COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Deutschlandrundfahrt - 31.1.2009 Wohnen im Denkmal Die Siedlungen der Berliner Moderne Von Stefanie Müller-Frank O-Ton 1 Max Rasokat Wenn ich irgendwo zu Besuch oder im Urlaub bin, dann guckt man doch gerne mal hinter die Kulissen. Und ich habe eigentlich Verständnis, wenn jemand hier durchgeht und Bruno Taut auf den Spuren ist, dass er mal reingucken will, wie die Ureinwohner hier noch leben. (3, B, 1.08) Musik hoch O-Ton 2 Claudia Perez Bruno Taut war ja ganz enttäuscht, als die ersten Mieter hier einzogen. Denn er hatte zwar nicht vorgeschrieben, aber sich vorgestellt, dass jetzt, nach den Berliner Mietskasernen, jetzt hier Luft und Licht in die Wohnungen kommt. Und dann haben sich die Mieter das alles mit Gardinen zugehängt. (7, A, 4.83) Musik hoch O-Ton 3 Christoff Jenschke Der wahre Grund, warum man innen deutlich mehr machen kann als außen, ist einfach, dass der Denkmalschutz außen viel strenger ist als innen. Musik hoch O-Ton 4 Helga Schönfeldt Bisher ist noch keiner an mich herangetreten: Mach die Markise ab. Und ich weiß aber genau, wenn man fragt, hätte man nie die Genehmigung bekommen. Die hätten sie nicht geben dürfen. Also das ist, glaube ich, ein Gebiet mit Glatteis. (lacht) Und wie das jetzt wird im Weltkulturerbe? Man muss abwarten. (1, A, 4.76) Musik hoch SpvD Wohnen im Denkmal. Die Siedlungen der Berliner Moderne. Eine Deutschlandrundfahrt mit Stefanie Müller-Frank Atmo 1 Krähen Autorin Es muss ein trüber Wintermorgen gewesen sein, als Bruno Taut auf die Idee kam, seinen Häusern diese kräftigen Farben zu geben. Kein strahlender Sommertag mit blauem Himmel, der ihnen Konkurrenz machen könnte. Nein. Die wahre Kulisse für diese leuchtenden Fassaden ist ein diesiger Berliner Wintermorgen: Ein blasser Himmel und eine matte Morgensonne, die sich müde durch die kahlen Äste kämpft. Atmo 2 Musikmix (Waldeck: Dub, Track 10, ca. 0- 0.20) Autorin So stehen die Häuser da und leuchten, aufgereiht und herausgeputzt wie im Varieté: Erst ein Weiß, dann ein Gelb, und dann dieses kräftige Ochsenblutrot. Nur dass die Vorgärten noch eingemottet sind, Bäume und Ligusterhecken von Raureif überzogen. Wäre es Frühjahr und sie stünden in Blüte: Ihr Schmuck wäre prächtig. Jede Straße eine andere Baumart, jede Häuserzeile ein eigener Farbenrausch - und die gesamte Hufeisensiedlung in Britz von einem Blütenkranz umspannt: Zierkirschen in der Onkel-Bräsig- Straße, Birken in der Jochen-Nüssler-Straße. Birken? Atmo 2 hart abbrechen, dann Atmo 3 Schritte durch Straße Autorin Streng genommen sind das die falschen Bäume. Nachträglich gepflanzt. Ursprünglich war die Jochen-Nüssler-Straße nämlich die Straße der Ebereschen. Und dass jemand freiwillig seinen blühenden Baum im Vorgarten gegen einen Parkplatz eintauschen könnte, damit hat Bruno Taut wohl auch nicht gerechnet - zu einer Zeit, als man üblicherweise noch mit der Pferdekutsche vorfuhr. Heute verbietet es der Denkmalschutz den Bewohnern der Hufeisensiedlung, ihre Vorgärten zu asphaltieren. Und wer auszieht, muss seinen Parkplatz rückbauen und wieder Grün anpflanzen. Vielleicht kehren damit ja auch die Obstbäume zurück. Atmo 4 bei Helga Schönfeldt klingeln und ins Wohnzimmer Autorin Lowise-Reuter-Ring 7 im Berliner Stadtteil Britz. Katrin Lesser drückt auf den Klingelknopf. Keine fünf Minuten zu Fuß sind es von ihrem Haus durch die Siedlung bis ins Herz des Hufeisens. Hier