaar ist die Existenzgrundlage entzogen. Etwa zu dieser Zeit malt Will eines seiner beeindruckendsten Bilder - das Doppelporträt zeigt Elisabeth auf der Vorderseite und ihn selbst auf der Rückseite. Es befindet sich im Besitz der Wiesbadener Malerin und Sammlerin Marianne Kirchner. O-Ton Marianne Kirchner Da malt ein Mann die Frau drauf, die er liebt. Und er hat sie schön gemalt, er hat sie für idealisiert gemalt, er hat ihr ein wunderschönes Gesicht gemalt, er hat - ich muss es rumdrehen - er hat ihr einen sehr sehr schönen Körper gemalt, also er hat sie auch sexuell begehrt, das Bild lebt. Und wenn man sieht, er hat sich dann auf die Rückwand gemalt. Und er hat sich ganz stark und ganz schön, und jetzt sag ich etwas: er hat sich gemalt, dass Hitler seine Freude an ihm gehabt hätte, weil er diese Männlichkeit so schön gemalt hat. Er wollte zeigen: Ich bin ein wunderbarer Mann, ich hab ne wunderbare Frau und er hat ja schon gewusst, dass sie wahrscheinlich auseinander, dass sie also verloren sind. Und so ein Bild, das ist mein größter Schatz. Sprecherin Doch nicht nur die Tatsache des beidseitigen Porträts, das die Abgebildeten untrennbar werden lässt, macht dieses Bild zu etwas Besonderem. Heinrich Will malt es auf den groben Stoff eines Kartoffelsacks - ein Symbol dafür, dass er sich Leinwand nunmehr kaum noch leisten kann. O-Ton Goebbels Wie sollte der deutsche Künstler sich in diesem Staate nicht geborgen fühlen. Sozial gesichert, wirtschaftlich gehoben, gesellschaftlich geachtet kann er nun in Ruhe und ohne bitterste Existenzsorgen seinen großen Plänen dienen. Sprecherin Elisabeth schlägt vor, angesichts der zunehmenden Verschlechterung der Lage, nach Schweden zu gehen. Heinrich kann dort eine Professur an einer Akademie erhalten! Doch er lehnt ab und will sie auch nicht allein gehen lassen: Er könne weder ohne seine Heimat noch ohne Elisabeth leben. Ende Dezember 1938 reist Elisabeth Will ein letztes Mal nach Wien, um ihren Bruder zu verabschieden, der in die USA flieht - danach wird sie ihre Familie nicht mehr wieder sehen. O-Ton BBC Nachrichten Germany has invaded Poland ... Atmo Verschiedene Senderkennungen (Radio Moskau, BBC, Stimme Amerika) Sprecherin Nicht erst seit Kriegsbeginn strahlen rund 20 ausländische Sender Programme in deutscher Sprache nach Deutschland aus, um antinationalsozialistische Propaganda zu machen. O-Ton BBC Paukenschlag BBC Sprecherin Neben Radio Moskau ist der wichtigste Sender zweifellos Radio London von der BBC. Das Erkennungszeichen der deutschen Stunde sind die ersten Takte von Beethovens 5. Sinfonie, auf der Pauke geschlagen - es ist zugleich das Morsezeichen für den Buchstaben V für "Victory" - Sieg. Das Programm besteht aus einer Mischung aus Nachrichten, Kommentaren und Musik. Besonderer Beliebtheit erfreuen sich Thomas Manns aufklärerische Rundfunkreden unter dem Titel "Deutsche Hörer". Und es gibt satirische Sendungen wie die wöchentliche Kolumne der angeblichen Berliner Putzfrau Wernicke, hinter der sich sich die exilierte deutsche Kabarettistin Annemarie Haase verbirgt. O-Ton BBC Frau Wernicke Ich sage euch, Kinder, jiepert bloß nicht so nach dem Londoner Rundfunk. Was habt Ihr denn schon von, wenn Ihr immerfort hört, wie viele wieder in Norwegen erschossen, in Prag aufgehängt und in Frankreich eingelocht worden sind. Was ist denn schon dabei, wenn sie jeden Tag einen Haufen Leute umbringen, die nichts dafür können. Sprecherin Josef Goebbels ist in einer misslichen Lage - sein wichtigstes Propagandainstrument, der