COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Forschung und Gesellschaft am 11. Februar 2010 Redaktion: Peter Kirsten Megamonster Megacity Stadtentwicklung zwischen Chaos und wissenschaftlicher Planung Von Uwe Springfeld Sprecher: Man sagt Stadt. Und meint ein zu Stein und Asphalt gewordenes Etwas aus Häusern und Plätzen, Straßen und Parks. Tübingen oder Bremen beispielsweise, Baden-Baden, Bonn oder Bayreuth. Größer geworden nennt man das Stein gewordene Chaos Metropole. Etwa: Berlin. Barcelona, Manchester und Charkov - und verweigert ihr den von der reinen Bedeutung des Wortes ?Metropole? zustehenden Titel 'Hauptstadt'. Noch weiter angewachsen wird die Metropole zu Megacity: Tokio und New York, Shenyang und Mexiko City, Lagos und Mumbai. Nicht nur in Kilometern gemessen liegt eine Megacity unendlich weit entfernt von Städtchen wie Reutlingen, Rottweil und Rottenburg. Sprecherin: Man könnte meinen, die Entwicklung von Megacitys muss perfekt geplant sein. In der Realität fressen sich die Riesenstädte jedoch wie Megamonster in die Umwelt. Unersättlich ziehen sie dabei alles an, was ein Land zu bieten hat. Menschen, Macht, Wirtschaftskraft, Katastrophen. Hilflos beobachten Stadtplaner diese Entwicklung. Wenn sie schon nicht steuernd eingreifen können, wollen sie zumindest begreifen, welcher Zweck dem Leben in einer Megacity innewohnt, sagt die Stadtgeografin Frauke Kraas von der Universität Köln. take (Kraas-16; 0:25) Die Bevölkerung ist ja einfach schlicht hin vorhanden und es stellt sich die Frage, wie weit die Megastädte eine bessere Antwort darauf sein könnten, zumindest auf lange Sicht, als ein stark zersiedeltes Land, in dem die Defacto-Bevölkerung ohnehin vorhanden ist. Ökologisch könnten die Megastädte eine bessere Antwort darstellen als ein stark zersiedeltes Land. Sprecherin: Das Leben in den Megacitys bietet den Menschen zwar Arbeit, Lohn und ein Auskommen, das oft den Lebensunterhalt sichert. Aber die Risiken für die Bevölkerung sind groß. Zum Beispiel Umweltprobleme: die Verschmutzung von Wasser, Boden und Luft. In Deutschland wird die Problematik unter anderem anhand der Feinstaubbelastungen der Städte diskutiert. Zum Beispiel die Gefahr einer Epidemie. 1992 die Atemwegserkrankung SARS. 2006 die Vogelgrippe. 2009 die Schweinegrippe. Hinzu kommen Risiken durch Naturkatastrophen wie Wirbelstürme, Erdbeben, Tsunamis und Vulkanausbrüche. Will man diesen Risiken wirksam vorbeugen, muss man eines wissen: Wie funktioniert eine Megacity? Welche Kräfte gestalten sie? Welche Dynamik steuert das Zusammenleben der Menschen in diesen Steinwüsten? Sind diese Faktoren nicht bekannt, drohen Katastrophenprävention, Krankenversorgung und Umweltschutzmaßnahmen sinnlos ins Leere zu laufen. Weil die Vorsorge nicht an die Realität angepasst ist. Doch die Mechanismen, die die Entwicklung von Megacitys steuern, liegen noch weitgehend im Dunkeln. Nur eines ist sicher. Rationale Planungen spielen kaum eine Rolle. Musikalischer Trenner Take (Kraas; 0:24) Bislang hatte man die Vorstellung: Städte müssen geplant werden, von der Verwaltung, und man wechselt jetzt gewissermaßen ? es ist eine Art Paradigmawechsel ? man wechselt jetzt den Blickwinkel auf diese Städte, indem man schaut: nicht, wer plant sie, sondern wodurch werden sie wirklich gesteuert. Sprecherin: Im Jahre 2010 leben knapp sieben Milliarden Menschen auf der Erde. Jedes Jahr kommen weitere 80 Millionen Menschen hinzu. Das entspricht der Bevölkerung Deutschlands. Im selben Zeitraum, in dem man nur das Wort ?Eigenheim? ausspricht, werden zwei weitere Menschen geboren. Diese Menschen müssen