lebt Helga Schönfeldt in einer Zweieinhalbzimmer-Wohnung - seit 1928. Aus dieser Zeit hat die Rentnerin noch ein paar Fotos und Zeitungsausschnitte gefunden, die sie für Katrin Lesser rausgelegt hat. Denn Lesser ist Gartenarchitektin und hat den Auftrag zu rekonstruieren, wie die Hufeisensiedlung ursprünglich einmal bepflanzt war: Wo welcher Baum stand, wo Sträucher, Hecken oder Beete angelegt wurden, wo Rasen gepflanzt war. All das wurde einmal genau festgelegt - aber ein alter Plan aus den Zwanzigern existiert nicht mehr. Also lässt sich Katrin Lesser erzählen, wie es damals hier aussah. Atmo 5 Zeitungsausschnitte durchsehen Autorin Helga Schönfeldt bittet in die Wohnstube und holt ein Album aus der schweren, dunklen Schrankwand, während ihre zwei Wellensittiche munter weiterplappern. Der erste Zeitungsausschnitt ist von 1926 und zeigt ein Schwarzweiß-Foto der Hufeisensiedlung aus der Vogelperspektive. Allerdings nur den innersten Gebäudering des Hufeisens mit der Grünanlage in seiner Mitte - sämtliche der Querstraßen mit den Einfamilienhäusern fehlen noch. O-Ton 5 Katrin Lesser und Helga Schönfeldt Und zu der Zeit ungefähr sind Sie auch hier eingezogen, oder? - Na, viel eher. Als meine Eltern einzogen, war der Hufeisenbau, das Rund, im Bau - von den Seitenstraßen keine Spur. Also es war Baustelle, und die ersten drei Häuser - die Hausnummern drei, fünf, sieben, neun, sollen bezugsfertig gewesen sein. Und meine Eltern sind in diese Nummer 7 am 1. November 26 eingezogen. (1, A, 2.47) Autorin Wer in der Hufeisensiedlung eine Wohnung bekam, durfte sich glücklich schätzen: Raus aus den grauen Mietskasernen und dunklen Hinterhöfen in eine Wohnung mit Heizung, eigenem Bad, großem Balkon, viel Licht, einem Blick ins Grüne - und im Parterre sogar mit eigenem Garten. Mehr als 1.000 Wohnungen für die arbeitende Bevölkerung entstanden hier in Britz zwischen 1925 und 1930 unter der Regie von Bruno Taut und Martin Wagner. Zusammen mit den fünf weiteren Siedlungen der Berliner Moderne, die die UNESCO im Juli 2008 zum Welterbe ernannt hat, wurden sie zum Inbegriff eines neuen, sozialen Wohnungsbaus. O-Ton 6 Katrin Lesser und Helga Schönfeldt Und wie war das damals? Haben Sie da als Kind auch viel auf der Straße gespielt? - Na, das war natürlich ein Paradies hier. Die Straßen alle asphaltiert, da kam eine Bekannte aus Köpenick extra hierher, damit wir Rollschuh gelaufen sind. Das war also die reinste Bahn hier. Uns störte kein Auto. (1, A, 2.98) Autorin Ihr Vater, sagt Helga Schönfeldt und tippt mit dem Finger auf ein Foto, das eine penibel gezogene Pflanzreihe zeigt, war allerdings gar nicht begeistert, als das junge Ehepaar diese Parterrewohnung zugeteilt bekam. Denn ein Garten war damals ja nicht zum Kaffeetrinken oder Grillen gedacht - sondern ein Nutzgarten mit strengen Auflagen für die Mieter: Hecken schneiden, Beete anlegen, Obstbäume pflanzen. Selbst die Balkonbepflanzung war genau vorgegeben. O-Ton 7 Katrin Lesser und Helga Schönfeldt Und jede Parterrewohnung hatte einen Garten. - Ich darf Sie verbessern. Nicht: hatte, jede Parterrewohnung HAT einen Garten. Wir hatten natürlich am Anfang die Auflagen, oder besser gesagt, meine Eltern hatten die Auflage, diese Gartenteile, wie haben sie gesagt, parkähnlich zu pflegen. Das heißt, es waren Pflichtbäume: Ein Apfelbaum und zwei Kirschbäume. Die Kirschbäume sehr weit unten zum Parkweg hin. In der Blütezeit war das natürlich