„Ich bin auf dem Gipfel des Berges gewesen“ Eine Lange Nacht über Martin Luther King jr. Wiederholung aus dem Jahre 2009 Anlässlich des 50. Todestages am 4. April Autor: Christian Blees Regie: Rita Höhne Redaktion: Dr. Monika Künzel SprecherInnen: Thomas Vogt Till Hagen Bodo Wolf Joachim Schönfeld Viola Sauer Sendetermin: 3. April 2018 Deutschlandfunk Kultur 3./4. April 2018 Deutschlandfunk ___________________________________________________________________________ Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Deutschlandradio - unkorrigiertes Exemplar - insofern zutreffend. 1. Stunde 1. O-TON: WBAI NEW YORK/EARL CALDWELL (Musik) Caldwell: On WBAI, 99 point 5 FM, the voice of listener supported Pacifica Radio in New York City, the Caldwell Chronicle is on the air. I’m Earl Caldwell. Good afternoon. ERZÄHLER Es ist Freitag, kurz nach drei Uhr nachmittags, in New York City. In einem kleinen Rundfunkstudio im Stadtteil Manhattan sitzt ein farbiger Journalist am Mikrofon und begrüßt die Hörer zu seiner wöchentlichen Radiosendung. Sein Name ist Earl Caldwell. Caldwell, Jahrgang 1935, zählt zu den herausragenden Journalisten der USA. 1979 ist er der erste Farbige, der Kolumnen für eine der führenden Tageszeitungen des Landes schreibt. 1995 wird er von der Vereinigung Schwarzer Journalisten mit dem renommierten „President’s Award“ ausgezeichnet. Nicht nur deshalb ist Earl Caldwell ein ganz besonderer Reporter. Er ist auch als einziger Journalist vor Ort, als der schwarze Bürgerrechtler Martin Luther King am in Memphis erschossen wird. Die Uhr zeigt genau eine Minute nach 18 Uhr, am Donnerstag, dem 4. April 1968. Earl Caldwell befindet sich in seinem Zimmer im Erdgeschoss des Lorraine Motels. Hier ist auch Martin Luther King abgestiegen. Die Zimmertür ist nur angelehnt. Plötzlich hört Earl Caldwell draußen einen lauten Knall. Mit zwei Schritten ist er an der Tür. 2. O-TON: EARL CALDWELL I’m in my doorway, and I’m looking: what happened? VOICE OVER: Ich stehe in der Türöffnung und blicke mich um. Was ist passiert? Ich schaue raus, und auf dem Balkon über mir sehe ich ein paar von Kings Leuten hektisch herumspringen. Ich frage mich, was die da machen. Ich sehe mich um, um festzustellen, ob irgendjemand einen Feuerwerkskörper angezündet hat. Da bemerke ich plötzlich in einem Gebüsch auf der anderen Straßenseite einen Mann. Das Gebüsch ist sehr dicht, so dass sich dort sehr leicht jemand verstecken kann. Der Typ starrt rüber in meine Richtung, und ich versuche herauszufinden, wo genau er hinschaut. Denn dadurch, so glaube ich, wird er mir verraten, was eigentlich los ist. He is gonna tell me what it is. ERZÄHLER Dann sieht Caldwell, wie der Unbekannte aus dem Dickicht hervorkriecht und das Weite sucht. Jetzt erst bekommt der Journalist mit, was genau passiert ist. Schräg über ihm, auf dem Balkon des Motels, liegt Martin Luther King im Sterben. Der Knall – das war offenbar kein Feuerwerkskörper, sondern ein Schuss. Als Caldwell raus auf den Parkplatz vor dem Motel rennt, begegnet er Solomon Jones. Jones ist Martin Luther Kings Chauffeur. Als der Schuss gefallen ist, hat Jones in seinem Wagen auf King gewartet. Auch er hat den Mann im Gebüsch gesehen. Und nicht nur das. Jones ist auch sicher, dass von dort der tödliche Schuss abgegeben worden ist. Als der Mann davongelaufen sei, so Jones, habe er ihm eigentlich folgen wollen. Doch der sei in der schnell wachsenden Menschenmenge verschwunden. Earl Caldwell ruft sofort die Redaktion der „New York Times“ an, in deren Auftrag er King nach Memphis begleitet hat. Wenig später verbreitet sich die Nachricht vom Attentat wie ein Lauffeuer. 3. O-TON: NBC NEWS FLASH (Signalton) Sprecher. “This is an NBC news hotline special report. Here is Don Hickman in Memphis.” Don Hickman: “Dr. Martin Luther King jr. Was shot outside a Memphis Motel this afternoon. His condition is not known at this time.” 4. O- TON: ARD RUNDFUNK Dr. Martin Luther King ist einem Attentat zum Opfer gefallen. Die erste Meldung erreichte uns in dieser Nacht um 1 Uhr 22. Der amerikanische Negerführer, hieß es, Bürgerrechtspolitiker und Friedensnobelpreisträger Dr. Martin Luther King ist auf dem Balkon eines Hotels in Memphis angeschossen worden. Über seinen Zustand und Einzelheiten des Vorfalls liegen keine genauen Informationen vor. Wenig später erreichte uns eine Eilmeldung, in der es hieß, der farbige amerikanische Friedensnobelpreisträger Martin Luther King ist nach einem Schusswaffenattentat in Memphis verstorben. In seiner letzten öffentlichen Rede am Mittwochabend, beim Eintreffen in Memphis, sprach Dr. King, als spüre er eine Vorahnung seines nahen Todes. „Auch ich möchte ein langes Leben führen“, sagte er, „aber jetzt bin ich darüber nicht mehr besorgt. Ich möchte nur noch Gottes Willen erfüllen, und er hat es mir erlaubt, den Berg zu besteigen. Und von dort habe ich das Gelobte Land gesehen. Vielleicht werde ich nicht mehr mit euch dort hinkommen“, so fuhr Martin Luther King dann fort, „aber ihr sollt heute Abend wissen, dass wir als Volk das gelobte Land erreichen werden. Und deshalb bin ich heute glücklich – und nicht besorgt über irgendetwas.“ ERZÄHLER Earl Caldwell hat keine Zeit, der Polizei seine Beobachtung von dem Mann im Gebüsch mitzuteilen. Schon am nächsten Morgen fliegt er nach Atlanta, um von dort aus über die Vorbereitungen zu Kings Beerdigung zu berichten. Noch ahnt Earl Caldwell nicht, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach Martin Luther Kings Mörder gesehen hat. Dass man einige Wochen später einen ganz anderen Mann als vermeintlichen Attentäter verhaftet und lebenslang ins Gefängnis sperren wird – auch das kann Earl Caldwell jetzt natürlich noch nicht wissen. Eines zumindest steht für ihn fest: Er wird seine Leser nach dem Attentat erst recht über all die Vorfälle von Rassendiskriminierung aufklären, die sich in den neunzehnhundertfünfziger und –sechziger Jahren tagtäglich im ganzen Land ereignen. Earl Caldwell erinnert sich. 5. O-TON: EARL CALDWELL There was a lot of things then that our parents wouldn’t tell us. VOICE OVER: Es gab damals eine Menge Dinge, die uns unsere Eltern lieber nicht erzählt haben. Wir lebten in einer Gegend, in der viel gefischt und gejagt wurde. Mein Vater bewahrte in einem Schrank ungefähr ein Dutzend Gewehre auf, und immer, wenn andere Kinder zu uns zu Besuch kamen und über die vielen Waffen staunten, sagte er: „Die brauche ich für die Jagd.“ Jeder in unserer Familie musste lernen, damit umzugehen. Nur meine Mutter und eine meiner Schwestern haben nie eine Waffe angefasst. Erst Jahrzehnte später habe ich erfahren, warum wir wirklich so viele Waffen im Haus hatten: Sie sollten jedem klar machen, dass mein Vater es auf keinen Fall dulden würde, dass sich jemand an seinen Kindern vergriff – so, wie es damals mit einem schwarzen Jungen passiert war, der es gewagt hatte, sich mit einem weißen Mädchen einzulassen. Er war von Angehörigen des Mädchens mitten in der Nacht aus dem Haus geholt und an die Eisenbahngleise gefesselt worden. Und als am Morgen der Zug kam, ist er einfach überrollt worden. … and when that train comes through in the morning - yes, it went right over him. ERZÄHLER Earl Caldwell wird später noch mehr erzählen – unter anderem über das, was sein ganz persönliches Verhältnis zu Martin Luther King heute noch ausmacht. Zunächst aber soll es erst einmal um den berühmten Bürgerrechtler selbst gehen – und um eine Frau, die Martin Luther King als Kind und Jugendliche aus nächster Nähe erlebt hat. Mehr noch: Juandalynn Abernathy ist als Baby sogar von Martin Luther King persönlich getauft worden. Juandalynn ist die älteste Tochter von Ralph Abernathy, Martin Luther Kings engstem Freund und Vertrauten. Sie wächst ab Mitte der neunzehnhundertfünziger Jahre im Süden der USA auf – in Montgomery, der Hauptstadt des Bundesstaates Alabama. 40 Prozent der 120 000 Einwohner in Montgomery sind Schwarze. Die Rassentrennung in Restaurants, Schulen und an öffentlichen Plätzen gehört hier seit jeher zum Alltag. Auch gibt es für Schwarze und Weiße getrennte Toiletten. 6. O-TON: JUANDALYNN ABERNATHY Diese starke Disziplin war schon da als ganz kleine Kinder. Meine Mama hat immer gesagt, wenn wir einkaufen gingen: „Wenn du Pipi machen müsstest, dann müsstest du das halten, weil auf die getrennten Toiletten gehen wir nicht. Diese Brunnen trinken wir auch nicht.“ ERZÄHLER Der tägliche Rassismus begegnet der kleinen Juandalynn auch im engsten Freundeskreis. Eines Tages darf Susan, eine weiße Klassenkameradin, bei ihr übernachten. 7. O-TON: JUANDALYNN ABERNATHY Ich dachte, sie war meine Freundin. Sie hat bei mir übernachtet. Und sie war schockiert, als sie in unser Haus kam. Ich weiß nicht, was sie gedacht hat, ob wir wohnen in einer Hütte. Ich weiß es nicht. Sie war sehr schockiert, und später habe ich erfahren, dass ihre Mama zu ihr gesagt hat, sie durfte nicht bei uns baden. Weil: Wenn sie badete bei uns, dann würde meine Hautfarbe auf sie kommen – solch ein Quatsch. Auf jeden Fall, sie hat das Badezimmer nie benutzt und hat die Handtücher auch nicht benutzt. Das war über das Wochenende, vom Samstag auf den Sonntag. Und am Montag, in der Schule, hat sie auch auf mich gespuckt. Hat sie gesagt: Ja, Mama hat ihr gesagt, sie dürfte nicht mehr zu uns kommen. Und es hat herausgeheißen (sic), sie dachten, dass wir sind so arm, und wir waren dann das ganze Gegenteil. Und jetzt war dieses Mädchen so fix und fertig. Und dann hat sie auf mich gespuckt, und dann habe ich sie gejagt auf den Spielplatz, mit Hilfe von Yolanda und ein paar anderen Kindern. Yolanda war kräftig, und sie saß auf ihr, und dann habe ich auf sie auch gespuckt. Dann bin ich nach Hause gegangen und habe meiner Mama und meinem Papa davon erzählt, und mein Papa war wütend auf mich. ERZÄHLER Juandalynns Vater, Ralph Abernathy, ist Pfarrer der First Baptist Church in Montgomery. Wie alle anderen Schwarzen ärgert auch er sich immer wieder über rassistische Bemerkungen oder Vorfälle. Dennoch predigt Ralph Abernathy seiner Gemeinde immer wieder, selbst im Falle gewalttätiger Übergriffe durch Weiße nie mit Gegengewalt zu reagieren. Der Pfarrer ist überzeugt davon, dass sich die Aufhebung der Rassentrennung – wenn überhaupt - nur gewaltfrei erreichen lässt. Umso enttäuschter ist er deshalb über die Reaktion seiner eigenen Tochter. 8. O-TON: JUANDALYNN ABERNATHY Er war sehr, sehr sauer, dass ich Susan gejagt und auf sie gespuckt habe. Er empfand: Das ist sehr, sehr schlecht, und er sagte: „Ich habe dich besser erzogen. Nur weil sie das getan hat, bedeutet das nicht, dass du so etwas machst.“ Und meine Mutter hat gesagt: „Sie muss sich dann verteidigen!“ Das werde ich nie vergessen. Und dann hat er gesagt: „Nein.“ Er sagte: „Gewalt erzeugt gar nichts. Es ist nur Gewalt, Gewalt, Gewalt, Gewalt.“ Und ich war sauer auf ihn. Ich habe ihn im Nachhinein nach vielem Nachdenken auch verstanden, aber ich habe gedacht: Es war so ekelhaft. Sie hat mich so empfunden, als wäre ich Müll, ja. Und ich wollte ihr dieses Gefühl auch wiedergeben. ERZÄHLER Juandalynn und ihre Geschwister haben Glück. Sie wachsen in einem toleranten Elternhaus auf, in dem die Nächstenliebe ein ebenso wichtiges Gut ist wie die Toleranz gegenüber Andersdenkenden. Auch gibt ihnen die Kraft, die die Eltern aus ihrem eigenen Glauben beziehen, genügend Selbstbewusstsein, um mit dem allgegenwärtigen Rassismus auch als Kind klar zu kommen. 9. O-TON: JUANDALYNN ABERNATHY Mein Vater war ein richtiger Pfarrer. Er war stark verankert in seiner Religion. Er war wirklich ein Theologe. Und in dem Sinn, dass er uns immer erklärt hat, dass alle Weißen sind nicht schlecht, und das haben wir auch gesehen. Er hat einfach gesagt: „Wir sind alle gleich. Wenn man uns enthäutet, dann sind wir alle dieselben.“ Und hat uns erklärt biologisch, woher diese Bräune kommt und dass wir müssen Menschen in Amerika erklären und wir müssen dafür kämpfen für unsere Rechte. Und für mich, das war eine klare Sache. Ich bin so froh, dass ich meine Eltern hatte, weil: Die gaben uns so einen Halt in dieser Gesellschaft, wo wir aufwuchsen am Anfang. Ich habe gesehen bei anderen Menschen, die hatten Identitätsprobleme. Und dieses Problem haben wir nicht gehabt, weil wir waren so verankert in – ja, in unserer Religion erst mal. Wobei mein Vater fast nie da war. Aber wenn er da war, dann war er da für uns. Und er und meine Mutter waren so starke Persönlichkeiten durch die ganze Community, die ganzen Menschen um uns. Wir waren einfach sehr, sehr sicher. ERZÄHLER Nur wenige Straßenblocks entfernt von der First Baptist Church, der Ralph Abernathy vorsteht, befindet sich eine weitere Kirchengemeinde. Betreut wird sie von Ralph Abernathys Freund und Kollegen, Martin Luther King. King, dessen Vater ebenfalls als Pfarrer arbeitet, hat sich schon während seines Theologiestudiums für die Schriften des Mahatma Gandhi interessiert und sich von diesen inspirieren lassen. Eigentlich hätte ihm eine glänzende akademische Karriere offen gestanden. Doch Martin Luther King entscheidet sich anders. Im September 1954 tritt er eine Stelle als Pastor in der Dexter Avenue Baptist Church von Montgomery, Alabama, an. Coretta King, Martins Ehefrau, schreibt später in ihren Memoiren: WEIBLICHER ZITATOR Martin, der erst 25 Jahre alt war, wirkte durch seine Persönlichkeit und den Geist seiner Worte derart, dass jeder, der ihn hörte, seine Jugend vergaß. Sagte jemand: „Dr. King hat eine so junge Frau“, dann entgegnete ich: „Nun, mein Mann ist selbst jung.“ Ein wenig später kamen Frau Professor Mary Fair Burks vom Alabama State College und Jo Ann Robinson vom gleichen College nach Dexter. Als Frau Burks Martin sah, meinte sie: „Dieser kleine Junge soll mein Pastor sein? Er sieht aus, als gehöre er heim zu seiner Mama.“ Sie glaubte nicht, dass er ihr irgend etwas zu sagen hätte, aber nachdem sie ihn gehört hatte, war sie tief beeindruckt. Im Laufe der Jahre entwickelte mein Mann seine Gabe als Redner, und wer ihn in seinen besten Stunden hörte, der änderte sein Leben. ERZÄHLER Im Kampf gegen die Rassendiskriminierung hält Martin Luther King es genauso wie sein Freund und Kollege, Ralph Abernathy: Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung lehnt er strikt ab. Anfang Dezember 1955 werden die Appelle der beiden Prediger, die sie jeden Sonntag aufs Neue an ihre schwarzen Gemeindemitglieder richten, auf eine harte Probe gestellt. Ein paar Tage zuvor ist eine schwarze Näherin verhaftet worden – und zwar nur deshalb, weil sie sich geweigert hat, ihren Sitzplatz im Bus für einen weißen Fahrgast freizumachen. So ist es im Gesetz vorgesehen. Die Näherin heißt Rosa Parks. Octavia Vivian, eine Freundin der Familie King, erklärt rückblickend die Bedeutung von Rosa Parks’ Verhaftung für all das, was anschließend in den USA passieren wird. WEIBLICHER ZITATOR Mrs. Parks, eine sehr charmante Frau mit einwandfreiem Ruf und Charakter, gehörte in der afroamerikanischen Gemeinde zu den am meisten respektierten Personen. Es war irgendwie geheimnisvoll, dass diese scheue, kleine Dame ins Gefängnis musste. Es schweißte die afroamerikanische Gemeinde zu einer Einheit zusammen. Die Unzufriedenheit bewegte sich in eine einzige Richtung. Zum ersten Mal nach 300 Jahren Sklaverei zog eine versammelte Gemeinde los, um die Ehre einer Afro-Amerikanerin zu verteidigen. Afroamerikanische Frauen kannten keinen männlichen Schutz mehr, seit man sie aus Afrika geholt und versklavt hatte. Sie bekamen erst wieder das Gefühl davon, was männlicher Schutz bedeutete, als sich die Anführer der Gemeinde zusammenschlossen, um etwas gegen die Behandlung von Rosa Parks zu unternehmen. Jahrelang waren die afroamerikanischen Männer vor den Augen ihrer Frauen bedroht und eingeschüchtert worden. Meist hatten die eigenen Frauen sie angefleht, sich ruhig zu verhalten, weil sie Angst davor hatten, ihre Männer würden im Gefängnis landen oder anderweitig zu Schaden kommen, wenn sie sich wehrten. Jetzt entdeckten die afroamerikanischen Frauen eine Männlichkeit an ihren Männern, die vorher unterdrückt worden war. Rosa Parks Verhalten war der Auslöser einer Kettenreaktion, die die größte afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten in Gang setzte und wodurch ein 26jähriger Mann, Martin Luther King, seine volle Größe entfaltete. ERZÄHLER Martin Luther King erklärt sich dazu bereit, den Widerstand der afroamerikanischen Bürgerinnen und Bürger gegen Rosa Parks’ Verhaftung zu organisieren. Er und Ralph Abernathy fordern ihre Gemeindemitglieder auf, sich ab sofort nur noch zu Fuß oder per privater Fahrgemeinschaft auf den Weg zur Arbeit zu machen – auf keinen Fall aber mehr mit dem Bus. Der Appell verbreitet sich unter Montgomerys schwarzer Bevölkerung wie ein Lauffeuer. Was zunächst kaum jemand zu hoffen wagt, klappt tatsächlich: Von einem Tag auf den nächsten verlieren die Busse in Montgomery praktisch alle ihre farbigen Fahrgäste. Der Boykott hält über ein Jahr lang an. Den betroffenen Transportunternehmen droht der wirtschaftliche Kollaps. Dann, endlich, fällt das oberste Gericht der USA ein entscheidendes Urteil: Die Rassentrennung in öffentlichen Verkehrsmitteln wird aufgehoben. Kein Schwarzer braucht von jetzt an mehr aufzustehen, wenn ein weißer Fahrgast einen Sitzplatz beansprucht. Martin Luther King weiß, dass dies erst der Anfang eines langen Weges ist. 10. O-TON: MARTIN LUTHER KING Freedom only comes through persistent revolt, through persistent agitation, through persistently rising up against the system of evil. VOICE OVER: Freiheit lässt sich nur durch ständigen Widerstand erreichen, durch ständiges Agitieren, durch ständiges Aufstehen gegen das System des Bösen. In den Bussen von Montgomery gibt es keine Rassentrennung mehr. Aber glaubt nicht, ihr könnt jetzt deswegen eure Hände in den Schoß legen. Denn wenn wir jetzt aufhören, dann werden wir weitere hundert Jahre in den Kerkern der Rassentrennung und Diskriminierung verbringen. Und unsere Kinder und Kindeskinder werden unter der Knechtschaft leiden müssen, unter der wir jahrelang gelebt haben. Um die Freiheit zu erlangen, müssen wir weiter machen. We have to keep it on in order to gain freedom. MUSIK: WE SHALL OVERCOME (GOSPEL) ERZÄHLER Gemeinsam mit anderen Predigern gründen Martin Luther King und Ralph Abernathy die Southern Christian Leadership Conference. Dieser Zusammenschluss schwarzer Kirchengemeinden im Süden der USA organisiert immer wieder Aktionen, um öffentlich gegen die Rassendiskriminierung zu demonstrieren. So steht schon bald die Forderung nach einem allgemeinen Wahlrecht für die schwarze Bevölkerung auf der Tagesordnung. Mit seiner rhetorischen Begabung und seinem Charisma schafft King es problemlos, die Massen zu mobilisieren. Der Bürgerrechtler Hosea Williams, einer von Kings engsten Vertrauten, erinnert sich. 11. O-TON: HOSEA WILLIAMS The difference in Dr. King and other leaders was the fact that he lived out his sermons. VOICE OVER: Im Unterschied zu anderen Führern hat King seine Predigten gelebt. Wenn ich ihn am Sonntag in der Kirche reden hörte, dann dachte ich immer: Nächste Woche wird es Ärger geben. Sonntags hielt er seine Predigt – und an den darauf folgenden Tagen setzte er sie auf der Straße in die Tat um. He would make the sermon he preached on a Sunday, he would make the sermon a living reality in the streets of America. ERZÄHLER Der Widerstand der schwarzen Bürgerrechtler konzentriert sich zunächst auf den Süden der USA. Hier kommt es immer wieder zu gewalttätigen Übergriffen weißer Einwohner. Eines Abends – King hält in der Kirche gerade eine Abendandacht ab – wird auf sein Pfarrhaus ein Anschlag verübt. Coretta King, die Ehefrau, erinnert sich. WEIBLICHER ZITATOR Gegen halb zehn abends hatte ich einen Morgenrock angezogen. Da hörte ich einen schweren Aufprall, draußen auf der Betonveranda. Hätte ich nicht schon mit einem Angriff gerechnet, wäre ich vielleicht nachsehen gegangen. Stattdessen sagte ich: „Es klingt, als hätte jemand eine Bombe geworfen. Besser, wir gehen nach hinten.