Rundfunk, ist zugleich zum gefährlichen Infiltrationsmittel seiner Feinde geworden. Goebbels notiert in einem Tagebucheintrag vom 14. Dezember 1939: Zitator 1 Die ausländischen Sender werden doch sehr stark bei uns abgehört. Ich lasse einige drakonische Urteile aussprechen und veröffentlichen. Vielleicht hilft das. Sprecherin Gesetzliche Handhabe gibt Goebbels die "Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen", die bereits zu Kriegsbeginn am 1. September 1939 in Kraft getreten ist. Sie beruht auf seiner eigenen langjährigen Initiative, wird aber auch von Führerstellvertreter Rudolf Heß stark unterstützt, der ein englisches "Radiobombardement" befürchtet. Zitator 1 Paragraph 1: Das absichtliche Abhören ausländischer Sender ist verboten. Zuwiderhandlungen werden mit Zuchthaus bestraft. In leichteren Fällen kann auf Gefängnis erkannt werden. Die benutzten Empfangsanlagen werden eingezogen. Paragraph 2: Wer Nachrichten ausländischer Sender, die geeignet sind, die Widerstandskraft des deutschen Volkes zu gefährden, vorsätzlich verbreitet, wird mit Zuchthaus, in besonders schweren Fällen mit dem Tode bestraft. O-Ton Hensle Also es ging in erster Linie, das ist so meine Einschätzung, nicht nur darum, jetzt das Hören absolut zu unterbinden - das war technisch auch nicht möglich - aber man konnte über Strafandrohung dann doch versuchen, zumindest in Teilen versuchen zu verhindern, dass die Menschen öffentlich über das diskutiert haben, was sie in ausländischen Sendern, insbesondere in den Nachrichtensendungen gehört haben. Sprecherin Dr. Michael Hensle, Historiker und Stadtarchivar in Herten, Autor eines Buches über "Rundfunkverbrechen". Kurz nach Inkrafttreten der Rundfunkverordnung kommt es zu ersten Verurteilungen: mehrere Monate Gefängnis werden über die Schwarzhörer verhängt. 1941 spricht ein Lagebericht bereits von monatlich 200 bis 400 verhafteten Personen. Ende September 1941 werden die ersten Todesstrafen ausgesprochen. Goebbels führt den Kampf gegen die Schwarzhörer mit der Peitsche, aber auch mit Zuckerbrot: 1940 läuft in den deutschen Kinos folgender Propagandasketch: O-Ton Propagandakabarett Rundfunkstimme: ... wurde wegen Abhörens ausländischer Sender zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. A: Siehste, was hab ich gesagt? Hähä. B: Ja. Aber Musik kann ich doch hören. Paris, chice Musik, Pariser Luft, nackige Mädcher ... A: Du, das ist auch verboten. Du kannst deine Tanzmusik auch von deutschen Sendern hören. Pass mal auf. Flotte Tanzmusik, B singt mit A: Na, ist das nicht herrlich. Und das alles nur für zwei Mark im Monat. B: Zwei Mark. Ob ich da ne Ermäßigung kriegen kann. A: Geh, warum willst du denn eine Ermäßigung haben. B: Ja, weil ich doch jetzt keinen ausländischen Sender mehr hören darf. A: Lachen Sprecherin Darüber, wie viele Deutsche tatsächlich den verfemten Auslandssendern lauschen kann es nur Schätzungen geben - sie reichen von 1 bis 11 Millionen Schwarzhörern. Sicher aber ist, dass das Gießener Freitagskränzchen dazugehört. Dr. Alfred Kaufmann, der Gastgeber des "Kränzchens", ist nicht nur hochgelehrt, sondern auch weitgereist. Anfang des 20. Jahrhunderts leitet er mehrere Jahre lang eine deutsche Schule in Alexandrien. Einer seiner dortigen Schüler ist der spätere Führerstellvertreter Rudolf Heß. O-Ton Jatho Dr. Kaufmann war die politisch einzig wichtige Person und zwar aufgrund seiner vielen Beziehungen. Sprecherin Jörg-Peter Jatho. O-Ton Jatho Er hat ständig, ab 33 natürlich, bei Veranstaltungen