COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : Literatur / Lesung Kostenträger : P 62 300 Titel : Bon, Monsieur Echenoz! Die Geschichte des Pariser Schriftstellers im Stil des Autors Autor : Martin Becker und Antoinette Raupp Redakteurin : Barbara Wahlster Sendetermin : 6.1.2013 Regie : Martin Becker Besetzung : Erzähler, Zitator, Sprecher/Voice Over Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 ZITATOR "Es fängt an einem Tag mit Schnee an, Rue de Fleurus in Paris, 9. Januar 1979. Ich habe einen Roman geschrieben, es ist der erste, ich weiß nicht, dass es der erste ist, ich weiß nicht, ob ich weitere Romane schreiben werde. Alles, was ich weiß, ist, dass ich eben einen geschrieben habe und, dass es schön wäre, einen Verlag zu finden. Noch schöner wäre es natürlich, wenn der Verleger Jérôme Lindon sein könnte aber davon wollen wir lieber mal nicht träumen." (Jean Echenoz, "Jérôme Lindon", S. 9) SPRECHER Nicht Pierre. Nicht Jacques. Nicht Alfred. Oder: Wie man ein schwieriges Gespräch richtig beginnt. ERZÄHLER Es fängt an einem Tag mit Sonnenschein an, Rue Condorcet in Paris. In seine Wohnung können wir nicht. Nicht jetzt. Er hat sich ein Bücherregal anfertigen lassen, aus Holz und bronzeschimmerndem Stahl. Sie hämmern und bohren. Also ist er mit seinem Jackett über der Schulter und der Zigarette im Mundwinkel aus seinem Fahrstuhl gekommen, also sind wir ihm gefolgt, bis zu einem Bar Tabac in seinem Viertel. ZITATOR "Unterdessen sitzt Ferrer immer noch vorm Bier in der Sonne, einem gleichen Bier, nicht demselben, denn er hat zwar das Viertel nicht verlassen, aber das Lokal gewechselt. Jetzt befindet er sich an der Odéon-Kreuzung, gewöhnlich nicht der ideale Ort, um ein Bier zu trinken, obwohl meist genügend Leute da sind, die es trotzdem tapfer versuchen: ein belebter, verstopfter, lärmiger Ort voller Verkehrsampeln und Autos in allen Richtungen, noch dazu fröstelig wegen des starken Luftzugs aus der Rue Danton. Im Sommer aber, wenn Paris etwas weniger voll ist, kann man sich besser auf der Straße vor den Cafés aufhalten, das Licht hat seinen höchsten Stand erreicht, der Verkehr einen relativ (...) gesehen niedrigen, verstellbar die Sicht auf zwei Ausgänge derselben Metrostation." (Jean Echenoz, "Ich gehe jetzt", S. 105f.) ERZÄHLER Der Mann, den wir treffen, bestellt Wasser. Immerzu bestellt der Mann Perrier. Er könnte Kommissar bei der Pariser Polizei sein, ebenso gut aber auch ein freundlicher Auftragskiller, vielleicht auch beides zur gleichen Zeit. Das ist er aber nicht. Er ist Schriftsteller. Passt auch. Und, das erzählt er uns gleich, er arbeite jeden Tag. Auch heute am Vormittag, da habe er schon am Schreibtisch gesessen und was geschafft. Fangen wir doch mal an, ganz vorsichtig: Wie sieht er, schließlich schreibt der Mann seit einigen Jahrzehnten, die Routine? O-TON JEAN ECHENOZ, wie eine ATMO, zwischendurch ausblenden und den folgenden Erzählertext darüber: 1 O-TON JEAN ECHENOZ TRACK 1, 04:48 - 05:10 - TRACK 2, 00:00 - 00:07 "S'il y a une routine qui s'installe, c'est très mauvais signe, il faut changer les choses. Quant au désespoir, il est souvent là, en tout cas je n'ai pas...C'est une catastrophe, on n'y arrivera pas...Ils vont faire des essais, là, ça va être super...J'ai jamais vu un truc pareil...Il n'y a pas de travail qui..." VOICE-OVER "Routine ist ein sehr schlechtes Zeichen, man muss was anders machen, sobald sie sich einstellt. Die Verzweiflung dagegen ist öfter da. Auf jeden Fall habe ich...das ist ja eine Katastrophe, so schaffen wir das nie... und jetzt versuchen die es auch noch weiter... na toll... ich habe so etwas noch nie gesehen... es gibt keine Arbeit, die..." ERZÄHLER Er würde ja gerne antworten. Aber er schafft es nicht. Es ist laut. Zu laut. Denn auf der gegenüberliegenden Straßenseite ist gerade die Schule aus. Erst lassen einige Jugendliche ihr Motorrad aufheulen. Wieder und wieder. Und dann, wenige Meter vor uns, bricht eine Massenschlägerei unter Schülern los. Die Polizei kommt. Sollen wir es lieber doch bei ihm zu Hause versuchen, fragt er. Vielleicht. Jackett über die Schulter, Zigarette in den Mundwinkel. Und los. ERZÄHLER Der Mann, den wir treffen, heißt Jean Echenoz. Mit hörbarem "z" am Ende, wie bei, sagen wir, Berlioz auch. Echenoz ist Jahrgang 1947. Lebt in Paris seit über vierzig Jahren, kennt die Stadt wie seine Westentasche. Hat mehr als ein Dutzend Bücher geschrieben, voller freundlicher Auftragskiller und rauchender Kommissare, voller windiger und engelsgleicher Gestalten. Hat Preise bekommen, zuletzt 225 Liter Wein, verteilt auf 300 Flaschen bei einem Literaturfestival in Rivesaltes in Südfrankreich. Hat sogar mal Samuel Beckett getroffen und kein Wort zu ihm gesagt. Hat ein Lachen, wie es sich nur ein Pariser gönnt. Nein, das ist jetzt wirklich vollkommener Blödsinn, was reden wir denn da: ein Lachen, wie es sich nur ein Jean Echenoz gönnt. ZITATOR "Einmal, wir sind in seinem Büro, da macht er mir einen überraschenden Vorschlag: Hören Sie, denken Sie nicht, dass Sie sich vielleicht einen anderen Vornamen suchen könnten für dieses Buch? Ich schaue ihn wortlos an. Nun, sehen Sie, wie soll ich das sagen, es gibt eine Art Hiat in Ihrem Nachnamen. Ich schweige immer noch, gebe zu, dass er nicht Unrecht hat, frage mich aber unsicher: Pierre Echenoz? Jacques Echenoz? Alfred Echenoz?" (Jean Echenoz, "Jérôme Lindon", S. 16) 3 O-TON Mit Echenoz im Aufzug, folgende Texte darüber. TRACK 6, 00:00 - 00:45 "Allez-y. On va tenir. La limite, c'est 3 personnes, parfait. Je pense qu'on ne dépasse pas 225 kilos tous les trois. Oui, c'est 225. Ça va être de votre côté. Voilà." SPRECHER Einer, der nicht mal redet. Oder: Wie man ein richtiger