“ Wir eilten nach hinten ins Gästezimmer. Als wir bis zur Zimmermitte gekommen waren, erschütterte eine Detonation das Haus. Dann Rauch und das Geräusch von splitterndem Glas. Die Veranda war aufgerissen und im Betonboden ein kleines Loch. Alle Lichter in den vorderen Zimmern waren erloschen. ERZÄHLER Als Martin Luther King zuhause eintrifft, hat sich dort eine aufgebrachte Menschenmenge versammelt. Schwarze Bürger auf der einen und weiße Polizisten sowie der weiße Bürgermeister auf der anderen Seite stehen sich gegenüber. Es sieht ganz danach aus, als werde es gleich zu einer Straßenschlacht kommen. WEIBLICHER ZITATOR Mit jeder Minute wuchs die wogende, raunende Menge, aus der Flüche gegen die Polizei ertönten. Da trat Martin auf die Veranda hinaus. In gewisser Hinsicht war es die wichtigste Stunde seines Lebens. Sein eigenes Haus war soeben bombardiert worden. Zum ersten Mal wurden damit seine christlichen Prinzipien und seine Theorie der Gewaltlosigkeit ernstlich auf die Probe gestellt. Ernst und gefasst stand er vor den wütenden Menschen, und er beherrschte sie. Er hob die Hand, und sie verstummten schlagartig. Mit ruhiger Stimme sagte Martin: (VOICE OVER) MARTIN LUTHER KING Bitte geht nach Hause und legt eure Waffen weg. Wir können das Problem nicht durch Vergeltung lösen. Wir müssen der Gewalt mit Gewaltlosigkeit begegnen. Denkt an die Worte Jesu: „Wer das Schwert nimmt, wird durch das Schwert umkommen.“ Wir müssen unsere weißen Brüder lieben – gleichgültig, was sie uns antun. Wir müssen ihnen zeigen, dass wir sie lieben. Jesus ruft uns auch heute über die Jahrhunderte hinweg zu: „Liebet eure Feinde.“ Dies müssen wir leben. Wir müssen Hass mit Liebe vergelten. WEIBLICHER ZITATOR Viele weinten. Ich konnte im Licht der Scheinwerfer die Tränen auf den Gesichtern glänzen sehen. Sie waren bewegt wie durch eine heilige Verzückung. Sie riefen „Amen“ und „Gott segne dich. Wir halten zu dir, Reverend.“ ERZÄHLER Mit seiner ruhigen und besonnenen Art gelingt es Martin Luther King nicht nur an diesem Abend, die Provokationen ihrer konservativen oder gar rechtsradikalen Gegner ins Leere laufen zu lassen. Zwar beraten King und Abernathy die nächsten Schritte der Bürgerrechtsbewegung jeweils gemeinsam und stets in enger Abstimmung mit den übrigen Aktivisten. Doch ist es letztlich King, der nach außen als Führer der Bewegung auftritt. Als er eines Tages vom Fernsehen als Gesprächspartner in eine Fernsehdiskussion eingeladen wird, wird Martin Luther King auch außerhalb Montgomerys erstmals schlagartig einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. 12. O-TON: US-TV 1957 Sprecher: „The open mind“. Free to examine, to question, to disagree. Our subject today: the new negro. Your host on “The open mind” is Richard D. Hefner, author and historian. ERZÄHLER Zu denen, die Martin Luther King an diesem Abend näher kennen lernen, gehört auch der spätere Schauspieler und Entertainer Ron Williams. Williams ist 15 Jahre alt, als er King zum ersten Mal im Fernsehen sieht. 13. O-TON: RON WILLIAMS King war Gast in einer Fernsehsendung, und der Titel dieser Sendung war: „The new negro – der neue Neger“, in Deutsch. Und das war eine Talkshow, wo King als junger Mensch Mitte Zwanzig interviewt wird. Gegenüber saß ein weißer Südstaatenrichter, glaube ich, aus South Carolina – ein sehr progressiver Richter, der überraschenderweise die Argumente der Schwarzen für gut hielt. Und er war auf der Seite der Schwarzen und dieser Bürgerrechtsbewegung. Das war ungewöhnlich. Da wurde King da präsentiert als der neue schwarze Mann – und das hat mich sehr beeindruckt, weil er war Mitte Zwanzig, aber war schon damals sehr erwachsen in seiner Art zu reden und sich zu präsentieren. Und das war das erste Mal, wo ich ihn visuell wahrnahm. ERZÄHLER In der Fernsehsendung spielen auch die gewalttätigen Übergriffe weißer Einwohner auf afroamerikanische Mitbürger eine Rolle. Auf die Frage des Moderators, ob ein Ende der Gewalt in Sicht sei, gibt sich King verhalten optimistisch. Auf jeden Fall macht er nachdrücklich klar, dass er und seine Bewegung weiterhin am Prinzip des gewaltfreien Widerstands festhalten wollen. 14. O-TON: MARTIN LUTHER KING I think the violence will be temporarily. I don’t say it will end tomorrow. VOICE OVER: Ich glaube, die Gewalt ist ein zeitlich begrenztes Phänomen. Ich sage nicht, dass sie morgen aufhören wird. Wir werden davon in den nächsten Monaten wohl noch Einiges erleben. Aber ich glaube, wenn wir erst einmal den Schockzustand überwunden haben, in dem wir uns noch befinden, dann werden auch die Südstaatler erkennen, dass es das Beste ist, die Probleme in christlichem Sinne gemeinsam zu lösen. Ich glaube, die gewalttätigen Sturköpfe spüren, dass das bisherige System nicht überleben wird – und dass sie der Meinung sind, die alte Ordnung mit allen Mitteln bewahren zu müssen. …this is the last way to hold on to their old order. ERZÄHLER Auf die Frage des Moderators, welche konkreten Schritte King und die Bewegung nach dem erfolgreichen Busboykott in Montgomery als nächstes planen, weiß der Bürgerrechtler keine rechte Antwort – ein Indiz dafür, dass ihn die Eigendynamik der Protestbewegung offenbar selbst völlig überrascht hat. 15. O-TON: MARTIN LUTHER KING In Montgomery we have not worked out any future plans – that is any chronological order. VOICE OVER: In Montgomery haben wir keinen konkreten Zeitplan ausgearbeitet. Wir arbeiten sehr hart daran, die Rassentrennung im ganzen Süden komplett und dauerhaft abzuschaffen. Wir wollen gegen Ungleichheit und Ungerechtigkeit vorgehen, wo immer wir diese antreffen. Der Busboykott hat uns aber derart in Anspruch genommen, dass wir uns über die nächsten Schritte noch keine Gedanken gemacht haben. Ganz allgemein gesagt, geht es uns letztlich darum, auf jedem Gebiet des täglichen Lebens als gleichberechtigte Bürger anerkannt zu werden – nicht nur in Montgomery, sondern im ganzen Süden. But in a general sense we are committed to achieving first-class citizenship in every area of life, in Montgomery and throughout southern communities. ERZÄHLER Vor allem das Haus von Kings bestem Freund, Ralph Abernathy, mutiert mit der Zeit zu einer Art Hauptquartier der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Hier werden unentwegt Pläne geschmiedet, wie es weitergehen soll – auf dem Weg hin zu einem Land, in dem es irgendwann einmal keine Rassentrennung mehr gben soll. Dabei ist Ralph Abernathy und Martin Luther King nur allzu deutlich bewusst, dass vor allem sie und ihre Familien in ständiger Gefahr leben. Für Juandalynn Abernathy, die die Anfänge der Bewegung als Kind miterlebt, gehören die abendlichen Treffen der Bürgerrechtler im Wohnzimmer der Familie genauso zum Alltag wie die stets präsente Bedrohung von außen. 16. O-TON: JUANDALYNN ABERNATHY Seit ich meinen Vater kenne, hat er das immer gemacht. Sie müssen sich mal vorstellen: Er war da von Anfang an. So. Damals in Montgomery, Alabama, abends, die Leute trafen sich bei uns zu Hause in 1327 South Hall Street. Und Mahalia Jackson, wenn sie kam nach Montgomery, sie ist immer bei uns. Sie ist ein und aus bei uns gewesen, ja. Und es war immer so. Ich wusste und meine Schwester zu dieser Zeit wusste: Das war meines Vaters Arbeit. Er war Pfarrer, aber er hat auch für die Rechte, für uns, gekämpft. Wir hatten doch Angst manchmal, dass er nicht nach Hause kommen wird, dass er wird erschossen. Oder manchmal Briefe habe ich gesehen, auf dem Schreibtisch, Drohbriefe oder so. Aber es war Alltag. ERZÄHLER Zwar können Juandalynn und ihre Geschwister wegen des politischen Engagements ihres Vaters nur wenig Zeit mit ihm verbringen. Doch haben die häufigen Treffen der Bürgerrechtler im Hause Abernathy aus ihrer Sicht zumindest einen Vorteil: Dadurch schaut mehrmals pro Woche auch Papas bester Freund vorbei. Martin Luther King gehört längst zur Familie – und wird von den Abernathy-Kindern darum auch nur mit „Uncle Martin“, „Onkel Martin“, angesprochen. Und der, im Laufe der Jahre selbst Vater von vier Kindern, findet trotz allem Stress fast immer die Zeit, um mit Juandalynn und ihren Geschwistern ein wenig herumzualbern. 17. O-TON: JUANDALYNN ABERNATHY Er war kinderlieb - sehr, sehr kinderlieb. Wenn er brachte meinen Vater nach Hause, dann rannte er hinten ins Haus. Da ist dann die Küche, wo meine Mutter kochte immer. Und er liebte sehr gerne bei uns zu sein, weil das ist, denke ich, diese sehr familiäre Atmosphäre. Meine Mutter konnte sehr, sehr gut kochen, ja. Und er hat mich auf diesen Kühlschrank, auf diesen weißen Kühlschrank gestellt, und wir durften springen in seine Arme. Und das mehrmals. Sie wissen, die sind nicht so hoch. Und für ein ganz kleines Kind ist es ganz hoch. Und das wurde Gang und Gäbe bei meinem Vater auch. Und das sind die Erinnerungen, ja: dass er einfach ganz kinderlieb war und – ja, ein ganz, ganz normaler Mensch. Ich mochte sehr gerne in seiner Nähe, er war einfach sehr menschlich. Du konntest mit ihm auf dem Boden spielen und kuscheln. Er war ein ganz normaler Mensch. Er war sehr, sehr kinderlieb, muss ich ehrlich sagen - und witzig. ERZÄHLER Ganz und gar nicht witzig ist das, was viele Afro-Amerikaner im Alltag erleben – vor allem jene, die es wagen, sich über die vielerorts nach wie vor geltende Rassentrennung hinwegzusetzen, zum Beispiel im Restaurants oder in der Cafeteria eines Kaufhauses. Die schwarze Studentin Anne Moody aus Mississippi nimmt eines Tages an der Imbisstheke einer Woolworth-Filiale Platz, in der es separate Abteilungen für Schwarze und Weiße gibt. Begleitet wird Anne von einem schwarzen Kommilitonen sowie von Joan, einer weißen Freundin. Die Kellnerin fordert die drei auf, sich an die Theke zu begeben, an der Schwarze bedient werden. Anne Moody schildert, was dann passiert. WEIBLICHER ZITATOR „Wir möchten gerne hier bedient werden“, sagte ich. Die Serviererin fing an, das, was sie schon einmal gesagt hatte, zu wiederholen. Dann verstummte sie mitten im Satz. Sie drehte die Lichter hinter der Theke aus, und sie und die anderen Kellnerinnen verließen fluchtartig die Theke und rannten nach hinten. Sie ließen ihre weißen Gäste im Stich. Wahrscheinlich dachten sie, es werde gleich zu Tätlichkeiten kommen, wenn die Weißen an der Theke erst gemerkt hätten, was vor sich ging. Eine weiße Frau in mittleren Jahren, die noch nicht bedient worden war, kam zu uns und sagte: „Ich würde gerne hier bei Ihnen sitzen bleiben, aber mein Mann wartet auf mich.“ Ich berichtete, dass wir sitzen bleiben wollten, bis der Laden schließen werde. „Wir wollen nur Bedienung“, sagte ich. Um zwölf Uhr kamen Schüler von einer nahe gelegenen Oberschule für Weiße hereingeströmt. Als sie uns entdeckten, waren sie zunächst nur überrascht. Sie wussten nicht, wie sie sich verhalten sollten. Dann fingen ein paar an zu stícheln. Nun begannen die weißen Schüler, alle möglichen schwarzenfeindlichen Slogans zu rufen. Die anderen Sitze – außer den dreien, auf denen wir saßen – waren durch ein Seil abgesperrt worden, damit sich niemand mehr darauf setzen konnte. Ein paar Jungen nahmen das Ende des Seils auf und formten daraus eine Galgenschlinge. Man versuchte, sie uns um den Hals zu werfen. Die Menge wurde immer dichter, denn immer mehr Schüler und Erwachsene kamen herein, um Mittag zu essen. Wir blickten gerade vor uns hin und vermieden es, in die Menge zu sehen. Nur gelegentlich wagten wir einen verstohlenen Blick, um festzustellen, was vorging. Die Menge begann im Sprechchor zu schreien: „Kommunisten, Kommunisten!“ Ein alter Mann aus der Menge forderte die Schüler auf, uns von den Stühlen zu heben. „Welche soll ich mir zuerst packen?“ fragte ein dicker, heiserer Junge. „Die weiße Niggerin“, sagte der alte Mann. Der Junge packte Joan an der Hüfte, hob sie vom Stuhl und trug sie aus dem Laden. Gleichzeitig wurde ich von zwei Schülern gepackt. Ich wurde an den Haaren gezogen und etwa drei Meter auf die Tür zugeschleift, bis jemand die Jungen dazu brachte, mich loszulassen. Während ich mich vom Boden erhob, sah ich, wie Joan wieder hereinkam. Der Mob fing an, uns mit Ketchup, Senf, Zucker, Pasteten und allem, was auf der Theke stand, zu beschmieren. (…) Vor diesem Vorfall hatte ich die Weißen in Mississippi gehasst. Jetzt wusste ich, dass sie krank waren, und Kranke kann man nicht hassen. Die Weißen litten an einer Krankheit – an einer unheilbaren Krankheit in ihrem Endstadium. Wie konnten wir gegen diese Krankheit ankommen? Ich stellte mir die Studenten - die jungen Schwarzen, die gerade angefangen hatten zu studieren, vor wie Assistenzärzte. Wenn sie älter geworden waren, würden sie die besten Ärzte der Welt für soziale Krankheiten sein. ERZÄHLER Der Protest der afroamerikanischen Bewegung gegen die er Rassentrennung ist zwar hartnäckig, aber oft auch erfolglos. Selbst Martin Luther King wird allmählich ungeduldig. 18. O-TON: MARTIN LUTHER KING Freedom is never voluntarily given by the opressor. VOICE OVER: Freiheit wird vom Unterdrücker nie freiwillig gewährt. Sie muss von den Unterdrückten verlangt werden. Offen gesagt, ist es an der Zeit für eine wirksame Kampagne all jener, die bislang so sehr unter der Rassentrennung gelitten haben. Jahrelang habe ich immer nur die Aufforderung „wartet ab!“ vernommen. Aber dieses „wartet ab!“ bedeutete bis jetzt eigentlich immer nur „niemals!“. Eine Gerechtigkeit, die lange hinausgezögert wird, ist letzten Endes nichts anderes als eine Gerechtigkeit, die einem verweigert wird. Seit über 340 Jahren warten wir auf unsere durch Gott und die Verfassung gegebenen Rechte. Manche Länder in Afrika und Asien bewegen sich in großem Tempo auf ihre politische Unabhängigkeit zu. Wir aber kommen nur schleppend voran, wenn es darum geht, dass wir eine Tasse Kaffee bestellen dürfen. Für jene, die noch nie unter der Rassentrennung gelitten haben, ist es sicher einfach, „wartet ab“ zu sagen. Perhaps it is easy for those who have never felt distinct (unverständlich) of segregation to say “wait”. MUSIK: MISSISSIPPI GODDAM (NINA SIMONE) ERZÄHLER Die Familie King ist inzwischen von Montgomery nach Atlanta umgezogen, wo sich das Hauptquartier der Southern Christian Leadership Conference befindet. Von hier aus wird an Ostern 1963 eine der wichtigsten Demonstrationen gegen die Rassentrennung überhaupt organisiert. Stattfinden soll sie in der Industriemetropole Birmingham im Bundesstaat Alabama. Martin Luther King weiß auch ganz genau, warum. (VOICE OVER) MARTIN LUTHER KING Im ganzen Land gab es keinen Ort, der mit Birmingham vergleichbar gewesen wäre. So lange sind die Menschenrechte hier mit Füßen getreten worden, dass Angst und Unterdrückung schwelend über der Stadt lagen – wie der giftige Qualm der Fabriken. Finanzielle Interessen waren hier mit einem Machtgefüge verquickt, das sich über den ganzen Süden erstreckte. Alle Übel und Ungerechtigkeiten, die Schwarze erleiden können, waren in Birmingham wie in einem Brennglas konzentriert. ERZÄHLER Insgesamt siebzehn Bombenanschläge auf schwarze Kirchen hat es in Birmingham in den vergangenen sechs Jahren gegeben. Hinzu kommt, dass der rechtsradikale Ku-Klux-Klan die afroamerikanische Bevölkerung regelmäßig mit Märschen durch die Schwarzenviertel einzuschüchtern versucht, ohne dass die örtliche Polizei ernsthaft dagegen vorgeht. Anfang April 1963 machen sich mehrere Dutzend schwarze Bürgerrechtler trotz eines offiziellen Demonstrationsverbotes auf den Weg in das weiße Geschäftsviertel der Stadt. Mit Martin Luther King und Ralph Abernathy an der Spitze fordern sie unter anderem, die Rassentrennung in den Geschäften aufzuheben und schwarze Angestellte besser zu bezahlen. Sämtliche Demonstranten werden von der Polizei verhaftet. 19. O-TON: JUANDALYNN ABERNATHY Uncle Martin und Daddy haben immer gewusst, wann es gefährlich war. Die wussten, wann sie ins Gefängnis gehen würden. Das wussten sie. Und das wurde schon besprochen. Ich wusste, dass mein Vater zum Beispiel sagen würde: „Ja, ich bin hier in Birmingham, und ich weiß, dass ich jetzt werde ins Gefängnis gehen.“ Und, ja – dann gingen die. ERZÄHLER Hier, in einer Einzelzelle, schreibt Martin Luther King seinen berühmten „Brief aus dem Gefängnis von Birmingham“. Das Schreiben, das er unbemerkt nach draußen schmuggeln kann, richtet sich an acht weiße, lokale Geistliche unterschiedlicher Konfessionen. Sie alle haben Kings Vorgehen zuvor als „unklug“ bezeichnet und stellen ihren Kollegen als Extremisten hin. Der Bürgerrechtler, so behaupten sie, sei von außerhalb nach Birmingham gekommen, um den Frieden zu stören. In seinem Brief antwortet King: (VOICE OVER) MARTIN LUTHER KING Ihr habt unsere Tätigkeit in Birmingham als „extrem“ bezeichnet. War nicht Jesus ein Extremist der Liebe, als er forderte: „Liebt eure Feinde, tut Gutes jenen, die euch hassen und verfolgen“? War Abraham Lincoln kein Extremist, als er ausrief. „Dieses Volk kann nicht bestehen bleiben, wenn es zur Hälfte versklavt ist und zur Hälfte frei“? Oder Thomas Jefferson: „Wir haben die Wahrheit offenkundig erkannt, dass alle Menschen gleich sind, vom Augenblick ihrer Erschaffung an.