Deutschlandradio Kultur, Literatur, 20.1.2008, 0.05 Uhr "Die 'Granta'-Erfolgsgeschichte" 100. Ausgabe des renommierten britischen Journals       Von Tobias Wenzel Als William Boyd 1979 von der geplanten Neuauflage der Literaturzeitschrift ?The Granta? erfuhr, war sein erster Gedanke: ?Die wird keinen Erfolg haben.? Aber Herausgeber Bill Buford war sich seiner Sache sicher. Er wollte das eingeschlafene Studentenmagazin in eine renommierte Zeitschrift für zeitgenössische Literatur verwandeln: in ein monothematisches Journal am Puls der Gesellschaft. In einer Zeit, in der über den Tod der britischen Literatur diskutiert wurde, erweiterte ?Granta. The magazine of new writing? den starren Literaturbegriff um Reisebericht und Reportage, präsentierte viel versprechende junge Autoren, darunter Salman Rushdie, Ian McEwan und Richard Ford. Die geliebt wie gefürchtete Granta-Liste belebte die Literaturszene Großbritanniens und der USA. Auch William Boyd, der Skeptiker ist schnell zum ?Granta?-Enthusiasten geworden, als Beiträger ebenso wie als Gastherausgeber der 100. Ausgabe der Literaturzeitschrift. 1. Musik 1 2. O-Ton Richard Ford / VO Sprecher 4 ?Ich hatte eine Zeitschrift im Briefkasten, eine Zeitschrift aus England, herausgeben von einem Mann namens Bill Buford, von dem ich noch nie gehört hatte. Die Zeitschrift war sehr grell, überraschend schön.? 3. O-Ton: Helga Schwalm ?Die Mischung aus Reportage, Journalismus und neuem britischen Roman ? das ist das Qualitätsmerkmal Grantas.? 4. O-Ton: Gary Shteyngart / VO Sprecher 4 ?Sie ist ein Fluss [lacht]. Man geht von einem Ort zum anderen. Man nimmt eine Ausgabe in die Hand und ist überall in der Welt.? 5. O-Ton: Ian Jack / VO Sprecher 2 ?A.A. Milne, der Autor von ?Puh der Bär?, sagte einmal, er wolle, dass auf seinem Grabstein die Worte ?Er war ein Granta-Mann? zu lesen seien. Ich glaube nicht, dass das umgesetzt wurde. Aber der Gedanke ist interessant.? Musik (wieder hochziehen, dann wegblenden) Sprecher 1: Ein typisches Haus im Londoner Bezirk Islington. Ian Jack, ein sympathischer Mann mit kurzem ergrautem Bart und extrem sparsamen Bewegungen, sitzt in einem überdimensionalen Sofa und wirkt erschöpft. Der Eindruck lässt sich nicht allein mit Ian Jacks ruhigem Naturell erklären: Seit Herbst 2007 ist er nicht mehr Herausgeber der englischsprachigen Literaturzeitschrift Granta. 6. O-Ton: Ian Jack / VO Sprecher 2 ?Wie fühle ich mich nach 12 Jahren bei Granta? Na ja, das Leben geht weiter. Aber ich verspüre eine leichte Traurigkeit hinsichtlich der Tatsache, dass ich Granta verlassen habe, weil ich dort so lange war. Granta war ein Teil meines Lebens.? Sprecher 1 Wer Ian Jack zuhört und in seine Augen blickt, bemerkt, dass die Traurigkeit größer ist, als er zugibt, und dass Granta für ihn vielmehr ist als irgendeine Literaturzeitschrift. In Granta haben die namhaftesten Schriftsteller der Welt veröffentlicht: Salman Rushdie, Doris Lessing, Ian McEwan, Mario Vargas Llosa, Javier Marías, Milan Kundera und Hans Magnus Enzensberger, um nur einige zu nennen. Granta entdeckte Autoren wie Richard Ford, Zadie Smith, Monica Ali und Gary Stheyngart. Granta setzte verlegerische Maßstäbe und etablierte neue Literaturgattungen: Plötzlich standen Reisebericht, Autobiografie und persönliche Reportage gleichberechtigt neben der Kurzgeschichte und dem Romanauszug. Seit 1979 erscheint sie vierteljährlich als broschiertes Buch, lockt heute mit bunten Covern, begnügt sich im Buch selbst mit schlichtem Design, vertraut auf die Kraft der Texte und versucht, den Leser mit monothematischen Ausgaben wie ?Seelenklempner?, ?Schlechte Gesellschaft? oder ?London? zu verführen. Erzählungen, Reiseberichte, autobiographische Texte, Reportagen mit persönlichem und belletristischem Touch, Fotodokumentationen ? das ist der Stoff, aus dem Granta gemacht ist und der dafür verantwortlich ist, dass es zum auflagenstärksten Literaturmagazin der Welt wurde. In den besten Zeiten mit bis zu 80.000 Exemplaren. Da fällt es schwer loszulassen, gibt Herausgeber Ian Jack zu. Wäre die 100. Ausgabe nicht auch ein schöner Abschluss für seine Granta-Zeit gewesen? Warum hat er die Herausgabe des Jubiläumsbandes dem Schriftsteller William Boyd überlassen? 7. O-Ton: Ian Jack / VO Sprecher 2 ?Ich habe sie nicht William Boyd überlassen. Ich hätte am liebsten bis zur 100. Ausgabe weitergemacht. Aber die Verlegerin bzw. deren Ehemann hat sich für einen Gastherausgeber entschieden. Und William Boyd ist es nun geworden. Ehrlich gesagt, war ich gegen die Idee, einen Gastherausgeber zu beauftragen. Man kann zwar mit einem Gastherausgeber sehr gut Aufmerksamkeit erzielen. Aber man muss auch die Fähigkeit besitzen, gegebenenfalls Texte zu verbessern. Außerdem hatte Granta in seiner Geschichte noch nie einen Gastherausgeber. Bis jetzt.? Sprecher 1: In der Tat waren von der ersten bis zur 100. Ausgabe, innerhalb von 27 Jahren, nur zwei Herausgeber für Granta verantwortlich. Von Nummer 1 bis 50 der US-Amerikaner Bill Buford. Und danach der Journalist Ian Jack, der unter Bill Buford selbst Reportagen für die Zeitschrift verfasst hatte. Andererseits gab es sehr wohl Gastherausgeber in der frühen Geschichte von Granta, oder wie sie damals hieß: ?The Granta?. 8. Atmo Studenten Sprecher 1: 1889 in Cambridge. Studenten der Universität gründen eine Zeitschrift und wählen als Titel die alte Bezeichnung für den Fluss Cam: the Granta. Bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts war ?The Granta? das wohl erfolgreichste und niveauvollste Studentenmagazin der Welt. Der britische Schriftsteller Michael Frayn lernte Granta in den 50er Jahren kennen. 