Schriftsteller wird und es bleibt. ERZÄHLER Womit wir übrigens schon mittendrin sind, gerade jetzt, wo wir dem Concierge in seiner kleinen Kammer dieses pompösen Pariser Wohnhauses einen schönen Tag wünschen, wo wir uns gemeinsam mit Jean Echenoz in den Aufzug quetschen, der uns in langsamem Tempo zu seiner Wohnung transportiert: Was um alles in der Welt ist der Grund, einen Autor zu porträtieren, der nicht mal gesellschaftlich relevantes Zeug schreibt, der sich nicht mal schriftstellerisch für den Weltfrieden einsetzt? Vielleicht, weil er Schriftsteller ist, nicht mehr, nicht weniger. Ein Schriftsteller, wie man es heute nicht mehr sein kann. Ein eleganter Schriftsteller, ein manischer Schriftsteller, ein zeitloser Schriftsteller. Ein sturer Schriftsteller. Einer, dessen Bücher in den letzten Jahren nicht mal fingernagelbreit sind. Scheiß doch drauf, ob andere fünfhundert Seiten in einer Woche schreiben. Er ist einer, dem literarische Moden vollkommen gleichgültig sind. Einer, der nie was anderes tun wollte und nie was anderes getan hat. Einer, der nicht mal über das redet, was er tut. Ungern jedenfalls. 4 O-TON JEAN ECHENOZ TRACK 25, 00:25 - 00:57 "Je n'en parle pas. Je peux dire vaguement sur quoi je travaille. Non, je n'en parle pas, je n'en parle ni à ma compagne...Non, je n'en parle pas, je n'en parle pas. D'ailleurs je ne vois pas à qui je pourrais en parler à part elle. Mon fils, pas question que je lui en parle. Non, non, non, et puis on ne va pas embêter les gens, non." VOICE-OVER "Ich rede nicht übers Schreiben. Ich kann ganz vage beschreiben, was mein Thema ist. Aber nein, ich rede nicht darüber. Ich rede nicht mit meiner Lebensgefährtin... nein, ich rede nicht darüber, ich rede nicht darüber. Außerdem wüsste ich nicht, wem ich davon erzählen sollte. Meinem Sohn? Kommt nicht in Frage. Nein, nein, ich will die Leute nicht belästigen." ERZÄHLER Sein Wohnzimmer ist groß und weit, Teppiche auf dem hellen Parkett, Porträts seiner Vorfahren in Öl und dunklen Farben an der Wand. Die einzige Trennwand zwischen Wohnzimmer und Küche besteht aus Bücherregalen. Und die quellen über. Ein Schreibtisch, aufgeräumt, darauf ein achtlos hingeworfener Reisepass, ein Flugticket, ein tragbarer Computer, wieder Bücher. Das kleinere Arbeitszimmer nebenan ist unaufgeräumt, aber nicht chaotisch. Dort steht, als würde er über das Leben des Bewohners mit skeptischem Blick wachen, ein gerahmtes Foto: Maurice Ravel, Zigarette im Mundwinkel, am Klavier. Jean Echenoz sitzt auf dem Sofa. Er denkt lange nach, bevor er spricht. Er bricht ab, setzt neu an, relativiert. 5 O-TON JEAN ECHENOZ TRACK 9, 10:47 - 11:46 " Je sais que ça a l'air un peu idiot, mais c'est quelque chose qui est arrivé(...) Après, c'est la vie..." VOICE-OVER "Es kam, als ich ungefähr zehn Jahre alt war. Ich hatte mir damals gesagt: Das ist das Beste, was man machen kann. Das wollte ich wirklich seit meiner Kindheit machen, aber das Leben vergeht schnell, und schon ist man dreißig Jahre alt und sagt sich: Ich kann das doch nicht ständig nur wollen, ich muss es versuchen. Ich musste es ausprobieren. Das war nicht gerade sehr ermutigend, weil das erste Buch kein Erfolg war, aber im Grunde war es mir egal. Mir ging es darum, etwas beendet zu haben." ERZÄHLER Am 26. Dezember 1947 kommt Jean Echenoz in Orange zur Welt, einem Ort im südfranzösischen Vaucluse, dem Département, wo sich wenige Jahre vorher der spätere Nobelpreisträger Samuel Beckett vor den Nazis versteckt hielt. Echenoz' Vater war Psychiater, Kultur und Literatur gehörten von Anfang an zum Leben dazu. Und dann gibt es da noch die Anekdote, erzählt von Jean Echenoz selbst während einer Lesung: dass es den Eltern eines Freundes immer so vorgekommen sei, als würde dieser Echenoz sie permanent, nun ja, sagen wir es, wie es ist: verarschen. 6 O-TON JEAN ECHENOZ TRACK 10, 00:22 - 02:30 "Je lisais beaucoup. Je lisais beaucoup mais quand on est petit, on lit des livres pour la jeunesse. (...) Il y avait aussi de l'émotion, mais ce n'était pas la même." VOICE-OVER "Ich habe viel gelesen. Kinder- und Jugendbücher, als ich klein war. Da meine Eltern große Leser waren und immer noch sind, hatte ich das Glück, in einer Familie zu sein, wo es immer Bücher gab. Ein Buch, das für mich sehr wichtig war, ist "Große Erwartungen" von Charles Dickens. Das war der Übergang von der Jugendliteratur in die richtige Literatur. An Dickens habe ich sehr prägende Erinnerungen. Da war ich ein bisschen älter, vielleicht dreizehn Jahre alt. Eins der Bücher, die mir Angst gemacht haben, war von Erich Kästner. Ich hatte panische Angst vor diesem Buch, dabei war es genial. Es waren also auch da Emotionen im Spiel, aber nicht dieselben." ZITATOR "Place d'Italie, von einer Telefonzelle rufe ich die Éditions de Minuit an. Ich spreche mit einer freundlichen Dame, die über meinen Fall Bescheid zu wissen scheint. Bleiben Sie bitte dran, sagt sie, ich leite Sie an Monsieur Lindon, den Geschäftsführer der Éditions de Minuit, weiter." (Jean Echenoz, "Jérôme Lindon", S. 11) ERZÄHLER Bis zur Zusage von Jérôme Lindon, dem legendären Verleger der ebenso legendären "Éditions de Minuit", studiert Jean Echenoz Sozialwissenschaften, wie man es im Frankreich der 60er eben tat. Außerdem Bauingenieurwesen. Man merkt: Er will sich mit Dingen beschäftigen, die mit Literatur nichts zu tun haben. Nach dem Studium ist seine Lage prekär. Er nimmt einen kleinen Job in einer Pariser Presseagentur an. Aber er gibt ihn bald wieder auf, weil es ihn ablenkt, weil er so nicht schreiben kann. 7 O-TON JEAN ECHENOZ TRACK 9, 09:35 - 10:38 "Précaire! J'avais fait des études qui n'avaient rien à voir avec la littérature. (...) c'était en 1984, j'ai pu ne faire