“ Die Frage ist nicht, ob wir Extremisten sein wollen, sondern vielmehr: Extremisten welcher Art? Wollen wir Extremisten des Hasses oder der Liebe sein? Werden wir Extremisten für die Fortdauer der Ungerechtigkeit oder für die Ausbreitung der Gerechtigkeit sein? Ich hatte erwartet, dass die weißen Kirchen uns unterstützen würden. Ich glaubte, dass die weißen Pfarrer, Pastoren, Geistlichen und Rabbiner im Süden zu unseren stärksten Verbündeten zählen würden. Stattdessen gab es unter ihnen einige, die sich offenbar gegen uns stellten und es ablehnten, der Freiheitsbewegung Verständnis entgegen zu bringen, ja, sogar ihre Anführer verleumdeten. Allzu groß war die Zahl der Geistlichen, die sich mehr in vorsichtigem Schweigen als in mutigen Stellungnahmen gefielen. Sie verharrten still und lautlos hinter der sterilen Sicherheit ihrer bunten Kirchenfenster. Ich liebe die Kirche sehr. Wie könnte es auch anders sein? Ich bin einer der wenigen, die Sohn, Enkel und Urenkel von Pfarrern sind. Ja, ich sehe in der Kirche den Leib Christi. Aber ach – wie haben wir diesen Leib aus sozialer Verantwortungslosigkeit und aus Angst heraus geschändet und verunstaltet! Aber immer wieder werde ich Gott dafür danken, dass einige edle Seelen der Kirchenführung die lähmenden Fesseln der Konformität abstreifen und sich uns im Kampf um die Freiheit anschließen. Sie handelten in dem Glauben, dass das besiegte Recht doch stärker ist als das triumphierende Unrecht. Ich hege keinerlei Zweifel am endgültigen Erfolg unseres Kampfes in Birmingham, selbst wenn unsere Beweggründe gegenwärtig noch missverstanden werden. Wir werden unser Ziel, die Freiheit in Birmingham und allerorts, erreichen. Denn das Ziel Amerikas ist die Freiheit. ERZÄHLER Nach acht Tagen Haft werden Martin Luther King und Ralph Abernathy freigelassen. Sie machen sich umgehend daran, eine Großdemonstration zu organisieren. Erneut in Birmingham – und diesmal unter Beteiligung mehrerer Tausend Kinder und Jugendlicher. Das Medieninteresse ist enorm. Das Fernsehen berichtet live. Bull Connors, der berüchtigte lokale Polizeichef, verliert daraufhin die Nerven. Coretta King erinnert sich. WEIBLICHER ZITATOR Er konzentrierte Polizei in den Straßen um die Sixteenth Street Church. Als Tausende Kinder und Teenager und Kinder auf sie zu marschierten, befahl er, die Wasserwerfer aufzudrehen. Die Wucht des Wassers warf die Kinder flach zu Boden und riss einigen von ihnen die Kleider vom Leib. Dann ließ Connor die Polizeihunde los, die bellend und beißend zwischen die Kinder fuhren. ERZÄHLER Die Bilder, die das Fernsehen überträgt, verfehlen ihre Wirkung nicht. Im Weißen Haus in Washington treffen tausende von Telegrammen und Briefen ein. Präsident Kennedy sieht sich gezwungen, extra einen Abgesandten nach Birmingham zu entsenden, um die Lage vor Ort zu entschärfen. Nach zähen, wochenlangen Verhandlungen lenken die Geschäftsleute und der Stadtrat von Birmingham endlich ein. Die Rassentrennung in Toiletten, Erfrischungs- und Anproberäumen wird aufgehoben. Auch ist es in Zukunft untersagt, Schwarze bei ihrer Einstellung oder Beförderung in Industrie, Wirtschaft, Handel und Kirche wegen ihrer Hautfarbe zu diskriminieren. Martin Luther King gibt sich mit diesem Teilerfolg aber nicht zufrieden. Denn die Rassentrennung ist keineswegs nur ein lokales oder regionales Problem, sondern durchaus ein nationales. Um das zu verdeutlichen, haben sich am 28. August 1963 vor dem Capitol in Washington über 200 000 Menschen versammelt. Unter ihnen sind auch Ralph Abernathy und seine Kinder. Sie alle bekommen hautnah mit, wie Martin Luther King seine berühmteste Rede hält. 20. O-TON: JUANDALYNN ABERNATHY Viele Menschen – viele, viele, viele Menschen habe ich – diese Tausende Menschen gesehen. Ich war so stolz darauf, dass es zustande gekommen ist. Ich war klein gerade und dachte mir: Oh, wie langweilig das ist. Und natürlich als die Musik kam, da war ich sehr, sehr aufgeregt. Es war schön, die schöne Stimme zu hören. 21. O-TON: MARTIN LUTHER KING When the architects of our republic wrote the magnificent words of the constitution and the declaration of independence… VOICE OVER: Als die Architekten unserer Republik die großartigen Worte der Verfassung und der Unabhängigkeitserklärung geschrieben haben, haben sie einen Schuldschein unterzeichnet, zu dessen Einlösung alle Amerikaner berechtigt sein sollten. Dieser Schein enthielt das Versprechen, das allen Menschen – schwarzen Menschen ebenso wie weißen – die unveräußerlichen Rechte auf Leben, Freiheit und den Anspruch auf Glück garantiert würden. Es ist heute offenbar, dass Amerika seinen Verbindlichkeiten nicht nachgekommen ist, soweit es die schwarzen Bürger betrifft. Statt seine heiligen Verpflichtungen zu erfüllen, hat Amerika den Schwarzen einen Scheck gegeben, der mit dem Vermerk zurückgekommen ist: „Keine Deckung vorhanden.“ (Beifall) Aber wir weigern uns zu glauben, dass die Bank der Gerechtigkeit bankrott ist. Wir weigern uns zu glauben, dass es nicht genügend Gelder in den großen Stahlkammern der Gelegenheiten in diesem Land gibt. Darum sind wir gekommen, diesen Scheck einzulösen – einen Scheck, der uns auf Verlangen die Reichtümer der Freiheit und die Sicherheit der Gerechtigkeit geben wird. (Beifall) …us the freedom and the security of justice. 22. O-TON: JUANDALYNN ABERNATHY Ich weiß nur, als – Uncle Martin ging an zu sprechen und hat doch erzählt über seine vier Kinder. Ich kann nur erinnern als Kind: Ich war so enttäuscht, weil wir haben immer so immer alles zusammen gemacht, dass er uns hat nicht erwähnt. Und da dachte ich mir: Wir sind nicht erwähnt. Er spricht von seinen vier Kindern. Und wir waren so – ja, ja. so nahe. Und ich dachte, wir waren doch nicht erwähnt, und das hat mich ein bisschen enttäuscht, ja, dass wir nicht als Kinder auch dazu zählen. Aber – ja, wir waren nicht seine Kinder. Aber wie erklärst du das einem ganz, ganz kleinen Kind? Und ich kann mich erinnern, ich fand das ein ganz tolles Ereignis. Er hat sehr, sehr schön gesprochen. Er hat immer schön gesprochen und ich fand sein Timbre und das ist, was seine Besonderheit – das Timbre in seiner Stimme. Das war sein Plus. 23. O-TON: MARTIN LUTHER KING I have a dream. VOICE OVER: Ich habe einen Traum, dass eines Tages diese Nation sich erheben und der wahren Bedeutung ihres Credos entsprechend leben wird. „Wir halten diese Wahrheit für selbstverständlich, dass alle Menschen gleich erschaffen sind.“ Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilen wird. I have a dream that my four children will one day live in a nation where they will not be judged by the colour of their skin but by the content of their character. ERZÄHLER Mit Hilfe seiner begnadeten Rhetorik schafft es Martin Luther King, weitaus mehr Bevölkerungsschichten zu erreichen, als es anderen schwarzen Predigern gelingt. Dazu Ron Williams. 24. O-TON: RON WILLIAMS Plötzlich, die hörten eine andere Art Prediger – ein Mann, der Worte benutzt, fast poetisch. Er beschrieb Sachen, sie kennen seine Reden und sie hörten hin. Das waren Worte mit mehren Silben. Das waren nicht diese einfachen Bibelgeschichten: Und Moses hat das getan und Petrus drehte sich um Jesus. Nein, er hat ungeheuer komplizierte sozialpolitische Inhalte - aber so erklärt auf einer Ebene, wo auch weiße Herrschaften sagten: „Moment mal, diesen Mann da, dem können wir nicht folgen.“ Und er gewann dadurch gewisse Ebenen von intellektuellen politischen und sozialen Klassen der Weißen. Das heißt, er war in diesem Sinne einmalig und dazu noch natürlich seine Art zu reden, diese ungeheure Stimme, wie er dann die Leute mit Gänsehaut begeisterte. Ich habe da nicht vergessen, wie ich im Radio mal saß und hörte ihn eine Rede halten und ich diese Stimme, dieses – diese Art zu reden. Und „Mann“, habe ich gedacht, „ist das jetzt Schauspielerei? Hat er das vor dem Spiegel studiert oder ist das empfunden, ist das echt?“ Das war erlebt. ERZÄHLER Der Rassenterror weißer Fanatiker dauert weiter an. Ende Mai 1964 werden im kalifornischen St. Augustin ein schwarzer Zahnarzt und drei weiße Stundenten von Mitgliedern des Ku-Klux-Klan bis zur Bewusstlosigkeit verprügelt. Im Jahr darauf werden 70 Farbige bei einem Protestmarsch, mit dem sie ein Wahlrecht auch für Schwarze einfordern, von der Polizei mit Peitschen und Schlagstöcken traktiert. Das, was an diesem „blutigen Sonntag“ passiert, bringt John F. Kennedys Nachfolger im Amt des Präsidenten zum Einlenken. Auf Lyndon B. Johnsons Initiative hin verabschiedet der Kongress Anfang August 1965 den so genannten Voting Rights Act. Ab sofort dürfen endlich auch Afro-Amerikaner an Wahlen teilnehmen. King - er ist inzwischen sogar mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden – weiß, dass auch damit der Kampf noch lange nicht gewonnen ist. Dazu der Historiker David J. Garrow. Er ist 1987 für seine King-Biografie mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet worden. 25. O-TON: DAVID J. GARROW In the mid-1960s do Dr. King and others grasp the greater realisation that economic inequality and questions of poverty are almost just as much of a problem for black Americans as is racism and discrimination. VOICE OVER: Mitte der sechziger Jahre wird King und anderen allmählich klar, dass wirtschaftliche Ungleichheit und Armutsfragen für schwarze Amerikaner ein genauso großes Problem darstellen wie Rassismus und Diskriminierung. Darum erweitert King 1965/66 seinen Themenkatalog entsprechend. Und anstatt sich selbst zu seinen Siegen zu gratulieren, die er in Sachen Antirassismus errungen hat, sieht er sich nun mit der Tatsache konfrontiert, dass das, was zu tun ist, viel schwieriger ist als alles, was er sich bis dahin vorgestellt hat. Das führt dazu, dass er darüber spricht, welche revolutionären Änderungen im Alltag der Amerikaner vonnöten sind. That leads him to talk about how there needs to be revolutionary changes in American life. 26. O-TON: MARTIN LUTHER KING I am convinced that if we are to get on the right side of the world revolution we as a nation must undergo a radical revolution of values. VOICE OVER: Ich bin davon überzeugt, dass unser Volk eine radikale Revolution der Werte vornehmen muss, wenn es sich auf die richtige Seite der Weltrevolution stellen will. Wir müssen schnell damit anfangen, von einer sachorientierten Gesellschaft zu einer personenorientierten Gesellschaft zu kommen. Wenn Maschinen und Computer, Profitbestrebungen und Eigentumsrechte für wichtiger gehalten werden als die Menschen, dann wird die schreckliche Allianz von Rassenwahn, Materialismus und Militarismus nicht mehr besiegt werden können. Eine echte Revolution der Werte wird uns bald dazu bringen, dass wir die Redlichkeit und Berechtigung mancher unserer vergangenen und aktuellen politischen Maßnahmen in Frage stellen. A true revolution of values will soon cause us to question the fairness and justice of many our past and present policies. 27. O-TON: DAVID J. GARROW And so, both with regard to talking about the need for economic change… VOICE OVER: Neben seinem Engagement für einen wirtschaftlichen Wandel wird King ab 1967 auch zu einem ausgesprochenen Kritiker des Vietnamkriegs. Und die Kombination beider Themen - sein Widerstand gegen den Krieg und sein Ruf nach einem fundamentalen wirtschaftlichen Wandel – erwecken sowohl im Weißen Haus wie auch beim FBI die Angst, dass King politisch immer radikaler wird. …much more leary about, much more worried about King as a political radical. ERZÄHLER Auch innerhalb der Bürgerrechtsbewegung wollen viele nicht einsehen, warum sich King neben der Rassendiskriminierung plötzlich auch noch gegen den Vietnamkrieg stellt. In ihren Augen geht es doch vor allem darum, die Situation der Afro-Amerikaner im eigenen Land zu verbessern. Dass die US-Regierung für jeden getöteten Feind in Vietnam rund 320 000 Dollar ausgibt, für die Bekämpfung der Armut innerhalb der eigenen Bevölkerung aber nur rund 50 Dollar pro Kopf – diesen Zusammenhang sehen sie nicht. Coretta King erinnert sich. WEIBLICHER ZITATOR Obwohl Martin die Risiken sah, glaubte er nicht den Prophezeihungen, dass eine Friedenserklärung von ihm die Bürgerrechtsbewegung spalten würde. Martin fand, ein Führer dürfe nicht um Gunst buhlen, sondern müsse die Verantwortung auf sich nehmen, den Leuten das zu zeigen, was ihm der rechte Weg scheine. Als er die Erklärung zu Vietnam abgab, fühlte ich deutlich, dass damit ein größeres Werk für ihn begann, das weiter führen würde, als wir zu jenem Zeitpunkt absehen konnten. Während unseres ganzen Kampfes hatte sich jede Phase aus der vorigen organisch entwickelt. Die Jahre schienen sich wie eine Pergamentrolle zu entfalten. Martin wusste, dass es einen langen Erziehungsprozess erforderte, den Leuten den Zusammenhang zwischen Frieden und Freiheit begreiflich zu machen. Wenn irgendeiner dazu in der Lage war, dann gewiss er, den ihm vertraute man. Wenn ihn die Leute auch manchmal vielleicht nicht ganz verstanden, so meinten sie doch. „Wenn es Dr. King sagt, dann muss es so sein.“ 28. O-TON: MARTIN LUTHER KING A true revolution of values will lay hand on the world order and say of war. “This way of settling differences is not just.” VOICE OVER: Eine wirkliche Revolution der Werte wird den Status Quo beseitigen und vom Krieg sagen: “Dieser Weg, Spannungen zu lösen, ist nicht gerecht.” Diese Art von Beschäftigung, menschliche Wesen mit Napalm zu verbrennen, die Häuser unserer Nation mit Waisen und Witwen zu füllen, giftigen Hass in die Adern von Menschen zu spritzen, die sich normalerweise ganz menschlich verhalten, Männer von finsteren und blutigen Schlachtfeldern, körperlich verkrüppelt und seelisch aus dem Gleichgewicht gebracht, nach Hause zu schicken - diese Beschäftigung kann nie und nimmer mit Weisheit, Gerechtigkeit und Liebe in Einklang gebracht werden. Ein Volk, das Jahr für Jahr mehr Geld ausgibt für militärische Verteidigung als für Sozialprogramme, gerät in die Nähe des geistigen Todes. A nation that continues year after year to spend more money on military defense than on social uplift is approaching spirits of death. ERZÄHLER Anfang April 1968 wird Martin Luther King nach Memphis gerufen. Seit zwei Monaten streiken die städtischen Müllfahrer, fast alles Afro-Amerikaner, für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Bei einem ersten Protestzug ist es eine Woche zuvor zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei gekommen. Weitere Streikmärsche hat die Stadt Memphis vorerst verboten. Ob in wenigen Tagen eine zweite Demonstration stattfinden darf, bei der Martin Luther King an der Spitze marschieren soll, muss in Kürze per Gerichtsbeschluss geklärt werden. Die Atmosphäre vor Ort ist aufgeladen. Was zu diesem Zeitpunkt noch niemand ahnt: Martin Luther King wird Memphis nicht lebend verlassen. MUSIK: ALABAMA (JOHN COLTRANE) 2. Stunde MUSIK: ALABAMA (JOHN COLTRANE) ERZÄHLER Als Martin Luther King Anfang April 1968 nach Memphis kommt, hat er etwas gutzumachen. Der Journalist Earl Caldwell, der zu dieser Zeit für die „New York Times“ arbeitet, erinnert sich. 29. O-TON: EARL CALDWELL The first time he went down there they decided to have a march. VOICE OVER: Als er zum ersten Mal nach Memphis gekommen war, hatte ein Protestmarsch stattgefunden, der schon im Gange war, als King auf der Bildfläche erschien. Der Marsch endete in Krawallen, bei denen ein Jugendlicher getötet wurde. Anschließend beschloss Martin, mit seinen eigenen Leuten aus der Bürgerrechtsbewegung wiederzukommen. Er wollte eine neue Demonstration anführen – die diesmal gewaltfrei ablaufen sollte. Dass es beim ersten Marsch zu Ausschreitungen gekommen war, hatte ihn sehr getroffen. Denn wenn es etwas gab, für das er stand, dann war das Gewaltfreiheit. Als offiziell bekannt wurde, dass King sich noch einmal nach Memphis begeben würde, wurde ich von meinem Chefredakteur als Berichterstatter dorthin geschickt. So kam es, dass ich dabei war, als King ermordet wurde. And that’s how it happened that I would be there on the night he was killed. ERZÄHLER Earl Caldwell kommt am Dienstag, dem 2. April 1968, in Memphis an. Von seinem Chefredakteur hat er die Anweisung bekommen, immer dort abzusteigen, wo auch Martin Luther King wohnt. Die „New York Times“ legt Wert darauf, dass ihr Reporter den Bürgerrechtler auf Schritt und Tritt begleitet. In Memphis wird King im „Lorraine Motel“ erwartet. Hier wohnen ausschließlich schwarze Gäste. 30. O-TON: EARL CALDWELL They had a little restaurant in the back. VOICE OVER: Im Erdgeschoss des Motels gab es im hinteren Teil ein kleines Restaurant. Man kam fast nicht zur Tür rein. Von überall her waren Leute gekommen. Es hatte sich herumgesprochen, dass Martin kommen würde. Er kam dann am nächsten Morgen in einer Wagenkolonne vorgefahren. King selbst saß in einem großen Cadillac, den ihm ein örtlicher Bestattungsunternehmer zur Verfügung gestellt hatte. Kings Chauffeur hieß Salomon Jones. Als die Wagenkolonne vor dem Motel eintraf, war es, als würde ein Rockstar vorfahren. Gäste kamen aus ihren Zimmern gerannt, alle schrieen vor Begeisterung. Es war das erste Mal, dass ich King live erlebt habe. Er trug einen maßgeschneiderten, schwarzen Anzug. Er sah unglaublich gut aus – und unglaublich jung. Er war wirklich jung. Und dann hatte er noch all diese Leute um sich geschart, seinen inneren Kreis, und die waren alle sogar noch jünger als er: Jesse Jackson, Andrew Young, James Bevel, Ralph Abernathy, der etwas älter war, und ich dachte: „Mann, die sind wirklich beeindruckend!“ And I thought: Jeeze – how impressive they were. ERZÄHLER Am späten Nachmittag des 3. April treffen sich Earl Caldwell und Martin Luther King in Kings Zimmer zum Interview. 31. O-TON: EARL CALDWELL What strikes me and what will forever stick with me is: we finished this conversation – we talked for maybe half an hour, fourty-five minutes, something like that. VOICE OVER: Was ich nie vergessen werde: Nachdem wir uns eine halbe oder dreiviertel Stunde lang unterhalten hatten, gingen wir raus auf den Balkon vor seinem Zimmer. Wir standen fast genau an der Stelle, wo er am nächsten Tag erschossen werden sollte. Was mich damals überraschte, war, dass Martin Luther King mich fragte, wie es denn so sei, als schwarzer Reporter für die „New York Times“ zu arbeiten. Ich dachte nur: Hier steht ein Mann, den die ganze Welt kennt, der schon so viel durchgemacht hat, wie nur wenige Menschen vor ihm – und er stellt dir Fragen über dein Leben, er ist wirklich interessiert. Dann ging ich runter in mein Zimmer, um meinen Artikel zu schreiben, und er sagte: „Lassen Sie uns mit dem Interview morgen Nachmittag weitermachen.“ Aber daraus ist dann leider nichts geworden. And, of course, this next afternoon we never did get a chance to talk. ERZÄHLER Am Abend desselben Tages ist in Memphis in einer großen Kirche eine Massenversammlung geplant. Es geht darum, die Menschen einzustimmen auf den großen Protestmarsch zugunsten der städtischen Müllfahrer, der in Kürze stattfinden soll. Im Mason Temple haben sich mehrere Tausend Zuhörer versammelt. Alle warten darauf, Martin Luther King reden zu hören. Doch der ist wegen der Strapazen der vergangen Tage völlig erschöpft und will eigentlich lieber in seinem Motelzimmer bleiben – genauso wie Earl Caldwell. 32. O-TON: EARL CALDWELL Late that evening I filed my story to New York. And it had started to rain. VOICE OVER: Spät abends telefonierte ich meinen Artikel nach New York durch. Dann fing es an zu regnen, und es gab ein gewaltiges Gewitter. Es war richtig unheimlich. Ich hatte mir fest vorgenommen, das Motel an diesem Abend nicht zu verlassen und mich deshalb in meinem Zimmer eingeschlossen. Aus dem Gewitter wurde allmählich ein heftiger Sturm. Und obwohl King und seine Leute wussten, dass ich Reporter bei der „New York Times“ war, hatte mir keiner von ihnen gesagt, dass an diesem Abend die Versammlung in der Kirche stattfinden sollte. Als ich am nächsten Morgen in der Zeitung davon las, war ich total aufgebracht. „Warum habt Ihr mir nichts davon gesagt?“ fragte ich hinterher ein paar von Kings Mitarbeitern. Und die sagten nur: „Jeder, der sich mit unserer Bewegung auskennt, hat davon gewusst.“ Na, ja – ich jedenfalls hatte keine Ahnung gehabt. Irgendwann erfuhr ich, dass auch King selbst ursprünglich vorgehabt hatte, gar nicht hinzugehen – wegen des Sturms, und weil er zu müde war. Ich habe mich später immer wieder gefragt, was wohl mit mir passiert wäre, wäre Martin Luther King nicht tags darauf erschossen worden. Wie hätte ich meinem Chefredakteur klar machen sollen, dass ich nicht dabei gewesen war, als King seine unglaubliche Rede hielt? „Du hattest dich in dein Zimmer eingesperrt? Du hattest keine Ahnung davon?