gesagt, dass er der Lehrer von dem Führerstellvertreter Rudolph Heß in Alexandrien gewesen war, ich glaube sechs oder acht Jahre lang; und dass er auch später noch die Beziehungen aufrecht erhalten hat zur Familie, und er hat den Heß zum Beispiel auch im Herbst 1933 in München noch besucht. Sprecherin Und ausgerechnet Heß ist es, der wie Josef Goebbels als einer der Hauptverfechter der Rundfunkverordnung gilt. Deren gnadenlose Umsetzung wird wenig später das Schicksal von Dr. Kaufmann und seinem Freitagskränzchen besiegeln. O-Ton Ludwig Wir konnten zwar nicht verstehen, wieso der Lehrer vom Heß war, aber wir konnten seine Sachen bewundern, und der hat spannend erzählt von Ägypten. Und vor allem: Wir konnten bei ihm Nachrichten mitbekommen und dann haben wir mal gefragt, was war jetzt los, was kann ich meinen jüdischen Freunden mitteilen, die haben ja alles nicht mehr gehabt und die wollten natürlich über die Politik vor allem wissen ... Sprecherin Gisela Ludwig und ihre zwei Jahre ältere Schwester Renate wachsen in Gießen in einem freigeistigen Zuhause auf. Dr. Kaufmann sehen die beiden Mädchen fast täglich. O-Ton Ludwig Wie hab ich ihn erlebt? Ich kann nur sagen, ich war ja Kind damals, wie wir ihn kennen gelernt haben, da war ich 12, 13, der war für mich - erstens ist er riesenhoch gewesen und einfach ne Majestät. Eine Persönlichkeit und wir Kinder haben Persönlichkeiten geliebt. - Wir haben ihn bewundert. Auch in seiner Haltung, der ging auch schon so, ich sag ja, wie ne Majestät. Kein gewöhnlicher Mensch. Sprecherin Alfred Kaufmann und das Ehepaar Will kennen sich seit Mitte der Dreißiger Jahre. Heinrich und Elisabeth Will bringen die Professorengattin Hildegard Falckenberg und die beiden Lehrerinnen Emilie Schmidt und Antonie Baur mit in die Freitagsrunde. Über Dr. Kaufmann kommen die Verkäuferin Stephanie Hawryszkow, Pfarrer Ernst Steiner und seine Frau Helene, Kaufmanns Bremer Freundin Meta Bote sowie die junge Medizinstudentin Renate Roese hinzu. In den späteren Verhören geben die Mitglieder des Freitagskränzchens regelmäßige gemeinsame Abende seit 1941 zu. Wahrscheinlich aber ist, dass sie sich schon wesentlich länger in wechselnder Zusammensetzung treffen. Vielleicht sind es wirklich nur das gemeinsame Essen und Trinken, die Behaglichkeit, die neuesten Nachrichten und die gepflegte Gesellschaft, die diese Menschen immer wieder zusammenführen. Vielleicht aber ist hier auch etwas im Werden begriffen. Dr. Axel Ulrich - Politologe, Autor zahlreicher Publikationen zum antinazistischen Widerstand in Hessen und Leiter der Gedenkstätte "Unter den Eichen" in Wiesbaden: O-Ton Ulrich Wir müssen davon ausgehen, dass Widerstand nichts Statisches ist, sondern dynamisch. Er fängt im Kleinen an: Menschen schließen sich zusammen, tauschen sich aus, teilen ihre Ängste, ihre Befürchtungen, kommen gemeinsam auf die Idee: Irgendetwas müssten wir doch jetzt dagegen tun. Sie versuchen, Informationen zu gewinnen, die der gleichgeschalteten NS-Presse nicht zu entnehmen sind. Sie versuchen es, indem sie die illegale Publizistik der Arbeiterparteien zur Kenntnis nehmen, in den Anfangsjahren und ab Kriegsausbruch in zunehmendem Maße die Sender der Alliierten abzuhören, obwohl darauf große schwere Strafen bis hin zur Todesstrafe standen. O-Ton BBC Nachtwächterlied "Hört, ihr Leut und lasst Euch sagen, die Glocke hat schon Zwölf geschlagen, Zwölf schlägt die Glock ... . Vergesst das Feuer nicht und Licht, Vergesset auch die Wahrheit nicht. Zwölf schlägt die Glock." O-Ton