que ça." VOICE-OVER "Ich wollte Literatur nicht als Fach an der Universität haben, weil sie mich eben am meisten interessierte. Ich habe mein Studium gebraucht, um vorübergehend Arbeiten zu finden, die mich nicht besonders interessiert haben. Das war nichts Sicheres. Ab 1984 hatte ich das Glück, von meinen Büchern leben zu können." ERZÄHLER Sein Debüt wird veröffentlicht, in dem er bereits sämtliche Genregrenzen verwischt: Kriminalroman, Abenteuerroman, Science-Fiction. "Das Puzzle des Byron Caine" ist ein Mosaik aus tausend Figuren. Unter anderem erzählt der Roman aus dem Leben des hochkultivierten Dolmetschers und Killers Théo Selmer. Das Buch wird kein Verkaufsschlager, ist aber ein Anfang. Echenoz schreibt weiter. Und scheitert. Durchlebt einen der schwärzesten Abende seines Lebens, als sein Verleger Jérôme Lindon ihm am Telefon mitteilt, dass ihm das neue Manuskript nicht gefällt. Aber so was von gar nicht gefällt. Doch er macht weiter. Schreibt ein neues Buch. Wird wieder veröffentlicht. Und kann von dem leben, was für ihn ohne Alternative ist: das Schreiben. 8 O-TON JEAN ECHENOZ TRACK 12, 00:18 - 01:04 "Je ne sais pas comment j'aurais fait si ça n'avait pas marché. (...) Je ne sais pas ce que j'aurais fait." VOICE-OVER "Ich weiß einfach nicht, was ich gemacht hätte, wenn es nicht geklappt hätte. Vielleicht habe ich es mir so sehr gewünscht, dass es sich erfüllt hat. Vielleicht hätte ich mir gar keine Gedanken darüber gemacht und hätte weiter Dinge vor mich hingekritzelt, wie ich es zwanzig Jahre schon gemacht habe. Ich glaube, ich wäre ziemlich unglücklich gewesen." ZITATOR "Das Puzzle des Byron Caine" "Théo Selmer verbrachte die folgenden Monate damit, sich im Zickzack durch Südamerika zu bewegen, von einem schweren Koffer voller Wörterbücher begleitet; einige waren ausgehöhlt und enthielten seine Waffen, so daß er nie wusste, wenn er eins aufschlug, ob er eine Rossi, eine Llama oder eine Vokabel darin fände. (...) Eines Tages, als er zwischen Quito und Bogota in einen Bus kletterte, der in einem äußerst kräftigen Rosa frisch lackiert war, entdeckte er unter den Fahrgästen drei bekannte Gesichter, ohne daß er sich daran erinnern konnte, wo und wann er sie gesehen hatte. Die drei Männer schienen ihn nicht zu beachten, er setzte sich neben sie und hörte, was sie sagten. Es dauerte nicht lange, bis es sie erkannte; es waren amerikanische Beamte, denen er gelegentlich in den Gängen der UNO begegnet war (...) Am nächsten Morgen wurden zwei der drei Amerikaner tot in ihren Betten aufgefunden." SPRECHER Im Bett mit Doris Day. Oder: Wie es sein kann, dass man sich einfach alles erlaubt. ERZÄHLER Seit über vierzig Jahren also ist er in Paris. Seit über vierzig Jahren schreibt er also Bücher. Über Männer, die ihre Frauen verlassen. Die einfach gehen und zum Nordpol reisen. Über Pianisten, die Panik vor ihrem Auftritt haben und sich plötzlich im Himmel wiederfinden - mit Doris Day als Krankenschwester vor dem Bett. Seine Romane sprengen die Konventionen. Der Kerl erlaubt sich alles. Er macht, was er will. Und kommt, mit Verlaub, auf vollkommen beknackte Ideen. In einer Prosa, die funkelt. Man vergisst alles um sich herum. Man zögert das Ende eines Romans hinaus, wirft sich trotzig auf den Boden und schreit, weil die letzten Takte eines Echenoz verklungen sind. MUSIK, darüber: 9 O-TON JEAN ECHENOZ TRACK 1, 00:41 - 01:40 "Mais j'écris toujours plus ou moins! (...) Si je ne fais pas ça, ça ne va pas très bien." VOICE-OVER "Ich schreibe immer mehr oder weniger. Jetzt gerade habe ich etwas zu tun, weil das nächste Buch erscheint. Aber damit verbringe ich nicht den ganzen Tag. Ich arbeite jeden Vormittag ein bisschen. Gerade bin ich in einer Phase, wo ich versuche, ein Gerüst zu konstruieren, außerdem mache ich mir parallel dazu Notizen. Morgens kann ich sowieso nicht anders als mich hinzusetzen, zu schauen, was ich machen kann, und zu arbeiten. Mache ich das nicht, dann geht es mir nicht besonders gut." 10 O-TON JEAN ECHENOZ TRACK 24, 01:06 - 01:29 "Le matin, en me levant, je vois ce que je peux faire, je mets un peu d'ordre et puis je m'y remets quand j'ai vu à peu près ce que je pouvais faire. C'est le matin, l'après- midi, je ne suis bon à rien et le soir, j'en ai marre." VOICE-OVER "Morgens beim Aufstehen gucke ich, was zu tun ist. Ich räume rum und setze mich wieder dran. Das ist der Morgen, am Nachmittag bin ich zu nichts zu gebrauchen, und abends habe ich eh die Nase voll." 11 O-TON JEAN ECHENOZ TRACK 24, 01:57 - 03:02 "Quand ça ne marche pas, c'est une catastrophe définitive. (...) Donc il vaut mieux faire la gueule tout le temps." VOICE-OVER "Wenn es nicht klappt, dann ist die Katastrophe komplett. Man kann eben nicht sagen: "Morgen geht es besser", nein, es geht nie besser. Man kennt es zwar seit dreißig Jahren, es ist immer dasselbe Problem. Ich weiß nur eins: Wenn es läuft, dann darf man es bloß niemandem erzählen. Die wenigen Male, wo ich dachte, dass es gut läuft, und wo ich dann einem Freund davon erzählt habe, da konnte ich sicher sein, dass innerhalb der nächsten fünfzehn Tage gar nichts mehr ging. Ich weiß nicht, ob das Aberglaube ist, jedenfalls ist der Effekt radikal. Wenn man seine Zufriedenheit ausdrückt, dann kann man sicher sein, für längere Zeit nichts mehr auf die Reihe zu kriegen. Also sollte man lieber ständig eine Fresse ziehen." 