EIN Blütenkranz im Hufeisen. Und da durfte kein weiterer Obstbaum gepflanzt werden. Das sollte eben dieser Einheitsstil bleiben. (1, A, 3.06) Atmo 6 blättern (mit Wellensittichen) Autorin Erst im Krieg wurde darauf nicht mehr so streng geachtet, erzählt die Rentnerin. Da hat man Kartoffeln, Kohl und Mohrrüben angebaut. Aber auch heute sitzt Helga Schönfeldt selten in ihrem Garten. O-Ton 8 Helga Schönfeldt Das Hufeisen ist der einzige Bau in der Siedlung, wo eben KEIN Zugang von der Wohnung zum Garten ist. (Aber wie kommen Sie dann in den Garten?) Immer durch den Keller, immer mehrere Türen, sehr viele Treppen - und ich kriege also keine Ernte, und umgekehrt kein Gartengerät ohne Treppenlaufen in den Garten. Und das war für meine Mutter schon so schwierig, die konnte in den letzten Jahren nicht mehr in den Garten gehen. (1, A, 3.52) Autorin Die Rentnerin schüttelt verärgert den Kopf, dann zieht sie die Schultern hoch. Sie würde gerne eine Treppe oder einen Lift von ihrem Balkon in den Garten anbauen. Aber der Denkmalschutz gestattet das nicht. Katrin Lesser versucht vorsichtig eine Erklärung. O-Ton 9 Katrin Lesser Was ich darüber gelesen habe, das fand ich auch sehr interessant: Bruno Taut war ja ein sehr sozial orientierter Architekt, und dass er angeblich deswegen den Erdgeschossen keinen direkten Zugang zum Garten verschafft hätte, weil er gesagt hat: Gleiches Recht für alle. Die haben schon den Vorteil, dass sie den Garten nutzen dürfen, dann kriegen sie nicht auch noch einen direkten Zugang. Das wäre doch zu ungerecht. (1, A, 3.91) Atmo 7 durch Treppenhaus und Keller in den Garten Autorin Da schwere, bodenlange Gardinen die freie Sicht in den Garten und ins Innere des Hufeisens versperren, lässt sich Helga Schönfeldt dann doch noch von ihrem Besuch erweichen, den langen Weg durch Treppenhaus und Keller in den Garten zurückzulegen. Und plötzlich steht man inmitten einer Idylle: Grün grenzt hier an Grün, und gemeinsam umschließen die Mietergärten eine ovale Rasenfläche, in deren Mitte wiederum ein kleiner, hufeisenförmiger Teich mit hohen Weiden liegt. Er soll Bruno Taut auf die Idee gebracht haben, die Siedlung in Form eines Hufeisens anzulegen. Atmo 8 im Garten (mit Krähen) O-Ton 10 Helga Schönfeldt und Katrin Lesser Ja, das ist nun der Blick ins Hufeisen. Jetzt durch die kahlen Bäume kann man die Rundung auch sehr schön sehen. - Aber Sie haben ja sehr vorbildlich hier Obstbäume stehen. - Ja, ich habe also noch an der korrekten Stelle den großen Apfelbaum. Was eben fehlt, sind unten die Kirschen. - Das wäre sehr schön, wenn die wieder nachgepflanzt werden würden. - Also ich würde mich zum Ernten in meinem Alter nicht mehr nach einem Kirschbaum sehnen. (lacht) (1, A, 5.26 - draußen) Atmo 9 Gartentor quietscht beim Schließen MUSIK 1 Waldeck: So black and blue Track 5 Ballroom Stories Autorin Es war ein langer Weg, bis es die sechs Siedlungen der Berliner Moderne im Juli 2008 auf die Weltkulturerbeliste der UNESCO geschafft haben. Dabei wirkt die Entscheidung im nachhinein so folgerichtig: Wenn es eine Ära gab, in der Berlin vibrierte, dann waren es die Zwanziger. Nach Weltkrieg und Revolution herrschte hier eine Aufbruchsstimmung, die mit Händen zu greifen war und alle Bereiche erfasste - von der Kunst und den Film, über Architektur und Wissenschaft. Der Stummfilm feierte seine Geburtstunde als Massenmedium, die Maler feierten die Explosion der Farben und