“ Aber King wurde umgebracht, und so blieb mir das erspart. But King did get killed. It never came up. ERZÄHLER Als Redner auf der Kundgebung im Mason Temple sind an diesem stürmischen Abend alle möglichen Redner vorgesehen – unter anderem Jesse Jackson und Ralph Abernathy. Vor allem Abernathy gelingt es, wie immer, die Stimmung im Saal kräftig einzuheizen. Alles wartet jetzt auf Martin Luther King. Juandalynn Abernathy erfährt später von ihrem Vater, was dann passiert. 33. O-TON: JUANDALYNN ABERNATHY Daddy hat Uncle Martin angerufen und hat gesagt: „Du musst kommen. Die sind hier.“ Und dann, als Daddy fertig war, dann kam Uncle Martin, und dann ist er tatsächlich dann gekommen. ERZÄHLER Auf Ralph Abernathys Drängen macht sich Martin Luther King schließlich doch noch auf den Weg zum Mason Temple. Er will die 4000 Zuhörer, die dort auf ihn warten, nicht enttäuschen. Als er in der Kirche ankommt, wird er frenetisch begrüßt. Dann hält King die letzte öffentliche Rede seines Lebens. 34. O-TON: MARTIN LUTHER KING I left Atlanta this morning. VOICE OVER: Ich habe Atlanta heute Morgen verlassen. Wir waren eine Gruppe von sechs Leuten, und als der Flug losgehen sollte, sagte der Pilot über den Lautsprecher: „Bitte entschuldigen Sie die Verspätung, aber wir haben Dr. Martin Luther King an Bord. Um sicherzustellen, dass das gesamte Gepäck kontrolliert und alles an Bord in Ordnung ist, mussten wir alles sorgfältig prüfen. Das Flugzeug ist die ganze Nacht bewacht worden.“ Und dann landete ich in Memphis. Einige sprachen von den Drohungen, die im Umlauf waren, und darüber, was mir von einigen unserer kranken weißen Brüder widerfahren könnte. Ich weiß nicht, was jetzt geschehen wird. Schwierige Tage liegen vor uns. Aber das macht mir jetzt wirklich nichts aus. Denn ich bin auf dem Gipfel des Berges gewesen. Ich mache mir keine Sorgen. Wie jeder andere würde ich gerne lange leben. Langlebigkeit hat ihren Wert. Aber darum bin ich jetzt nicht besorgt. Ich möchte nur Gottes Willen tun. Er hat mir erlaubt, auf den Berg zu steigen. Und ich habe hinüber gesehen. Ich habe das Gelobte Land gesehen. Vielleicht gelange ich nicht dorthin mit euch. Aber ihr sollt heute Abend wissen, dass wir, als ein Volk, in das Gelobte Land gelangen werden. Und deshalb bin ich glücklich heute Abend. Ich mache mir keine Sorgen wegen irgendetwas. Ich fürchte niemanden. Meine Augen haben die Herrlichkeit des kommenden Herrn gesehen. My eyes have seen the glory of the coming of the Lord. ERZÄHLER Bevor Ralph Abernathy am Morgen mit King und einigen anderen Bürgerrechtlern nach Memphis aufgebrochen ist, hat er noch schnell seine Tochter zur Schule gebracht. Juandalynn spürt, dass ihr Vater bedrückt ist. Noch heute glaubt sie, er habe irgendwie geahnt, dass in Memphis etwas Schlimmes passieren könnte. 35. O-TON: JUANDALYNN ABERNATHY Und ich weiß noch, dass – er hat noch gesagt: „Ich bin heute Nachmittag nicht da, wenn du kommst aus der Schule.“ Und dann habe ich ihn gefragt: „Wann wirst du denn zurückkommen?“ Und er sagte: „Ich weiß es nicht, Juandalynn. Es dauert so lange. Es ist ein sehr schwieriger Fall.“ Und ich weiß noch, wie es in die Schule ging, dachte ich mir: „Oh je, er war so ruhig.“ Mein Vater war sowieso ein ruhiger Mensch. Aber er hat immer gerne mit uns Witze gemacht oder gefragt nach dem Einmaleins im Auto, bis wir in die Schule kamen. Und ich weiß noch - als ich ausstieg, da dachte ich mir: „Da stimmt was nicht.“ ERZÄHLER Der nächste Tag – es ist Donnerstag, der 4. April 1968 - ist der fünfunddreißigste Streiktag der städtischen Müllfahrer. King bleibt den ganzen Tag in seinem Motelzimmer. Dort isst er auch zusammen mit Ralph Abernathy zu Mittag. Eigentlich hat King Earl Caldwell versprochen, das am Tag zuvor geführte Interview heute fortzusetzen. Doch dazu kommt es nicht. Denn am Nachmittag wird per Gerichtsbeschluss bekannt gegeben, dass die von den Bürgerrechtlern beantragte Großdemonstration nächste Woche tatsächlich stattfinden darf. Daraufhin jagt eine Besprechung die nächste. Dann, es ist kurz vor achtzehn Uhr, ist es an der Zeit, sich auf den Weg zu machen. King und ein rundes Dutzend seiner Mitarbeiter sind bei einem befreundeten Pfarrer zum Abendessen eingeladen. Von ihrem Vater wird Juandalynn Abernathy später erfahren, was sich in diesen letzten Minuten vor Martin Luther Kings Tod in Kings Motelzimmer abgespielt hat. 36. O-TON: JUANDALYNN ABERNATHY Die hatten sich dann fertig gemacht. Die haben sich geduscht und fertig gemacht. Und mein Vater hat sich immer rasiert, Uncle Martin hat sich nicht rasiert. Er hatte dieses Mittel, es hieß „Magic Shave“, das hat so gestunken. Aber das ist wie „Pilka“ für die Frauen - aber für Männer, für den Bart. Weil: Er hatte Probleme mit dem Rasieren, wegen seiner Haut. Wir haben immer Witze gemacht über sein „Magic Shave“, weil: Das hat so gestunken. Und die haben sich dann fertig gemacht. Mein Vater und Uncle Martin waren auf deren Balkon vor deren Zimmer, hat Daddy erklärt. Und die haben gesprochen mit Ben Branch, der unten war. Der hat toll Saxophon gespielt. Und er hat ihm gesagt: „Bist du da heute Abend?“ Und: „Ich möchte, dass du ‚Precious Lord’ spielst.“ Und dann kamen ein paar andere ins Zimmer, und dann gingen die auf den Balkon – auf deren Balkon. ERZÄHLER Martin Luther King befindet sich jetzt, zusammen mit ein paar seiner Freunde, auf dem Balkon vor seinem Zimmer. Von hier aus führt eine Treppe nach unten zum Parkplatz. Dort, im Wagen, wartet unter anderem Kings Chauffeur, Salomon Jones. Plötzlich merkt Ralph Abernathy, dass er vergessen hat, Rasierwasser aufzutragen. Schnell geht er noch einmal zurück ins Zimmer. 37. O-TON: JUANDALYNN ABERNATHY Und ging er wieder rein ins Badezimmer und hat sein Aftershave drauf getan. Und er hörte einen Klatsch. Und er sagte, es hat so geklungen wie ein – auf Englisch ein fire cracker, Knaller. Und er sagte, er ging dann raus auf den Balkon, und er sah nur Blut und er sah Uncle Martin. Und dann ging er sofort zu ihm und er sagte, er hat versucht zu sprechen, aber konnte nicht. Und mein Vater sagte: Er guckte ihn an, guckte ihn an und Daddy sagte, er hat die ganze Zeit versucht, sein Gesicht zusammenzuhalten. Er sagte, „Uncle Martins Augen hatten so eine Angst drin.“ Die Angst strahlte in seinen Augen, und er hat ihn immer beruhigt und immer sein Gesicht zusammen, weil Daddy hat erklärt, das ganze Gesicht war offen, hier. Und deswegen hat Daddy versucht, das Gesicht zusammen … Und dann diese Ängste aus Uncle Martins Augen und er konnte nichts – konnte nichts sagen. Er hat ihn beruhigt und immer mit einer ruhigen Stimme erklärt: „Hilfe ist unterwegs.“ ERZÄHLER Etwa zur selben Zeit, in der sich Martin Luther King und Ralph Abernathy zum Aufbruch vorbereiten, wird Earl Caldwell immer nervöser. Sein Zimmer liegt im Erdgeschoss, schräg unter dem von King und Abernathy. Den ganzen Nachmittag hat er darauf gewartet, dass sich Martin Luther King noch einmal bei ihm meldet, um das Tags zuvor abgebrochene Interview endlich fortzusetzen. Als Caldwell merkt, dass daraus wohl nichts wird, schreibt der Journalist seinen Artikel notgedrungen um. Jetzt muss er den Text noch schnell an die Redaktion der „New York Times“ durchtelefonieren. Denn die hat in diesen Minuten Redaktionsschluss. Es ist kurz vor 18 Uhr. 38. O-TON: EARL CALDWELL And I’m calling over at the office, saying: „Give me a telephone line to New York.” VOICE OVER: Ich rufe also an der Rezeption an und sage: “Bitte geben Sie mir eine Telefonverbindung nach New York.” – „Tut mir leid, alle unsere Leitungen sind besetzt. Wir melden uns, sobald eine frei wird.“ Aber es passierte nichts, und darum habe ich noch mal an der Rezeption angerufen. Aber die meinten nur: „Wir haben Ihnen doch gesagt, dass wir Bescheid geben, sobald eine Leitung frei ist.“ Das Problem war nur: Sie haben alle Telefonleitungen für Kings Leute frei gehalten! Na, ja – ich sitze jedenfalls genervt in meinem Zimmer, und plötzlich höre ich etwas, von dem ich glaube, dass es ein Schuss ist. Ich schaue aus dem Zimmer und sehe, dass es nur eine Colaflasche war, die ein Zimmermädchen draußen von ihrem Tablett auf den Betonfußboden hat fallen lassen. Sie lächelt mir schüchtern zu, und ich gehe zurück in mein Zimmer. Dabei lasse ich die Tür einen Spalt breit offen. Dann warte ich weiter auf eine freie Leitung und rauche nervös eine Zigarette nach der anderen. Dann, plötzlich, höre ich draußen schon wieder einen Knall – diesmal kommt es mir vor wie eine Bombenexplosion. Ich denke: „Na, ja – wir sind hier im Süden. Da ist es wohl üblich, Schwarze mit Bomben zu erschrecken.“ Mit ein, zwei Schritten bin ich an der Tür. “One, two strides, and I’m in the doorway.” ERZÄHLER Als Earl Caldwell nachschaut, was los ist, sieht er auf der anderen Straßenseite – von wo aus der Knall gekommen ist - im Gebüsch einen unbekannten Mann hocken. Dieser schaut zunächst zum Motel herüber und macht sich dann rasch aus dem Staub. Erst jetzt bekommt Caldwell mit, was passiert ist: Schräg über ihm, auf dem Balkon, liegt Martin Luther King im Sterben. Innerhalb von Sekunden bricht das reinste Chaos aus. Menschen laufen durcheinander, jemand ruft nach einem Krankenwagen, andere nach der Polizei. Earl Caldwell gehorcht seinem journalistischen Instinkt. Endlich bekommt er eine freie Telefonleitung. Also informiert er sofort seine Redaktion in New York darüber, was passiert ist. King stirbt wenig später im Krankenhaus. Juandalynn Abernathy befindet sich zuhause in ihrem Kinderzimmer, als sie davon erfährt. 39. O-TON: JUANDALYNN ABERNATHY Dann das Telefon hat auch geklingelt sofort und wer das war, das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ein paar Minuten später dann die Haustür hat geklingelt, die Leute kamen dann rein. Meine Mutter war beim Koffer packen und dann hat’s geheißen: Martin Luther King ist erschossen worden. Und ich habe nur gedacht: Ach, das ist nur ein kleiner Schuss, weil: Es hat geheißen, sie können nicht erkennen, ob das schlimm war oder nicht. Ich kann mich nicht erinnern, dass mein Vater hat je angerufen. Ich – nein, das überhaupt nicht. Und jetzt weiß ich, wieso er nicht angerufen hat: Weil er war am Kümmern um Uncle Martin, weil er gestorben war eigentlich in seinen Armen. Und ich habe nur gedacht: „Okay, dein Daddy ist bestimmt nicht getroffen, weil die haben nichts gesagt.“ Ich habe gedacht, das ist nur am Arm, und ich habe nur gebetet: „Lieber Gott.“ Und wir beten und beten am Telefon zusammen, dass alles gut geht und wir denken wirklich positiv. Dass Uncle Martin stirbt, kam uns niemals – niemals. Ich weiß nicht, wie ich’s erklären kann, es ist einfach…Dass der Tag kommt, dass er stirbt oder der Tag kommt, dass mein Vater ermordet wird oder so – die Ängste waren da. Aber dass man tatsächlich das tun würde – ich weiß nicht, wie ich’s erklären kann. Ich habe gedacht: „Nein, er wird nicht sterben.“ Und dann, als der Anruf kam, dass Uncle Martin tatsächlich gestorben ist, dann brach meine Welt zusammen. ERZÄHLER Earl Caldwell fliegt gleich am nächsten Morgen nach Atlanta. Dorthin wird auch Martin Luther Kings Leiche gebracht. Viele Schulen, Verwaltungsgebäude und Geschäfte bleiben als Zeichen der Anteilnahme an diesem Tag geschlossen. Präsident Lyndon B. Johnson erklärt Sonntag, den 7. April, zum nationalen Trauertag. Wichtige Sport- und Kulturveranstaltungen werden verschoben oder ganz abgesagt. Bei Kings Familie in Atlanta treffen Tausende von Beileidsbriefen und –telegrammen aus der ganzen Welt ein. Coretta King, die Witwe, schreibt in ihren Memoiren. WEIBLICHER ZITATOR Der Tod meines Mannes hatte allerdings auch ein bedauerliches Nachspiel. In 63 Städten des Landes brachen Krawalle aus. Obwohl ich die Verzweiflung verstand, mit der die Anführer auf Martins Tod reagierten, so war es doch nicht der rechte Tribut für einen Prediger der Gewaltlosigkeit. Allerdings schien es klar, dass die Gewalt von keiner Gruppe der Bewegung ermutigt wurde, sondern Ausdruck der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit war. ERZÄHLER Als die Redaktion der „New York Times“ durch Caldwell vom Attentat erfährt, schickt sie sofort ihre schwarzen Reporter in das Stadtviertel, in dem die meisten Afro-Amerikaner leben. 40. O-TON: EARL CALDWELL They rushed to Harlem. VOICE OVER: Sie rasten nach Harlem. Bis dahin war es so gewesen, dass die Reporter immer zu spät gekommen waren, wenn sie über irgendwelche Ausschreitungen berichten wollten. Stets hatte es geheißen: „Ihr hättet vor einer Stunde hier sein sollen, als es losging!“ Diesmal, so erzählte es mir ein Kollege hinterher, war es genau anders herum: Niemand in Harlem hatte von dem Attentat gehört, als unserer Reporter dort eintrafen. Der Kollege sagte, er habe sich einfach auf die Straße gestellt und abgewartet. Dann, plötzlich, ging irgendwo ein Fenster kaputt, die erste Flasche wurde geworfen. Zum ersten Mal konnten die Reporter aus dem Inneren der Krawalle zusehen. These reporters saw the riot from the inside. ERZÄHLER Nicht nur in Harlem brennen an diesem Abend die Straßen. Auch in Memphis – der Stadt, in der King erschossen worden ist – hagelt es Pflastersteine. Viele Schaufenster gehen zu Bruch. Es kommt zu Plünderungen. In mehreren Städten der USA wird der Notstand ausgerufen. Zu den schlimmsten Ausschreitungen kommt es in der Hauptstadt Washington. Dort entladen sich die Wut und die Enttäuschung über Kings Ermordung derart, dass die Krawalle ganze drei Tage lang anhalten. Wie in Memphis, schreitet auch hier die Nationalgarde ein, um die Randalierer in Schach zu halten. Dennoch werden mehrere Häuserblocks völlig zerstört. Schließlich findet am Dienstag, dem 9. April 1968, in Atlanta Martin Luther Kings Beerdigung statt. Zuvor erhalten die engsten Angehörigen und Freunde Gelegenheit, am offenen Sarg Abschied zu nehmen. 41. O-TON: JUANDALYNN ABERNATHY Natürlich gingen die King-Kinder zuerst, und wir waren direkt dahinten, und dann standen wir alle da, mit Granddaddy King. Alle guckten richtig über Uncle Martin und immer die Hoffnung: Er ist am Leben – kleine Kinder, ja. Und wir gehen so nahe dran an sein Gesicht und fassen ihn an und alles. Und wir haben später realisiert: Wenn man atmet so nah dran, dann sieht es so aus, als würde derjenige auch atmen. Wir haben gedacht: „Uncle Martin lebt, Uncle Martin lebt!“ (unterdrückt Tränen) Oh je. ERZÄHLER Noch vierzig Jahre später kämpft Juandalynn Abernathy mit den Tränen, wenn sie an diesen Tag zurück denkt. Sie wird auch nie vergessen, welchen Schock Martin Luther Kings Tod bei ihrem Vater auslöst. Fast zehn Jahre lang haben beide Männer fast jeden Tag miteinander verbracht. Jetzt steht Ralph Abernathy plötzlich und für immer ohne seinen engsten Freund und Weggefährten da. 42. O-TON: JUANDALYNN ABERNATHY Wir haben immer gedacht: Was ist mit ihm los? Er war so still, so nachdenklich, so traurig, so leer. Und das waren viele Jahre, wo mein Vater einfach leer war, weil sein bester Kumpel, sein bester Freund – die haben ihn… Sie müssen sich mal vorstellen: Die haben alles zusammen gemacht. Und plötzlich war dieser Bruch, und da war er nicht mehr da. Und meine Mutter, glaube ich, hat das zu dieser Zeit nicht verstanden. Weil: Ich weiß noch, sie hat ihm immer geschimpft und sie hat gesagt: „Du bist auch tot. Die hätten dich eigentlich auch schießen müssen – in dem Sinn: weil du bist so leer. Wache auf, du lebst noch!“ Und ich weiß noch, dass Daddy kam in unser Zimmer – wir hatten doch einen Schaukelstuhl von meiner Großmutter. Und er schaukelte dort in unserem Zimmer und hat uns erklärt, wie traurig er war. Und er hat uns, meine Schwerter und mich, gebeten, dass wir Geduld mit der ganzen Situation und mit ihm haben und hat uns erklärt. Er konnte so schön erklären. Auch wenn du was Schlimmes gemacht hast – so schlimm waren wir nicht, aber er konnte so erklären. Und dann kamen die Tränen in den Augen und hat uns menschlich erzählt, wie traurig er war. Und er möchte verstanden werden, dass es für ihn sehr hart jetzt ist, weil er jetzt der Führer ist und dass er im Grunde genommen sehr alleine ist. ERZÄHLER Trotz seiner tiefen persönlichen Betroffenheit ist es Ralph Abernathy, der den Trauergottesdienst für Martin Luther King abhält. In der Ebeneezer Baptist Church in Atlanta finden nur 750 Menschen Platz. Gekommen sind 150 000. Coretta King erinnert sich. WEIBLICHER ZITATOR Als wir aus der Kirche in die Sonne traten, standen Zehntausende, die dem Gottesdienst über Lautsprecher gefolgt waren, auf allen Straßen. Martins Sarg wurde auf ein flaches Bauernfuhrwerk gelegt, das von einem Gespann Maultiere gezogen wurde. Wir hatten Maultiere gewählt, um Martins Leichnam durch die Straßen von Atlanta zu fahren, weil es die Verhältnisse der Armen dieser Nation, denen er gehören wollte, symbolisierte und weil es den Kampf kennzeichnete, den er sein Leben lang für sie geführt hatte. Ich freute mich, dass so viele deren Rechte er vertreten hatte, sehen konnten, dass seine Solidarität mit ihnen selbst in den Tod hinein dauerte. Dann begannen wir unseren Marsch durch die halbe Stadt. Alle marschierten mit uns. Wir marschierten, bei seiner Beerdigung, weil Martin zu Lebzeiten so viel für Gerechtigkeit, Freiheit und Menschenwürde marschiert war. Dies war sein letzter großer Marsch. Auf der anschließenden Gedenkfeier sang Mahalia Jackson „Precious Lord“ – das Lied, um das Martin wenige Augenblicke vor seinem Tode Ben Branch gebeten hatte. Mahalia sang schöner als je zuvor. MUSIK: PRECIOUS LORD (MAHALIA JACKSON) ERZÄHLER Earl Caldwell ist nur einen Tag in Atlanta geblieben, um von dort aus für die „New York Times“ über die Vorbereitungen zur Trauerfeier zu berichten. Jetzt, rund 36 Stunden nach Kings Ermordung, kommt der Journalist wieder zurück nach Memphis. Er will seine restlichen Sachen aus dem Zimmer im Lorraine Motel abholen, die er dort zwei Tage zuvor zurückgelassen hat. Als er dort ankommt, erlebt Caldwell eine Überraschung. 43. O-TON: EARL CALDWELL I go back to my room at the Lorraine, and I’m standing in front of my door, and I’m looking out. VOICE OVER: Ich komme zurück in mein Zimmer im Motel, und als ich vor meiner Tür stehe, schaue ich mich um. Irgendetwas stimmt nicht. Nur: was? Dann sehe ich es: Das Gebüsch, in dem ich unmittelbar nach dem Schuss den Mann gesehen hatte, in dem ihn auch Solomon Jones gesehen hatte – es war komplett verschwunden. Jemand hatte den Tatort total verändert und alles dem Erdboden gleichgemacht. Von den Büschen war nichts mehr da. There was nothing there. ERZÄHLER Earl Caldwell wundert sich über noch etwas ganz anderes: Weder die Polizei noch das FBI wollen offenbar von ihm wissen, was er zur Tatzeit gehört oder gesehen hat. Also meldet er sich von selbst bei den Ermittlern – und erlebt die nächste Überraschung. Dass er - und auch Martin Luther Kings Chauffeur - im Gebüsch gegenüber vom Motel einen unbekannten Mann gesehen haben, scheint niemanden zu interessieren. „Dort war nie ein Gebüsch“, bekommt Caldwell zu hören. Also könne sich dort auch niemand versteckt gehalten haben. Doch der Journalist weiß, was er gesehen hat – und so fängt er an, auf eigene Faust zu recherchieren. Er will herausfinden, ob vielleicht jemand vom örtlichen Gartenbauamt das Dickicht aus irgendeinem Grund hat beseitigen lassen. 