12 O-TON JEAN ECHENOZ TRACK 13, 03:54 - 05:14 "Tout laisser tomber, non, mais se heurter à un livre qui ne marche pas, c'est désespérant, toujours! (...) En littérature, je n'ai pas le sentiment que le fait d'avoir écrit des livres aide à en écrire d'autres." VOICE-OVER "Ich würde nicht alles hinschmeißen, aber es ist immer zum Verzweifeln, wenn das Buch nicht funktioniert. In meinem Alter müsste ich daran gewöhnt sein, aber man gewöhnt sich nicht daran, genau so, wie man sich nicht ans Schreiben gewöhnt. Ich glaube tatsächlich, es ist immer noch so kompliziert wie beim ersten Buch. Es ist etwas, was man nicht lernt. Nehmen wir einen Typen, der Möbel baut: Je mehr Tische er anfertigt, desto stabiler werden sie. In der Literatur habe ich nicht das Gefühl, dass es einem weiterhilft, schon Bücher geschrieben zu haben." ERZÄHLER Was macht einen echten Echenoz zu einem echten Echenoz? Der trockene Humor, die stilistische Feinheit. Und die Kunst, nur das Nötigste zu erzählen, kein kostbares Wort zu verschwenden. Sein letzter, schmaler Roman "14", der noch nicht ins Deutsche übersetzt ist, erzählt vom Ersten Weltkrieg. Über ihn sagt Jean Echenoz: Natürlich hätte man es wie ein riesiges Fresko gestalten können. Ich bin aber kein Freskenmaler. 13 O-TON JEAN ECHENOZ TRACK 13, 05:18 - 06-43 "Non, et tant mieux! (...) Et puis bon, il faut insister." VOICE-OVER "Es gibt kein Geheimrezept, und das ist auch gut so. Deshalb habe ich immer noch Lust, Wege zu gehen, die mir fremd sind. Bei Ravel beispielsweise war es schon heftig, mit dem realen Leben einer Person zu arbeiten. Erstens hätte ich nie gedacht, so etwas zu machen. Es war ein komischer Stoff. Ein wenig wie beim letzten Roman, als ich über einen prägenden, historischen Moment gearbeitet habe. Und es war heftig, weil ich mit so vielen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Aber gut, man muss darauf beharren." ERZÄHLER Würde man alle Figuren, die Jean Echenoz im Laufe seines Schriftstellerlebens erfunden hat, in seine Wohnung einladen, dann wäre die Hütte voll. Es würde viel geraucht. Viel getrunken. Es gäbe Prügeleien, Liebeleien, Eifersüchteleien. Und: Es gäbe diese eine Ecke, wo sich, gebeugt, verschwitzt und hüstelnd, die wahren Helden des Echenoz-Kosmos herumdrücken würden, mit einem Glas abgestandenem Wasser und einem trockenen Stück Brot in der Hand, weil sie sich erst ans kalte Buffet trauen, wenn alles schon weg ist. ZITATOR "Obgleich sein Einkommen durchaus akzeptabel war, obgleich er bei knapp einer Millionen Menschen als berühmt galt und seit zwanzig Jahren jederlei psychologische und chemische Behandlung durchgemacht hatte, verfolgte ihn eine tödliche Angst, und wenn dieses Gefühl ihn so ausfüllte, pflegte er ganz und gar zu schweigen." (Jean Echenoz, "Am Piano", S. 9) 14 O-TON JEAN ECHENOZ TRACK 8, 01:34 - 02:57 "(...) Ça ne se passe pas dans la sérénité. C'est toujours un peu dans l'inquiétude, dans l'anxiété - dans le trac, d'une certaine manière." VOICE-OVER "Man schreibt nicht in einem gelassenen Zustand. Es ist immer eher mit Sorge und Angst verbunden - mit Lampenfieber, in gewissem Sinn." ERZÄHLER "Am Piano" erzählt die Geschichte des Ausnahmepianisten Max Delmarc, der niemals mit einer Frau zusammen war: aus Angst. Und aus Unbeholfenheit. Zu Beginn des Romans können wir die Tage bis zum Tod des Pianisten herunterzählen. Daraus macht der Erzähler kein Geheimnis: Max Delmarc wird sterben. Das ist sicher. Und so geschieht es dann auch, ganz nach Plan: Zwei Straßenräuber überfallen ihn. Und ausgerechnet Max, der Panische, reißt mit einer reflexartigen Bewegung das Tuch vom Gesicht eines der jungen Räuber. Und der, in ebenso reflexartiger Bewegung, sticht ihm ein Messer in den Hals, das seine Hauptschlagader und sein Rückenmark durchtrennt. Max Delmarc landet im Himmel. Nach langen, bürokratischen Verwicklungen und chirurgischen Eingriffen bekommt er eine zweite Chance: Er kehrt mit neuer Identität und neuem Gesicht auf die Erde zurück. Er bekommt eine Arbeit als Barmann. Er hat einen anderen Namen. Doch der Preis für das frische Leben ist hoch: Er darf niemandem von seiner früheren Existenz erzählen. Er darf sich nicht mehr ans Klavier setzen. Max Delmarc darf nicht mehr tun, was er am meisten im Leben liebte. Und zugleich fürchtete. ZITATOR "Da war er, der Schrecken erregende Steinway mit seiner breiten weißen Tastatur, bereit, dich zu verschlingen, dieses monsterartige künstliche Gebiss, das dich gleich mit all seinem elfenbeinernen Zahnschmelz zermalmt, er wartet nur auf dich, um dich in Stücke zu reißen. Fast wäre Max unter Bernies Stoß gestolpert, aber er fing sich eben noch rechtzeitig, ertrank schier in dem prasselnden Applaus des voll besetzten Saals, der ihn mit stehenden Ovationen begrüßte, und ging taumelnd und nach Luft ringend auf die zweiundfünfzig Zähne zu. Er setzte sich daran, der Dirigent hob den Stab, augenblicklich herrschte Stille, und da, es geht los, ich halte das nicht mehr aus. Was soll das für ein Leben sein. Obwohl, jetzt mal nicht übertreiben, ich hätte in Manila zur Welt kommen und als Verkäufer von Zigaretten stückweise enden können, als Schuhputzer in Bogotá, als Tellerwäscher in Decazeville. Allez, jetzt sind wir schon mal hier, also: erster Satz, maestoso, des Konzerts Nr. 2 in f-moll von Frédéric Chopin." (Jean Echenoz, "Am Piano", S. 12) MUSIK, Frédéric Chopin, Konzert Nr. 2, f-moll, 1. Satz, maestoso 15 O-TON JEAN ECHENOZ TRACK 8, 01:34 - 02:57 "(...) Pour arriver à une phrase où, à un moment, on a le sentiment que ça marche, à la fois du côté du sens, du son, du rythme, etc. (...) ni en rajouter." VOICE-OVER "Bevor man einen Satz hat, der vom Sinn, vom Klang und vom Rhythmus her funktioniert, muss man viele Fassungen machen. Ich habe immer drei oder vier Versionen geschrieben, bis zu dem Augenblick, wo man nichts mehr weglassen und nichts mehr hinzufügen kann." 16 O-TON JEAN ECHENOZ TRACK 8, 03:06 - 03:51 "Chaque phrase est un peu comme une équation à résoudre. (...) mais la fluidité doit être accidentée pour qu'il y ait un