die Befreiung von der Gegenständlichkeit, die Damen die Befreiung von Korsett und Haarnadeln und die Berliner feierten sich selbst - in Varietés, in Weindielen und beim Swing. Atmo 10 Musikmix (Waldeck: Jerry Weintraub, Track 02) Autorin Auch in der Architektur fand eine Entrümpelung erster Güte statt, die unter dem Schlagwort "Neues Bauen" in die Lexika eingehen sollte: Weg mit all den Stilmoden des 19. Jahrhunderts, mit dem überflüssigem Zierrat und Dekor. Aber dass sich namhafte Architekten dem Massenwohnungsbau zuwandten, das war etwas sensationell Neues. Bezahlbaren Wohnraum für Werktätige und Lohnabhängige zu schaffen, mit hygienischen Mindeststandards und zudem ästhetisch ansprechend - dieses kühne Kombination hat wohl auch die UNESCO-Kommission überzeugt, zumal auf der Welterbeliste bis dato keine Wohnsiedlungen vertreten gewesen waren. Atmo 11 Garderobe Autorin Die Mieter selbst waren - und sind - dagegen nicht so leicht zu gewinnen. O-Ton 11 Claudia Perez Als wir hier ereilt wurden mit der Information, dass die Häuser alle rekonstruiert wurden und denkmalgerecht wieder hergestellt, brach hier große Panik aus in der Gegend. Und es war eine Wanderungsbewegung, so was habe ich in meinem Leben noch nie gesehen. Also es gab keinen Tag, wo nicht schon wieder Straßen gesperrt waren und Umzugswagen vor der Tür standen. Also es war hier ein reges Kommen und Gehen. (8, A, 0.04) Autorin Claudia Perez nickt, als sie die Musterwohnung in der Carl-Legien- Siedlung im Berliner Prenzlauer Berg betritt. Sie wohnt heute zwei Häuser weiter. Aber aufgewachsen ist sie hier im Haus, in der Sodtkestraße 13, in einer Zwei-Zimmer-Wohnung wie dieser. Auf 55 Quadratmetern, mit ihren Eltern und der Schwester. Atmo 12 Lichtschalter Autorin Ihr Blick fällt auf einen der schwarzen Lichtschalter. Wie so oft ist es ein Detail, das die Erinnerung bewahrt hat - und sie wieder auferstehen lässt. Atmo 13 Fensterschrank (im OT 13) O-Ton 12 Claudia Perez Es gibt ein Geräusch hier in der Küche, was ich aus meiner Kindheit kenne. Und zwar hört man dieses Geräusch durch das ganze Haus. Wenn jemand diesen Fensterschrank, der hier unter dem Fenster in der Küche, der ist dafür dagewesen, im Winter die Kartoffeln zu lagern, dunkel, hat nach außen hin zur Loggia so ein Belüftungssieb. Und wenn man hier das aufmacht, mit Schwung, das hörst du bis unten ins Parterre. Unglaublich. Da ist das ganze Haus wach, (lacht) wenn da jemand abends noch ein Bier drin zu stehen hat und will sich das rausholen. (7, B, 4.69) Atmo 14 Hintergrund Musterwohnung Autorin Die Immobiliengesellschaft, der die Carl-Legien-Siedlung heute gehört, hat die zwei Zimmer, als Gästewohnung für ihre Mieter, im Originalzustand wiederherrichten lassen - samt der ursprünglichen Wandfarbe. Also einem dunklen Rot, dem berühmten Tautschen Ochsenblutrot, im Wohnzimmer und einem hellen Grün im Schlafzimmer. Nicht an einer Wand, sondern im gesamten Zimmer - nur die Decke ist ausgespart. O-Ton 13 Jörg Haspel Die Vorstellung war: Wenn hier die Sonne im Westen untergeht, dass das dann hier mit diesem roten Ton eine sehr farbige und warme Raumstimmung gibt im Sonnenuntergang. Dass hier drüben, wo das Schlafzimmer ist, die Sonne aufgeht, und dann entsprechend kühl gehalten ist. (7, A, 4.40) Autorin Jörg Haspel ist Landeskonservator von Berlin - und dass die Siedlungen der Moderne heute auf der Welterbe-Liste stehen, ist zu großen Teilen sein