9. O-Ton: Michael Frayn / VO Sprecher 3 ?Granta war damals sehr intelligent. Es wurde von Leuten der Oberschicht gemacht. Und Granta strotzte nur so vor Humor. Allerdings war der nur privater Art. Er verwies auf diese kleine Insider-Welt von Menschen, die sich einander in Cambridge kannten. Und da ich mich für ziemlich frech hielt, wollte auch ich für Granta schreiben.? Sprecher 1: Und das tat Michael Frayn. Sein erster Text in ?The Granta? erschien 1954: 9. O-Ton: Michael Frayn / VO Sprecher 3 ?Die Tage des Phoenix Ich habe dem Vorfall, der sich am Dienstag ereignete, kaum Beachtung geschenkt. Dienstag ist nicht der Tag, von dem man Weltbewegendes erwartet. Jetzt kann ich mich nur noch an folgendes erinnern: Als ich am Morgen die Green street hinunterlief, bewarf mich jemand mit dem Kerngehäuse eines Apfels. Es landete auf der Straße, wenige Meter von mir entfernt. Ich sah hoch. Aber niemand war zu sehen.? Sprecher 1: Solche Texte zu schreiben und in ?The Granta? zu veröffentlichen, sei eine sehr gute Übung gewesen, erzählt Michael Frayn. Wer weiß, ob er heute einer der renommiertesten Schriftsteller Großbritanniens wäre, wenn er das Forum von ?Granta? nicht gehabt hätte. Die Bedingungen in Cambridge waren damals ideal für angehende Schriftsteller: Viele Studenten, die an der Zeitschrift in den 50er Jahren mitwirkten, waren zugleich Mitglied im so genannten Footlights Club, im Rampenlicht-Club. 10. O-Ton: Michael Frayn / VO Sprecher 3 ?Der Club war sehr professionell. Jedes Jahr führten wir ein Theaterstück zwei Wochen in Cambridge auf und danach zwei Wochen in Londons Westend. Alle Mitglieder des Footlight Clubs wollten professionelle Schauspieler, Regisseure oder Schriftsteller werden. Es war also für uns wichtig, in London von Agenten oder Produzenten gesehen zu werden. Aber das Theaterstück, das ich schrieb, war nicht sehr erfolgreich. Es war die erste Aufführung, die nicht nach London kam. [LACHT] Das war ein Schandfleck in meiner Karriere. Ich hasste das Theater. Ich schrieb nichts mehr für das Theater, bis ich Ende 30 war.? Sprecher 1: Stattdessen schrieb Michael Frayn zahlreiche Kurzgeschichten für ?The Granta?. Mehr noch: 11. O-Ton: Michael Frayn / VO Sprecher 3 ?Granta hatte Gastherausgeber, die jeweils eine Ausgabe betreuten. Und auch ich habe eine herausgegeben. Rückblickend betrachtet, war das eine hervorragende Ausgabe. Darin hatte ich einige Gedichte von Silvia Plath, außerdem eine Geschichte von Ted Hughes. Ich glaube, diese Ausgabe ist heute ein begehrtes Sammlerstück. Ich habe nur noch ein Exemplar dieser Ausgabe. Ich hätte sie mal horten und dann langsam verkaufen sollen, [LACHT] um die Regeln des Marktes auszunutzen.? Sprecher 1: A. A. Milnes, Silvia Plath, Ted Hughes und Michael Frayn ? sie alle schrieben für die Studentenzeitschrift ?The Granta?. Aber in den 60er Jahren ließ das Interesse an der Zeitschrift nach. Ian Jack: 12. O-Ton: Ian Jack / VO Sprecher 2 ?Die Zeitschrift kam nur noch selten heraus. Ursprünglich erschien The Granta wöchentlich, dann monatlich und schließlich vierteljährlich. Und in den 70er Jahren wurde sie vollkommen eingestellt. Dann hat Bill Buford gemeinsam mit zwei anderen Uniabsolventen den Titel der Zeitschrift vom King?s College gekauft ? den Gerüchten zufolge für einen Pound. 1979 legten sie die Zeitschrift erneut auf: diesmal als ?Granta. The Magazine of new writing?, als Zeitschrift für neue Literatur, aus allen möglichen Ländern, anfangs vor allem der amerikanischen Literatur.? Sprecher 1: Der Schriftsteller William Boyd, nun Gastherausgeber von Granta Nr. 100, lebte 1979 mit seiner Frau Susan in Oxford. Sie arbeitete damals in der Marketingabteilung von Oxford University Press. William Boyd erinnert sich: 13. O-Ton: William Boyd / VO Sprecher 3 ?Eines Tages kam sie von der Arbeit nach Hause und sagte: ?Ein Amerikaner namens Bill Buford kam heute ins Büro und bot an, eine Werbung für seine neue Literaturzeitschrift zu schalten.? Und ich fragte: ?Was ist das für eine Zeitschrift?? Und sie: ?Sie heißt Granta. Er legt das alte Universitätsmagazin neu auf. ? Und ich dachte: ?Welch ein Depp! Welch ein Missgriff! Das muss schiefgehen? und lachte. Aber meine Frau meinte: ?Mir kommt das sehr plausibel vor. Ich habe eine Seite Werbung für Ausgabe Nr. 1 gebucht.? Die Verbindung zwischen der Boyd-Familie und Granta geht also auf die Zeit der allerersten Ausgabe zurück!? Sprecher 1: Helga Schwalm ist Professorin für Neueste Englische Literatur an der Berliner Humboldt-Universität. Sie hat den Wandel der Zeitschrift im Laufe der Jahre untersucht. Die ersten Ausgaben ab 1979 stehen, so Helga Schwalm, noch im Kontext eines literarisch-ästhetischen Manifestes: 14. O-Ton: Helga Schwalm ?Der damalige Herausgeber hat eine ganz scharfe Kritik am britischen Roman formuliert und auch am britischen literarischen Markt, z.B. kritisiert, dass Autoren wie William Gass keinen Markt in Großbritannien fanden. Also im Grunde der ganze experimentale Roman hat kein Ort in Großbritannien damals gehabt. Granta hat dann einen Anspruch auf Experimentalität in der zeitgenössischen Literatur formuliert und für sich auch in Anspruch genommen, einen Raum jenseits der literarischen und ökonomischen Zwänge für neue Literatur zu bieten.? Sprecher 1: Doch bei diesem literarischen Manifest bleibt es nicht. Das Magazin unter Bill Buford wurde politischer: 15. O-Ton: Helga Schwalm ?Da versteht sich Granta schon in Band 6 laut Vorwort des Herausgebers als eine Zeitschrift, die sich um Literatur bemühe, die ein ?Gegner von Unterdrückung und nicht ihr Komplize? sei. Das erscheint mir wirklich als ein zentrales politisches Manifest, natürlich spiegelnd die damalige Politisierung der Intellektuellen und Literaten unter Thatcher oder in Opposition zu Margret Thatcher.? Sprecher 1: Margret Thatcher wurde 1979, im Jahr der Neuauflage der Zeitschrift, Premierministerin. Unter ihr entdeckte der Buchhandel die Möglichkeiten des Marketings. Bücher wurden zur Ware, die Buchhandlungen präsentierten sie auf repräsentativen Regalen, boten Kunden Kaffee an und lockten mit Lesungen der Schriftsteller. Der Büchermarkt erfuhr einen radikalen Wandel: 16. O-Ton: Ian Jack / VO Sprecher 2 ?Zwei Dinge änderten sich: Erstens, dass man Bücher bunter und aggressiver vermarktete. Und zweitens wurden Autoren zu kleinen Berühmtheiten. Das war in diesem Land vorher nicht so. Salman Rushdie war sicher einer der ersten Autoren, die man kannte. Man musste nicht die Bücher von Salman Rushdie und Martin Amis lesen, um zu wissen, wer sie waren. Das war neu.? Sprecher 1: Noch kurz zuvor war die Krise des britischen Romans in aller Munde. Und Granta thematisierte sie in den ersten Ausgaben. Herausgeber Bill Buford erkannte die Zeichen der Zeit: Er sah in der Personalisierung und Vermarktung neue Chancen für seine Zeitschrift. 