Hensle In der Regel wurden die Abhörer nicht entdeckt, weil die Gestapo nachts um die Häuser schlich oder die Gestapo das Ohr an irgendwelche Fensterläden legte, um zu hören, welche Sendungen da laufen, sondern so ein Straftatbestand wie das Abhören ausländischer Sender wurde dann publik und justitiell, wenn das irgendjemand verriet, es der Gestapo gelang, dort irgendwie einen Spitzel zu platzieren. Sprecherin Ende Dezember gesellt sich ein neuer Gast zum Freitagskränzchen. Es ist die 45- jährige Schwedin Dagmar Imgart, die Dr. Kaufmann aus dem Wingolf, einer christlichen Studentenverbindung, kennt - ihr Mann ist dort der Archivar. Die liebenswürdig auftretende Imgart scheint eine Gleichgesinnte zu sein und stimmt in die kritischen Reden der anderen mit ein. Doch schon das dritte Treffen, an dem sie teilnimmt, wird für das Freitagskränzchen das letzte sein - Dagmar Imgart ist Gestapo-Zuträgerin. Heinrich Will und die anderen werden nach einem ersten Verhör in Gießen am anderen Tag in das Gestapo-Gefängnis nach Darmstadt gebracht. O-Ton Ulrich Es ist gefoltert worden. Die haben das, was sie wissen wollten, aus den Menschen rausgeprügelt. Alles das: mit Erpressung, mit Folter, mit Psychomethoden, mit Schlafentzug und und und - also, auch Menschen, die stark geblieben sind, konnten schwach werden. Zitator 3 Ich muss heute offen sagen, dass Will wohl der übelste Hetzer unseres Kreises war. Zitator 2 Aus diesem Grunde muss ich immer wieder erwähnen, dass Kaufmann in meinen Augen der Hauptübeltäter war. Zitatorin 2 Da ich sehr vergesslich bin, kann ich mit dem besten Willen keine Angaben darüber machen, was ich oder die übrigen Beteiligten bei den fraglichen Aussprachen geäußert haben. Zitatorin 1 Es wird mir jetzt erst klar, dass es sich bei den so genannten Freitagskränzchen um einen illegalen Verschwörerklub handelte. Zitatorin 3 Es ist richtig, dass mein Mann einmal auf dem Nachhauseweg zu mir sagte, Kaufmann wird durch diese Zusammenkünfte eines Tages stürzen wie eine Eiche und wird alles, was um ihn herum ist, mit sich reißen. Sprecherin Doch im Grunde bedarf die Gestapo gar nicht dieser Aussagen - sie ist bereits bestens informiert. Schon im Sommer 1941 hat sich das Gießener Referat von der NSDAP-Leitung im Kreis Wetterau über die politische Einstellung der Teilnehmer am Freitagskränzchen in mehreren Schreiben unterrichten lassen. Ein Grund für dieses Interesse der Gestapo am Freitagskränzchen könnte mit Rudolf Heß zusammenhängen. Jörg-Peter Jatho: O-Ton Jatho Die Position von Dr. Kaufmann war das eigentliche Politikum in dem Kreis, und vor allen Dingen nach der offiziellen Kaltstellung von Rudolf Heß, das ging ja durch die ganze Presse, das wusste ja jeder, im Mai 1941 nach seinem Flug nach Schottland, waren Informationen über den Führerstellvertreter im Dritten Reich top secret. Und alle Leute, die irgendwas mit Heß zu tun hatten, auch die ganzen Esoteriker, Waldorfschüler, die Parapsychologen und was weiß ich alles, die wurden alle dann verfolgt, in dem Sinne, dass man rauskriegen wollte, woher hat der Heß diese Ideen - und das war dann 1941 ganz klar, dass jemand, der sich damit zusammentut, dass der gefährdet ist und das hat der Alfred Kaufmann, das ist eigentlich das größte Rätsel der Geschichte, geglaubt, dass er das nicht ernst nehmen muss oder er hat das vielleicht auch nicht mitgekriegt, diese Verfolgungswellen. Sprecherin Bevor die Ermittlungen abgeschlossen sind, muss Gestapo-Referatsleiter Ludwig Weber einen "Zwischenfall" melden. Zitator 1 Der Beschuldigte Steiner hat am 9. 