Verdienst. Hier lässt sich gut nachempfinden, wie Bruno Taut sich das Bauen, und vor allem das Leben, mit Farben, gedacht hat - auch wenn uns das heute gewöhnungsbedürftig erscheint. Wobei: Auch für die Zeitgenossen war das wohl nicht selbstverständlich. So soll in Mietverträgen aus den Zwanzigern ein Passus enthalten gewesen sein, doch bitte keine Tapeten oder Bilder anzubringen. Jörg Haspel bezweifelt das: O-Ton 14 Jörg Haspel Die Farbe sollte ja im Grunde genommen mit entbehrlich machen den Wandschmuck, den Pomp, der sich in den Wohnungen befand. Das war der Versuch, zu einer neuen Wohnkultur zu kommen, zu einer modernen Gestaltung und dadurch der Versuch, an der Architektur direkt zu gestalten und diese nicht mit Schmuckstücken aufzuwerten, sondern zu sagen: Diese ist genug. Es gab aber kein Bilderverbot in den Wohnungen. Und es gibt natürlich auch namhafte Wohnungen, die einen Wand- oder Bilderschmuck haben. (7, A, 4.59) Autorin Verboten oder nicht - von der Hand zu weisen ist wohl kaum, dass der Architekt ganz genaue Vorstellungen hatte, was den Geschmack seiner Bewohner betraf. Der allerdings war noch äußerst entwicklungsbedürftig, wie er schnell feststellen musste: O-Ton 15 Claudia Perez Bruno Taut war ja auch ganz enttäuscht, als die ersten Mieter hier einzogen, denn er hatte zwar nicht vorgeschrieben, aber sich vorgestellt, dass jetzt, nach den Berliner Mietskasernen, jetzt hier Luft und Licht in die Wohnungen kommt, und dann haben sich die Mieter das alles mit Gardinen zugehängt. Und der war ziemlich entrüstet darüber, dass Hirschgeweihe in den Loggias hingen und so. Also der neue Mensch war für ihn erstmal nicht geboren mit seiner Wohnung, glaube ich. (7, A, 4.83) Autorin Als die 1.144 Wohnungen der Siedlung fünfzehn Jahre nach der Wende dann denkmalgerecht saniert werden sollten, kam es zum Krach. O-Ton 16 Claudia Perez: Viele hatten sich ja im Osten diese Wohnungen, weil ja nichts reingesteckt wurde, hatten die sich das natürlich selbst zum Teil mühsam kacheln lassen uns so was alles. Also da waren manche Wohnungen - also jetzt nach der Rekonstruktion würde man sagen: ein Glück, dass ich das olle Braun los bin - aber damals war das so, da hatten die Leute das Geld reingesteckt, das war alles privat investiert, und dann sollte auf einmal das alles nichts wert gewesen sein? Also das war schon schwierig. (8, A, 3.29) Autorin Einbauten mussten entfernt werden, der ursprüngliche Grundriss wiederhergestellt und die Wintergärten, zu denen einige Mieter ihre Loggien umfunktioniert hatten, wieder rückgebaut werden. In einigen Fällen ging der Streit zwischen Mietern und Denkmalamt sogar bis vors Gericht. Licht und Luft - das war doch der Luxus, den Bruno Taut allen Bewohnern seiner Siedlungen hatte ermöglichen wollen. Atmo 15 auf Balkon O-Ton 17 Jörg Haspel Alle Wohnungen haben Anteil an den Höfen über den Balkon. Und alle haben Anteil an der Straße. Und wenn Sie das Fenster aufmachen haben Sie immer die Möglichkeit, quer zu lüften, also Luft zu bekommen. Und Sie haben überall innen liegende Toiletten, Sie haben überall innen liegende Bäder und Sie haben überall den Freisitz - also den Balkon, hier als Loggia ausgebildet. Das waren sicherlich Qualitäten, die den gängigen Standards der Mietskasernen weit überlegen waren und die auch dem zeitgenössischen Wohnungsbau in vielen anderen europäischen Städten voraus waren. (7, A, 5.18) Autorin Und der Balkon ist nicht nur