irgendwo leben. Die meisten von ihnen zieht es vom Land in die Stadt. So wuchsen Orte, die wie Lagos vor zwei Generationen noch die Größe von Gelsenkirchen hatten, zu urbanen Monstern von der dreifachen Größe des gesamten Ruhrgebietes heran. Auf diese Entwicklung bezieht sich auch das Bundesministerium für Bildung und Forschung in seiner Begründung des Forschungsvorhabens ?Urbane Wende?. Zitator: Diese Umschichtung und Verdichtung der Menschheit ist historisch ohne Beispiel. Demographen und Raumforscher dürften nicht zu hoch greifen, wenn sie das Phänomen die ?urbane Wende? nennen oder gar wie die Vereinten Nationen vom ?Jahrtausend der Städte? sprechen. Denn die urbane Wende vollzieht sich mit einer Geschwindigkeit, welche die Innovations- und Strategiefähigkeit der Menschheit auf eine harte Probe stellt. Sprecherin: Megacitys gibt es erst seit etwa einhundert Jahren. Das Phänomen, dass zehn und mehr Millionen von Menschen in einem einzigen urbanen Raum leben, ist geschichtlich betrachtet also noch recht neu. Die Abteilung für Wirtschaft und soziale Angelegenheiten der Vereinten Nationen schreibt in ihrem Bericht ?World Urbanization Prospects?, zu deutsch: Prognosen der globalen Urbanisierung: Zitator: 1950 gab es lediglich zwei. New York-Newark und Tokio. Beide mit 11 bis 12 Millionen Einwohnern. 1975 wurden es vier. Shanghai und Mexiko City kamen hinzu. Im Jahr 2000 kamen weitere 14 hinzu. Für das Jahr 2015 erwartet man 22 Megacitys, drei viertel von ihnen in weniger entwickelten Regionen. Sprecherin: Weshalb hat es vor dem 20. Jahrhundert keine Megacitys gegeben? Warum entstehen sie erst heute? Warum überall gleichzeitig, in Asien und Lateinamerika, in Afrika und Nordamerika? Warum gibt es keine neuen Megacitys mehr in Europa? Sind sie ein Phänomen der Bevölkerungsexplosion? Oder mussten für diese Entwicklung bestimmte technisch-wissenschaftliche und wirtschaftliche Voraussetzungen geschaffen werden? Sprecher: Kann man aus diesen Voraussetzungen Regeln herleiten, nach denen sich die Megacitys entwickeln? Kann man auf die Akteure schließen, die diese Entwicklung steuern? Denn oberflächlich betrachtet haben Megacitys wie Shenyang in China und Lagos in Nigeria nur wenig miteinander gemein. Sprecherin: Shenyang liegt 150 Kilometer Luftlinie von der Grenze zu Nordkorea entfernt im ehemaligen Rostgürtel, dem Ruhrgebiet Chinas. Shenyang ist Hauptstadt der Provinz Liaoning. Wirtschaftlich herrscht in der Megacity die Krise. Die Kohle- und Eisenbergwerke sind erschöpft, Hochöfen gelöscht, Stahlhütten zugemacht, Schwerindustrie wie die Shenyang Heavy Machinery Incorporation aus der Stadt verlegt und die Wirtschaft auf High Tech und Handel umgestellt. Trotzdem kennt man in Shenyang keine Slums, keine Hüttensiedlung, kaum eine informelle Wirtschaft. Der zentralisierte chinesische Staat fördert landesweit seine Städte, gibt Geld. Für Planung und Infrastruktur wie Straßen, U-Bahnen, öffentliche Einrichtungen. Für Instandhaltung, Wachstum und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. In einigen Jahren soll Shenyang mit acht Nachbarstädten politisch und verwaltungstechnisch zusammengelegt werden. Dann entsteht hier ein Megamonster mit 32 Millionen Einwohnern, die zweitgrößte Stadt der Welt. Sprecher: Zum anderen Lagos. Ehemalige Hauptstadt der ehemals britischen Kolonie Nigeria. 