1983 wurde er auf eine Liste aufmerksam, die der britische Buchhandel herausgegeben hatte: Dort waren die vermeintlich 20 besten britischen Romanautoren unter 40 abgedruckt. Bill Buford sicherte sich die Rechte an dem Konzept der Liste, bestellte bei allen 20 Autoren einen Beitrag für Granta Nr. 7 und nannte die Ausgabe: ?Best of Young British Novelists?. Sie bedeutete für Granta den Durchbruch und für die beteiligten Schriftsteller einen beachtlichen Karriereschub. Einer von ihnen: William Boyd. Er sitzt in seinem cremefarbenen Wohnzimmer im Londoner Stadtteil Chelsea und geht die Namen des Inhaltsverzeichnisses durch: 17. O-Ton: William Boyd / VO Sprecher 3 ?Dies ist die Granta-Liste von 1983 in der Ausgabe Nr. 7. Sie umfasst Martin Amis, der immer noch sehr erfolgreich ist, Julian Barnes, dann komme ich, ich bin ja auch noch da, Kazuro Ishiguro, Ian McEwan, natürlich sehr erfolgreich, Salman Rushdie kennen wir natürlich alle. Für 20 Menschen ist das eine sehr gute Ausbeute, nur fünf haben mit dem Schreiben aufgehört oder sind aus dem Blick der Öffentlichkeit verschwunden. 15 sind immer noch sehr aktiv. Das war doch eine sehr erstaunliche Liste von Menschen.? Sprecher 1: Diese Liste war ein Meilenstein in der Geschichte Grantas und eine Belebung für krisengebeutelte Literatur Großbritanniens. Der US-amerikanische Autor Paul Auster, der schon in der Granta-Ausgabe Nr. 1 mit einer Erzählung vertreten war, reagiert hingegen allergisch auf die Granta-Liste: 18. O-Ton: Paul Auster / VO Sprecher 2 ?Ganz ehrlich: Diese Art von Listen interessiert mich überhaupt nicht. Ich denke nicht, dass Kunst eine Olympiade ist. Ich erinnere mich daran, dass man Anfang 2000, wohin man auch blickte, eine Best-of-Liste sah: Die 100 besten Bücher, die 100 besten Filme, die 100 besten Hamburger. Alles war eine Liste. Immer wenn mich jemand fragt, ob ich nicht etwas zu einer solchen Liste, der liebsten dies und jenes, beitragen wolle, sagte ich nein.? Sprecher 1: Wie auch immer man persönlich zu einer Best-of-Liste steht, die Granta-Liste hatte und hat eine enorme Wirkung. Alle 10 Jahre wird sie von Granta veröffentlicht, seit 1996 auch für die vermeintlich besten US-amerikanischen Nachwuchsautoren. Das ergibt aus Sicht des Verlages Sinn. Denn zwei Drittel einer Auflage verkauft Granta in den USA. Den Rest in Großbritannien und im Rest der Welt. 19, O-Ton: Helga Schwalm ?Besonders beeindruckend fand ich eigentlich, was die Liste von 2003 angeht, dass Monica Ali darauf enthalten war. Es heißt, zu diesem Zeitpunkt, als die Autoren ausgewählt wurden, lag der Roman noch gar nicht vor, der Roman ?Brick Lane?, der dann zum Bestseller wurde. Monica Ali wurde auf der Grundlage eines Verlagsmanuskriptes ausgewählt als eine der 20 neuen bedeudendsten Autoren. Da muss man sagen, da lag Granta wirklich richtig.? Sprecher 1: ? mit dem Ausschnitt aus Monica Alis Roman ?Brick Lane?. Nazneen wird mit 19 Jahren verheiratet und aus Banladesh zu dem ihr fremden Ehemann Chanu in die Brick Lane geschickt, in das Klein-Indien Londons. Chanu ist beruflich so erfolglos, dass er gemeinsam mit Nazneen zu Dr. Azad, einem befreundeten Arzt, geht, um ihn um finanzielle Unterstützung zu bitten: 20. Lesung: aus Monica Ali / ohne O-Ton Sprecherin ?Dr. Azad rieb sich die Hände. ?Ich freue mich, Sie hier willkommen zu heißen. Leider, äh, haben wir schon gegessen, sonst?? ?Sie bleiben zum Abendessen?, unterbrach ihn seine Frau. Sie blickte Nazneen mit ihren kampferprobten Augen herausfordernd an. ?Wir haben noch nicht gegessen.? Dr. Azad wippte auf den Füßen vor und zurück. ?Wir haben noch nicht richtig gegessen. Nur ein paar Snacks und so weiter.? [?] Chanu blickte verwirrt drein. [?] ?Ich habe noch ein paar Dinge in petto. Ein, zwei Geschäftsideen, über die ich nachdenke. Möbel, Antiquitäten, Import-Export. Sie sind noch nicht ausgereift. Das Problem ist das Kapital. Was kann man tun, wenn man kein Geld hat?? Der Doktor lächelte auf seine eigentümliche Art, die Augenbrauen nach oben gezogen, die Mundwinkel nach unten. ?Geld verdienen?? Sprecher 1: Als dieser Romanausschnitt in Granta erschien und der Verlag gleichzeitig Monica Ali zu den besten 20 Nachwuchsautoren Großbritanniens zählte, regte sich auch Widerstand. Und das ausgerechnet von einem Schriftsteller, der auf derselben Granta-Liste wie Monica Ali stand: Dan Rhodes. Einen Autor bzw. eine Autorin allein auf der Grundlage eines Romanausschnittes für die Granta-Liste auszuwählen, sei unseriös. Oder in Rhodes Worten: 20.b. Zitat Rhodes Sprecher 3 ?Eine Sache ist es, einen Schriftsteller danach zu beurteilen, was er geschrieben hat, aber ihn danach zu beurteilen, was er schreiben wird, ist schlicht Unfug.? Sprecher 1: Dan Rhodes war nicht nur über Granta verärgert, sondern auch über einige Autoren der Granta-Liste 2003. Der Grund: Rhodes hatte seine Kollegen angeschrieben, um gemeinsam gegen den Irak-Krieg zu protestieren, um also die Wirkung der Granta-List politisch zu nutzen. Einige der Schriftsteller reagierten jedoch nicht auf Rhodes Schreiben. Zu dessen Unmut. Frustriert erklärte er, er habe kein Vertrauen mehr in den Literaturbetrieb und wolle nicht mehr schreiben. Vermutlich