rythme." VOICE-OVER "Jeder Satz ist wie eine Gleichung, die man lösen muss. Idealerweise muss er nach getaner Arbeit fließen - aber dieses Fließen wiederum muss rhythmisch gebrochen sein." 17 O-TON JEAN ECHENOZ TRACK 13, 02:37 - 03:33 "Oui, je peux lire. (...) Je n'ai même plus le droit de me plaindre, c'est dur!" VOICE-OVER "Natürlich kann ich lesen, während ich schreibe. Es ist sogar gut, um gewissermaßen frische Luft zu schnappen. Ich bin kein Arbeitstier, aber ich arbeite jeden Tag. Das heißt, wenn ich nicht lesen würde, während ich schreibe, würde ich nie lesen. Ich schaffe es nicht unbedingt, aber ich versuche wenigstens, jeden Tag zu arbeiten. Manchmal klappt es nicht, und das ist grässlich. Aber ich kann mich nicht beklagen, weil immer, wenn ich mich bei Freunden beschwere, dann sagen sie: Das erzählst du uns seit dreißig Jahren, wir hören dir nicht mehr zu. Das ist hart, ich kann mich nicht mal mehr beschweren." MUSIK ausblenden, großer Applaus des Publikums. SPRECHER Nebenrollen. Oder: Wie man mit großen Blondinen spielt. 18 O-TON JEAN ECHENOZ TRACK 16, 00:32 - 01:49 "(...) À la fois c'est un jeu et puis c'est une liberté. (...) Mais oui, c'est spielen, que je suis bête!" VOICE-OVER "Es ist Spiel nach Regeln und Freiheit zugleich. Für "Spiel" gibt es im Französischen zwei verschiedene Bedeutungen, im Englischen gibt es sogar zwei verschiedene Wörter dafür, nämlich "play" und "game". "Play" beschreibt das Spiel der Kinder, "game" bedeutet: Spiel nach Regeln. In beiden Fällen bleibt es ein Spiel." ZITATOR "Die großen Blondinen. Wir rekapitulieren. Nach Urhebern geordnet. Da hätten wir also erst mal die Hitchcock-Modelle. Dann die Bergman-Modelle. Dann die aus den sowjetischen Filmen, Satellitenstaaten inklusive. Noch mal von vorn. Vielleicht doch besser geographisch geordnet. Vor allem die Amerikanerinnen und Europäerinnen, sozusagen von Übersee bis zum Ural: die großen Blondinen kommen vor allem in der nördlichen Hemisphäre vor. Ja. Auch nicht gerade fantastisch, das Prinzip. Man könnte stattdessen von einer klassischen Größe ausgehen, mit der sich alle auskennen. Sagen wir mal das emblematische Dreieck Monroe-Dietrich-Bardot. Ist das nicht ein bisschen konventionell, sorgte sich Donatienne, hat man das nicht schon hundert Mal gehabt? Wenn du meinst, sagte Salvador. Gut. Dann gehen wir nach Persönlichkeiten vor. Vergessen wir die drei klassischen, großen Blondinen, suchen wir nach dem Exzentrischen. Sonderfälle à la Anita Ekberg, weißt du, oder Julie London in einem anderen Genre. Gib mal die Kartei. Also. Wir haben die Einsamen, die an den Rand Gedrängten, die Missratenen. Und auch ein paar Unbedeutende. Nicht zu vergessen ein paar Komische, die sollte man auch erwähnen. Berücksichtigen müssen wir auch die wenn auch sehr kleine Menge der Hässlichen. Wie da eine Ordnung schaffen? Wie das Ganze klassifizieren?" (Jean Echenoz, "Die großen Blondinen", S. 51) ERZÄHLER Mitte der Neunziger treibt Monsieur Echenoz das, was er mit Freiheit meint, auf die Spitze: "Die großen Blondinen" ist Detektivroman und Mediensatire zugleich. Frankreich, Indien, Australien, er jagt seine Figuren um die halbe Welt - es gibt die Reichen, die Schönen, die Bösen und die Verrückten. Es ist wie ein Film. Nur nicht zu verfilmen. Das haben sie übrigens bei anderen Geschichten versucht, die Filmemacher: Die Romane "Cherokee" und "Ein Jahr" wurden für die Leinwand adaptiert. Und Monsieur Echenoz selbst spielte eine Nebenrolle. Als Fahrer eines Autos. Allerdings in einer stehenden Fahrzeugattrappe, wo er nur das Lenkrad wild drehen musste. 19 O-TON JEAN ECHENOZ TRACK 12, 02:18 - 04:06 "Le cinéma a vraiment joué un rôle important. (...) J'ai essayé de transposer des choses comme ça sans forcément y réussir mais ça a joué un rôle." VOICE-OVER "Das Kino hat für mich wirklich eine wichtige Rolle gespielt. In einer Phase meines Lebens war ich extrem oft im Kino. Damals habe ich nicht viel gemacht und bin die meiste Zeit im Kino gewesen. Es ist, als hätte mir das Kino neue Impulse für mein Verständnis vom Roman gegeben - ohne, dass ich mir dessen bewusst war. Es ist im gewissen Sinne, als ob ich durch das Kino Dinge über Literatur gelernt hätte. Es gab nicht nur das, was ich gelesen habe, sondern auch eine bestimmte Art und Weise, Erzählungen zu konstruieren. Im Roman habe ich versucht, cineastische Mittel einzusetzen wie Einstellungen, Kamerabewegungen und Schnitte. Ich habe versucht, diese Dinge aus dem Kino in den Roman zu bringen - was nicht immer geklappt hat, aber es hat eine Rolle gespielt." ERZÄHLER Wer sind die großen Blondinen? Paul Salvador, die Hauptfigur des Romans, ist Fernsehproduzent. Und er will eine Antwort auf diese Frage haben. So arbeitet er an einer Sendung über große, blonde Frauen. Irgendwann ist ihm klar, dass er dafür eine Grazie namens Gloire finden muss, ein mittlerweile abgehalfterter Star. ZITATOR "Rasch hat sie sich gewaschen, fast kalt geduscht, bevor sie sich in Zeitlupe schminkt. Eine erste Schicht Tagescreme, gefolgt von fast weißem Make-Up, gleichmäßig aufgespachtelt, wie wenn man eine Leinwand grundiert. Sie zieht sich mandelförmige Lidstriche und malt die Lider türkisblau an. Mit Hilfe einer verchromten Vorrichtung, einer Schneckenzange nicht unähnlich, verstärkt Gloire die Krümmung ihrer Wimpern, die sie dann mit sehr fettem Mascara sehr schwarz und sehr dicht malt. So leben bald nur noch die Augen in ihrem Gesicht, das einzig Lebendige in dieser reglosen Maske: graugrün sind sie, changieren von grün nach grau, je nach Wetter, Raum, Licht und Seelenzustand. Als sie dann mit einem roten Stift die Konturen ihrer Lippen nachzieht, gerät sie über deren Saum hinaus und füllt das Innere satt