15 Millionen Menschen leben in der Stadt. Nach Berechnungen der Vereinten Nationen sollen es in zehn Jahren 25 Millionen sein. Aber schon in ihren heutigen Dimensionen überfordert die Megacity die nigerianische Politik und Verwaltung, von den Herausforderungen durch das Wachstum des urbanen Ungeheuers gar nicht zu sprechen. Man will diese Entwicklung bremsen. Ihren Status als Hauptstadt verlor die Metropole vor über zwanzig Jahren an das neu aus dem Boden gestampfte Abuja. Seitdem stirbt Lagos den politischen Tod mit Slums ohne Wasser und elektrische Versorgung, ohne Verkehrsanbindung, Abfallentsorgung, Arbeitsplätze. Die Stadt ist unregierbar, anarchisch, chaotisch. Lagos Einnahmen aus der Ölförderung strömt ins Privatvermögen der Reichen. Hilfe für die Armen ist nicht in Sicht. Sprecherin: So unterschiedlich die Megacitys auch sein mögen: Die Triebkräfte, Millionen von Menschen in einzelne urbane Räume zusammenzubringen, ähneln sich überall auf der Welt. Das Bundesministerium für Verkehr- Bau- und Wohnungswesen nennt in einem Bericht holzschnittartig vier Faktoren, auf die das explosionsartige Wachstum der Städte im 20. Jahrhundert zurückzuführen ist. Zitator: Den Bedeutungsverlust der Landwirtschaft und die ländliche Überbevölkerung in Verbindung mit der Industrialisierung, die nachfolgende Deindustrialisierung in Verbindung mit dem Wachstum des Dienstleistungssektors, die rapide Mobilität sowie die Revolution in der Telekommunikation. Sprecher: Diese vier Faktoren bestimmen aber auch die Entwicklungen in der modernen Wirtschaft. Durch die neuen Kommunikationstechniken beispielsweise können grenzüberschreitend tätige Unternehmen weltweit Standortvorteile nutzen. Dank Fax, Internet, und anderen Möglichkeiten können zum Beispiel Automobilhersteller ihre Neuwagen zentral in Wolfsburg konstruieren, aber weltweit produzieren. In Sao Paolo genau so wie in Shanghai oder Sankt Petersburg. Aus diesen wirtschaftlichen Möglichkeiten und der damit einhergehenden geographischen Flexibilität resultiert eine wichtige Funktion der Megacitys, sagt Frauke Kraas. take Megacitys als Knoten der Globalisierung (Kraas-12; 0:20) Wie erleben in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten, dass bedingt durch eine zunehmende Globalisierung und internationale Arbeitsteilung in diesen Knotenpunkten der Globalisierung Kapital, Wirtschaftsmöglichkeiten zusammenkommen, und gewissermaßen diese Megastädte Produktionsräume für die globalisierte Wirtschaft sind. Musikalischer Trenner Sprecher: Die Zukunft scheint vorgezeichnet. Städte werden auch weiterhin wachsen und ein Ende ist nicht abzusehen. take (Kraas-5-kurz; 0:21) Wir müssen festhalten, dass die Bevölkerung, die in Städten lebt, die 50%-Schwelle überschreiten wird - es werden erstmals mehr Menschen in Städten als auf dem Lande leben. Damit wird klar, dass die Zukunft der Weltbevölkerung in Städten stattfinden wird, das heißt hier sind die städtischen Lebensräume die eigentlichen Lebensräume der Bevölkerung. Sprecherin: Was ist das, eine Stadt? Verschiedene Blickwinkel liefern unterschiedliche Definitionen. Je nachdem, ob man durch die Augen eines Politik- und Verwaltungswissenschaftlers, eines Historikers, eines Stadtplaners oder eines Geografen schaut. Für Politik- und Geschichtswissenschaften bildet die Stadt vor allem eine klar umrissene Einheit innerhalb fester Grenzen. Diese Einheit kann man benennen, zum Beispiel als Shenyang, Lagos und New York. Man kann sie als rotes Vieleck auf einer Landkarte einzeichnen. Politisch tritt sie als Zuständigkeitsbereich eines Bürgermeisters und seiner Stadtregierung in Erscheinung. Verwaltungstechnisch als Areal, in dem städtische Organe beispielweise der Sicherheit und des Katastrophenschutzes tätig werden. Sprecher: Auch für Geschichtswissenschaftler ist die Stadt eine exakt begrenzte Einheit. Sie ist über Jahrhunderte gewachsen, manchmal