ein besserer Abstellraum, sondern groß genug, um hier mit der ganzen Familie zu sitzen und den freien Blick zu genießen - erst ins Grüne, und dann auch ins Blaue. O-Ton 18 Claudia Perez Wenn man auf dieser Loggia steht und man guckt morgens hier drüben auf diese blaue Farbe, die sich dann in diesem Himmel erweitert - man denkt, das ist ein unendlicher Horizont, gerade hier in diesem blauen Block. Das ist unwahrscheinlich schön. (7, A, 5.53) MUSIK 2 Waldeck: Why Did We Fire The Gun Track 7 Ballroom Stories Autorin Es muss ein Paukenschlag gewesen sein, mit dem die Gartenstadt Falkenberg fertig wurde. Während das Wilhelminische Reich in den ersten Weltkrieg zog, griff der junge Bruno Taut für seine erste Siedlung so kräftig in die Farbpalette, dass die Gartenstadt Falkenberg, am südöstlichen Stadtrand Berlins, sofort den Spitznamen "Tuschkastensiedlung" verpasst bekam. Atmo 16 Musikmix (Waldeck: Dub, Track 10, ca. 0.20-0.45) Autorin Farbenfroh sind die Reihenhäuschen durcheinander gewürfelt: Braun, gelb, blau, gelb, braun. Ein tiefrotes, ein ultramarinblaues, ein pechschwarzes - und dann diese Fassaden, die so aussehen, als hätte sich ein Maler hier ausgetobt, nachdem ihm die Leinwand ausgegangen ist. Das sind keine Häuser, das sind abstrakte Gemälde: Riesige, bunte Muster über die gesamte Häuserfront gepinselt. Oder ein Mosaik aus gelben und orangefarbenen Dreiecken über einer knallroten Tür. Da wundert es nicht, dass Bruno Taut als junger Mann überlegt haben soll, ob er Architekt oder doch lieber Maler werden wollte. Und mit seinem ersten Siedlungsbau den bürgerlichen Geschmack so brüskierte, dass man Taut nicht nur zum Verunstalter des Ortsbildes erklärte, sondern am liebsten gleich verhaften wollte. Atmo 17 Schritte im Schnee Autorin Was für eine geniale und zugleich kostengünstige Lösung die Farbe bot, eine Reihenhaussiedlung vor Monotonie zu bewahren, begriff man spätestens zu DDR-Zeiten - dann nämlich, als der Anstrich verblasste, erzählt Max Rasokat, der seit seiner Geburt in der Gartenstadt Falkenberg zu Hause ist. O-Ton 19 Max Rasokat Sie hätten mal die Häuser sehen sollen, als die abgeputzt waren und nicht gestrichen. Da sahen die, ich möchte es mal so rustikal sagen, scheiße aus. Und durch die Farben hat man erstmal gesehen, was der sich dabei gedacht hat. (3, B, 5.81 - draußen) Atmo 18 Gartenstadtweg Autorin Nach der Wende wurde die Siedlung dann saniert und wieder in den Originalfarben gestrichen. Für die Bewohner war das, als hätte man plötzlich das Licht angeknipst: Kein Haus gleicht dem nächsten, die Fensterrahmen tragen eine andere Farbe als die Fensterläden, die Gesimse eine andere als die hölzernen Balkonbrüstungen. O-Ton 20 Max Rasokat Also für mich war das schon gewöhnungsbedürftig. Erstmal hat man gedacht: Haben die da irgendwas falsch gemacht? Dass das so blau ist. Ich bin aber dabei gewesen, wie die diese Farbproben gemacht haben. Gibt ja wenig Leute, die das so gesehen haben noch. (3, B, 6.46 - draußen) Autorin Als Kinder, erzählt der 63-Jährige und Vorsitzende des Siedlungsausschusses in Falkenberg, haben wir uns immer an den Farben orientiert, nie an den Hausnummern. Man traf sich am schwarzen Haus, am Beamtenhaus - das so hieß, weil hier die Wohnungen größer und die Mieten höher waren - oder am blauen Haus. Warum das von allen das "blaue Haus" genannt wurde, obwohl es tatsächlich weiß war, das hat sich Rasokat nie gefragt. Erst nach der