war es dem Herausgeber Ian Jack auch lieber, dass die Granta-Liste nicht politisch genutzt wird. Denn er hatte sich vom politischen Manifest seines Vorgängers mit einem eigenen Vorwort losgesagt. Die Literaturwissenschaftlerin Helga Schwalm: 21. O-Ton: Helga Schwalm ?Das heißt, das, was einst politisches Manifest war, ist nun wieder im Grunde literarisches Manifest geworden: das Vertrauen oder den ?Glauben an die Kraft des Geschichtenschreibens?. Das birgt durchaus die Möglichkeit, politisch zu sein. Aber die Formulierung ist eine andere. Die ist schon eher ästhetisch-literarischer Art und nicht so sehr scharf politischer Natur wie in den frühen 80er Jahren.? Sprecher 1: Wobei Ian Jack mit dem ?Glauben an die Kraft und Notwendigkeit des Geschichtenschreibens? nicht etwa nur belletristische Texte meint. Auch nicht-fiktionale Texte hat er im Visier: Reise- und Dokumentarberichte, Reportagen, Memoiren und Biographien. Meist in einem literarischen Ton verfasst. Und die literarischen Texte wiederum wirken oft wie aus dem Leben gegriffen: 22, O-Ton: Helga Schwalm ?Man kann sagen, dass auch die literarischen Texte der späteren Jahrgänge stärker daraufhin perspektiviert sind, dass sie die Möglichkeit vorführen, im Sinne Ian Jacks Welt oder gesellschaftliche Wirklichkeit mittels Erzählen zu fassen. Im Grunde ist das wie so eine Renaissance realistischer Schreibweisen, die sich da finden. Und ich fand interessant bei der Durchsicht der Bände, dass man oft gar nicht mehr weiß, in welchem Bereich man sich dann bewegt: Ist das Fiction oder Non-Fiction?? 23. Lesung: O-Ton Ingo Schulze ?In Estland, auf dem Lande Ich bin in jener Woche, die ich gemeinsam mit Tanja im September 2000 in Tallinn und Tarto verbrachte, mehrmals aufgefordert worden, etwas über Estland zu schreiben. Jedesmal erklärte ich, dass mich dieser Wunsch ehre, das mit dem Geschichtenschreiben jedoch nicht so sei, dass man sich ein Land und ein Thema wähle und einfach loslege. Ich wisse nichts über Estland, und die Erfahrungen des Systemwechsels seien kaum vergleichbar. Aber das war in den Wind gesprochen. Schließlich hätte ich 33 Geschichten über St. Petersburg geschrieben, da würde mir doch wohl eine über Estland einfallen! Für eine Geschichte, die im Ausland spiele, sagte ich, müsse man eine gewisse Affinität, eine innere Verwandtschaft zu den Entwicklungen spüren. Doch je nachdrücklicher ich argumentierte, umso mehr irritierte ich meine Gastgeber. Sie waren zu höflich, um mir ins Gesicht zu sagen, dass sie diese Argumente für Ausflüchte hielten.? Sprecher 1: Ingo Schulze liest aus seinem preisgekrönten Erzählungsband ?Handy?. Aus eben jener Geschichte über Estland, die in der 100. Ausgabe von Granta erschienen ist. Aber welcher Textgattung ist diese Geschichte zuzuschreiben? Spricht hier Ingo Schulze selbst? Schließlich hat er tatsächlich ein Buch mit 33 Geschichten über St. Petersburg veröffentlicht. Andererseits mutet die Geschichte über Estland sehr literarisch an. Ingo Schulze liebt es, sich hinter einem Ich-Erzähler zu verstecken und offen zu lassen, was erfunden und was erlebt ist. Auch Granta fördert dieses Spiel mit Fiktion und Realität. Jedem Beitrag der Zeitschrift ist ein illustrierendes Foto vorangestellt. Einem literarischen Text von Kadaré über ?Die große Mauer? ein Foto der chinesischen Mauer, einem Text Paul Austers , in dem ?Der kleine Prinz? erwähnt wird, ein Foto von Antoine de Saint-Exupéry. Das verleihe dem Text, sei er noch so fiktional, eine realistische Note, so der ehemalige Granta-Herausgeber Ian Jack. 24. O-Ton: Ian Jack / VO Sprecher 2 ?Ich glaube, einige Schriftsteller mögen das nicht. Ich erinnere mich daran, dass John Banville den Roman ?Der Unberührbare? geschrieben hatte und wir daraus einen Auszug veröffentlichten. Die Geschichte las sich so wie eine Biographie über den Spion Anthony Blunt. Aber die Hauptfigur hatte auch Züge anderer realer Personen. Wahrscheinlich bin ich zu weit gegangen, als ich dem Text Banvilles ein Foto Anthony Blunts voranstellte. Ich habe dadurch die Fiktion zu real gemacht.? Sprecher 1: William Boyd stört so etwas vermutlich nicht. Eine seiner Spezialitäten: reale Orte und Länder zu thematisieren, die er noch nie gesehen hat. Boyd hat seinen Roman ?Eines Menschen Herz? teilweise in Reykjavík angesiedelt, ohne dort jemals gewesen zu sein. Auch in Brasilien war er noch nicht, als er für die 50. Ausgabe der Zeitschrift Granta den Text ?Never saw Brazil?, ?Brasilien ist überall? schrieb: 25. Lesung: O-Ton William Boyd / VO Sprecher 3 ?Brasilien ist überall An einem sonnigen Maimorgen, wie man ihn sich besser nicht wünschen konnte, fuhr Senator Dom Liceu Maximiliano Lobo überflüssigerweise mit dem Kamm durch seinen schmucken Spitzbart und befahl dem Chauffeur zu halten. An Tagen wie diesem ging er gern die letzten fünfhundert Meter zu Fuß zu seinem Büro, das er aus sentimentalen Gründen und wegen der frischen Seeluft in der Cidada Alta von Salvador unterhielt.? Sprecher 1: Der eine Teil der Geschichte Boyds spielt in der brasilianischen Stadt Salvador, der andere in London. Dort verliebt sich der von Brasilien begeisterte Taxifahrer Wesley Bright in Margarita und lernt extra für sie portugiesisch: 26. Lesung (Fortsetzung von 25., nicht im O-Ton vorhanden) Sprecher 3 Er holte tief Luft. ?Margarita?, sagte er schmelzend. ?Tenho muito atração para tu.? Er hoffte inständig, dass die Zischlaute und Nasalierungen richtig herauskamen. Die Aussprache des Portugiesischen fand er absurd schwierig, ungeachtet der vielen Stunden, die er mit seinen Tonbändern verbracht hatte. [?] ?Sempre para tu, Margarita, sempre.? Diesmal heiser, innig. ?Wesley, was sagst du? Sempre, das verstehe. Aber das andere ?? ?Ich ? ich spreche portugiesisch.? ?Für was?? ?Weil ? weil ich in deiner Sprache mit dir sprechen will. Ich liebe deine Sprache, verstehst du. Ich liebe sie. Ich höre sie im Kopf, in euren Liedern.? ?Na ja ?? Sie zuckte die Schultern und griff nach ihren Zigaretten. ?Dann sollst nicht portugiesisch auf mich sprechen, Wesley. Ich bin italienisch.? 