sogar über Jahrtausende. In den verschiedenen Epochen hatte sie viele unterschiedliche Rollen gespielt und ebenso viele Funktionen innegehabt. Lagos Geschichte begann beispielsweise im 14. Jahrhundert als Fischerdorf. Noch vor der Kolonisierung Afrikas entwickelte es sich zur britischen Handelsniederlassung. Später wurde Lagos zur Hauptstadt der Kolonie Nigeria. Nachdem es einige Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit des Landes diese Funktion wieder verlor, ist Lagos heute das bedeutendste Wirtschaftszentrum des Landes. Wohin führt es, wenn man die Stadt als festumrissene, urbane Einheit auffasst? Take (Kraas-41; 0:36) Es gibt den akademischen Streit darum, ob eine Megastadt aus einem Kern bestehen oder ob es mehrere, also multinukleare Kerne geben kann ? Man muss sich vor Augen führen, dass wenn Sie eine Stadt haben wie etwa Paris, diese als ein Zentrum entstanden ist und sich immer weiter ausgedehnt hat. Wenn sie auf der anderen Seite eine Stadt wie Tokio sehen, da haben sich verschiedenste Städte durch jeweiliges Wachstum immer weiter zusammengeschlossen und daraus ist ein polinukleares Gebilde entstanden ? Ich persönlich muss ganz klar sagen, dass wir eher von megaurbanen Räumen sprechen sollten und für mich ist das Ruhrgebiet auch solch eine megaurbane Konzentration. Sprecherin: Politische, verwaltungstechnische und historische Grenzen einer Stadt sind für Planer und Geografen von nur untergeordneter Bedeutung. Wenn sie von einer Stadt sprechen, meinen sie eine grenzüberschreitende Gesamtheit urbaner Bauten wie Wohnhäuser, Straßen, Plätze. Öffentliche Einrichtungen wie Schulen, Rathäuser, Polizeiwachen, Kasernen und Krankenhäuser. Ein Netz von Autobahnen, Schnell- und Hauptstraßen, von Schienensträngen für den Nah- und Fernverkehr, mit Knotenpunkten aus Bahnhöfen, Flug- und Schiffshäfen. Von Versorgungsleitungen für Wasser, Gas, Strom, Telefon, Abwasserleitungen, Kläranlagen und Müllbeseitigungsanlagen. Sprecher: Eine Megacity besteht häufig aus mehreren Einzelstädten, die zusammen eine urbane Agglomeration bilden. Zur urbanen Agglomeration von Shenyang zählen beispielweise die Städte Benxi, Liaoyang und Anshan. Zu Agglomeration von Lagos gehören unter anderem Badagry, Porto-Novo und Cotonou. Zur Agglomeration New York muss man das politisch eigenständige Newark mit hinzunehmen. Sao Paolo ist nichts ohne die Millionenstadt Guarulhos. Zu Mumbay gehören Kalyan und Thane. Zu Delhi Faridabad und Ghaziabad. Zu Tokio-Stadt zählen Yokohama, Kawasaki und eine Reihe kleinerer Orte wie Kawaguchi und Musashino. Sprecherin: Mit 32 Millionen Einwohnern ist die urbane Agglomeration Tokio-Yokohama-Kawasaki die Größte der Welt. Mit 10 Millionen Einwohnern ist Paris plus Banleiu die kleinste Megacity. Eine Mikro-Agglomeration liegt mitten Deutschland. Sie erstreckt sich grob gesagt zwischen den 500.000 Einwohnern Duisburgs und den 580.000 Einwohnern Dortmunds. Das Ruhrgebiet. Eine Megastadt mit fünfeinhalb Millionen Einwohnern ohne einheitlichen Bürgermeister, ohne zusammengehörende Verwaltung, ohne jeden offiziellen Namen. Musikalischer Trenner Sprecher: Im Mittelalter war die städtische Welt einfach. Man baute, wo man Platz hatte innerhalb der engen Stadtmauern. Die Straßen entstanden als Zwischenräume zwischen den Häusern. Verwinkelte Gassen, wie man sie heute noch in museal gestalteten Altstädten sieht. Im aufkommenden Barock genügten die mittelalterlichen Gassen nicht mehr. Jetzt legte man die Straßen rechtwinklig zueinander. Mit der aufkommenden Industrialisierung musste auch diese Struktur aufgebrochen werden. Nur wie? Die