mit dem Pinsel. Dann noch zwei orange Kreise auf die Wangen, zwei Mal mit dem Kohlenstift über die Brauen, und das war's. Mit Make-up könnte Gloire Abgrall als eine wegen nervöser Depression in der Anstalt internierte Zirkusartistin durchgehen - die aber doch nicht so melancholisch ist, dass sie ihre Nummer nicht auf dem Jahrmarkt anlässlich des Tags der offenen Tür der Klinik zeigen könnte, wenn die Familien zu Besuch sind." (Jean Echenoz, "Die großen Blondinen", S. 41) ERZÄHLER Paul Salvador stellt manische Recherchen an, um Gloire zu finden. Er beißt sich fest. Er beauftragt einen Privatdetektiv. Aber Gloire ist nicht zu erwischen: Nicht nur, dass sie Probleme mit der Justiz hatte - noch dazu ist sie ziemlich oft betrunken. Und noch dazu hat sie eine rigorose Art, sich Leute, die ihr zu sehr auf die Pelle rücken, vom Leib zu halten: Sie bringt sie einfach um. 20 O-TON JEAN ECHENOZ TRACK 14, 00:01 - 01:23 "On s'attache un peu. (...) Je ne sais pas, je l'aime bien parce qu'elle est un peu cinglée, je ne sais pas." VOICE-OVER "Man gewinnt seine Figuren natürlich lieb. Ganz spontan würde ich sage, dass ich dieses etwas durchgeknallte Mädchen aus "Die großen Blondinen" sehr mag. Irgendwann dachte ich, dass in meinen Romanen die Mädchen fehlen. Es gab viele Jungs-Geschichten, es gab viele Typen. Und ich dachte mir, es wäre schön, der Geschichte einer Frau zu folgen, um die sich alles dreht. Vielleicht mag ich sie, weil sie etwas durchgeknallt ist." FAHRSTUHLMUSIK, darüber: SPRECHER Kapitulationserklärung der Macher dieser Sendung. Oder: Warum wir nicht Jean Echenoz heißen. ERZÄHLER Rekapitulieren wir: Wir befinden uns im Wohnzimmer von Jean Echenoz, Schriftsteller, der auf dem Sofa sitzt und pausenlos Zigaretten einer amerikanischen Marke raucht, die wir vergessen haben. Erinnern wir uns: Unsere Sendung "Bon, Monsieur Echenoz" sollte über Monsieur Echenoz in seinem eigenen Stil berichten. Bon. Eigentlich sollte sich alles hier nach einem Echenoz-Roman anhören. Wir kommen allerdings über die billige Kopie nicht hinaus. Denn, wenn das hier wirklich ein Echenoz-Roman wäre, dann müsste spätestens jetzt etwas vollkommen Unvorhergesehenes passieren, beispielsweise: Der Schauspieler, der die Rolle des Erzählers gerade spricht, verschluckt sich und hustet und die Autoren des Stücks kommen besorgt ins Studio herein. Ist alles in Ordnung? DER ERZÄHLER PUTZT SICH LAUTSTARK UND HUSTEND DIE NASE, DIE AUTOREN KOMMEN INS STUDIO UND FRAGEN, OB ALLES IN ORDNUNG IST. DANN FAHRSTUHLMUSIK, darüber: SPRECHER Enten, aus Brotkrume geknetet. Oder: Wie man Langeweile sinnvoll bekämpft. 21 O-TON JEAN ECHENOZ TRACK 14, 02:21 - 03:54 "(...) C'est pas une idée, mais deux ou trois idées qui correspondent à des choses qui sont très inconnues pour moi donc où j'ai envie d'aller voir. (...) Au fond, je ne sais pas comment ça se passe, je sais qu'il faut s'assoir et puis après, voilà." VOICE-OVER "Es ist nicht eine Idee, es sind zwei oder drei Ideen, die mich dazu bringen, mit unbekannten Themen zu arbeiten. Und da sie mir so fremd sind, habe ich Lust, mich mit ihnen zu beschäftigen. In "Ich gehe jetzt" hatte ich Lust, etwas im Umfeld des Kunstmarktes spielen zu lassen - und zugleich in der Polarregion. Es hat nicht viel miteinander zu tun. Ich weiß nicht mehr, wie es sich ergeben hat, jedenfalls habe ich diese beiden Sachen recherchiert und habe gleichzeitig überlegt, wie ich sie kombinieren kann. Dann ergeben sich die Figuren, man erarbeitet sie sich nach und nach. Aber eigentlich weiß ich gar nicht, wie das geht. Ich weiß nur: Man muss sich hinsetzen." ERZÄHLER Jean Echenoz braucht zwei bis drei Jahre für ein Buch. Das Wesentliche sind die Recherchen. Das ist es, was ihm eigentlich Freude macht. Anfangs hat er manchmal nur eine Ahnung, worum es in dem Buch gehen wird: Um Wissenschaft. Um Kunst. Um eine bestimmte Epoche. Und dann forscht er. Und dann beißt er sich fest. Er führt Interviews. Durchforstet Bücher und Briefe und anderes Material. Er geht nicht jahrelang für ein Thema auf Reisen - was aber nicht heißt, dass er nicht ständig sucht. In Laos hat Monsieur Echenoz mal einen einarmigen Mann getroffen. Dieser Mann hat ihm genau erklärt, welche physischen und psychischen Reaktionen sich abspielen, wenn ein Arm abgetrennt wird. Aus dieser Begegnung in Laos machte Jean Echenoz später eine Figur in seinem letzten Roman "14": Einen Soldaten, der einen Arm verliert. 22 O-TON JEAN ECHENOZ TRACK 15, 00:09 - 01:09 "J'ai croisé, j'ai connu des gens qui écrivent sans savoir où est-ce qu'ils vont aller et ça, je ne peux pas. (...) Il y a des gens qui peuvent, hein, il y a des gens qui peuvent, moi, je ne pourrais pas." VOICE-OVER "Ich bin Leuten begegnet, die einfach losschreiben - ohne zu wissen, wo es hinführen soll. Ich kann so etwas nicht. Wenn ich etwas anfange, muss ich einen Faden haben, auf den muss ich mich verlassen können, aber trotzdem sollte er flexibel sein, damit ich Dinge, Situationen und Figuren improvisieren kann. Es muss vorab einen kleinen Bauplan geben. Ich könnte nicht einfach einen Satz anfangen und mir dabei sagen: Gut, wir sehen mal weiter. Das könnte ich nicht." ZITATOR "Die Ferien sind vorbei. Er sitzt am Klavier, allein zu Hause, die Partitur vor sich, die Zigarette zwischen den Lippen und immer tadellos gekämmt. Unter seinem Morgenmantel mit hellem Revers und dazu passenden Taschen trägt er ein grau gestreiftes Hemd und eine bronzefarbene Krawatte. Seine Linke greift einen Akkord, die Rechte, zwischen deren Zeige- und Mittelfinger er einen metallenen Drehbleistift hält, notiert in der Partitur, was die Linke eben produziert hat. Er ist mit seiner Arbeit im Verzug, wie immer, eben hat das Telefon geläutet, der