27. O-Ton: William Boyd / VO Sprecher 3 ?Für mich ganz persönlich ist das Tolle an Granta gewesen, dass man über alles schreiben konnte und in jeder Länge. Wenn ich von Granta gebeten wurde, eine Kurzgeschichte zu schreiben, wusste ich, dass ich vollkommen frei war. Und das ist nicht normal für Zeitschriften. Ich konnte eine Geschichte mit 10.000 Wörtern schreiben oder eine mit 200. Ich hätte pornographisch schreiben können oder etwas sehr Flaches und Langweiliges. Für mich war es immer eine Herausforderung, von Granta beauftragt zu werden, weil ich diese absolute Freiheit hatte.? Sprecher 1: Diese Freiheit hat nun William Boyd als Herausgeber von Granta Nr. 100 an Autoren weitergegeben: unter anderem die Nobelpreisträger Doris Lessing und Harold Pinter, außerdem Mario Vargas Llosa, Julian Barnes, Ian McEwan, Salman Rushdie, Martin Amis und Ingo Schulze. Andererseits hat sich Boyd selbst die Freiheit genommen, in der Jubiläumsausgabe eine Textgattung zu veröffentlichen, die bisher nur in begründeten Ausnahmefällen in Granta erlaubt war: das Gedicht. Als 1989 der damalige geistige Führer des Irans, Ayatollah Chomeini, zur Tötung Salman Rushdies aufgerufen hatte, weil dieser mit seinem Buch ?Die Satanischen Verse? angeblich die Gefühle der Muslime verletzt habe, antwortete Salman Rushdie in Granta mit der denkbar radikalsten aller literarischer Gattungen: mit einem Gedicht. 27.b. Zitat (Gedichtende Salman Rushdie) Sprecher 2 ?Meine Entscheidung, ob ich namen- und gesichtlos bin oder nicht, die bleibt: den Mund nicht zu halten. Und Angriffen zum Trotz weiter zu singen, (während meine Träume von Tatsachen getötet werden): Lobeshymnen auf Schmetterlinge, zerbrochen auf Folterbänken.? Sprecher 1: Aber ansonsten wurden in der Geschichte Grantas Gedichte und, abgesehen von den ersten Ausgaben der Zeitschrift, literaturwissenschaftliche Texte und Rezensionen konsequent verbannt. Getreu dem Motto: Jeder Granta-Text muss eine Geschichte haben und leicht verständlich sein. 28, Atmo (Stereo) Schritte im Bürogebäude Sprecher 1: September 2007. Ein karger Bürokoloss im Westen Londons. Cremefarbene Gänge mit blaumelierten Teppichfliesen. Grantas neuer Herausgeber Jason Cowley, ein schlanker, überdynamischer Mann im Anzug, führt seinen Gast zum Fahrstuhl. Zu groß sei die Gefahr, sich hier zu verlaufen und das Granta-Büro zu verfehlen. 29. Atmo (stereo) im Fahrstuhl in O-Ton Cowley übergehend / VO Sprecher 4 ?Wir sind hier nicht lange. Wir ziehen nach Holladn Park, in einen sehr schönen Teil Londons und ein sehr schönes Gebäude.? Sprecher 1: Dieses Büro sei nur eine Übergangslösung, erzählt Jason Cowley. Bald würden sie in ein schönes Gebäude im Stadtteil Holland Park ziehen 30. Atmo Schritte/Büro Sprecher 1: In einem Großraumbüro, das den Namen nicht verdient, so klein und verwinkelt, wie es ist, sitzen 10 Mitarbeiter des Granta-Verlags auf schwarzen Bürostühlen. Jason Cowley verschwindet in einem Verschlag. Der schreibende Allroundjournalist, der einst selbst einen Roman schrieb, Literaten und Sänger interviewte und zuletzt für eine Sportzeitung arbeitete, ist sichtlich im Stress. Ebenso seine Mitarbeiterinnen Helen Gordon und Liz Jobey, die gebannt auf überdimensionale Bildschirme blicken und etwas zusammenrechnen: die Seitenzahlen der Beiträge für die Jubiläumsausgabe Granta 100. Noch einen Monat bis zum Druck der Ausgabe: 31, O-Ton: Helen Gordon und Liz Jobey (ohne VO) Jobey: ?How long is Doris Lessing?? Gordon: ?14? Jobey: ?McEwan? 20.? Gordon: ?All right.? Jobey: ?Ingo Schulze? Let me see? Schulze: 6 ½? Sprecher 1: Die Beitragslängen von Doris Lessing, Ian McEwan und Ingo Schulze für die 100. Ausgabe sind zusammengerechnet. Wenige Meter von Helen Gordon und Liz Jobey entfernt, sitzt Amber Dowell, einen Fuß zwischen Gesäß und Sitzfläche eingeklemmt, und liest am Bildschirm ein Buchmanuskript. Denn Granta ist auch ein Buchverlag: 32, O-Ton: Amber Dowley / VO Sprecherin ?Dieses Manuskript haben wir von einem Agenten geschickt bekommen. Und ich prüfe, ob wir es veröffentlichen wollen oder nicht. Aber ich denke, eher nicht. So traurig das auch ist.? Sprecher 1: Anders verlief es beim russisch-amerikanischen Autor Gary Shteyngart. Granta veröffentlicht die englische Ausgabe seines Romans ?Snack Daddys Abenteurliche Reise?. Außerdem einen weiterer Roman im Frühjahr 2007. Der Verlag war auf Gary Shteyngart über eine Erzählung aufmerksam geworden. Shteyngarts Agent hatte sie der Zeitschrift Granta angeboten. Gary Shteyngart, geboren 1972, ein kleiner Mann mit derart dichtem schwarzen Voll- und Schnurrbart, dass man kaum noch etwas von seinem Gesicht sieht, erinnert sich: 33, O-Ton: Gary Shteyngart / VO Sprecher 4 ?Für mich war es ein ziemlicher Schock, als ich erfuhr, dass Granta meinen sperrigen Text angenommen hatte!? 34, Lesung: O-Ton Gary Shteyngart (unübersetzt lassen, unter nächsten Autor wegblenden) ?I met Pamela Tannehill at a converence in Midton Manhattan. We were working for different non-profit agencies in New York?? Sprecher 1: Gary Shteyngart hält die Zeitschrift Nr. 78 in Händen und liest aus seinem Text ?Einige Anekdoten über meine Frau?. Es war Stheyngarts erste Veröffentlichung überhaupt. Hier findet sich schon in kondensierter Form das Thema wieder, das Shteyngart in den späteren Romanen umtreibt: die Demütigung eines Immigranten. Im Roman ?Snack Daddys abenteuerliche Reise? ist das der 150-Kilo-Mann Mischa, ein russischer Jude, der nach der Ermordung seines Vaters in der Welt umherirrt und in New York landet. Dort entdeckt er in seiner Stammbar eine neue Bedienung: 35. Lesung (ohne O-Ton) Sprecher 4 ?Hallo?, begrüßte ich die junge Frau. ?Selber hallo, Jumbo?, sagte sie. ?Wie findest du die