44. O-TON: EARL CALDWELL The white power structure in Memphis was telling me nothing. VOICE OVER: Bei der örtlichen Verwaltung, in der ausschließlich Weiße gearbeitet haben, wollte mir keiner Auskunft geben. Ich habe extra nur angerufen – weil ich genau wusste: Wenn ich hingehe und sie sehen, dass ich schwarz bin, erfahre ich gar nichts. Aber als ich sagte, ich sei von der „New York Times“, war das fast noch schlimmer. Ich habe nichts herausfinden können. Meine Redaktion hatte sofort nach dem Attentat ein halbes Dutzend Reporter nach Memphis geschickt. Aber auch mit denen wollte niemand reden. So war das einzige, was wir hatten, die offizielle Story mit James Earl Ray und dem Badezimmer-Fenster. What we had, what we already had, was the lead with the official story: about James Earl Ray and the bathroom window. ERZÄHLER Die Polizei bestreitet, dass der tödliche Schuss aus jenem Gebüsch gekommen sein könnte, in dem Earl Caldwell nur Sekunden nach der Tat den mysteriösen Fremden gesehen hat. Denn das hat ja angeblich gar nicht existiert. Stattdessen konzentrieren sich die offiziellen Nachforschungen der Ermittler von Beginn an auf eine Pension. Diese befindet sich knapp hundert Meter Luftlinie entfernt vom Lorraine Motel, auf der anderen Straßenseite – und zwar am hinteren Ende exakt jenes Geländes, auf dem sich laut Caldwell im Vordergrund kurz zuvor noch das Gebüsch befunden hat. Laut Polizei ist der tödliche Schuss von einem Badezimmerfenster der Pension aus abgegeben worden. Darauf deuten Spuren hin sowie ein Bündel, das der vermeintliche Täter offenbar kurz nach der Tat vor dem Eingang der Pension zurückgelassen hat. Das Bündel enthält unter anderem ein Gewehr – vermutlich die Tatwaffe. Die Ermittlungen der Polizei führen dazu, dass zwei Monate nach dem Attentat in London ein Mann verhaftet wird. Sein Name ist James Earl Ray. Rays Fingerabdrücke stimmen mit Fingerabdrücken auf dem Gewehr überein, das die Polizei unmittelbar nach der Tat am Eingang der Pension sichergestellt hat. 45. O-TON: US-RADIO, JUNI 1968 The FBI said he was identified by his finger prints, from 53 000 prints compared. VOICE OVER: Das FBI sagte, er sei nach einem Abgleich von insgesamt 53 000 Fingerabdrücken identifiziert worden. Ray war Ende April 1967 aus dem Staatsgefängnis von Missouri geflohen. Gegen ihn wurde Haftbefehl wegen Beteiligung an einer Verschwörung sowie wegen des Mordes an King erlassen. … he also was charged with a federal warrant with conspiracy and murder in the King assassination. ERZÄHLER James Earl Ray ist 41 Jahre alt und hat bis zu seiner Verhaftung die Hälfte seines Lebens im Gefängnis verbracht. Auf sein Konto gehen vor allem Diebstähle und Raubüberfälle. Neun Monate später, im März 1969, wird Ray in Memphis vor Gericht gestellt. Wer aber mit einem spektakulären Prozess gerechnet hat, der wird enttäuscht. Percy Foreman, Rays Verteidiger, überrascht die Öffentlichkeit mit einem verblüffenden Schachzug: Sein Mandant, so verspricht Foreman, wird sich gleich zu Prozessbeginn zum Mord an King schuldig bekennen – unter der Voraussetzung, dass ihm dafür der elektrische Stuhl erspart bleibt. Eine langwierige Gerichtsverhandlung mit umfangreicher Beweisaufnahme und Zeugenverhören wäre damit hinfällig. Der vorsitzende Richter erklärt sich mit dem Angebot des Verteidigers einverstanden. Die Mitglieder der Geschworenen-Jury werden zu Beginn der Verhandlung unter Druck gesetzt: Wer der Abmachung zwischen Gericht und Verteidigung nicht zustimmt, wird ausgetauscht. Der Rest des Prozesses ist reine Formsache. James Earl Ray bekennt sich schuldig. Allerdings weicht er in einem kleinen Detail von dem ab, was zuvor zwischen Verteidigung und dem Richter vereinbart worden ist: In seinem kurzen Statement besteht Ray ausdrücklich darauf, nicht alleine gehandelt zu haben. Stattdessen behauptet er, Teil einer Verschwörung gewesen zu sein. Damit sorgt er bei den anwesenden Reportern für erhebliche Unruhe – nicht aber beim vorsitzenden Richter oder seinem eigenen Anwalt. Beide scheinen von dieser Behauptung völlig unbeeindruckt. So wird James Earl Ray nach kurzer Gerichtsverhandlung zu 99 Jahren Haft verurteilt. Für die Justiz ist der Fall damit offiziell erledigt. Die „New York Times“ kommentiert am nächsten Tag. MÄNNLICHER ZITATOR Der verkürzte Prozess gegen James Earl Ray ist ein schockierender Vertrauensbruch für die amerikanischen Bürger, weiß wie schwarz. Die Handhabung dieses abgekarteten Prozesses kann nichts anderes als Empörung und Verdacht erregen. Ray selbst stimmt der Abmachung mit dem Schuldeingeständnis zu – sagt dann aber öffentlich aus, dass er der Behauptung widerspricht, es habe keine Verschwörung gegeben. Warum sollte dieser Fall auf der Basis von Behauptungen abgehandelt werden, und nicht auf Grundlage normaler juristischer Vorgehensweisen, mit Kreuzverhör und unter Präsentation aller Beweise durch die Staatsanwaltschaft? Niemand von uns hat verlangt, Blut zu sehen - nur die Fakten. Solange das Verfahren nicht noch einmal vor ein anderes Gericht kommen wird, werden wir die Wahrheit aber wohl nie erfahren. ERZÄHLER Für die Justiz ist der Prozess gegen James Earl Ray nicht gerade ein Ruhmesblatt. Aber: Es scheint keinen Zweifel zu geben, dass es sich bei ihm tatsächlich um den eigentlichen Täter handelt. Immerhin hat er nicht nur gestanden. Auch lassen die auf dem Gewehr gefundenen Fingerabdrücke kaum eine andere Schlussfolgerung zu. Und nicht nur das: Der Staatsanwalt hat zudem einen Augenzeugen benennen können, der Ray unmittelbar nach der Tat im Treppenhaus der Pension gesehen haben will. Selbst das Motiv für den Mord an Martin Luther King scheint gefunden: James Earl Ray hat angeblich aus Rassenhass gehandelt. Was aber hat es mit Rays Bemerkung auf sich, er sei Teil einer Verschwörung gewesen? Normalerweise würde wohl auch Earl Caldwell diesen Hinweis nicht weiter ernst nehmen – hätte er nicht unmittelbar nach der Tat mit eigenen Augen den mysteriösen Mann im Gebüsch sitzen und dann flüchten sehen. Könnte der Unbekannte vielleicht etwas mit dem von Ray angedeuteten Komplott zu tun gehabt haben? Earl Caldwell wird das Gefühl nicht los, dass die Polizei und auch das FBI ihre Ermittlungen im Mordfall King nicht wirklich derart sorgfältig geführt haben, wie sie es offiziell behaupten. Dass von Seiten der Behörden irgendetwas vertuscht werden soll, will Earl Caldwell lieber nicht wahrhaben. 46. O-TON: EARL CALDWELL You know, you get tapped as a conspiracy nut and you are said to discount your story. VOICE OVER: Man wird dann gleich als Verschwörungstheoretiker abgestempelt und die eigene Geschichte wird völlig ignoriert. Aber ich sage: Nein, nein, nein! Das habe ich mir nicht eingebildet. Die Grundlage von allem, was ich sage, ist mein eigenes Erleben. Mir ist es im Grunde egal, wer geschossen hat. Wenn es Ray war, der rassistische Einzeltäter, dann kann ich damit leben. Aber wenn es die Regierung der Vereinigten Staaten gewesen ist, dann kann ich das nie und nimmer durchgehen lassen. And that’s why I would never let it go. MUSIK: MARTIN LUTHER KING (JOAN BAEZ) ERZÄHLER Könnte es wirklich sein, dass in das Attentat auf Martin Luther King Regierungsstellen verwickelt waren? Bekannt ist immerhin, dass King erstmals schon Anfang der sechziger Jahre in den Fokus der Bundespolizei FBI gerät. Zunächst ist es vor allem einer von Kings engsten Mitarbeitern, der die Aufmerksamkeit der Behörde erregt. Er heißt Stanley Levison. Levison ist in den fünfziger Jahren einer der führenden Köpfe der kommunistischen Partei der USA gewesen. Seitdem hat ihn das FBI regelmäßig überwacht. Jetzt kümmert sich Levison unter anderem darum, Spendengelder für Kings Southern Christian Leadership Conference einzutreiben. Das versetzt das FBI in Alarmbereitschaft. Man befürchtet, dass der Kommunist Levison den Bürgerrechtler Martin Luther King politisch ungünstig beeinflussen könnte. Der Historiker David J. Garrow ist für seine King-Biographie 1987 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet worden. In einem zweiten Buch hat er sich ausführlich mit der Beziehung zwischen Martin Luther King und dem FBI beschäftigt. 47. O-TON: DAVID J. GARROW The American FBI had been intensly focused certainly since the early 1940s on danger of soviet infiltration into the US. VOICE OVER: Das FBI hatte sich schon seit den frühen vierziger Jahren intensiv mit der Gefahr sowjetischer Infiltration in den USA beschäftigt. In den Fünfzigern gab es sogar eine Zusammenarbeit mit den Führern der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, um versteckte kommunistische Mitglieder aus deren Reihen zu entfernen. Insofern beruhte die Besorgnis des FBI in Bezug auf Levisons Beziehung zu King auf einer Geisteshaltung, die zu dieser Zeit schon zwei Jahrzehnte Bestand hatte. So what we see with the FBI sphere about Lewinson and King is simply one more application of a mind set that had existed for two decades by that point. ERZÄHLER FBI-Chef J. Edgar Hoover bittet Präsident John F. Kennedy und Justizminister Robert Kennedy darum, Stanley Levison abhören zu dürfen. Er will feststellen lassen, ob Martin Luther King – und damit die gesamte schwarze Bürgerrechtsbewegung - durch Levison tatsächlich kommunistischen Einflüssen unterliegt. 48. O-TON: DAVID J. GARROW But the important thing with the bureau: what the bureau for well realised in 1962/63… VOICE OVER: 1962/63 musste das FBI feststellen, dass Levison – obwohl man ihn rund um die Uhr abhörte – in keiner Weise die kommunistische Partei oder gar die Sowjetunion vertrat oder dass seine Ratschläge an King in irgendeiner Art und Weise kommunistische Tendenzen enthielten. Wenn man sich heute die Abhörprotokolle des FBI anschaut, dann sieht man immer wieder, was für ein ehrlicher, verlässlicher und kritischer Freund Levison für King damals war. We can read the summaries and transcripts of those wire taps and see again and again and again what a very honest, reliable, critical friend Lewison was to Martin Luther King. ERZÄHLER Dass Martin Luther King kommunistischer Infiltration ausgesetzt ist, hat ihm das FBI im Zuge umfangreichen Abhöraktivitäten nicht nachweisen können. Dennoch behält die Bundespolizei den Bürgerrechtler weiter im Auge. Grund dafür ist in erster Linie eine Pressekonferenz, auf der sich Martin Luther King über das FBI beschwert. Vor allem in den südlichen Bundesstaaten, so King, würden die Mitarbeiter des FBI meist tatenlos zusehen, wenn der rechtsradikale Ku-Klux-Klan die Gebäude schwarzer Kirchengemeinden in Brand setzt oder anderweitig mit Gewalt gegen schwarze Bürgerrechtler vorgeht. Kings öffentlich geäußerter Vorwurf bringt FBI-Chef J. Edgar Hoover in Rage. Ein FBI-Mitarbeiter erinnert sich. MÄNNLICHER ZITATOR Ich war dabei, als King die Pressekonferenz abhielt, und ich wusste auch, dass er Recht hatte: Das FBI kam seinen Aufgaben wirklich nicht nach. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass dieser Vorwurf beim FBI irgendjemanden überrascht haben soll. Auf jeden Fall war das der Zeitpunkt, an dem Hoover seinen persönlichen Rachefeldzug gegen King ins Rollen brachte. In den zwanzig Jahren, die ich für das FBI gearbeitet habe, habe ich wirklich viele Untersuchungs- und Fahndungsaktionen mitbekommen. Aber das, was von da an in Sachen King angeleiert wurde, war einfach einmalig. Es gab eine ganze Gruppe von Leuten, die sieben oder acht Jahre lang mit nichts anderem beschäftigt war, als Material gegen King zusammenzutragen, mit dem man ihn fertig machen konnte. ERZÄHLER Im Rahmen seines persönlichen Feldzuges gegen King stößt FBI-Chef J. Edgar Hoover eines Tages auf einen möglicherweise wunden Punkt in Kings Privatleben. King, Baptistenpfarrer und Vater von vier Kindern, ist offiziell seit Jahren glücklich verheiratet. Jetzt wird Hoover plötzlich ein geheimer Tonbandmitschnitt vorgelegt. Dieser ist von FBI-Mitarbeitern angefertigt worden und stammt aus einem Hotelzimmer, in dem Martin Luther King vor kurzem übernachtet hat. Der Buchautor Mark Lane schreibt: MÄNNLICHER ZITATOR Auf dem geheimen Tonbandmitschnitt waren offenkundig Geräusche und Stimmen zu hören, die auf sexuelle Aktivitäten schließen ließen. Das Problem war nur, dass King mit diesen nicht direkt in Verbindung zu bringen war. Auch war seine Stimme fast gar nicht zu hören. Daraufhin beauftragte Hoover das FBI-Techniklabor damit, das Tonband so zu bearbeiten, dass erstens Kings Stimme besser zu verstehen war und dass sich diese zweitens auch stärker mit den prekären Stellen des Tonbandes in direkten Zusammenhang bringen ließ. Anschließend wurden sämtliche Fingerabdrücke vom Tonband entfernt. 49. O-TON: DAVID J. GARROW J. Edgar Hoover did develop a great animous and hatred for Martin Luther King personally. VOICE OVER: J. Edgar Hoover entwickelte eine tiefe persönliche Abneigung und einen Hass gegenüber Martin Luther King. Und diese Abneigung gründete sich nicht etwa auf der Annahme, dass King unter kommunistischer Einflussnahme stünde, sondern beruhte darauf, dass King alles andere als monogam lebte und mit vielen verschiedenen Frauen schlief. Das FBI sah ihn als moralisch und ethisch gestört an. Darum legte es eine “Wir wissen es besser”-Haltung an den Tag, die zum Ausdruck brachte, dass es für das schwarze Amerika besser sei, wenn King von seiner Rolle als schwarzer Führer abgelöst werden würde. …that it would be better for black America if King were somehow removed from a leadership role. ERZÄHLER Einer von J. Edgar Hoovers wichtigsten leitenden Mitarbeitern heißt William C. Sullivan. Sullivan wird beim FBI zur zentralen Figur, als es darum geht, Martin Luther King mithilfe der geheimen Tonbandaufnahmen in der Öffentlichkeit bloßzustellen. 50. O-TON: DAVID J. GARROW In 1963 Sullivan writes in a FBI sort of strategy memo… VOICE OVER: 1963 schreibt Sullivan in einem internen FBI-Papier, dass Kings “I have a dream”-Rede ihn zum - Zitat – “gefährlichsten Neger Amerikas” mache. Sullivan ist außerdem noch viel starker als Hoover darauf fixiert, dass Kings privates Sexualleben nichts mit dem zu tun hat, wie das Sexualleben eines Pfarrers nach Ansicht des FBI auszusehen hat. Darum schickt Sullivan das Tonband mit den geheimen Aufnahmen aus dem Hotelzimmer an King – anonym und versehen mit einem Drohbrief. …sending this anonymous tape recording and an anonymous threatening letter to King. MÄNNLICHER ZITATOR King, wie bei allen anderen Heuchlern ist auch dein Ende nahe. Schon in jungem Alter hast du dich nicht als Führer, sondern als zügelloser, abnormaler und moralischer Schwachkopf entpuppt. Die amerikanische Öffentlichkeit und die Kirchenorganisationen, die dich unterstützt haben - Protestanten, Katholiken und Juden - werden erfahren, was du bist: ein teuflisches, abnormales Untier. Für dich gibt es nur noch einen Ausweg. Du weißt schon, welchen. Nimm’ ihn lieber, bevor dein dreckiges, abnormales, verlogenes Wesen vor der Nation enthüllt wird. ERZÄHLER Der Drohbrief erreicht King im November 1964 – kurz nachdem ihm der Friedensnobelpreis zuerkannt worden ist. Der indirekten Aufforderung zum Selbstmord kommt er zwar nicht nach – völlig kalt lässt King das anonyme Schreiben aber auch nicht. 51. O-TON: DAVID J. GARROW There are some periods of time soon after he receives the anonymous tape… VOICE OVER: Kurz nachdem er das anonyme Band erhalten hat, ist King sehr verstört, man könnte vielleicht sogar sagen: klinisch depressiv. Aber das dauert nicht allzu lange. Letzten Endes nimmt er eine fatalistische Haltung ein und geht dazu über, sich über das FBI nicht mehr allzu sehr den Kopf zu zerbrechen. …and not worry too overly much about the FBI. ERZÄHLER In seinem Hass gegenüber King schafft es FBI-Chef Hoover sogar, den Präsidenten auf seine Seite zu bringen. Dazu der Schauspieler Ron Williams. 52. O-TON: RON WILLIAMS Er hasste King. Und als er Lyndon Johnson überzeugte, King sei Kommunist und will den Sturz der Regierung hier verursachen, hat Johnson ihn dann zur Persona non grata erklärt. Und er Satz kam aus den Lippen von Johnson, das habe ich erfahren - ich konnte es nicht glauben: „Martin Luther King is nothing but another nigger Prediger, another nigger preacher. Another nigger preacher.“ Von dem Mund des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika! Der Mann, der später nach seinem Tod dieses Bürgerrechtsgesetz unterschrieb. Man sieht, wie weit dieser Rassismus in den Köpfen von Menschen war. Jeder Schwarze, der aufmuckte, der war entweder Terrorist, Kommunist oder einfach eine unpatriotische - wie man in Deutschland sagt: ein Landesverräter. ERZÄHLER Wie Earl Caldwell ist auch Ron Williams fest davon überzeugt, dass das FBI bei der Ermordung Martin Luther Kings die Finger im Spiel gehabt hat. Und nicht nur das: Williams glaubt auch, dass dies mit Wissen der Johnson-Regierung passiert ist. Von offizieller Seite wird das natürlich seit jeher vehement abgestritten. Fest steht zumindest eines: Der Zeitpunkt für Kings Ermordung könnte aus Sicht seiner politischen Gegner kaum günstiger gewählt worden sein. Denn King steht im Frühjahr 1968 unmittelbar vor dem größten politischen Kraftakt seines Lebens. Noch einmal Kings Biograph, David J. Garrow. 53. O-TON: DAVID J. GARROW In the last eight or nine months of his life, in 1967 and early 1968, Dr. Kings is planning and organizing a poor people’s campaign… VOICE OVER: In den letzten acht, neun Monaten seines Lebens plant King einen Marsch der Armen in die US-Hauptstadt Washington. Dieser soll im April 1968 stattfinden, ähnlich wie der bereits sehr erfolgreiche Marsch vom Sommer 1963. Nur, dass diesmal ein wirtschaftlicher Wechsel gefordert wird – und dass die Teilnehmer so lange bleiben wollen, bis der Kongress und der Präsident den Forderungen politisch nachgekommen sind. …stay until the Congress and the president did something, policy-wise. ERZÄHLER Earl Caldwell ist nicht der Einzige, dem noch heute ein kalter Schauer den Rücken hinunter läuft, wenn er sich Martin Luther Kings letzte Rede anhört. Der Journalist glaubt, King habe gegen Ende seines Lebens resigniert. Und nicht nur das. Er habe auch gewusst, dass sein Leben unmittelbar bedroht gewesen sei. Dabei habe er seinen Gegnern offen ins Gesicht geblickt. 54. O-TON: EARL CALDWELL He knew. He knew. But he wasn’t afraid. And he walked right into it. VOICE OVER: Er wusste es. Aber er hatte keine Angst. Mit seiner unglaublichen Stärke und seinem Charakter schaute er sie an und sagte ihnen: „Ich habe keine Angst vor euch. Unsere Bewegung wird weiter marschieren. Ihr könnt mich töten. Aber unsere Bewegung werdet ihr damit nicht aufhalten können.