wissenschaftliche Stadtplanung entstand, sagt der Stadtplaner Peter Marcuse von der Columbia University New York. take Stadtplanung sorgt für Gemeinwohl (Marcuse-2; 0:40) Stadtplanung ist ursprünglich ins Leben gerufen, wie die Funktionen von Städten nicht mehr ohne eine übergreifende Planung laufen konnte. Das heißt (Marcuse-2-kurz; 0.24) Straßen waren ursprünglich da hergestellt, wo Leute gerade ihre Häuser gebaut haben. Und waren weder gerade noch breit genug für eine entwickelte Wirtschaft - und langsam hat man gesehen, dass man braucht eine vom Staat bestimmte Ordnung in der Stadt. Sprecherin: Megacitys werden nicht mehr geplant. Weil jede Prognose über die Zukunft der urbanen Agglomeration von der Wirklichkeit überholt wird. Trotzdem gibt es gestaltende Akteure. Da ist zum einen die Stadtverwaltung. Oft ineffektiv und undurchschaubar. Allein in der Stadt Tokio, die etwa ein Drittel der Agglomeration mit Yokohama und Kawasaki ausmacht, gibt es beispielsweise 23 voneinander unabhängige Bürgermeister mit ebenso vielen Verwaltungen. In New York dauerte es zwanzig Jahre, ein halbes Berufsleben, bis für eine dritte Hauptwasserleitung quer durch die City die baurechtlichen Voraussetzungen geschaffen waren. In Bangkok bleiben Planungen häufig ganz im Kompetenzwirrwar hängen, sagt Frauke Kraas. take (Kraas-30; 0:24) Vielfach ist in den Städten gar nicht die Aufgabe klar, die in einzelnen Abteilungen jeweils gestellt sind. Wenn man sich ein Beispiel in Bangkok anschaut - Allein für den Ausbau des Verkehrssystems sind sieben Ministerien und innerhalb der Ministerien 49 verschiedene Abteilungen zuständig - jede in einer kleinen Region, aber es ist gar nicht so genau festgelegt, wann wer wie weit dort handelt. Sprecher: Die zweite Gruppe von Akteuren sind große Wirtschaftsunternehmen. Global agierende Unternehmen legen ihre Zentralen gern in die Megacitys von Japan, den USA, der europäischen Union und Süd-Korea. Von den 500 weltweit größten, transnationalen Konzernen haben 78 in Tokio ihren Hauptsitz. In New York 40, in Paris 33. In London 31 und in Seoul immerhin noch elf. Keines dieser Unternehmen hat seinen Hauptsitz in Mexiko City, keines in Lagos oder Djakarta. Trotzdem sind auch diese Städte bedeutende Wirtschaftszentren, nur auf nationaler Ebene. Wenn sich solch ein Unternehmen etwas wünscht, beispielweise ein neues Werk mit angeschlossener Wohnbebauung für die Arbeiter auf grüner Weise, löst sich das Planungswirrwar in der Stadtverwaltung schnell auf. Aber auch hier bleibt eine Stadtplanung häufig außen vor, sagt Peter Marcuse. take Aufgabe der Stadtplaner (Marcuse-5; 0:25) Was eigentlich geschieht, wenn auf grüner Wiese etwas zu entwickeln ist, ist meistens nicht von Stadtplanern bestimmt. Aber es folgt daraus, was vorgeschlagen ist von privaten Interessen. Stadtplaner haben dann die Aufgabe zu untersuchen, ob es geht und was die Folgen sein werden. Sprecherin: Trotz ihrer gemeinsamen, wirtschaftlichen Macht treten die Unternehmen nicht immer als geschlossene Gruppe auf. Zu unterschiedlich sind ihre Interessen. Weil beispielsweise die Automobilindustrie gern Neuwagen verkauft, sieht sie den öffentlichen Nahverkehr als ihren natürlichen Feind an. Andere Industriezweige sind eher daran interessiert, ihre Produktionsstätten für die Abreitnehmer erreichbar zu halten. Sie würden deshalb einen Ausbau des Nahverkehrs nicht rundweg ablehnen. Ob, wie jetzt in Shenyang, nachträglich ein U-Bahnnetz aufgebaut, wie in Tokio gepflegt oder wie in amerikanischen Städten auf ein Rudiment zusammengestrichen wird, ist daher oft das Ergebnis langwierigen