3. 1942 ein Geständnis abgelegt. Er ist am 16.3.1942 zwischen 9 und 10 Uhr durch Selbstmord (Erhängen in der Arrestzelle) freiwillig aus dem Leben geschieden. Sprecherin Alfred Kaufmann berichtet später: Zitator 3 Ich glaube aber nicht daran, denn ich habe ihn oft in der Nachbarzelle schreien hören, und die Drohungen gegen den Pfaffen waren alltäglich. Für mich steht es fest, dass er von den SS-Wärtern totgeschlagen wurde und nachher erhängt, oder dass er direkt von ihnen in der Zelle erhängt worden ist. Sprecherin Am 18. März fasst Referatsleiter Weber die Aussagen der ungenannt bleibenden Dagmar Imgart sowie die Verhörprotokolle in einem siebenseitigen Bericht zusammen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass es sich bei den Mitgliedern des Freitagskränzchens um fanatische Staatsfeinde handelt. O-Ton Hensle Es war ausdrücklich vorgesehen in § 5 der Rundfunkverordnung, dass das alleinige Recht, einen Strafantrag zu stellen, der Gestapo vorbehalten war. Damit hatte sozusagen die Gestapo jederzeit Kontrolle und Filtermöglichkeit. Also, sie konnte sagen: Nein, den lassen wir jetzt laufen. Oder: Den stecken wir gleich ins Konzentrationslager. Oder: Die bringen wir vor Gericht, vors Sondergericht. Sprecherin Weber gibt den Bericht an die Oberreichsanwaltschaft beim Volksgerichtshof in Berlin weiter. Vielleicht ist der Grund tatsächlich Kaufmanns Bekanntschaft mit dem inzwischen in Ungnade gefallenen Rudolf Heß gewesen. Vielleicht sind es die unvorsichtigen kritischen Reden von Heinrich Will und Ernst Steiner. Oder auch die Tatsache, dass Heinrich Will sich beharrlich weigert, sich von seiner jüdischen Frau zu trennen. Auch, dass die unter Erfolgsdruck stehende Gestapo durch möglichst viele weitergeleitete Strafsachen ihre Existenz rechtfertigen will, ist denkbar. Für die zweitägige Verhandlung im Juli 1942 reist eigens das höchste Gericht des NS-Staates an, der berüchtigte Volksgerichtshof aus Berlin. Damit ist allen Beteiligten klar: es wird ein Schauprozess. Als wichtigster Zeuge ist Gestapo- Referatsleiter Ludwig Weber geladen, dessen Berichtsergebnis die Anklage vorgibt. Belastungszeugin Dagmar Imgart tritt nicht in Erscheinung; auch ihre geheimen Berichte werden nicht erwähnt. Zitator 1 Es werden verurteilt die Angeklagten Alfred Kaufmann und Heinrich Will wegen landesverräterischer Begünstigung in Verbindung mit einem Verbrechen nach § 1 der Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen vom 1. September 1939 ein jeder zum Tode und Ehrverlust auf Lebensdauer, die übrigen Angeklagten wegen eines Verbrechens nach § 1 der angeführten Rundfunkverordnung, und zwar Elsabeth Sara Will zu 6 Jahren Zuchthaus. Emilie Schmidt zu 3 Jahren Zuchthaus und 3 Jahren Ehrverlust. Stefanie Hawryszkow, Hildegard Falckenberg und Renate Roese zu 3 Jahren Gefängnis. Das bei Kaufmann sichergestellt Rundfunkgerät (Wert 200,- Reichsmark) wird eingezogen. Die Angeklagten haben die Kosten des Verfahrens zu tragen. O-Ton Rehnelt Im Lichte der späteren Forschung hat sich ergeben, dass im Gießener Raum noch kein Todesurteil gefällt wurde; nach Anbruch des Krieges war ja gerade das Abhören ausländischer Sender unter Todesstrafe gestellt. Sprecherin Gaby Rehnelt, die Tochter von Wills Verteidiger, Rechtsanwalt Jakob Zimmer, ist Mitglied im Frankfurter Studienkreis Deutscher Widerstand und Co-Autorin zweier Bücher über Heinrich und Elisabeth Will. O-Ton Rehnelt Und es gab in Hessen schon mehrere Todesurteile, aber im