“ And he is saying to them: “You can kill me. But you are not gonna stop it!” ERZÄHLER Ursprünglich hätten im Mai 1968 Hunderttausende Mitglieder der untersten Einkommensschichten aus den ganzen USA nach Washington marschieren sollen – unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft und Hautfarbe. Jetzt, nach Kings Ermordung, fällt der Protestmarsch vergleichsweise bescheiden aus. Earl Caldwell lässt die aus seiner Sicht schlampige Fahndungsarbeit des FBI keine Ruhe. Vor allem will er wissen, was es mit dem mysteriösen Mann in dem Gebüsch auf sich gehabt hat, von dem das FBI offenbar nichts wissen will – den er und Martin Luther Kings Chauffeur aber mit eigenen Augen gesehen haben. Also macht sich Caldwell daran, die Hintergründe des Attentats auf eigene Faust zu recherchieren. Eines Tages macht ihn ein Kollege auf einen Obdachlosen namens Harold Carter aufmerksam. Carter hat sich an dem Abend, an dem King erschossen wird, auf dem Grundstück gegenüber vom Lorraine Motel niedergelassen. Seine Behausung besteht aus einem großen Umzugskarton. Sie befindet sich in unmittelbarer Nähe zu dem Gebüsch, aus dem Earl Caldwell und Salomon Jones den unbekannten Mann haben hervor kriechen sehen. Um kurz vor 18 Uhr hat es sich Harold Carter in seiner primitiven Unterkunft gerade bequem gemacht. Da hört er plötzlich Schritte. Als er vorsichtig nach draußen schaut, sieht er einen Mann mit ungewöhnlich weiten Hosen. 55. O-TON: EARL CALDWELL He said he took this rifle out of these pants and put it together. VOICE OVER: Er sagte, der Mann habe ein Gewehr aus der Hose gezogen und zusammengesetzt. Es bestand aus mehreren Einzelteilen. Dann sah er, wie der Mann eine knieende Position einnahm – genau dort, wo ich ihn auch im Gebüsch hatte sitzen sehen. Er habe King erschossen, das Gewehr wieder auseinandergebaut und in der Hose versteckt. Dann sei er am unteren Ende des Geländes über die Mauer gesprungen und davongegangen. …put it back down into his trousers, and said he saw him jump off the ledge and walk down that walk away. ERZÄHLER Die Aussage des Obdachlosen, von der Caldwell durch den Kollegen erfährt, deckt sich mit seinen eigenen Beobachtungen und auch mit dem, was Solomon Jones gesehen hat. Es sieht tatsächlich so aus, als sei der tödliche Schuss nicht aus dem Badezimmerfenster der Pension gekommen, sondern aus dem Gebüsch. Caldwell fasst neuen Mut – und recherchiert weiter. 56. O-TON: EARL CALDWELL I don’t know exactly the time. Maybe – I would say it was within a month. VOICE OVER: Etwa einen Monat später rief mich jemand an und sagte: “Mach dich auf den Weg nach Summerville, Tennesse, und wende dich an einen Typen namens John McFerren. Er weiß etwas, das du dir unbedingt anhören solltest.“ Als ich auf der Karte nachschaute, wo dieses Summerville lag, sah ich, dass das im tiefsten Süden war – in einer Gegend, wo ich als Schwarzer nie und nimmer freiwillig hingefahren wäre. Also rief ich einen Kollegen an, Jack White. Er arbeitete in Nashville, Tennessee, und sagte mir, er würde mich begleiten. Also fuhren wir zusammen nach Summerville. …and then we drove up to Summerville. ERZÄHLER Der Informant, den Caldwell und sein Kollege zu Hause aufsuchen, hat eine interessante Information zu bieten. Er behauptet, per Zufall einem Telefongespräch gelauscht zu haben, in dem Martin Luther Kings Ermordung angekündigt worden sei. Als Earl Caldwell und Jack White aufbrechen wollen, wissen sie nicht, was sie von dieser Aussage halten sollen. Sicher ist nur: Vor dem Haus steht schon seit geraumer Zeit ein merkwürdiger Wagen. Darin sitzen zwei Männer. 57. O-TON: EARL CALDWELL These were two guys that had jackets and ties on. VOICE OVER: Die beiden trugen Anzug und Krawatte. Sie hatten die ganze Zeit über in ihrem Wagen gesessen und das Haus beobachtet. Auch, als wir im Haus das Licht ausknipsten, blieb der Wagen draußen stehen. Unser Informant warnte uns: „Wenn ihr zurückfahrt, dann nehmt am besten die Nebenstraße, dann sieht euch keiner.“ Wir folgen also seinem Rat – und als wir gerade mal drei Minuten unterwegs sind, hängen die beiden Typen mit ihrem Wagen schon an unserer Stoßstange. Wir versuchen sie abzuschütteln – vergeblich. Als wir in die Berge kommen, ist der andere Wagen plötzlich neben uns und versucht, uns von der Straße abzudrängen. Wenn die es geschafft hätten, uns den Berg hinunterzuschubsen, dann könnte ich heute nicht davon erzählen. …there would be no conversation today. ERZÄHLER Earl Caldwell und sein Kollege haben Glück und können entkommen. Caldwell wird das Ganze allmählich unheimlich. Er beschließt, seine Recherchen in einem Buch zu verarbeiten. Also macht er sich noch einmal auf den Weg nach Memphis, um Harold Carter, den Obdachlosen, aufzuspüren. Auch will er Solomon Jones noch einmal interviewen. Aber der Journalist hat keinen Erfolg: Harold Carter ist inzwischen tot. Und Solomon Jones, Kings ehemaliger Chauffeur, scheint plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Earl Caldwell schreibt sein Manuskript trotzdem. Als er es schließlich allen möglichen Verlagen anbietet, hagelt es dutzendweise Absagen. 58. O-TON: EARL CALDWELL I was feeling really bad. VOICE OVER: Ich fühlte mich wirklich mies. Eines Tages kam jemand und sagte zu mir: „Ganz im Vertrauen: Du kannst so eine Geschichte noch nicht veröffentlichen. Die Leute, über die du da schreibst, sind alle noch im Amt. Damit musst du zwanzig Jahre warten.“ Inzwischen weiß ich: Ein weißer Journalist hätte damit vielleicht zwanzig Jahre warten müssen. Ich, als Schwarzer, eher vierzig. Ich hoffe jedenfalls, dass ich mein Buch irgendwann vielleicht doch noch veröffentlichen kann. …maybe my story on this will be published. ERZÄHLER Ein anderer Autor namens Gerold Frank hat offenbar mehr Glück. Schon 1972 veröffentlicht er ein eigenes Buch zum Attentat auf Martin Luther King. Es trägt den Titel „An American Death“ – „Ein amerikanischer Tod“ – und beschreibt den offiziellen Mörder, James Earl Ray, als rassistisch gesinnten Einzeltäter. Wiederum ein paar Jahre später taucht in den Akten des FBI ein handschriftlicher Vermerk auf. Dieser ist datiert vom 11. März 1969. Einen Tag zuvor ist James Earl Ray zu 99 Jahren Haft verurteilt worden. Der Aktenvermerk stammt vom stellvertretenden FBI-Chef und ist an Clyde Tolson gerichtet. Tolson wiederum ist der engste Vertraute von FBI-Chef J. Edgar Hoover. In dem Vermerk heißt es: MÄNNLICHER ZITATOR Jetzt, wo Ray verurteilt ist, möchte ich vorschlagen, dass uns der Direktor erlaubt, einen verlässlichen Autor zu bitten, ein Buch über den Fall zu schreiben. Natürlich lassen sich nicht alle künftigen Gerüchte zerstreuen oder zum Schweigen bringen, aber es wäre gewiss eine große Hilfe, wenn ein solches Buch für die Nachwelt in den Regalen der College- und Schülerbüchereien stünde. ERZÄHLER Earl Caldwell macht sich noch heute Gedanken, warum es mit seiner eigenen Buchveröffentlichung bis heute nicht geklappt hat. 59. O-TON: EARL CALDWELL One of the things about big media: it always balances towards the government. VOICE OVER: Die großen Medien schlagen sich immer auf die Seite der Regierung. Ich glaube, viele von ihnen haben ganz einfach Angst davor, dass sich die schwarze Bevölkerung erheben könnte. Und ich glaube, die Medien wollen nichts mit der Sache zu tun haben, weil sie, wie ich, eines genau wissen: dass die Regierung der Vereinigten Staaten bei dem Mord die Finger im Spiel hatte. Das Blut Martin Luther Kings klebt an den Händen der Regierung. Daran gibt es nichts zu deuteln. …the blood is on the hands of the government of the United States, no two ways about it. MUSIK: WHERE IS THE LOVE? (BLACK EYED PEAS) 3. STUNDE MUSIK: ALABAMA (JOHN COLTRANE) ERZÄHLER Hat beim Mord an Martin Luther King wirklich das FBI – und damit die US-amerikanische Regierung – die Finger im Spiel gehabt? Earl Caldwell zumindest, findet, dass das FBI von Anfang an ziemlich schlampig gearbeitet hat – und das ganz bewusst. 60. O-TON: EARL CALDWELL You can look at the FBI files and you see: Jesse Jackson was interviewed, and Bevel, and Andrew Young. VOICE OVER: Wenn man sich die FBI-Akten anschaut, dann sieht man, wer alles interviewt worden ist: Jesse Jackson, Jim Bevel, Andrew Young – eben all diejenigen, die unten auf dem Parkplatz standen und zu King hoch schauten, als die Kugel an seinem Kopf explodierte und die darum gar nicht wissen konnten, woher der Schuss gekommen war. Sie alle sind später vom FBI befragt worden – aber auch erst mehrere Tage nach der Tat. Es hat am Tatort nie eine richtige Untersuchung gegeben. Es ist doch wirklich unfassbar: Die Leute vom FBI behaupten, sie hätten im Mordfall King die aufwendigste Untersuchung ihrer Geschichte durchgeführt – und niemand hat es für nötig gehalten, gleich nach der Tat von Tür zu Tür zu gehen und die Leute zu fragen, wo sie zur Tatzeit gestanden und was sie gesehen haben? Stattdessen tischen sie der Öffentlichkeit eine Geschichte auf, die nie und nimmer stimmen kann: Ray soll vom Badezimmerfenster aus geschossen und dann im angrenzenden Schlafzimmer erst einmal eine Menge Fingerabdrücke hinterlassen haben, bevor er sich davon macht? Und dann, bevor er mit dem Wagen abhaut, lässt er am Eingang der Pension schnell noch das Bündel fallen, in dem sich unter anderem die Tatwaffe befindet? Diese Variante, die offiziell bis heute gilt, sollen wir ihnen wirklich abkaufen? …and all these years later it’s still there. ERZÄHLER Im Gegensatz zu Earl Caldwell gibt sich die Öffentlichkeit weitgehend mit der offiziellen Version zufrieden. Und die lautet. James Earl Ray war ein rassistischer Einzeltäter. Erst Ende der neunzehnhundertsiebziger Jahre kommt neue Bewegung in den Mordfall King. Das liegt unter anderem auch daran, dass sich ausgerechnet der vermeintliche Attentäter selbst zu Wort meldet 61. O-TON: JUANDALYNN ABERNATHY James Earl Ray – er hat immer bei uns angerufen. Er hat bei uns angerufen öfters, und ich hatte ihn am Telefon. Als er im Gefängnis war, hat er immer angerufen und ja, hat verlangt, nach meinem Vater zu sprechen. Und wenn er da war, dann hat er ihm gesprochen, und dann hat er immer gesagt: „Ich hab’s nicht getan. Ja, ich hab’s nicht getan.“ Und ich habe den Mann am Telefon gehört, ja. Und mein Vater war immer überzeugt, dass – dass es eine conspiracy war. ERZÄHLER Ralph Abernathy ist das Gefühl nie richtig losgeworden, dass James Earl Ray schon in dem Aufsehen erregenden Prozess im März 1969 die Wahrheit gesagt hat: nämlich, dass er Teil einer Verschwörung gewesen ist. Jetzt, acht Jahre später, lassen ihm die dauernden Anrufe des angeblichen Attentäters keine Ruhe. Ralph Abernathy beschließt, James Earl Ray im Gefängnis zu besuchen. Im persönlichen Gespräch will er herausfinden, ob Ray ganz einfach nur skrupellos ist, ob es sich bei ihm um einen Spinner handelt – oder ob er vielleicht doch die Wahrheit sagt. Ralph Abernathy will sich dabei aber nicht nur auf sein eigenes Urteil stützen. Darum wendet er sich an einen Mann Namens William Pepper. Pepper hat in den neunzehnhundertsechziger Jahren als Journalist gearbeitet. Durch ihn hat Martin Luther King Anfang 1967 überhaupt zum ersten Mal von den Greueltaten erfahren, die US-amerikanische Soldaten im Vietnam-Krieg anrichten. 62. O-TON: WILLIAM PEPPER I did a major article on the war. VOICE OVER: Ich hatte damals einen Artikel veröffentlicht mit dem Titel “Die Kinder von Vietnam”. Den hatte Martin gelesen und sich mit mir in Verbindung gesetzt. So wurden wir im letzten Jahr seines Lebens enge Vertraute. I became very close to him the last year of his life. ERZÄHLER William Pepper berichtet im Januar 1967 als freier Kriegskorrespondent aus Vietnam. Welche Wirkung sein Artikel auf Martin Luther King hat, beschreibt Bernard Lee. Lee ist zu dieser Zeit Pfarrer in Atlanta und einer von Kings engsten Freunden. MÄNNLICHER ZITATOR Martin und ich waren unterwegs nach Jamaica. Bevor wir an Bord des Flugzeugs gingen, bestellten wir in einem Restaurant schnell noch etwas zu essen. Martin hatte an einem Kiosk einen Stapel Zeitschriften gekauft, die er während des Essens durchblätterte. Als er die Zeitschrift „Ramparts“ aufschlug, erstarrte er plötzlich. Er blickte auf die Fotos aus Vietnam, unter anderem auf das Bild einer vietnamesischen Mutter, die ihr totes Baby im Arm hielt – getötet von unseren Soldaten. Martin schob den Teller mit seinem Essen von sich weg. Ich fragte ihn: „Schmeckt es dir nicht?“ Und er sagte: „Mir wird so lange nichts mehr richtig schmecken, bis ich alles unternommen habe, um diesen Krieg zu beenden.“ 63. O-TON: WILLIAM PEPPER I think I probably was the youngest white person ever to preach in his church. VOICE OVER: Ich glaube, ich war der jüngste Weiße, der jemals in seiner Kirche gepredigt hat. Er hatte mich darum gebeten, seinen Kirchenmitgliedern vom Krieg in Vietnam zu berichten – und warum er sich dagegen stellen müsse. Ich meinte, Martin solle doch lieber selbst zu ihnen reden, immerhin sei es seine Kirchengemeinde. Aber er sagte nur: „Du bist da gewesen und hast es gesehen. Dir werden sie glauben, wenn Du ihnen sagst, warum ich mich gegen den Krieg stellen muss.“ You’ve been there. You’ve seen it. You’ll tell them. They’ll believe you why I must do this. ERZÄHLER Für King ist es wichtig, den Menschen klarzumachen, dass sich Rassismus, Militarismus und Armut kaum voneinander trennen lassen – vor allem nicht im Vietnam, wo nicht nur seiner Meinung nach in erster Linie ein Kolonialkrieg tobt. 64. O-TON: WILLIAM PEPPER Martin asked me to head the National Conference for New Politics. VOICE OVER: Martin bat mich, die Führung der Nationalen Konferenz für neue Politik zu übernehmen. Das war ein Dachverband, unter dem sich alle möglichen Anti-Kriegs-Organisationen des Landes zusammengeschlossen hatten. Ich wurde zum Geschäftsführer ernannt. Unser oberstes Ziel war es, im September 1967 einen Kongress abzuhalten. Auf diesem sollte King als unabhängiger Kandidat für die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen aufgestellt werden. Damit wollten wir den Bürgern die Möglichkeit geben, einen Anti-Kriegs-Kandidaten wählen zu können. As a means of giving the people of the Unites States, the citizens, a choice in terms of an anti-war ticket. ERZÄHLER Aus Martin Luther Kings Präsidentschaftskandidatur wird nichts. Es ist letztlich King selbst, der sich dagegen ausspricht, für das höchste Amt im Lande zu kandidieren. Andere wollen ihn dazu drängen. Doch King begreift sich, wie er sagt, nicht als einzelner Kandidat, sondern als das Gewissen aller Parteien und Bürger. Ein halbes Jahr später wird er erschossen. 65. O-TON: WILLIAM PEPPER You know – we were very naive in those days. VOICE OVER: Wir waren damals ganz schön naiv. Wir dachten, wir könnten die Welt verändern – nur weil wir Recht hatten, eine Menge Energie, Unterstützung und auch noch gute Folk Songs. (…) Robert Kennedy fragte mich nach Martins Ermordung, ob ich Interesse hätte, in seinem Wahlkampfteam für die anstehende Präsidentschaftswahl mitzuarbeiten. Aber ich hatte von der Politik endgültig genug. So I just walked away from politics at that point. ERZÄHLER Desillusioniert kehrt William Pepper der Politik nach Kings Ermordung den Rücken zu und schlägt eine Laufbahn als Rechtsanwalt ein. Zahn Jahre lang hat er keinen engeren Kontakt zur Bürgerrechts- oder Friedensbewegung. Auch die Frage, on es sich bei James Earl Ray um den wahren Mörder Martin Luther Kings handelt, interessiert ihn eigentlich nicht wirklich. Bis er eines Tages einen Anruf von Ralph Abernathy erhält. 66. O-TON: WILLIAM PEPPER That happened in August of 1978. VOICE OVER: Das war im August 1978. Ralph Abernathy rief also an und fing an, mit mir über das Attentat zu diskutieren. Er fragte, ob ich dazu bereit wäre, in seinem Beisein James Earl Ray im Gefängnis einer Befragung zu unterziehen. Ich fragte ihn, warum. Immerhin seien seit dem Mord über zehn Jahre vergangen, und es gebe doch wohl keinen Zweifel daran, dass Ray der Täter sei. Er sagte: „Ich will ihn einfach mal kennen lernen und sehen, wie er reagiert, wenn er unter Stress gerät.“ Ich machte ihm klar, dass ich mich mit Rays Fall nie beschäftigt hatte. I don’t know anything about the case. ERZÄHLER Abernathy macht dem Anwalt klar, dass er selbst nie an die offizielle Version von James Earl Ray als alleinigem Attentäter geglaubt hat. Außerdem rufe der ständig bei ihm zuhause an und behaupte unablässig, er sei das Opfer einer Verschwörung. Je mehr Ralph Abernathy erzählt, desto stärker wächst Peppers Interesse. Schließlich erklärt er sich dazu bereit, James Earl Ray in Abernathys Beisein tatsächlich einer detaillierten Befragung zu unterziehen. Pepper arbeitet sich also erst einmal in die offiziellen Ermittlungen ein, die zu dem Attentat angestellt worden sind. Dann, nach drei Monaten Vorbereitungszeit, macht er sich gemeinsam mit Ralph Abernathy auf den Weg. Das erste Treffen mit James Earl Ray im Brushy-Mountain-Gefängnis von Tennessee dauert fünf Stunden. 67. O-TON: WILLIAM PEPPER He was very calm. He was not what we expected. VOICE OVER: Er war sehr ruhig und verhielt sich ganz anders, als wir es erwartet hatten. Er sprach mit leiser Stimme und war freundlich. Abernathy war sicher, dass Ray kein Rassist war. Seine Antworten kamen alle gerade heraus, und am Ende unseres Gesprächs waren wir überzeugt davon, dass er nicht der Schütze war. Wir wussten nicht, welche Rolle er gespielt hatte, aber wir waren sicher, dass er nicht geschossen hatte. Von Waffen hatte er offenbar überhaupt keine Ahnung. He really didn’t know about weapons. ERZÄHLER Wenn James Earl Ray nicht der Todesschütze war - warum hat er die Tat dann damals im Prozess überhaupt gestanden? In seiner Autobiographie, die Anfang der neunzehnhundertneunziger Jahre erscheint, präsentiert Ray der Öffentlichkeit eine Antwort. Er behauptet, von seinem Anwalt, Percy Foreman, seinerzeit unter Druck gesetzt worden zu sein. MÄNNLICHER ZITATOR Foreman sagte, der Richter würde einem Schuldeingeständnis meinerseits wohlwollend gegenüber stehen. Er sei durch örtliche Geschäftsleute unter Druck gesetzt worden, einen langwierigen Prozess zu vermeiden. Sowohl die Geschäftsleute wie auch der Richter befürchteten in diesem Falle gewalttätige Ausschreitungen von Schwarzen. Foreman sagte, wenn ich mich nicht schuldig bekennen würde, könnte mein Bruder Jerry als vermeintlicher Mittäter einer Verschwörung zur Ermordung Dr. Kings verhaftet werden. Außerdem könnten Fahnder der Regierung dann auch noch meinen 77jährigen Vater aufsuchen und ins Gefängnis von Iowa stecken, aus dem er vor über 40 Jahren geflüchtet war. Und zu guter letzt, sagte Foreman, könne er nicht dafür garantieren, dass er sein Bestes geben würde, um mich zu verteidigen, sollte ich auf einem richtigen Prozess bestehen. 68. O-TON: WILLIAM PEPPER He raised enough questions in my mind to have me think: “What really happened here?” VOICE OVER: Rays Aussagen weckten in mir immerhin genug Zweifel, dass ich mich fragte: „Was ist damals wirklich passiert?“ Also machte ich mich auf den Weg nach Memphis und begann, am Tatort Nachforschungen anzustellen. Letztlich haben meine Recherchen 25 Jahre gedauert. Angefangen hat alles 1978. That was 1978. ERZÄHLER Als erstes macht sich der Anwalt daran, die Aussage jenes Mannes zu untersuchen, den die Staatsanwaltschaft im Prozess vom März 1969 als einzigen Augenzeugen präsentiert hat. Er heißt Charlie Stephens. Stephens will James Earl Ray direkt nach der Tat gesehen haben. Und zwar im Treppenhaus jener Pension, von der aus der tödliche Schuss auf King abgegeben worden sein soll. Das, was William Pepper in Memphis über den einzigen Belastungszeugen der Anklage erfährt, macht ihn mehr als nur stutzig. 