hier?? Mit den Daumen schob sie ihre Brüste nach oben, worauf diese sich irgendwie von selbst weiter hoben, wie schüchterne Tiere, die hinter einer Hecke hervorlugten. ?Schon Schweißausbrüche, Mister?? ?Und wie!?, sagte ich. ?Aber meine sind auch nicht schlecht, Fräulein.? Ich nahm meine Schätzchen in die Hand und rubbelte mir die Nippel hart. Die anderen Barmädchen lachten wie immer. ?Hinter die Theke mit Mischa!?, rief eine. ?Auweia, Mister, sind Si aber lustig!?, sagte die Neue. Und dann langte sie hinter mich und zog mich an den Haaren nach unten. ?Aber wenn ich Dienst habe, Jungchen, dann glotzt du auf meine Titten. Konkurrenz kann ich nicht haben.? ?Aua?, sagte ich. Sie tat mir weh. ?War doch nur Spaß.? Sprecher 1: Frech und skurril zu schreiben, für Gary Shteyngart ist das ein Bedürfnis. Und in der Zeitschrift Granta hat er einen idealen Ort für seine Texte gefunden, einen Ort, in dem Literatur nicht brav sein muss: 36, O-Ton: Gary Shteyngart / VO Sprecher 4 ?Heute führen doch viele Schriftsteller ein sicheres Leben. Vorbei sind die Zeiten, in denen man sich wie Hemingway durch Spanien gesoffen hat. Heute ist z.B. in Amerika die einzige Sorge der Schriftsteller ihre Krankenversicherung. Es gibt doch kaum noch Prügeleien unter Literaten, so wie Norman Mailer seiner Frau einst ein Messer in den Bauch stach. Ich behaupte jetzt nicht, Granta würde es unterstützen, wenn Schriftsteller einander umbringen. Aber ich habe das Gefühl, dass Granta Texte akzeptiert, die ich keiner anderen Zeitschrift schicken würde. Es geht also im Grunde darum, Risiken einzugehen.? Sprecher 1: Diese Risiken, so Gary Shteyngart weiter, würden gerade US-amerikanische Literaturzeitschriften nicht eingehen. Und das habe mit ihren Abonnenten zu tun: 37. O-Ton: Gary Shteyngart / VO Sprecher 4 ?Viele US-amerikanische Literaturzeitschriften leben in einer seltsamen Welt. Denn ihre Käufer sind Schriftsteller. Das liegt an der Schreibindustrie, die es in den USA gibt und zu der auch ich als Dozent gehöre. Tausende von Amerikanern lernen, wie man Schriftsteller wird. Viele der Literaturzeitschriften werden von Schriftstellern für Schriftsteller gemacht. Die Zeitschriften sind also für sie fast schon Textbücher. Granta hat damit nichts zu tun. Denn Granta wird nicht nur von Schriftstellern gelesen, sondern auch von Menschen, die dort das suchen, was sie in anderen Zeitschriften nicht finden können.? Sprecher 1: Beispiel: ein Beitrag in der Granta-Ausgabe mit dem Titel ?Factory?. Die Berliner Literaturwissenschaftlerin Helga Schwalm: 38, O-Ton: Helga Schwalm ?Da wird in Form eines Comics die Erfahrung einer tschetschenischen Frau beschrieben, eine Frau, die unter menschenunwürdigen Bedingungen in einem Arbeiterverschlag lebt und dann nur von einer Kriegserfahrung erzählt. Was einen daran so überrascht, ist die Inkompatibilität vom Genre Comic und dieser Erfahrung, die unaussprechliches Leiden eigentlich beinhaltet. Dieser Comic reduziert diese Geschichte im Grunde auf gefrorene Gesichter, die Leid zeigen. Und die Wirkung ist unglaublich intensiv. Der Leser kann gar nicht umhin, als über die Möglichkeit nachzudenken, wie solche Geschichten des Leids eigentlich erzählt werden können. Das ist schon sehr beeindruckend, auch im Kontext des gesamten Bandes.? 39, O-Ton: Gary Shteyngart / VO Sprecher 4 ?Ich erinnere mich an die Ausgabe über ?Shrinks?, ?Seelenklempner?. Ich interessierte mich damals für die Psychoanalyse. Als ich die Granta-Ausgabe zur Seite gelesen hatte, wusste ich überhaupt nicht mehr, was ich glauben sollte. Das finde ich spannend: Granta verleiht uns dieses wundervolle Gespür für Verwirrung. Heutzutage ist das eine Seltenheit.? Sprecher 1: In eben dieser Ausgabe über ?Seelenklempner? hat auch der New Yorker Schriftsteller Paul Auster einen Text veröffentlicht. ?It don?t mean a thing? heißt er. Darin geht Paul Auster angeblich autobiographisch dem Phänomen des Zufalls nach. Nach eigener Aussage widerfahren ihm derart oft unglaubliche zufällige Begebenheiten, dass ein Psychiater an der Zurechnungsfähigkeit Paul Austers zweifeln könnte: 40. Lesung O-Ton Paul Auster / VO Sprecher 2 ??It don?t mean a thing? Wir haben ihn gelegentlich im Caryle Hotel getroffen. Ihn einen Freund zu nennen, wäre übertrieben, aber ein guter Bekannter war F. schon, und meine Frau und ich freuten uns jedesmal, wenn er anrief und sagte, er komme demnächst in die Stadt. F. war nicht nur ein mutiger und sehr produktiver französischer Dichter, sondern auch einer der weltweit führenden Fachleute zum Thema Henri Matisse. Und dank seines guten Rufs erhielt er von einem bedeutenden Museum in Frankreich den Auftrag, eine große Ausstellung von Matisse? Werken zu organisieren. [?] Es ging darum, sämtliche Gemälde von Matisse aus einer bestimmten Periode von fünf Jahren in der Mitte seiner Karriere zusammenzutragen. Das waren einige Dutzend Bilder, und da sie in Privatsammlungen und Museen überall auf der Welt verstreut waren, brauchte F. mehrere Jahre, um die Ausstellung vorzubereiten. Am Ende fehlte ein einziges Werk, das einfach nicht aufzutreiben war ? ausgerechnet ein ganz besonders wichtiges, das das Zentrum der gesamten Ausstellung bildete. F. hatte keine Ahnung, wo es sein könnte, [?] und als er es dann schließlich aufspürte, mußte er feststellen, daß es die ganze Zeit über nur wenige Meter von ihm entfernt gewesen war. Es war im Besitz einer Frau, die in einem Apartment des Caryle Hotels wohnte. Das Carlyle war F.s Lieblingshotel, in dem er jedesmal abstieg, wenn er nach New York kam. Mehr noch: Das Apartment dieser Frau lag direkt über dem Zimmer, das F. sich immer geben ließ ? nur eine Etage höher. Wenn F. also im Carlyle Hotel zu Bett gegangen war und sich fragte, wo das fehlende Bild wohl sein mochte, hatte es unmittelbar über seinem Kopf an der Wand gehangen. Wie ein Bild aus einem Traum.? Sprecher 1: Als Paul Auster diesen Granta-Text vorliest, der später im ?Roten Notizbuch? veröffentlicht wurde, sitzt er im Sessel seines Wohnzimmers. Neben ihm auf dem Fußboden liegt die Gitarre seiner Tochter. Gerade, vor dem Interview, hat sie noch vor seinen Augen Musik gemacht. Im Granta-Text singt sie ihm auch etwas vor: den Song ?It don?t mean a thing?. Damals, im Frühjahr 2000, habe er ihr Talent erkannt. Jetzt ist sie tatsächlich eine erfolgreiche Sängerin. Erfoglreich ist auch Granta hinsichtlich der Verkaufszahlen der Zeitschrift. Fragt sich nur, warum. 