Verleger hat ihn wieder mal daran erinnert, dass es eilt. Er muss baldestmöglich die Probentermine dieses neuen Werkes festsetzen können, er hat das Werk angekündigt, obwohl er noch nichts davon kennt. Er lächelt, aber das sieht man nicht. Gut, gut, die wollen das öfter proben, können sie haben, diese Melodie werden sie oft spielen, garantiert." (Jean Echenoz, "Ravel", S. 68) 23 O-TON JEAN ECHENOZ TRACK 17, 00:32 - 01:24 "On ne rend jamais compte. (...) Il n'y a pas de vrais personnages, on ne fait que reconstruire." VOICE-OVER "Man kann einfach niemals objektiv sein. Ich denke an die letzten Bücher, die auf realen Leben basierten. Es ist von Vornherein ein absurdes Vorhaben, denn natürlich ist der Ravel, von dem ich erzähle, nicht der echte Ravel. Es gibt keine echten Figuren, ich als Autor kann nur rekonstruieren." ERZÄHLER Zuletzt hat Jean Echenoz also drei Romane über drei berühmte Männer geschrieben: Über den französischen Komponisten Maurice Ravel, über den tschechischen Marathonläufer Émil Zatopek und über den amerikanischen Erfinder Nikola Tesla, der unter anderem den Wechselstrom entdeckte. Aber Echenoz ist kein Biograph. Dass es ausgerechnet diese Romanbesetzung wurde, ist in erster Linie dem Echenoz'schen Prinzip geschuldet. Anders gesagt: Es hätte durchaus auch wen anders treffen können. 24 O-TON JEAN ECHENOZ TRACK 9, 00:17 - 02:39 "(...) C'est toujours des concours de circonstance, ce sont toujours des situations un peu imprévues sur des projets. (...) Et d'une certaine manière, le personnage m'a intéressé tellement qu'il m'a volé le roman. (...)" VOICE-OVER "Es ist immer das Zusammentreffen mehrerer Umstände und unvorhergesehener Situationen, die mich zu meinen Projekten führen. Bei Ravel zum Beispiel wollte ich eigentlich eine richtige Fiktion schreiben, die in den 30er-Jahren in Frankreich spielt. Ich hatte schon fiktive Personen erfunden, und dann dachte ich, es wäre doch nicht schlecht, wenn zwischen diesem fiktiven Personal reale Figuren herumlaufen würden. Wie Statisten. Unter anderem hatte ich an Ravel gedacht. Er sollte eigentlich nur im Hintergrund vorkommen, aber dann dachte ich: Man muss mehr über ihn erfahren. Ich kannte seine Musik, ich kannte sein Haus, das spielte natürlich eine Rolle. Ich fing an, mich für sein Leben zu interessieren. Dann habe ich fast alles gelesen, was ich über ihn finden konnte. Hier ist alles sortiert, was ich über ihn gesammelt habe. Kurz gesagt, auf eine gewisse Art und Weise hat Ravel mir meinen Roman geklaut." ZITATOR "Jedenfalls gibt es an der Straße nach Le Vésinet, gleich hinter der Brücke von Rueil, eine Fabrik, die Ravel derzeit gern ansieht, sie inspiriert ihn. Genau: Die Komposition, an der er gerade sitzt, hat etwas von Fließbandarbeit. Fließband und Wiederholungen, das Stück ist im Oktober fertig, nach einmonatiger Arbeit, nur von einer herrlichen Erkältung unterbrochen, die er sich bei einer Spanienreise unter den Kokospalmen von Malaga geholt hat. Er weiß sehr gut, was er da gemacht hat, es hat keine Form im eigentlichen Sinne, es kommt ohne Entwicklung und ohne Modulation aus, besteht aus nichts als Rhythmus und Arrangement. Kurz, eine Sache, die sich selbst zerstört, eine Partitur ohne Musik, eine Orchesterfabrik ohne Thema, ein Selbstmord mittels reiner Klangvermehrung. Eine bis zum Überdruss wiederholte Phrase, eine hoffnungslose Sache, von der man nichts zu erwarten hat, das ist wenigstens mal, sagt er, ein Stück, das die Sonntagsorchester nicht auf ihre Programme zu setzen wagen. Aber all das ist unwichtig, es soll ja bloß vertanzt werden. Choreographie, Licht und Bühnenbild werden die endlosen Wiederholungen erträglich machen. Nach Beendigung der Arbeit an dem Stück kommt er eines Tages mit seinem Bruder in Le Vésinet vorbei: Schau mal, sagt Ravel, das da ist die Fabrik vom Boléro." (Jean Echenoz, "Ravel" S. 68f.) ERZÄHLER Die drei Romane über berühmte Männer bestehen aus geschliffenen, warmherzigen Miniaturen voller Sympathie und leisem Humor. Manchmal sind es Episoden aus dem alltäglichen Leben. Manchmal sind es Augenblicke. Manchmal vergehen auf einer Buchseite Jahrzehnte. In "Ravel" beispielsweise beschreibt Echenoz die letzte Lebensphase des Komponisten. Denn als Ravel ein Schiff besteigt, um zum ersten Mal nach Amerika zu reisen, bleiben ihm noch genau zehn Jahre. Auf den Tag genau. Als er von dieser Reise zurückkehrt, bricht das über ihn herein, was die Figuren im Echenoz-Kosmos fast genau so bewegt wie der Tod: die Langeweile. ZITATOR "Nachdem das Haus inspiziert ist, die Taftvorhänge im Salon und die grünseidenen im Esszimmer aufgezogen sind, die Garderobe ausgepackt und eingeräumt ist, verfliegt prompt das Vergnügen, wieder zu Hause zu sein. Man ist ratlos, weiß nicht recht, was man mit sich anfangen soll." (Jean Echenoz, "Ravel", S. 56) 25 O-TON JEAN ECHENOZ TRACK 24, 00:11 - 00:37 "Non, moi je ris assez peu. Je peux sourire. Je peux rire intérieurement, mais je n'ai pas le souvenir d'avoir physiquement ri en fabriquant mes histoires. Non, non." VOICE-OVER "Nein, beim Schreiben lache ich wenig. Ich kann lächeln. So in mich hinein lachen, ja, vielleicht. Aber ich erinnere mich nicht daran, richtig physisch gelacht zu haben, während ich meine Geschichten fabriziere." ZITATOR "Es wirkt ganz so, als finge er an sich zu langweilen. Die Langeweile nun kennt Ravel nur zu gut: In Verbund mit Trägheit kann Langeweile ihn dazu bringen, dass er studenlang Diabolo spielt, das Wachstum seiner Fingernägel überwacht, Papierhütchen bastelt oder Enten aus Brotkrume knetet, ein Inventar seiner Schallplatten macht, wenn nicht sogar den Versuch einer Ordnung, Platten mit Albéniz bis Weber, ohne Beethoven, aber mit Vincent