69. O-TON: WILLIAM PEPPER Well, there is not much you can say about Charlie Stephens. VOICE OVER: Über Charlie Stephens gibt es nicht viel zu sagen. Er war betrunken und hat nicht viel gesehen. Er hat sich für Geld dazu bringen lassen, das Profil von James Earl Ray auf einem Foto zu identifizieren. Angeblich will er ihn im Treppenhaus der Pension gesehen haben. Aber ein Polizist, der ihn ein paar Minuten nach dem Attentat befragt hatte, sagte mir, Stephens hätte beim besten Willen niemanden identifizieren können, weil er zur Tatzeit total besoffen war. Dasselbe hat ein Zeitungsreporter ausgesagt. Ein Taxifahrer, der Stephens eigentlich kurz vorher hätte mitnehmen sollen, weigerte sich, ihn in seinen Wagen zu lassen. Stephens habe kaum aufrecht stehen können. Es gibt keinen Zweifel, dass Charlie Stephens nichts gesehen hat. So it is not question that Charlie Stephens didn’t see anything. ERZÄHLER Dass Stephens in der Pension tatsächlich jemanden gesehen hat, der aus dem Badezimmer gekommen und durch das Treppenhaus verschwunden ist, bestreitet selbst William Pepper nicht. Denn auch Charlie Stephens’ Ehefrau hat kurz nach dem Schuss dort einen Mann beobachtet. Nur schwört sie, dass es auf keinen Fall James Earl Ray gewesen sei. Grace Stephens hat diese Aussage gegenüber der Polizei schon 1968 gemacht. Wie sich herausstellt, ist sie wenig später unter falschem Namen in eine psychiatrische Klinik eingeliefert worden. Und das, obwohl sie zuvor noch nie als psychisch labil aufgefallen war. Erst Ende der neunzehnhundertsiebziger Jahre gelingt es, Grace Stephens ausfindig zu machen. Zu diesem Zeitpunkt ist sie körperlich und seelisch schon stark in Mitleidenschaft gezogen. Trotzdem bleibt sie bei ihrer Aussage: Der Mann, der aus dem Badezimmer der Pension gekommen und durch das Treppenhaus verschwunden ist, war nicht James Earl Ray. MUSIK: ÁLABAMA (JOHN COLTRANE) ERZÄHLER Wenn James Earl Ray sich zur Tatzeit wirklich nicht in dem Badezimmer aufgehalten hat, von dessen Fenster aus der tödliche Schuss gekommen sein soll: Wie sind dann seine Fingerabdrücke auf die vermeintliche Tatwaffe gekommen? Immerhin hat die Polizei das Gewehr und ein paar andere Sachen mit Rays Fingerabdrücken kurz nach der Tat vor dem Eingang der Pension sichergestellt. Als Pepper Ray zur Rede stellt, behauptet dieser, sich Stunden vor der Tat in Memphis mit einem Mann namens Raul verabredet zu haben. Für diesen habe er zuvor schon des öfteren Aufträge ausgeführt. Diesmal habe ihn Raul angewiesen, ein Zimmer in der Pension gegenüber von Kings Motel zu mieten und ein Gewehr zu besorgen. Das Gewehr habe Raul angeblich einem potenziellen Kaufinteressenten zeigen wollen. So seien seine – Rays - Fingerabdrücke auf der vermeintlichen Tatwaffe gelandet. 70. O-TON: WILLIAM PEPPER Then Raul said: “Why don’t you go out to a movie?” VOICE OVER: Dann sagte Raul: „Warum gehst Du nicht ins Kino?“ Er wollte Ray ganz offensichtlich aus dem Zimmer haben. Also geht Ray runter und setzt sich in seinen Wagen. Es ist ungefähr viertel vor sechs Uhr abends. Dann beschließt er, zu einer Werkstatt zu fahren. Dort will er den platten Reservereifen seines Wagens wechseln lassen, der hinten im Kofferraum lag. Darum fährt Ray mit seinem Mustang zwei Blocks weiter zu einer Tankstelle. Dort wartet er darauf, dass man seinen Ersatzreifen wechselt. Plötzlich hört er Polizeisirenen, ohne sich etwas dabei zu denken. Wie sich später herausstellt, ist kurz zuvor Martin Luther King erschossen worden. Als Ray zurück in Richtung Pension fährt, bekommt er mit, dass die Polizei die Gegend weiträumig absperrt. Also macht er sich lieber aus dem Staub. Denn, was man nicht vergessen darf: James Earl Ray wird zu dieser Zeit von der Polizei gesucht, weil er ein paar Monate zuvor aus dem Gefängnis ausgebrochen ist. Also macht er sich raus aus der Stadt und fährt in Richtung Atlanta. … and eventually drives into Atlanta. ERZÄHLER James Earl Rays Aussage wird durch zwei Indizien gestützt: Erstens sind seine Fingerabdrücke nur an dem Gewehr gefunden worden, das die Polizei am Eingang der Pension sichergestellt hat - nicht aber im Badezimmer, von dem aus er geschossen haben soll. Und: Das FBI hat bis heute nicht zweifelsfrei nachweisen können, dass die tödliche Kugel tatsächlich aus dem Gewehr abgefeuert wurde, auf dem sich Rays Fingerabdrücke befinden. Das ist aber noch nicht alles: William Pepper findet auch heraus, dass sich auf dem Gelände zwischen der Pension und Martin Luther Kings Motel zur Tatzeit tatsächlich ein Gebüsch befunden hat – genau so, wie es Earl Caldwell seit Anfang an behauptet. 71. O-TON: WILLIAM PEPPER Now – after the killing, the next morning, a department of sanitation team came around and they cleaned the entire area. VOICE OVER: Am Morgen nach dem Attentat machten sich ein paar städtische Müllarbeiter über das Grundstück zwischen Pension und Motel her. Unter anderem beseitigten sie auch das Gebüsch, das sich dort befand. Sie machten den Tatort praktisch komplett dem Erdboden gleich. Es sollte der Eindruck entstehen, dass sich dort nie und nimmer irgendjemand in einem Gebüsch hätte verstecken können. So they changed the scene. ERZÄHLER Für William Pepper steht fest: Falls der tödliche Schuss wirklich aus dem Badezimmerfenster der Pension abgegeben worden sein sollte, dann nicht durch James Earl Ray. Und: Ganz offensichtlich hat sich bis unmittelbar nach der Tat im Gebüsch zwischen Pension und Motel ein unbekannter Mann mit Gewehr versteckt gehalten. Eventuell war das Kings tatsächlicher Mörder. James Earl Ray, da ist sich Pepper inzwischen sicher, hat lediglich als Sündenbock herhalten müssen. 72. O-TON: WILLIAM PEPPER James Earl Ray was chosen as a result of a, now we know, a profile check. VOICE OVER: Wir wissen inzwischen, dass James Earl Ray aufgrund eines Profilchecks ausgesucht wurde – und zwar auf Anfrage von J. Edgar Hoover, dem Chef des FBI. Ray war ihm vom Direktor des Gefängnisses empfohlen worden, in dem Ray einsaß. Sie brauchten einen typischen Gefangenen, der es gewohnt war, Befehlen zu gehorchen und der ihnen keine Probleme bereiten würde. Er wurde offenbar einer genauen psychologischen Prüfung unterzogen. Ray war der ideale Kandidat. Inzwischen weiß ich auch, dass das FBI am 25. April 1967 seine Flucht aus dem Gefängnis organisiert hat. His escape was organised on the 25th of April, 1967. ERZÄHLER William Pepper hat sich längst dazu entschlossen, in James Earl Rays Namen eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu erreichen. Obwohl er den Justizbehörden umfangreiche neue Beweise und Zeugenaussagen vorlegt, wird sein Antrag über Jahre hinweg immer wieder abgelehnt. Das Einzige, was der Anwalt in fünfzehnjähriger Arbeit erreicht, ist ein Fernsehprozess. Ein US-amerikanischer Kabelsender erklärt sich 1993 bereit, eine Gerichtsverhandlung zu übertragen, die unter realen Bedingungen stattfindet: Mit einem richtigen Richter, einem Staatsanwalt, einer Jury aus normalen Bürgern, mit ausführlicher Beweisaufnahme und mit der Vernehmung aller noch lebenden und auskunftswilligen Augenzeugen – darunter auch Earl Caldwell. Nach zehn Tagen mit insgesamt fünfzig Stunden Gerichtsverhandlung fällt die Geschworenen-Jury ihr Urteil: James Earl Ray ist unschuldig. Die Medien im Lande – bis auf den produzierenden Kabelsender - ignorieren den Fernsehprozess völlig. 73. O-TON: WILLIAM PEPPER They called it a work of fiction because it wasn’t a real trial. VOICE OVER: Sie bezeichneten die Verhandlung als fiktional, weil es kein realer Prozess war. Dabei war er so real wie nur möglich. Wir stritten erbittert wegen der Beweise und der Richter hat uns oft überstimmt. Jahre später wurden wir sogar Freunde, aber damals waren wir Feinde. Es war eine harte Situation. So it was a very tough situation. ERZÄHLER James Earl Ray stirbt im April 1993, wenige Wochen nach Ausstrahlung des Fernsehprozesses. Etwa zur selben Zeit kommt es auch für Earl Caldwell zu einem ernüchternden Erlebnis. Schon zehn Jahre früher als William Pepper hat er versucht, die Hintergründe zum Mordfall King herauszufinden. Kein Verlag hat sich getraut, sein Buch zu veröffentlichen. Jetzt erhält er plötzlich eine Einladung vom Justizministerium. Präsident Bill Clinton hat auf Drängen der Familie King dafür gesorgt, dass der Mord auch auf Regierungsebene noch einmal untersucht wird. Earl Caldwell wird von zwei Mitarbeitern des Ministeriums stundenlang befragt. Immer und immer wieder erzählt er von dem Mann im Gebüsch. Bereitwillig zeichnet er auf, wie es zur Tatzeit am Tatort ausgesehen hat. Die Gesprächsatmosphäre ist gereizt. Offenbar wollen ihm die beiden Angestellten die Geschichte von dem verschwundenen Gebüsch nicht abnehmen. Plötzlich ändert sich die Situation schlagartig. 74. O-TON: EARL CALDWELL We must have been in there for about six hours. VOICE OVER: Wir hatten ungefähr sechs Stunden lang zusammen gesessen. Und dann fingen sie auf einmal an, Fotos auf dem Tisch auszubreiten. Ich schrie auf: „Das ist es! Das ist es!“ Sie sagten mir, diese Fotos seien an dem Tag entstanden, an dem King ermordet wurde. Und zwar, bevor jemand das Gebüsch beseitigt hatte. Sie legten mir die Bilder vor, und alles passte haargenau zu dem, was ich ihnen vorher aufgezeichnet und erzählt hatte. Wir haben dann den ganzen Abend darüber gesprochen. Ich war total aufgedreht. Ich bin dann gegangen und habe anderen Leuten gesagt: „Das wird der Durchbruch im Fall King.“ Aber als dann das Ergebnis der Untersuchung bekannt gegeben wurde, sagten sie nur: „Caldwell war nicht vor Ort, als es passierte.“ When it turned out they said: “Our conclusion is Caldwell wasn’t there.” ERZÄHLER Earl Caldwell hat ein Problem: Sämtliche Zeugen, die seine Beobachtungen stützen könnten, sind inzwischen entweder nicht mehr aufzuspüren oder schon längst tot. Beim Justizministerium wirft man ihm vor, sich alles nur ausgedacht zu haben. Warum, fragt man ihn, habe er sich erst jetzt zu Wort gemeldet? 75. O-TON: EARL CALDWELL They were questioning my integrity or my honesty by saying I didn’t say these things, that this is something that I would have come up 20 years later. VOICE OVER: Sie zweifelten meine Integrität an und behaupteten, ich sei mit meiner Aussage erst nach zwanzig Jahren zu ihnen gekommen. Ich sagte: „Nein, ich kann beweisen, dass ich das alles auch schon kurz nach dem Mord gesagt und aufgeschrieben habe.“ – „Wie können Sie das beweisen?“ Ich sagte: „Indem ich Ihnen mein Manuskript gebe, das ich 1974 auf meiner Schreibmaschine getippt habe. Die FBI-Labors werden feststellen können, dass ich das alles wirklich schon 1974 geschrieben und mir nicht erst jetzt ausgedacht habe, wie Sie die ganze Zeit behaupten.“ Ich habe ihnen blind vertraut und mein Original-Manuskript geschickt - und sie sagten später, sie hätten es nie erhalten. They never acknowledged receive and never returned it. ERZÄHLER Auch William Pepper fasst seine Recherchen in einem Buch zusammen. Nach langer Suche findet er schließlich auch einen kleinen Verlag, der die Ergebnisse veröffentlicht. Doch das Medienecho bleibt, wie schon zuvor bei dem Fernsehprozess, äußerst bescheiden. 76. O-TON: WILLIAM PEPPER The book editor of the “New York Times” was going to do a review. VOICE OVER: Der Buch-Redakteur der “New York Times” hatte im November 1995 eine Rezension vorbereitet. Kurz vor der Veröffentlichung erhielt er die Anweisung, die Buchbesprechung zu kippen. Er sagte, das sei ihm zuvor in 25 Jahren noch nie passiert. Offensichtlich wollte da jemand nicht, dass ein Buch rezensiert wurde, in dem nachgewiesen wurde, dass bei Kings Ermordung die damalige Regierung ihre Finger im Spiel gehabt hat. …and the complete complicity of the government in the killing of Martin Luther King. MUSIK: MARTIN LUTHER KING (MIKE MILLIS) ERZÄHLER Vier Jahrzehnte sind seit der Ermordung Martin Luther Kings inzwischen vergangen. Seit 1986 gibt es, immer am dritten Montag im Januar, mit dem „Martin Luther King Day“ sogar einen gesetzlichen Feiertag zu Ehren des Bürgerrechtlers. 77. O-TON: JUANDALYNN ABERNATHY Das war auch eine Idee von meinem Vater. Das wollte er unbedingt. Das muss ich immer sagen, weil: Das sind so viele Dinge, die er ans Licht gebracht, die anderen heutzutage sagen, dass sie es gemacht haben. Es ist ein toller Tag. Es ist ein Tag zu erinnern, dass Uncle Martin geboren worden ist. Das Land braucht das, schwarze Menschen brauchen das, um zu erinnern an das, was er getan hat. Seine Contribution ist Contributions to America and for America. Ich habe ein Problem, dass es nur einen Martin-Luther-King-Tag gibt. Martin Luther King war ein fantastischer Mensch, aber er war nicht der einzige. Und das stört mich. Da sind so viele andere, die haben auch gekämpft, haben ihr Leben auch gelassen und die Anmerkung kommt nicht in die Kalender. Es wird nicht darüber geredet. Martin Luther King war ein wunderbarer Prophet, aber es gibt so viele Propheten. Da waren viele gute Menschen. ERZÄHLER Man sollte also annehmen, dass King und seine politische Bedeutung zumindest einmal pro Jahr in das kollektive Gedächtnis der US-Amerikaner zurückgerufen werden. Manning Marable hat da so seine Bedenken. Er ist Leiter des Instituts für afro-amerikanische Studien an der New Yorker Columbia University. Marable glaubt, dass weite Teile der Öffentlichkeit den wahren Martin Luther King trotz des offiziellen Gedenktages bis heute nicht richtig kennen gelernt haben. 78. O-TON: MANNING MARABLE There are two Martin Luther King juniors. VOICE OVER: Es gibt zwei Martin Luther Kings. Einmal denjenigen, der 1963 auf den Stufen des Lincoln Memorials steht und seine „I have a dream“-Rede hält. Das ist der Martin Luther King, den alle kennen: Der Mann, der Demonstrationen anführt, der gegen Polizeihunde und Wasserwerfer angeht und der sich 1956 im Bus nach vorne setzt in Montgomery, Alabama. Aber es gibt noch einen zweiten Martin Luther King. Und der wird in den USA weitestgehend unterdrückt. Das ist der Martin Luther King, der sich gegen den Vietnam-Krieg ausgesprochen hat, der ein flächendeckendes Gesundheitssystem gefordert hat, der verlangt hat, dass die Regierung Banken und Unternehmen kontrollieren solle, der – wenn er auch kein demokratischer Sozialist war - zumindest ein scharfer Kapitalismus-Kritiker gewesen ist. Es gab einen King, der alle Armen angesprochen hat, unabhängig von ihrer Hautfarbe, und der sie zum Widerstand mobilisiert hat. All das ist der Martin Luther King der Jahre 1966 bis 1968. Er wird in der öffentlichen Diskussion weitgehend unterschlagen. In den Medien wird über diesen Martin Luther King nicht berichtet. Martin hatte seine Positionen im Laufe der Jahre verändert – nicht in Bezug auf die Gewaltlosigkeit, aber in Bezug auf die Frage, wie viel sich in Amerika ändern müsse, ohne dabei nur auf die Hautfarbe und Rasse der Menschen zu achten. King wusste genau, dass die amerikanische Demokratie ein noch nicht abgeschlossenes Projekt war und dass es für Farbige nur ein kleiner Schritt in die richtige Richtung sein konnte, wenn ihnen gestattet wurde, gemeinsam mit Weißen eine öffentliche Toilette aufzusuchen oder im Restaurant einen Hamburger zu essen. King begriff im Laufe der Zeit, dass es nicht alleine damit getan war, die Rassentrennung aufzuheben. Diese war zwar wichtig, konnte aber letztlich auch nicht weiterhelfen, wenn es darum ging, das Problem der Armut, der Ghettoisierung oder der Arbeitslosigkeit zu lösen. Dies alles hat ihn in den letzten zwei Jahren seines Lebens sehr beschäftigt. Er wusste, dass es zu einem radikalen demokratischen Wandel kommen musste. Und das ist der King, der häufig unterdrückt wird. And that’s the King that frequently gets surpressed. ERZÄHLER Eines steht fest: Ohne Martin Luther King wäre die Lage für die meisten Afro-Amerikaner in den USA heute kaum besser als noch vor vierzig Jahren. Dennoch gibt es nach wie vor zum Teil erschreckende Beispiele für allgegenwärtigen Rassismus. Vor allem, wenn es um die Hautfarbe von Straftätern geht, liegt offenbar einiges im Argen. Manning Marable zu einer Studie, die das US-amerikanische Justizministerium vor ein paar Jahren durchgeführt hat. 79. O-TON: MANNING MARABLE They discovered that Afro-Americans and Whites who were charged with identical crimes received justice in fundamentally different ways. VOICE OVER: Es stellte sich heraus, dass Afro-Amerikaner und Weiße, die genau dieselben Gesetzesverstöße begangen hatten, von der Justiz jeweils völlig unterschiedlich behandelt wurden. Beispielsweise wurden jugendliche Afro-Amerikaner 48mal häufiger nach dem Erwachsenenstrafrecht verurteilt als weiße Jugendliche, denen genau das gleiche Vergehen vorgeworfen wurde. Das alleine legt bereits nahe, dass innerhalb des Justizsystems unseres Landes nach wie vor ein ausgeprägter Rassismus vorherrscht. Dafür gibt es noch ein anderes Beispiel: Afro-Amerikaner machen 14 Prozent aller Drogenkonsumenten in den USA aus. Gleichzeitig ist aber jeder Dritte wegen Drogenvergehens Verhaftete ein Afro-Amerikaner. Und: Durchschnittlich 50 Prozent aller Personen, die wegen Drogenvergehen verurteilt werden, wandern ins Gefängnis – bei den Afro-Amerikanern dagegen sind es rund zwei Drittel. …serving time in prison for drug offenses. ERZÄHLER Zu ähnlichen Ergebnissen wie die Studie des Justizministeriums kommt auch eine Untersuchung der National Urban League. Sie veröffentlicht jedes Jahr einen Report, der zeigt, wie es um den aktuellen Stand des „schwarzen Amerika“ bestellt ist. Aus den Zahlen für 2007 geht hervor, dass kriminelle Afro-Amerikaner im Durchschnitt zu einer zehn Monate längeren Haftstrafe verurteilt werden als Weiße, die genau das gleiche Delikt begangen haben. Gleichzeitig erhalten deutlich mehr weiße als schwarze Verurteilte ein Urteil auf Bewährung. Das alles hat zum Teil weitreichende Folgen. 80. O-TON: MANNING MARABLE In many states prisoners obviously are not allowed to vote in the United States. VOICE OVER: In vielen Bundesstaaten ist es Gefangenen untersagt, ihr Wahlrecht auszuüben. In sieben Staaten gilt dieses Verbot sogar lebenslänglich – ganz egal, ob jemand seine Strafe längst abgesessen hat oder nicht. Es gibt über fünf Millionen US-Amerikaner, die das Recht zu wählen, zeitweise oder für immer verloren haben - nur, weil sie irgendwann einmal wegen eines Verbrechens verurteilt worden sind. Alleine im Bundessaat Mississippi hat ein Drittel aller männlichen schwarzen Einwohner das Recht zu wählen bis ans Lebensende verloren. Wir leben also in einem Land, das sich einerseits zwar demokratischen Regeln verschrieben hat, andererseits aber Millionen seiner Bürger ein Basisrecht verweigert. Ich glaube, wenn Martin Luther King noch leben würde, dann würde er sich heute vor allem auf die Rassenungleichheit im Justizsystem konzentrieren und um die Tatsache, dass derart viele Menschen um ihr Wahlrecht gebracht werden – davon ungefähr die Hälfte mit schwarzer Hautfarbe. …roughly half of whom are black. ERZÄHLER Über Jahrzehnte hinweg, findet Manning Marable, habe die US-amerikanische Regierung nichts gegen derartige rassistische Tendenzen unternommen – ganz egal, ob es die Republikaner unter Reagan oder den Bushs waren, oder die Demokraten unter Bill Clinton. Statt sich zu bemühen, die Symptome zu bekämpfen, habe die Politik die Justiz zum härteren Durchgreifen aufgefordert und parallel lieber den Ausbau von Gefängnissen vorangetrieben. 