Rekonstruktion, sagt er und lacht über sich selbst, hat er dann verstanden, warum das so war. O-Ton 21 Max Rasokat Jetzt sehen Sie ja hier: Dieses Haus auf der rechten Seite, dieses weiße Haus, ist das einzige, was zerstört war, ausgebrannt und teilweise auch ausgebombt. Und das, was jetzt blau ist, war damals weiß. Und das wurde wieder so hergestellt. Und so kannten wir das auch nicht. Das ist natürlich ein Knaller: Dieses Weiß und dieses Blau dazu. (3, B, 6.32 - draußen) Atmo 19 Gartentür schnappt zu Autorin Max Rasokat öffnet ein schmiedeeisernes Gartentürchen und tritt durch ein von Efeu überwachsenes Rankengerüst auf einen der Wirtschaftswege, die zwischen den Häusern hindurch zur Rückseite der Gärten führen. In der Gartenstadt Falkenberg verfügt jede Wohnung über einen eigenen Garten, der es den Siedlungsbewohnern ermöglichen sollte, sich selbst mit Obst und Gemüse zu versorgen. Der renommierte Gartenarchitekt Ludwig Lesser entwarf sogar eigene Vorschlagslisten und klärte die Bewohner darüber auf, welche Bäume und Beete am besten für die Selbstversorgung geeignet seien. Atmo 20 Stufen Autorin Über den niedrigen Gartenzaun hinweg grüßt ein Nachbar, Thomas Hoch, der wie Rasokat im Siedlungsausschuss von Falkenberg aktiv ist. Und da es noch was zu besprechen - aber keine Kneipe in Falkenberg - gibt, setzen sie sich in Rasokats Küche auf eine Tasse Tee zusammen. Auch Viktor Benner, der Hausmeister, schaut kurz vorbei. Atmo 21 Tee einschenken Autorin Es wird gemütlich in der Küche von Max Rasokat. Wie früher, scherzt der 63-jährige, während er Tee einschenkt. O-Ton 22 Max Rasokat Früher war es so, da kannte man wirklich jeden. Victor kennt noch die Autos - und ich kenne noch die Katzen. Und die Vögel. (lacht) Das hat Vor- und Nachteile. Das ist natürlich klar. Man kann doch nicht so ungezwungen leben wie in Schöneberg. (3, A, 6.10) Autorin In den Gründerjahren nach dem ersten Weltkrieg organisierte der Bewohnerausschuss gemeinsame Einkäufe von Heizmaterialen, Falkenberg hatte einen eigenen Sängerverein, Turn- und Schachgruppen sowie eine freiwillige Feuerwehr, eine eigene Siedlerzeitung und sogar eine Nationalhymne. Am berühmtesten aber waren die Siedlungsfeste. Zu denen machte sich alles auf, was sich im Berlin der Zwanziger zur linken Bohème zählte. O-Ton 23 Max Rasokat und Thomas Hoch Früher wurde immer gesagt, wenn die Eltern in die Stadt gefahren sind: Die fahren in die Stadt. Also das war schon hier Dorf. Ne halbe Stunde mit dem Görlitzer,war ja ein Dampfzug. Warum lachst Du so, Thomas? Weil ich wieder aus dem Urschleim erzähle? - Ja, das sind so Vorkriegsgeschichten, aber das ist auch das Schöne hier an der Siedlung: Dass durch den Austausch zwischen jung und alt man hier gut eingebettet ist. (3, A, 0.48) Atmo 22 Kaffeemaschine Autorin Die beiden Männer versuchen, das genossenschaftliche Gemeinschaftsprinzip hochzuhalten - auch wenn sich natürlich vieles geändert hat seit den Gründerjahren. 