Gießener Raum gab es noch keine. Insofern war das also ein gefundenes Fressen. Und insofern war auch das Todesurteil für Kaufmann und Will schon von Berlin aus vorgegeben. Sprecherin Am 27. Juli 1942 fertigt Heinrich Will in seiner Zelle drei letzte Zeichnungen an. Zwei davon zeigen Mitgefangene, die letzte ist ein Selbstporträt. Friedhelm Häring: O-Ton Häring Wir haben vor allem das Porträt aus der Zelle nach Verkündigung des Todesurteils, das er mit Bleistift gezeichnet hat - ein erschütterndes Dokument. In dem letzten Blick ist im Endeffekt all das drin: Das Bewusstsein des Todes, das Bewusstsein der Vergeblichkeit, das Wissen um einen ungeheuren Kampf für die Zweisamkeit, das Scheitern im Irdischen - und eine Hoffnung; eine Hoffnung ist in dieser letzten Zeichnung sichtbar. Dann aber, wie es in so vielen Überhöhungen im Theater auch heißt, in einer besseren Welt. Sprecherin Nachdem alle Gnadengesuche abgelehnt worden sind, sieht Elisabeth Will in der Ehescheidung die einzige Chance, Heinrichs Leben zu retten. Immer wieder drängt sie Rechtsanwalt Zimmer, alles Nötige in die Wege zu leiten. Am 17. August 1942 werden sie und Emilie Schmidt in das völlig überbelegte Frauenzuchthaus nach Ziegenhain verbracht. Heinrich Will und Alfred Kaufmann kommen einen Monat später nach Frankfurt-Preungesheim - eine der zentralen Hinrichtungsstätten in der NS-Zeit. Bei der Einlieferung in Preungesheim muss sich Will einer gründlichen Leibesvisitation unterziehen. An seinem Körper wird ein Plastikröhrchen entdeckt, in dem er zwei ihm in der Haft heimlich zugesteckte Liebesbriefe von Elisabeth aufbewahrt. Darin spricht sie unter anderem von dem "Theater der bevorstehenden Ehescheidung", das sie Beide aber nicht auseinander bringen werde. Diese Entdeckung hat furchtbare Folgen. Zitator 1 13. Dezember 1942 Der Vorstand der Zuchthäuser in Ziegenhain an den Herrn Oberreichsanwalt bei dem Volksgerichtshof in Berlin. Sara Elisabeth Will ist am 7. Dezember 1942, 14 Uhr 15, von hier in das Konzentrationslager Auschwitz bei Kattowitz entlassen worden. O-Ton BBC Pauken O-Ton BBC 24.12.1942 In Deutschland sind von den etwa 200.000 Juden, die es 1939 dort gab, mindestens 160.000 verschleppt worden oder zugrunde gegangen. In Österreich leben von 75.000 Juden höchstens noch 15.000. In Böhmen und Mähren, wo es 80.000 Juden gab, gibt es nur mehr an 10.000. O-Ton Stimme von Amerika Januar 1943 (Musik Yankee Doodle) Hier spricht die Stimme aus Amerika. Die Vernichtung der Reste der vor Stalingrad eingeschlossenen sechsten Armee schreitet weiter fort. Sowjettruppen nehmen Stützpunkt nach Stützpunkt der Deutschen in und bei Stalingrad. Sprecherin Je schlechter die außenpolitische Lage wird, desto schärfer geht die NS-Justiz gegen die "inneren Feinde" vor. Doch: Alfred Kaufmann hat Glück im Unglück. O-Ton G. Rehnelt Im Zuschauerraum saßen ausgewählte Nazis, die waren aus ganz Deutschland herbeigekarrt worden, und es war ein sehr bekannter Anwalt aus Hamburg. Und der hat so einen Zorn gekriegt über die Führung dieses Prozesses, dass er sich spontan erboten hat, den Dr. Kaufmann zu verteidigen und hat das also sehr erfolgreich von innen, also von der Naziideologie her begründet. Und insofern war der auch erfolgreich. Sprecherin Am 13. Februar 1943 wird Dr. Alfred Kaufmann "mit Ermächtigung des Führers" zu acht Jahren Zuchthaus begnadigt. Diese unverhoffte Begnadigung macht auch Heinrich Will neuen Mut. Doch der Reichsminister der Justiz, Otto Thierack, schreibt an den Volksgerichtshof in