41, O-Ton: Gary Shteyngart / VO Sprecher 4 ?Jedesmal wenn man eine Ausgabe in die Hand nimmt, selbst wenn es eine monothematische ist, hat man eine Wundertüte. Man weiß nicht, was einen erwartet.? Sprecher 1: Granta versucht, den Leser zu überraschen und zugleich durch die Setzung von dringenden gesellschaftlichen Themen einen Diskussionsbeitrag zu liefern. Zum Beispiel: Wie sehen wir die USA? Und wie sehen die USA das Ausland? Aber hat Granta nicht auch wichtige Themen der Zeit verschlafen? 42. O-Ton: Helga Schwalm ?Was ich das sehr spannend finde eigentlich, ist, dass, wenn man die Bände Revue passieren lässt, zwei große Themen, die in der Kulturwissenschaft ganz bedeutend waren und auch im Diskurs der Medien, dass diese zwei nicht auftauchen als spezifische Themen. Das eine ist die Frage der Postkolonialität und das andere der Femininismus, der keine Präsenz in den Bänden der 80er Jahre hat. Das ist ja extrem verwunderlich und ist Granta auch vorgeworfen worden: Der Mangel an Autorinnen, der dann erst mit der 2003er Liste kompensiert wurde. Wenn man dann aber in die einzelnen Bände reinguckt, kann man schon sagen, dass diese Themen immer vorhanden waren, aber gekoppelt an andere spezifische Themenschwerpunkte.? Sprecher 1: Allerdings reichte das einigen Leserinnen nicht aus. 1994 kündigte eine Frau ihr Abonnement, nachdem Ian Hamilton mit seinem Text über den Fußballer Paul Gascoigne den Hauptteil einer Ausgabe eingenommen hatte. Die Leserin schrieb: 43, Zitat: ?Ich halte das für eine befremdend sexistische Veröffentlichung. Wenn Sie das Gleichgewicht wieder herstellen bzw. eine Ausgabe der Menstruation widmen, schicken Sie mir bitte einen Abonnement-Formular zu.? Sprecher 1: Eine Ausgabe über Menstruation sei ?denkbar, aber unwahrscheinlich? heißt es lakonisch in dem Antwortschreiben des Verlags. Dass der Herausgeber Bill Buford selbst von männlichen Kollegen gerne als Macho bezeichnet wird, erklärt vermutlich auch, warum eines seiner Schreiben an eine Schriftstellerin eine heftige Reaktion auslöste. Er bat die britische Feministin Fay Weldon um den ?starken Text einer Frau?. Weldon reagierte umgehend mit folgendem Schreiben: 44. Zitat: ?Was bitte soll ein ?starker Text? sein? Und was ist kein ?starker Text?? Sollten Texte überhaupt ?stark? sein? Das erklären Sie mir mal. Sie sollten lieber nicht von einer ?Perspektive? sprechen, ?die nur der Verstand einer Frau erlaubt ?. Stattdessen sollten sie von der ?Perspektive? sprechen, ?die nur der männliche Verstand erlaubt ?. Wenn Sie das nächste Mal in London sind, sollten sie lieber vorbeikommen.? Sprecher 1: Kritik erfuhr Granta auch in dem Bereich, in dem die Zeitschrift, rückblickend gesehen, Maßstäbe setzte: mit der Reiseliteratur. Granta hatte den engen Literaturbegriff um das Genre der Reiseliteratur erweitert. Die Folge für den Buchmarkt, so Helga Schwalm: ein regelrechter Boom an Reiseliteratur: 45. O-Ton: Helga Schwalm ?Gerade der 10. Band versammelt wirklich die großen Reiseschriftsteller, die in die Welt hinausgegangen sind, um zu erzählen: Bruce Chatwin allen voran oder Jan Morris.? Sprecher 1: Aber worin bestand die Kritik? 46. O-Ton: Helga Schwalm ?Da gab es Rezensionen, in denen es der Zeitschrift Granta vorgeworfen wurde, sie erlaubten ihren Schriftstellern, die in die Welt hinausziehen und von ihren Reisen berichten, so zu schreiben, als gebe es noch das alte imperiale Zentrum, wobei das Recht auf Beschreibung und Beurteilung dann immer im Zentrum angesiedelt ist. Das gehe einher, so diese Rezension, dass ein Rushdie über Indien schreiben dürfe, aber afrikanische Autoren überhaupt nicht präsent seien. Wenn man sich die späteren Bände anguckt, dann sieht man, dass Granta reagiert hat oder zumindest sich geändert hat. Einer der ganz späten Bände ist ja einer über Afrika nur aus Sicht afrikanischer Autoren.? Sprecher 1: Dass sich der Band über Afrika besonders gut verkaufte, hat einen einfachen Grund. Er ist monothematisch. Grantas letzter Herausgeber Ian Jack: 47. O-Ton Ian Jack / VO Sprecher 2 ?Je konkreter, je spezifischer das Thema ist, desto besser verkauft sich die Ausgabe. Grantas Trick bestand darin, eine Literaturzeitschrift zu schaffen, die Menschen anspricht, die sich mehr für Themen als für Textformen interessieren. Wenn ich mich z.B. für Indien interessiere, greife ich wohl zu einem Buch, auf dem ?Indien? steht, nicht weil ich mich für neue indische Literatur interessiere. Und zweitens sind Themenausgaben so erfolgreich, weil die Buchhändler wissen, wo sie sie hinstellen sollen.? Sprecher 1: Auf diese Weise kann man die Granta-Ausgabe über Indien ins Regal zur klassischen Reiseliteratur stellen. So werden viel mehr Exemplare verkauft. 