Scotto, Noël-Noël oder Jean Tranchant, aber egal, diese Platten hört er sowieso sehr selten. Kombiniert mit dem Fehlen eines Vorhabens, verbindet die Langeweile sich auch oft mit Anfällen von Mutlosigkeit, Pessimismus und Kummer, die ihn in diesen Momenten dazu bringen, seinen Eltern bittere Vorwürfe zu machen, dass sie ihn nicht in den Lebensmittelhandel gesteckt haben." (Jean Echenoz, "Ravel", S. 56 f.) ERZÄHLER Eine Sache haben Ravel, Zatopek und Tesla bei Echenoz gemeinsam: Sie sind ihren eigenen Talenten ausgeliefert. Sie sind einsam. Und sie enden traurig. Weil wir durch den liebevollen Blick des Autors, durch seine Wahrheiten, durch seine Fiktionen, so nah an die Menschen herankommen, müssen wir sie verlieren. Muss er sie uns entreißen, mit aller Kunst, die ihm zur Verfügung steht. Am Ende, und das lernt man bei Echenoz, und da gibt es nichts zu leugnen, sind sie alle verschwunden. Und man steht fassungslos da, mit der letzten Seite des Buches zwischen den Fingern. 26 O-TON JEAN ECHENOZ TRACK 20, 00:34 - 02:38 "Je jouais beaucoup avec la mort. (...) Ses côtés un peu maniaque, un peu cassant, ça faisait partie du personnage qui me plaisait." VOICE-OVER "Ich habe viel mit dem Tod gespielt. Ich weiß noch, dass mein Verleger Lindon beim ersten Buch zu mir gesagt hat: Es sollte ein bisschen weniger Tote geben. Aber in diesem Moment war das in meinen Büchern noch eher spielerisch gemeint. Als ich am Ende von Ravel gearbeitet habe, habe ich eine Emotion erlebt, die ich vorher nicht kannte: Vielleicht, weil es das erste Mal war, dass ich über den Tod einer realen Person geschrieben habe - und vor dem Tod gab es den Verfall, ja, den Fall dieses Menschen. Ich hatte diese Figur mittlerweile so lieb gewonnen, dass es rührend war. Ich habe nie begriffen, warum mir einige Leute später den Vorwurf gemacht haben, das Porträt eines unsympathischen Mannes gezeichnet zu haben. Von meiner Seite aus habe ich diese Figur extrem gemocht. Dass er leicht manisch und ein bisschen spröde ist, gehört für mich einfach zu dieser Person, die ich mochte." 27 O-TON JEAN ECHENOZ TRACK 21, 00:08 - 00:38 "Au fond, peut-être qu'on peut s'attacher aux gens antipathiques. (...) Mais il le faisait exprès pour être tranquille, je pense." VOICE-OVER "Im Grunde genommen kann man unsympathische Leute lieb gewinnen. Kann man unsympathische Leute wirklich lieb gewinnen? Ich weiß es nicht. Doch, doch, man kann. Ich mochte Lindon ja sehr, und der hatte recht unsympathische Seiten. Aber er machte das absichtlich, um seine Ruhe zu haben, denke ich." ERZÄHLER In seinem letzten auf Deutsch erschienenen Buch über Nikola Tesla erzählt Jean Echenoz sie endlich: Die richtige, vollendete Liebesgeschichte. Doch ist es keine Frau und auch kein Mann, in die sich der neurotische, asexuelle, lebensunfähige Protagonist verliebt: Er verliert sein Herz an eine Taube. Was wiederum die größtmögliche Liebeserklärung des Autors an seinen durch und durch unsympathischen Helden ist. ZITATOR "Diese Taube ist ein weibliches Exemplar mit reinweißem Gefieder, zart hellgrau gestreiften Flügeln und kaum einem Anflug von Mauve an der Kehle. Ihr scharlachroter Schnabel ist safrangelb gepunktet, ihr Füße tragen Nuancen von Pink bis Regengrau, und der makellose Schwanz ist ein wenig hochgebogen, in der Art eines Pfaus." (Jean Echenoz, "Blitze", S. 127) 28 O-TON JEAN ECHENOZ TRACK 21, 01:32 - 02:13 "Sur les pigeons? Est-ce que j'ai fait des recherches? (...) C'est le nom qu'on a donné aux avions, aussi." VOICE-OVER "Über Tauben? Habe ich über Tauben recherchiert? Da braucht man doch keine besonderen Recherchen. Es reicht, aus dem Haus zu gehen. Ich glaube, ich hatte sowieso schon in einem anderen Buch über Tauben gelästert. Aber eigentlich... doch, ich habe Dinge recherchiert. Ich habe mich über den Knochenbau der Vögel informiert, so was halt. Ja, ich habe Dinge gefunden." 29 O-TON JEAN ECHENOZ TRACK 21, 02:23 - 02:37 "Je ne peux pas dire grand-chose sur les pigeons. Franchement, par contre, les pigeons urbains, je ne peux pas les supporter, c'est vrai. C'est une vieille antipathie." VOICE-OVER "Zu den Tauben kann ich nicht viel sagen. Also, ganz ehrlich, die Stadttauben kann ich nicht leiden, das stimmt schon. Gegen die habe ich eine alte Abneigung." SPRECHER Ich gehe jetzt. Oder: Wie man sich verabschiedet, wenn nichts mehr zu sagen ist. ATMO Straßenlärm. ZITATOR "Sie entfernten sich. Der Lärm ihres Motors wurde schwächer, vermischte sich mit dem Geräusch in der Ferne, sie waren nicht mehr da. Sie sind nicht mehr da. Wir jedoch bleiben." (Jean Echenoz, "Cherokee", S. 106) ERZÄHLER Am Tag nach unserem Gespräch treffen wir Monsieur Echenoz anderswo wieder. An einem anderen Bar Tabac in der Nähe seiner Wohnung. Wir erinnern uns: Jackett über der Schulter, Zigarette im Mundwinkel. Das Mikrofon nehmen wir nicht mit. Absichtlich nicht. Wir sitzen mit Jean Echenoz auf der Terrasse der Bar, die nur aus dem Bürgersteig besteht. Es ist ruhig auf dem Trottoir. Er bestellt Perrier und redet mit uns. Wir hören ein Geständnis: Ich habe Sie angelogen, sagt er. Ich habe gestern Vormittag gar nicht gearbeitet, wie ich es Ihnen erzählt habe, sondern nur meine Bücher sortiert, um sie in das neue Regal zu stellen. Bon, Monsieur Echenoz. Und plötzlich, vielleicht, nachdem alles Wesentliche gesagt ist, springt er auf und geht. Ein Tag mit Sonnenschein in Paris. Wir bleiben allein zurück und sehen den schmutzigen Tauben auf dem dreckigen Trottoir zu. ZITATOR "Die Landschaft ringsum ist grau und glanzlos. Das Wetter ist feucht und kalt. Alles ist wie ausgestorben, man hört nur noch dieses uninteressante Geräusch in der Ferne. Warum gehen wir nicht." (Jean Echenoz, "Cherokee", S. 106 f.) 1