Berlin: Zitator 1 In der Strafsache gegen den vom Volksgerichtshof am 21. Juli 1942 wegen landesverräterischer Feindbegünstigung und Rundfunkverbrechens zum Tode verurteilten Heinrich Will habe ich mit Ermächtigung des Führers beschlossen, von dem Begnadigungsrecht keinen Gebrauch zu machen, sondern der Gerechtigkeit freien Lauf zu lassen. Sprecherin 19. Februar 1943. Etwas über ein Jahr ist vergangen, seitdem die Teilnehmer des Freitagskränzchens verhaftet worden sind. Nur einen Tag hingegen ist es her, dass in München die Widerstandsgruppe "Weiße Rose" um Hans und Sophie Scholl entdeckt und festgenommen wurde; und dass Josef Goebbels im Berliner Sportpalast seine berüchtigte Frage an das deutsche Volk gestellt hat. Heinrich Will hat die vergangenen acht Monate auf dem Boden kauernd verbracht, Hände und Füße in schweren Ketten. Sein Haar wird nicht mehr geschnitten, rasieren darf er sich nicht. An jenem 19. Februar um 15.00 Uhr erhält er die Nachricht von der Ablehnung seines Gnadengesuchs. Zugleich wird ihm als Termin für die Exekution derselbe Abend bekannt gegeben. Als letzte Gnade wird die Kette an einer Hand gelöst. Im Beisein des Gefängnispfarrers schreibt er zwei Abschiedsbriefe: einen an seine Frau Elisabeth, von der er nicht weiß, dass sie zu diesem Zeitpunkt bereits ermordet worden ist, und einen an seine Familie. Zitator 2 Ihr Lieben, Euch allen sage ich Lebewohl! Ich bin ganz ruhig, ganz gefasst. Ich danke Gott von ganzem Herzen für mein Leben, für all das Schöne, was ich mit einer so lieben und reizenden Frau wie Liesl erlebte, danke ihm für die Liebe meines Elternhauses und die Harmonie, die unter uns Geschwistern herrschte. Weinet bitte, bitte nicht um mich, denkt an das große Sterben, das heute in der Welt herrscht, denkt daran, dass mir ein gütiger Gott nach dem Weltkrieg noch so schöne Jahre zu leben vergönnte. Ich habe keinem Menschen mehr bewusst etwas zu Leide getan. Auf Wiedersehen im ewigen Leben! Euer Heinrich. Zitator 1 20. Februar 1943. Erster Staatsanwalt Floret, Frankfurt, an den Herrn Reichsminister der Justiz und den Herrn Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof. Das Urteil ist am 19.2.43 um 20 Uhr 30 vollstreckt worden. Die Vollstreckung verlief ohne Zwischenfälle. Von der Vorführung des Verurteilten bis zur Übergabe an den Scharfrichter wurden 6 Sekunden, von der Übergabe bis zur Vollstreckung 8 Sekunden benötigt. Erklärungen sind von dem Verurteilten nicht mehr abgegeben worden. Sprecherin Zwei Tage später sind überall in Gießen Plakate zu sehen, die von der Hinrichtung des "Rundfunkverbrechers" Heinrich Will künden. An den Schulen und in einigen Betrieben der kleinen Stadt werden Feiern angeordnet. Dr. Alfred Kaufmann kommt am 22. Februar 1943 ins Zuchthaus nach Butzbach. Am 1. April 1945 wird er von den einrückenden Amerikanern als erster von 1200 Gefangenen befreit. Kurz danach erstattet er Anzeige gegen Dagmar Imgart bei den amerikanischen Behörden. Er stirbt im Januar 1946 an den Folgen seiner Haft. Hildegard Falckenberg erkrankt noch in der Haft an Krebs, wird 1944 vorzeitig entlassen, stirbt aber kurz darauf an den erlittenen Haftqualen und ihrer schweren Erkrankung. Stefanie Hawryszkow wird 1944 ebenfalls vorzeitig entlassen. Nach Kriegsende trifft sie noch zweimal mit Kaufmann zusammen und versorgt ihn mit Lebensmitteln. Emilie Schmidt ist die Letzte, die Elisabeth Will lebend gesehen hat. Sie übersteht die drei Jahre Zuchthaus und lebt bis zu ihrem Tod 1993 in Gießen. Meta Bote wird zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt. Kurz nach Kriegsende schreibt ihr Alfred Kaufmann von seinem Überleben - bevor sich die Beiden treffen können, stirbt Kaufmann. Antonie Baur erhält fünfzehn Monate Zuchthaus. Nach ihrer vorzeitigen Entlassung im März 1943 wird sie erneut verhaftet und in das Konzentrationslager Ravensbrück verschleppt. Durch den Einsatz von Freunden kommt sie ein halbes Jahr später frei. Sie stirbt 1977. Renate Roese wird 1944 vorzeitig auf Bewährung entlassen, findet jedoch nur unter Mühen eine Universität, an der sie weiter Medizin studieren kann. Bis zu ihrem Tod 1981 arbeitet sie als Ärztin - zunächst in der Stadt, später zurückgezogen auf dem Land. Was für sie gilt, gilt wohl für alle Überlebenden des Freitagskränzchens. O-Ton Ludwig Sie hat über die Haft eigentlich nie gesprochen, nur ... sie wollte da in Ruhe gelassen werden. Auf jeden Fall war es für sie nicht einfach. Sprecherin 1947 wird das Verfahren gegen Dagmar Imgart aufgenommen. Nach mehreren Prozessen, Schuld- und wieder Freisprüchen wird sie schließlich in letzter Instanz wegen Beihilfe zur Freiheitsberaubung zu einem Jahr und 3 Monaten Gefängnis verurteilt. 1957 tritt sie ihre sechsmonatige Resthaft an und wird vorzeitig entlassen. Sie hat die Verhaftung von 16 Menschen und die Hinrichtung von zwei Menschen durch ihre Denunziation befördert. Für jeden, den sie verriet, erhielt sie von der Gestapo 500 Mark Belohnung. Insgesamt werden zwischen 1939 und 1943 über 3.000 Urteile wegen Rundfunkverbrechens gefällt. Musik Albert Vossen: Nr. 5 "Denk an mich" (1940) - instrumental Sprecherin Werner Schmidt, Kommilitone und guter Freund Renate Roeses, erinnert sich. Zitator 3 Ich habe Heinrich Will nie eiligen Schrittes gesehen. Er ging bedächtig, etwas wiegend, manchmal halb in sich versunken, dennoch Behaglichkeit verbreitend, manchmal witzig mit einem Anflug von schelmischer Hintergründigkeit. Er konnte ansteckend lachen, trug dann immer wieder sein Herz auf der Zunge und unterschätzte dabei die Gefährlichkeit der Mächtigen, die fortgesetzt zur Denunziation aufforderten. - Was war unter diesem Terrorregime Widerstand? Wie fing er an? Auch Tropfen können bekanntlich den Stein höhlen. O-Ton Häring Jedes Leben ist es wert, dass man es liebevoll betrachtet. - Ich glaube, dass Will naiv war. So wie viele von uns, so wie in uns viel Naivität lebt. Er wurde gewissermaßen zum Helden gezwungen. Freiwillig gewählt hätte er sich die Situation nicht. Aber er blieb treu. Das ist eine ganz ganz große wunderbare persönliche und menschliche Leistung. Er hat seine Frau nicht verlassen. Es wäre ja so einfach gewesen. Und das halte ich für vorbildlich, das können wir gar nicht hoch genug anerkennen. Das ist vielleicht das größte Kunstwerk, das er überhaupt geschaffen hat. O-Ton BBC Pauken O-Ton BBC Frau Wernicke Wenn einer glaubt, er hat seine Ohren zu hören, dann ist er ein Volksschädling. Und ein doppelter und dreifacher Volksschädling, wenn er denkt, er hat Augen um zu sehen und einen Mund, um zu sprechen. Der ideale Volksgenosse ist taub, blind und stumm. Auf Wiederhören. Sprecherin Vom Kunstmaler zum Rundfunkverbrecher Heinrich Will und das Gießener Freitagskränzchen. Ein Feature von Sabine Weber Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2008. Es sprachen: Daniel Berger Marietta Bürger Ursula Illert Thessy Kuhls Volker Risch Caroline Schreiber und Ernst-August Schepmann Ton und Technik: Ernst Hartmann und Jürgen Hille Regie: Anna Panknin Redaktion: Marcus Heumann 24