Kräftezerrens. Sprecher: Die Bevölkerung selbst tritt als dritter Akteur auf. Eine Megacity wächst nicht durch hohe Geburtenraten ihrer Bewohner. Sie wächst durch Zuwanderung, durch Migration in die Städte. Deren Mechanismen sind seit langem bekannt. Elend und Hoffnung. Wissenschaftlich: Push- und Pull-Faktoren. Das, was jemanden von daheim forttreibt und das, was ihn in die Stadt zieht. Diese Faktoren sind nicht konstant, sagt Frauke Kraas. Take (Kraas-40, 024) ) Hinzu kommt ja auch eine sehr ausgeprägte, temporäre Migration in die Städte ? etwa wenn wir landwirtschaftliche Ruhephase haben, dann wandern in diese Städte mehrere Millionen Menschen vom Land, für einen gewissen Zeitraum, vielleicht zwei, drei Monate in die Megastädte ein, verdienen dort und gehen dann auf das Land zurück. Wie hoch ist die Bevölkerung? Wann? Zu welchem Zeitpunkt? Sprecherin: Eine Jobpyramide ist in der Megacity entstanden. Ganz oben die gebildeten Städter. Spezialisten, wie sie von großen Unternehmen gebraucht werden. Unternehmensberater beispielsweise. Oder PR-Fachleute. Softwarespezialisten, Finanzkaufleute. Journalisten. Bankiers und Börsianer. Sie alle stützen sich in ihrem privaten Leben auf eine Gruppe von Dienstleistern mit einfacherem Angebot. Taxifahrer, Botendienste, Reinigungsfirmen, Sicherheitsdienste. Und auf der untersten Sprosse der sozialen Stufenleiter findet sich der informelle Sektor der Wirtschaft wieder. Sprecher: Unter dem informellen Sektor versteht man zum Beispiel Händler, Straßenverkäufer, Schuhputzer und Kleinhandwerker. Überlebensökonomien, die nicht kontrolliert, registriert oder gelenkt werden. Kurz: Schattenwirtschaft. In Indien arbeiten neun von zehn Erwerbstätigen im informellen Sektor. Sie erwirtschaften schätzungsweise zwei Drittel des Volkseinkommens. In Mexiko City steht diese Arbeitsform für ein Drittel des Bruttosozialproduktes. Allein dadurch, dass man in U-Bahnen Batterien verkauft. Bei Rot an Kreuzungen schnell Windschutzscheiben putzt. Am Internationalen Flughafen gegen Trinkgeld die Türen ankommender Taxis aufreißt oder auf der Straße musiziert. In China, wo es kein staatlich organisiertes Müllrecycling gibt, sammelt man leere Plastikflaschen, Altpapier, Metall und anderen Abfall aus den Müllbehältern und verkauft ihn ans letzte Glied einer langen Kette aus Zwischenhändlern, die bis hin zu großen Recycling-Industrien reicht. Sprecherin: Was wirtschaftlich ineinander greift, fällt geographisch auseinander. Mitte der Neunziger Jahre erwirtschaftete das reichste Viertel Bombays das 25-fache Bruttosozialprodukt des ärmsten Viertels. In Sao Paolo immerhin noch das achtfache. Zum Vergleich: In London, das während der wirtschaftsliberalen Thatcher-Ära vom Auseinanderbrechen der Gesellschaft in Arm und Reich gekennzeichnet war, lag der Unterschied zwischen armen und reichen Vierteln gerade beim dreifachen Bruttosozialprodukt. In New York beim doppelten. In der Folge, so schätzen Experten, lebt jeder dritte bis achte Einwohner einer Megacity in einer Marginalsiedlung. Experten unterscheiden dabei akademisch zwischen Slums, innenstadtnahen Wohngebiete mit starken Verfallserscheinungen, und Hüttensiedlungen, die oft quasi ?über Nacht? auf öffentlichem Grund entstehen. Musikalischer Trenner Take (Kraas-39-kurz; 0:26) Das ist schon eines der größten Probleme der Megacitys. Man weiß für nahezu alle der größten Megastädte nicht, wie viel Bevölkerung sich eigentlich konkret zu einem bestimmten Zeitpunkt wo aufhält. Wir haben seit wenigen Jahren hoch und höchstauflösende Satellitenbilder zur Verfügung stehen ? wenn man etwa Areale mit informellen Häusern sieht, man kann man in etwa hochrechnen, wie viel Bevölkerung sich in welchen wie strukturierten Stadträumen überhaupt befinden kann. Sprecher: Der Überblick ist wichtig. Denn Menschenmengen sind anfälliger für Katastrophen als gedacht. Am 26. Januar 2001 wurde die indische Region Gurjat von einem schweren Erdbeben der Stärke 7,7 erschüttert. 