81. O-TON: MANNING MARABLE In 1980 there were 500 000 Americans incarsarated in the United States. VOICE OVER: 1980 saßen in den USA insgesamt 500 000 Menschen im Gefängnis Heute sind es 2,3 Millionen! Alleine im Staate New York wurden die Etats zum Bau öffentlicher Universitäten auf der einen Seite und von Gefängnissen auf der anderen Seite zwischen 1988 und 1998 praktisch miteinander ausgetauscht: In diesen zehn Jahren fiel die Summe, die zum Bau von Universitäten bereit gestellt wurde, um 650 Millionen Dollar. Gleichzeitig stieg der Etat für den Bau von Gefängnissen um 715 Millionen Dollar – und das alleine im Staate New York. Diejenigen, die von dieser Entwicklung am meisten betroffen waren, waren Afro-Amerikaner, Hispanics oder Menschen mit geringem Einkommen – egal, welcher Hautfarbe. Auf Millionen afro-amerikanischer Haushalte im ganzen Land hatte das katastrophale Auswirkungen. …millions throughout the country. ERZÄHLER Das Geld für öffentliche Bildungseinrichtungen wird immer knapper. Die Zukunftsaussichten vieler Jugendlicher aus einkommensschwachen Schichten sind nicht gerade rosig. Ein Mann wie Barack Obama mag einigen von ihnen als leuchtendes Vorbild dienen. Bis die schulischen Rahmenbedingungen deutlich verbessert werden, dürfte es trotz eines Afro-Amerikaners als Präsidenten aber wohl noch eine Weile dauern. 82. O-TON: MANNING MARABLE In 2004, on the fiftieth anniversary of the Brown v. Board of Education decision by the Supreme Court… VOICE OVER: Im Jahre 2004 – das war 50 Jahre, nachdem die Rassentrennung an öffentlichen Schulen per Gerichtsbeschluss aufgehoben wurde - beschwerte sich der damalige Erziehungsminister darüber, dass die Rassentrennung an den öffentlichen Schulen ausgeprägter sei als in den fünfziger Jahren. Er bezeichnete das als eine Art amerikanische Fassung der Apartheid. In unseren Großstädten gibt es für junge Menschen im Grunde genommen ein zweigeteiltes Schulsystem. Da sind zum einen die Vororte, in denen sich viele private Eliteschulen befinden. Dort werden die überwiegend weißen Schüler sehr gut auf das College und die Universität vorbereitet. Und dann gibt es noch die öffentlichen, finanziell viel schlechter ausgestatteten Schulen in den Innenstadtbezirken, bei denen die Lehrer ihre überwiegend farbigen Schüler meistens gezielt auf einzelne Tests hin lernen lassen. Das ist eher schädlich, als dass es den Schülern irgendwelche Fähigkeiten vermittelt, die sie später als Studenten gebrauchen können. Für viele Bürgerrechtler wie mich ist es geradezu deprimierend zu sehen, dass wir uns in dieser Hinsicht zurück in die fünfziger Jahre bewegen – in eine Zeit, als afro-amerikanische Schüler praktisch gefangen waren in einem zweigeteilten Schulsystem. … and failures of a separate school system. ERZÄHLER Juandalynn Abernathy hat es trotz der schwierigen Rahmenbedingungen schon in den neunzehnhundertsiebziger Jahren geschafft, eine Universität zu besuchen. Anfang der achtziger Jahre schließt sie erfolgreich ihr Musik- und Gesangsstudium ab. Anschließend führt sie ihr Weg nach Deutschland. Dort gibt sie zunächst als klassische Sängerin Konzerte und lernt auf Tourneen fast die ganze Welt kennen. Heute erteilt sie vor allem jüngeren Schülern Gesangsunterricht und leitet in ihrer neuen Heimat in Baden-Württemberg gleich zwei Chöre. 83. O-TON: JUANDALYNN ABERNATHY Ich weiß es nicht. Ich glaube, ich hab’s in meinen Gefühl. Ich bin geboren zum Singen, ja. Und als ich ein Säugling war, zu diesem Treffen, die abends immer stattfanden, hat’s geheißen – damals wollten die das Baby sehen. Und man hat mich immer geweckt. Und anstatt zu heulen, habe ich immer gesungen. Und deswegen hat Mahalia Jackson damals gesagt als Säugling, ich werde Sängerin werden. Und dann später, als sie kam, dann habe ich vor ihr gesungen. Dann hat’s geheißen: Ja, sie wird eine klassische Sängerin. Ich meine: Ich bin geborenen mit klassischer Musik. Mahalia Jackson war die einzige Person, die ich kannte, die anders sang. Ich will nur sagen, dass ich fühle mich am besten, wenn ich auf der Bühne bin, wenn ich singe. Und ich denke, das ist meine Gabe. Es ist meine Gabe. Ich denke, das ist der Grund wieso ich hier bin. MUSIK: AMAZING GRACE (JUANDALYNN ABERNATHY) ERZÄHLER Noch ein anderer US-Amerikaner hat die Rassentrennung in den USA der neunzehnhundertfünfziger und -sechziger Jahre zunächst hautnah erlebt, bevor er diese im wahrsten Wortsinne hinter sich gelassen hat und nach Deutschland gezogen ist. Es ist der Schauspieler und Entertainer Ron Williams. Williams bekommt 2001 einen Anruf von einer Theateragentin. Für das Theaterstück „I have a dream“, das auf dem Leben Martin Luther Kings basiert, wird ein Hauptdarsteller gesucht. Williams hat den Deutschen sein Heimatland bis dahin vor allem durch satirisch angehauchte Bühnenprogramme näher gebracht. Martin Luther King ist sein persönliches Idol. Darum lässt sich Williams nicht zweimal bitten. Rund vier Jahre lang touren er und die anderen Schauspieler mit dem biographischen Stück durch Deutschland, Österreich und die Schweiz. Die Resonanz ist überwältigend. Dass Martin Luther Kings Leben und Wirken auf ein derart großes Interesse stößt, überrascht nicht nur den Hauptdarsteller. 84. O TON: RON WILLIAMS Dieser Wahnsinns-Krieg, diese furchtbar dumme Außenpolitik, diese Einstellung der amerikanischen Regierung – das spielte voll in unsere Hand, weil: Das war Kings Argument damals gegenüber dem Vietnam-Krieg. Es war dasselbe, nur vierzig Jahre später, dreißig Jahre später. Das war das Glück. Wir haben einen Nerv getroffen, was sehr offen war, weil eben die Realität war heute genauso wie damals, nur ein anderes Land: Irak statt Vietnam und so weiter. ERZÄHLER Der Erfolg des Theaterstücks lässt Ron Williams keine Ruhe. Die nächsten Jahre ist er damit beschäftigt, den dramatischen Stoff in ein packendes Musical umzuarbeiten. 2007 wird „Martin Luther King – The King of love“ rund zwei Dutzend mal in Berlin aufgeführt. Wiederum zwei Jahre später, nach Barack Obamas Wahl zum amerikanischen Präsidenten, scheint es an der Zeit, das Musical auch in den USA aufzuführen. 85. O-TON: RON WILLIAMS Es gibt kein Martin-Luther-King-junior-Musical, es gibt keinen Martin-Luther-King-junior-Film. Es gibt Fernsehgeschichten darüber, es gibt viel Berichte – aber nie gab es einen Film oder ein Bühnenstück, weil er ein Politikum ist. Weil er umgebracht wurde und die Regierung war beteiligt – oder wenigstens wussten sie Bescheid und lügt bis heute uns sagt: „Es war der Ray.“ Es war nicht Ray, und das wissen wir leider. Und diese Tatsache – und ich glaube, das wird dieses Jahr noch lauter werden: dass man sagt, endlich mal: Gebt es zu, sagt die Wahrheit, Kinder, kommt. Wir sind nicht in Moskau. Wir sind nicht in Peking. Ich meine: Wir nennen uns die größte Demokratie der Welt und wir benutzen Stasi-Methoden heute noch in den USA. Das kann nicht sein, und deshalb finde ich wichtig, dass durch King, sein Leben und sein Sterben und seine Botschaft – dass das vielleicht ein Schlüssel ist, endlich mal wenigstens diese Tür aufzumachen, dass das Land sagt: „Okay, ja. Ja, das haben wir gemacht. Wir bereuen es, wir sind Schuld, wir wollen es nie wieder machen. Wir wollen das jetzt endlich mal in den Griff kriegen.“ ERZÄHLER Auch Juandalynn Abernathy schöpft nach Barack Obamas Wahl zum Präsidenten neue Hoffnung, dass in den USA demnächst ein anderer Wind wehen wird – unabhängig davon, ob der Mord an Martin Luther King nach so langer Zeit noch einmal auf der politischen Tagesordnung erscheinen wird oder nicht. 86. O-TON: JUANDALYNN ABERNATHY Fantastisch. Fantastisch. Er verkörpert einen Change – einen Wechsel. Er verkörpert für mich das 21. Jahrhundert. Und ich habe ein Problem, wenn man sagt, er ist dann schwarz. Er ist ein Produkt von beiden: seine Mama war weiß, sein Papa war Schwarzafrikaner. Und ich finde, dass wir leben jetzt in einer Gesellschaft, wo es ein Misch gibt – wie mein Kind. Es gibt Mischehen. Wir werden coloured, wir werden farbig. Und es ist nicht mehr unbedingt Weiß und Schwarz und ich möchte es nicht so sehen. Ich empfinde, dass er ist einfach fantastisch für das Land. Er verkörpert, was das Land für meine Begriffe jetzt braucht. Und das ist: Amerika muss von innen heilen. Ich sehe es so. Ich habe das immer so gesehen. Ich als Mutter habe, sagen wir fünf Kinder als Beispiel zu Hause, aber ich gehe jeden Tag füttern die anderen Kinder. Ich kümmere mich um meine Nachbarskinder, ich kümmere mich um die über-, über-, übernächsten Dorfkinder. Aber meine Kinder hungern. Meine Kinder brauchen mich und ich bin nicht da für meine Kinder. Die Nation hat Probleme. Und diese Probleme kann man nicht mit Krieg im Irak und Krieg hier und Krieg dort und Schimpfen auf Russland und was weiß ich, in Georgien. Das geht uns doch gar nichts an; erst mal heilen von innen. Stärke das Land von innen. Kümmere dich um den eigenen, dann kann man nach außen denjenigen helfen. Ich meine nicht, dass wir sollten das Ausland vergessen, aber an erster Stelle muss Amerika. Amerika hat so viele Probleme: die Rassen, die Diskriminationen – immer noch. Ich bin sehr enttäuscht. Ich bin enttäuscht insofern, dass das Land hat so viele Potenziale. Es könnte so einen – einen Licht – könnte so einen Maßstab für die ganze Welt. Aber das ist es nicht. Das ist es aber wirklich nicht. ERZÄHLER Am 4. November 2008 hat eine deutliche Mehrheit der US-Amerikanischen Wähler sich für den Afro-Amerikaner Barack Obama als vierundvierzigsten Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika entschieden. Obamas Siegesrede fällt keineswegs triumphierend aus, sondern eher nachdenklich. Und: Auch wenn er den Namen Martin Luther King nicht direkt ausspricht, nimmt Obama zumindest zwischen den Zeilen deutlich Bezug auf ihn und die Bürgerrechtsbewegung der neunzehnhundertsechziger Jahre. So wissen letztlich wohl alle Zuhörer ganz genau, wem sie den ersten afro-amerikanischen Präsidenten ihrer Geschichte ganz entscheidend mit zu verdanken haben. 87. O-TON: BARACK OBAMA This election had many firsts and many stories that will be told for generations. But one that's on my mind tonight is about a woman who cast her ballot in Atlanta. VOICE OVER: Bei dieser Wahl gab es viele Premieren und viele Geschichten, die man sich noch über Generationen hinweg erzählen wird. Aber an diesem Abend denke ich vor allem an eine Frau, die heute in Atlanta wählen gegangen ist – stellvertretend für Millionen andere, die ihrer Stimme bei dieser Wahl Gehör verschaffen wollten. Mit einer Ausnahme: Diese Frau, Ann Nixon Cooper, ist 106 Jahre alt. Sie gehört zur ersten Generation, die nach Abschaffung der Sklaverei geboren wurde, zu einer Zeit, in der es Menschen wie ihr aus zwei Gründen verboten war, zu wählen: Weil sie eine Frau war und weil sie farbige Haut hatte. Heute Abend denke ich an all das, was sie in ihrem Jahrhundert in Amerika erlebt hat – an die Kopfschmerzen und die Hoffnung, an den Kampf und den Fortschritt; an die Zeiten, in denen uns gesagt wurde, dass wir es nicht schaffen, und an die Menschen, die trotz allem weiter an dem Credo festgehalten haben: Yes, we can - Ja, wir können es schaffen. In einer Zeit, in der die Stimmen der Frauen zum Schweigen gebracht und ihre Hoffnungen abgetan wurden, sah sie diese aufbegehren und für das Wahlrecht kämpfen. Ja, wir können es schaffen. Als das Land von Verzweiflung und Depression erfüllt war, sah sie, wie sich eine Nation der Furcht entgegenstellte – mit einer Politik des New Deal, mit neuen Jobs und mit einem neuen Gespür eines gemeinsamen Zieles: Ja, wir können es schaffen. Als die Bomben fielen und Tyrannei die Welt bedrohte, wurde sie Zeuge, wie eine Generation zu besonderer Größe anwuchs und die Demokratie gerettet wurde. Ja, wir können es schaffen. Sie hat alles erlebt: die Busse in Montgomery, die Wasserschläuche in Birmingham, eine Brücke in Selma – und einen Prediger aus Atlanta, der den Menschen sagte: „Wir werden darüber hinwegkommen.“ Ja, wir können es schaffen. Der Mensch ist auf dem Mond gelandet, in Berlin ist eine Mauer gefallen, eine Welt ist zusammengewachsen alleine durch unsere eigene Wissenschaft und Vorstellungskraft. Und bei dieser Wahl gab Ann Nixon Cooper ihre Stimme ab. Denn nach 106 Jahren in Amerika, nachdem sie gute Zeiten und dunkle Stunden erlebt hat, weiß sie, wie Amerika sich verändern kann. Ja, wir können es schaffen. …through the best of times and the darkest of hours, she knows how America can change. Yes we can. 88. O-TON: JUANDALYNN ABERNATHY Für mich verkörpert er zwei verschiedene Welten. Und das ist was wir brauchen. Und ich bin – ich bin für ihn, weil ich finde ihn so was von charismatisch. Er las nicht seine Rede, er redete von dem Herzen. Er ist überzeugt von dem, was er sagt. Er hat nicht jemand, der ihm was-weiß-ich schreibt und er liest auf einer Wand oder auf einem Papier. Schauen Sie mal die anderen an. Er ist von sich – er ist von sich und verstehen Sie mich bitte nicht falsch – und das, was er sagt so überzeugt. Er ist für mich so reell und das ist was wir brauchen. ERZÄHLER So sehr sich auch Earl Caldwell über die Wahl Obamas zum Präsidenten freut – unwillkürlich fällt ihm dabei sofort das ein, was er vor vierzig Jahren in Memphis mit eigenen Augen gesehen hat. 89. O-TON: WBAI NEW YORK/EARL CALDWELL Every day I hope… VOICE OVER: Jeden Tag, wenn er vor einer großen Menschenmenge steht, mache ich mir Sorgen. Denn wir haben eine Geschichte. Dieser junge Führer hat sich vorgenommen, uns in eine neue Richtung zu führen. Das ist für viele Amerikaner atemberaubend und aufregend – egal, ob schwarz, gelb, rot oder weiß. Aber er muss überleben. But he has to survive. ERZÄHLER Martin Luther King hat nicht überlebt. Zumindest nicht als Person. Seine Ideen und Visionen aber sind nach wie vor lebendig. Das wusste auch Kings Witwe, Coretta King, als sie ihre Memoiren verfasste. Darin zitiert sie aus dem Nachruf, den der Sänger Harry Belafonte gemeinsam mit dem Bürgerrechtler Stanley Levison nach Martin Luther Kings Tod geschrieben hat. WEIBLICHER ZITATOR Als die Kugel eines Mörders Martin Luther Kings leben beendete, verfehlte sie ihr Ziel. Seine Stimme wurde zum Verstummen gebracht, aber seine Botschaft erschallte in der ganzen Welt. Martin Luther King starb, wie er lebte, indem er bis zum letzten Atemzug für die Gerechtigkeit kämpfte. In nur zwölf Jahren seines öffentlichen Wirkens trug er den Schwarzen mehr Achtung ein, als es dem gesamten vorangegangenen Jahrhundert gelungen war. Martin Luther King war kein Träumer, obwohl er einen Traum hatte. Seine Vision einer gerechten Gesellschaft entzündete sich an einer erwachenden Wirklichkeit. Unter seiner Führung schüttelten Millionen schwarzer Amerikaner geistige Fesseln, Furcht und Apathie ab und gingen auf die Straßen, um ihre Freiheit zu verkünden. Im hellen Tageslicht der offenen Straßen erteilte er der Nation eine Lektion darüber, wer der Unterdrücker war und wer die Unterdrückten. Unbestreitbar zählt er zu den bedeutendsten schwarzen Führern der Geschichte. Doch war er ebenso Vorbild für Millionen Weiße, die durch ihn vor allem dies lernten: dass sie sich selbst erniedrigten, indem sie Schwarze herabwürdigten, und dass sie gewannen, wenn sie die Befreiung der Schwarzen unterstützten. Wenige wissen, wie demütig dieser Gigant war. Er setzte unbegrenztes Vertrauen ins Volk, und zahllose Menschen sahen dies mit den Augen des Herzens und des Verstandes, und ihre Achtung für ihn steigerte sich fast zum Kult. Noch wenigere wissen, wie beunruhigt, ja gequält er war – weil er daran zweifelte, in den schicksalhaften Entscheidungen, die ihm zufielen, stets die richtige zu treffen. Heute, da sein Bild in Millionen einfacher Hütten, in gewöhnlichen Häusern und feierlichen Sälen hängt, kann man sich kaum noch vorstellen, dass er seiner eigenen Organisation verbot, sein Bild zu verbreiten. Er wollte nicht vergöttert, er wollte gehört werden. Er schrieb seinen eigenen Nachruf, um sich in den eigenen Worten seines Herzens darzustellen. 90. O-TON: MARTIN LUTHER KING Every now and then I think about my own death. VOICE OVER: Ab und zu denke auch ich an meinen Tod, und ich denke an meine Beerdigung. Ich denke daran nicht in einer krankhaften Weise. Hin und wieder frage ich mich selbst. „Was sollte – wenn es nach mir geht – dann gesagt werden?“ Ich will euch heute Morgen darüber Auskunft geben. Ich möchte, dass jemand an dem Tag sagt: „Martin Luther King jr. versuchte, mit seinem Leben anderen zu dienen.“ Ich möchte, dass jemand an jenem Tag sagt: „Martin Luther King versuchte, Liebe zu üben.“ Ich möchte, dass ihr an jenem Tag sagt, dass ich versuchte, in der Kriegsfrage auf der richtigen Seite zu stehen. [...] Ich möchte, dass ihr sagt, ich versuchte, die Menschheit zu lieben und ihr zu dienen. Ja, wenn ihr sagen wollt, dass ich wie ein Tambourmajor vorausging, dann sagt, dass ich ein Tambourmajor für Gerechtigkeit war, dass ich ein Tambourmajor für Frieden war, dass ich ein Tambourmajor für Rechtschaffenheit war. …I was a drum major for peace, I was a drum major for rightesness. MUSIK: YES WE CAN Musikliste Titel: We shall overcome Länge: 03:40 Interpret: The Freedom Singers Komponist: Unbekannt Label: Vanguard Best.-Nr: 79505-2 Plattentitel: Early Soul Gospel Titel: Mississippi Goddamn Länge: 04:59 Interpret und Komponist: Nina Simone Label: Verve Best.-Nr: 529867-2 Plattentitel: Verve Jazz Masters, Vol. 58: Nina Simone sings Nina Titel: Alabama Länge: 05:51 Interpret: Jack DeJohnette & Ravi Coltrane & Matthew Garrison Komponist: John Coltrane Label: ECM-Records Best.-Nr: ECM2488 Plattentitel: In movement 2. Stunde Titel: Alabama Länge: 00:51 Interpret: Jack DeJohnette & Ravi Coltrane & Matthew Garrison Komponist: John Coltrane Label: ECM-Records Best.-Nr: ECM2488 Plattentitel: In movement Titel: Take my hand precious lord Länge: 04:13 Interpret: Mahalia Jackson Komponist: Thomas A. Dorsey Label: CBS Best.-Nr: S66299 Plattentitel: Mahalia Jackson Sings America's Favorite Hymns Titel: MLK Länge: 02:33 Interpret: U2 Komponist: Paul "Bono" Hewson, Dave "The Edge" Evans, Adam Clayton, Larry jr Mullen Label: Island Records Best.-Nr: 206530 Plattentitel: The unforgettable fire Titel: Where is the love? Länge: 04:35 Interpret: Black Eyed Peas Komponist: Will.I.Am, Justin Randall Timberlake, Jaime Gomez, Allen Pineda, Printz Board,Michelangelo Fratantuno, George jr Pajon, J. Curtis Label: Interscope Best.-Nr: 809104-3 Plattentitel: Where is the love 3. Stunde Titel: Alabama Länge: 01:05 Interpret: Jack DeJohnette & Ravi Coltrane & Matthew Garrison Komponist: John Coltrane Label: ECM-Records Best.-Nr: ECM2488 Plattentitel: In movement Titel: The ballad of Martin Luther King Länge: 02:54 Interpret: Mike Millius Komponist: Michael Strange Label: SMITHSONIAN FOLKWAYS Best.-Nr: SFW CD 40130 Plattentitel: The Best of Broadside, CD 3 Titel: Amazing Grace Länge: 03:05 Interpret: Juandalynn R. Abernathy Komponist: trad. Label und Best.-Nr: keine Titel: Yes, we can Länge: 04:05 Interpret: Will.i.am Komponist: will.i.am Label: Ethernet and Record Plant