48, Atmo Holztreppe Sprecher 1: Die Buchhandlung John Sandoe im Londoner Stadtteil Chelsea. Besitzer Dan Fenton steigt eine steile Holztreppe hinauf und nähert sich einem Regal aus Massivholz: 49, O-Ton: Dan Fenton / VO Sprecher 3 ?Hier unten stehen die frühen Granta-Ausgaben. Wenn eine neue Ausgabe erscheint, präsentieren wir sie auf dem Tisch mit den Taschenbüchern im Erdgeschoss. Oft wird nach der neuen Granta-Ausgabe gefragt. Und einige alte Ausgaben finden wir so spannend, dass wir einfach mehr davon verkaufen.? Sprecher 1: Und zu diesen Ausgaben gehören besonders jene, die aufwändige und beeindruckende Reportagen enthalten. Dafür recherchieren Journalisten und Schriftsteller oft monatelang. Der finanzielle und zeitliche Aufwand der Betreuung durch Granta ist enorm. Jason Cowley, Grantas neuer Herausgeber ab Ausgabe 101, will zwar einige Änderungen vornehmen. Die Zeitschrift soll ein neues Design und besseres Papier erhalten. Nicht mehr vier, sondern fünf bis sechs Ausgaben sollen pro Jahr erscheinen, weiterhin in Buchform, aber zusätzlich im Internet. Die Homepage des Verlags soll mit der Blogger-Gemeinschaft verlinkt werden. Aber an den für Granta typischen Reportagen möchte Jason Cowley festhalten. Für die Ausgabe 101 hat er einen ganz besonderen Text vorgesehen: 50. O-Ton: Jason Cowley / VO Sprecher 4 ?Eine Untersuchung des radikalen Islams in Großbritannien, des so genannten Dschihad. Der Text stammt von einem brillanten investigativen BBC-Reporter. Wir haben viel in diesen Text investiert. Und er hat undercover recherchiert, einige Jahre in islamischen Gruppierungen. Wir werden den Text wohl ?Warum sie uns hassen? nennen.? 51, O-Ton: William Boyd / VO Sprecher 3 ?Es ist kein Journalismus im eigentlichen Sinne, es ist sehr persönlich. Das machte den feinen Unterschied. Ich denke da an Ian Jacks Text ?Death on the rock? über die IRA-Morde in Gibraltar, ich denke an James Fentons ?Fall of Saigon? oder Nicholas Shakespeares fantastischer Text über Terrorismus in Peru. Die Granta-Reportagen waren durch den persönlichen Standpunkt gefiltert. Durch die Zeitschrift wurde dieses Format besonders erfolgreich.? Sprecher 1: Sieben Texte hat William Boyd, der Autor des Romans ?Ruhelos? und Gastherausgeber der 100. Ausgabe, im Laufe der Jahre für Granta geschrieben. Allerdings nie ein Reportage: 52. O-Ton: William Boyd / VO Sprecher 3 ?Ich weiß noch, wie Bill Buford mich nach Nigeria schicken wollte, um über die Nachwirkungen der Hinrichtung des nigerianischen Schriftstellers Ken Saro-Wiwa zu berichten. Das war 1995. Ken Saro-Wiwa war ein sehr guter Freund von mir. Und Bill meinte: ?Wäre es nicht fantastisch, wenn du nach Nigeria gingest?? Und ich sagte: ?Du machst wohl Scherze! Ich würde schon am Flughafen verhaftet werden!? Aber das illustriert sehr gut die Art der Reportagen, die Granta veröffentlicht: ?Nehmen wir uns einen Romanautor und schicken ihn ins Niger-Fluss-Delta, um zu sehen, wie es ihm da ergeht.? Ich bin sehr froh, dass ich nein sagte. Sonst säße ich heute wohl nicht hier.? 53. O-Ton: Bill Buford (O-Ton aus Radiointerview, unübersetzt lassen Sprecher 1 (über O-Ton) Bill Buford spricht in einem Radiointerview über sein neues Buch. Einst mischte er sich unter britische Hooligans, um für Granta über deren Gewalt zu schreiben. Zuletzt hat er seinen Schreibtisch in der Redaktion der Zeitschrift ?The New Yorker? gegen ein Edelrestaurant eingetauscht, in dem er sich als Küchensklave verdingte. Beide Bücher wurden zu Bestsellern. So windig Bill Buford auch sein mag ? seinen zugesagten Text für die 100. Ausgabe der Zeitschrift Granta gab er einfach nicht ab und erwähnte direkt danach in Interviews, er lese Granta nicht mehr ? , er hat ein beachtliches Gespür für Literatur, den Buchmarkt und das Marketing bewiesen. Das bescheinigt ihm auch der US-Schriftsteller Richard Ford. Bill Buford holte ihn Anfang der 80er Jahre zu einem Londoner Literaturfestival. Damals hatte Richard Ford nur zwei erfolglose Bücher veröffentlicht. Aber Bill Buford druckte ihn in Granta Nr. 8. ab: 54. O-Ton: Richard Ford / VO Sprecher 4 ?Bill veröffentlichte einige Ausgaben mit dem Titel ?Dirty realism?, ?Schmutziger Realismus? mit Erzählungen von mir, Jayne Anne Philips, Raymond Carver, Tobias Wolff. So bekamen wir alle, zumindest war das bei mir so, die ersten Leser in Großbritannien.? Sprecher 1 Diese Ausgaben über neue amerikanische Erzähler erregten große Aufmerksamkeit. Der ?Dirty realism? war in aller Munde. Und besonders Richard Ford wurde so auch über die USA und Großbritannien hinaus bekannt: 55. O-Ton: Richard Ford / VO Sprecher 4 ?Das war Grantas, Bill Bufords Idee. Er hat sich die Bezeichnung des ?Schmutzigen Realismus? einfach ausgedacht. Nicht, dass das unsere Werke gut charakterisierte. Wir haben ja nicht über etwas geschrieben, was besonders schmutzig ist. Es war vielmehr ein Etikett, um diese neue amerikanische Literatur vermarkten zu können, Zeitschriften zu verkaufen und Leser in England zu gewinnen.? Sprecher 1 So wurde ?Granta. The magazine of new writing? nicht nur für Richard Ford prägend. Für viele Menschen, für die Macher ebenso wie für Schriftsteller und die Leser ist Granta bis heute viel mehr als nur eine Zeitschrift: 56. Musik 1 57, O-Ton: Richard Ford / VO Sprecher 4 ?Ich erinnere mich an den Tag, an den Morgen und daran, wo ich gerade war, als ich die erste Ausgabe der Zeitschrift Granta sah.? 58, O-Ton: Ingo Schulze ?Das ist ein Literaturmagazin, das eine extrem gute Auswahl hat.? 59. O-Ton: William Boyd / VO Sprecher 3 ?Die Präsentation einer neuen Generation britischer Autoren, also die Granta-Liste von 1983, die Ausgabe des ?Dirty realism?, also die neue Generation amerikanischer Schriftsteller, die Reiseliteratur und diese eigentümliche Form der Reportage ? um diese vier Dinge hat sich Granta verdient gemacht.? 60. O-Ton: Gary Shteyngart / VO Sprecher 4 ?Granta kommt mir wie mein Zuhause vor.? 61, O-Ton: Paul Auster / VO Sprecher 2 ?Es ist einfach eine herausragende Zeitschrift.? 62. O-Ton: Liz Jobey / VO Sprecherin ?Diese Zeitschrift erzählt Geschichten aus der Welt. Sie versucht, einen hohen Qualitätsstandard zu erfüllen, ohne sich etwas darauf einzubilden. Es geht nur darum, dass jemand etwas erfährt und es gut beschreibt.? 63. O-Ton: Ian Jack / VO Sprecher 2 ?Der Observer hat einen schönen Satz über Granta gesagt: ?Granta drückt sein Gesicht gegen die Fensterscheibe, um Zeuge der Welt zu sein.? (Und ich glaube, das traf in den letzten 27 Jahren zu.)? Musik (Schluss)