20.000 Tote. 17. Januar 2002. Der Vulkan Nyiragongo bricht aus. Lava fließt durch Goma in den Kivusee. 500.000 Menschen werden obdachlos. 26. Dezember 2004. Durch einen Tsunami sterben 230.000 Menschen. Sprecherin: Einen wirksamen Katastrophenschutz gibt es nur in seltenen Fällen. Häufiger ist das, was am 28. August 2005 in New Orleans passierte, einer im Vergleich zur Megacity eher winzigen urbanen Struktur. Nachdem der Hurrikan Katrina den maroden Hochwasserschutz der Stadt zerstörte und die Straßen überflutete, rief der Katastrophenschutz die Bevölkerung auf, im städtischen Footballstadion Schutz zu suchen. Derselbe Katastrophenschutz brauchte anschließend drei ganze Tage, die obdachlos Gewordenen mit Trinkwasser zu versorgen. Sprecher: Damit sich solche Desaster nicht zu Katastrophen auswachsen, setzt Frauke Kraas auf dezentrale Strukturen. Planende und gestaltende Akteure sollten sich davon verabschieden, die gesamte Megacity im Griff haben zu wollen. take (Kraas-28; 0:20) Es müssen steuernde Systeme da sein, die es erlauben, für viele Menschen zu denken und zu handeln - es wird sicherlich sehr viel dezentraler aussehen, als das bislang der Fall ist - Aber wir brauchen auch so etwas wie zentrale Strukturen, damit auch zentrale Dienstleistungen und Versorgungsmöglichkeiten für die Bevölkerung vorhanden sind. Sprecherin: Eine andere Lösung schlägt Peter Marcuse vor. Er meint: Vielleicht muss man sich einfach mehr Zeit lassen. Vielleicht löst sich das Problem gewissermaßen von selbst. Seit 1914 verliert Wien an Einwohnern, seit 1940 London und seit 1970 New York. Auch die Einwohnerschaft Berlins schrumpft seit Jahren. Vermutlich hören die Leute irgendwann auf, in die Stadt zu flüchten. Sei es, weil die Vorteile der Großstadt zunehmend auch in kleineren Orten zu finden sind. Sei es, weil die Großstadt immer mehr Nachteile entwickelt. Vielleicht ist der Wendepunkt möglicherweise schon erreicht. take (Marcuse-11; 0:24) Megacitys wachsen nicht so schnell, wie vor 20 Jahren vorausgesehen wurde. Und man stellt sich schon vor, dass das Wachstum eine Grenze erreichen wird. Dass das nicht unendlich weiter geht. Und an der Grenze sind manche Städte vielleicht schon. Mexiko City könnte das sein. Sao Paolo könnte das auch sein. Sprecher: Eine Garantie für diese Entwicklung gibt es jedoch nicht. Frauke Kraas jedenfalls ist skeptisch. Die Geschichte der Megacitys in Europa und den USA bietet keine Gewähr dafür, dass sich die Riesenstädte in Afrika und Asien auf dieselbe Weise entwickeln. Die Industrialisierung im 19. Jahrhundert lässt sich nicht wie ein Modell auf die heutige Situation in Afrika und Asien übertragen. Take (Kraas-42; 0:26) Das ist noch eine akademische Frage, muss ich ganz klar sagen ? denn ein wirkliches Realexperiment lässt sich kaum durchführen, man wird die Entwicklung einfach beobachten müssen. Wir müssen festhalten, dass sich diese enorme Expansion der Megastädte sich ja auch erst seit relativ kurzer Zeit vollzieht ? auch so hochdynamisch vollzieht, dass sich eine wirkliche Steuerung dieser Prozesse hat kaum realisieren lassen. Sprecherin: Im Jahr 2030 sollen zwei Drittel der Erdbevölkerung in der Stadt wohnen. Es ist höchste Zeit, dass man lernt sie zu steuern. Die Megacitys der Welt. 1