1913 ist Rasokats Großvater aus einem Hinterhof in Neukölln in die Gartenstadt gezogen - was seine Familie vielleicht über die zwei Weltkriege gebracht hat. Denn damals glich die Gartenstadt mehr einem Bauernhof. Klar hatten die Großeltern Viehzeug, erzählt Rasokat, Hühner, Kaninchen, Tauben, und sogar eine Ziege. Und das hat dementsprechend gerochen. Er grinst breit. Aber was glauben Sie? O-Ton 24 Max Rasokat Das war nach 45 wichtig. Und ich kann mich erinnern, 1949 das war ein strenger Winter, da haben meine Mutter und mein Vater die Hühner mit in die Wohnung genommen, damit die nicht erfrieren. Und die Hühner sind in der Küche spazieren gegangen. (3, A, 6.72) Autorin Heute geht es hier unspektakulärer zu. Aber Touristen, die auf den Spuren von Bruno Taut durch die Gartenstadt Falkenberg streifen, werfen trotzdem gerne mal einen verstohlenen Blick durch die Fenster. Und wenn Max Rasokat gerade Zeit hat, dann lädt er sie auch mal ein, bei ihm in die Küche zu gucken. O-Ton 25 Max Rasokat Die Japaner, für die war es natürlich eine ganz große Sache: Die haben sogar in den Kühlschrank geguckt. Haben sich dann tausendmal bedankt und haben ne Packung Trockenfisch hinterlassen. War natürlich sehr prickelnd. (lacht) Aber ist schon ne schöne Sache. (3, B, 1.08) MUSIK 3 Waldeck. Memories, Track 3 Ballroom Stories Autorin Es muss eine furchtbare Wohnungsnot geherrscht haben nach dem ersten Weltkrieg. Berlin war die Stadt der Mietskasernen und Bauspekulation - und in den Hinterhöfen grassierten die Krankheiten. 1920 hatte Berlin bereits 3,8 Millionen Einwohner und galt damit, hinter New York und London, als die bevölkerungsreichste Stadt der Welt. Aber die Weimarer Republik trat an, diese Wohnungsnot zu lindern. In der Verfassung wurde erstmalig festgeschrieben, dass jeder Deutsche das Recht auf eine gesunde Wohnung hat. Genossenschaftliche, städtische und gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaften wurden gegründet. Und mit der Einführung der Hauszinssteuer 1924 konnten gezielt all jene Wohnungsbauprojekte gefördert werden, die einen hygienischen und sozialen Mindeststandard erfüllten: Keine Hinterhöfe oder Seitenflügel, keine Durchgangszimmer, keine Klos mehr auf halber Treppe. Atmo 23 Konsum-Laden Autorin Oxforder Straße 4, Berlin-Wedding. Eva Sachs steht in Kittelschürze hinter der Ladentheke des Konsums in der Siedlung Schillerpark, dem ersten baugenossenschaftlichen Wohnprojekt innerhalb Berlins. Seit 4 Uhr 30 ist sie auf den Beinen, schließlich bringt der Bäcker dann schon die Schrippen. Um sieben Uhr öffnet Eva Sachs den Laden. Aber es gibt auch Kunden, die nicht so lange warten wollen. Die ältere Dame zieht ergeben die Schultern hoch und streift ihre Schürze glatt, dann macht sie eben schon um sechs auf. O-Ton 26 Eva Sachs Ich habe hier einen speziellen Freund - und wenn der reinkommt, der kriegt nicht den Mund auf. Dann sage ich schon von vorneherein: "Guten Tag, bitte, danke" oder "Was soll's denn sein? Auf Wiedersehen." Aber ich kriege den Mann nicht aus der Reserve. Da ist nichts zu wollen. Und der kam schon mit seiner Mutter, die hat schon bei uns eingekauft. (5, A, 6.45) Autorin 1930, nachdem alle 303 Wohnungen der Siedlung Schillerpark fertig gestellt waren, entstand auch ein eigenes Waschhaus, ein eigener Siedlungskindergarten sowie ein von der Genossenschaft geleiteter Konsumladen. Eva Sachs hat den Laden 1961 gemeinsam mit ihrem Mann erworben, seitdem wohnt das Ehepaar nebenan. Ihre Kunden kennt sie selbstverständlich alle mit Namen - und einige wollen auch nur von ihr bedient werden: O-Ton 27 Eva Sachs So wie jetzt der Kunde, der eben da war: Der kommt nicht so oft, und ich weiß, dass die Frau krank ist, bricht mir keinen Zacken aus der Krone zu fragen, wie geht`s oder schönen Gruß an Ihre Frau. Oder wir haben hier eine fünfundneunzigjährige Kundin, und da gehen wir einmal die Woche hin und bringen ihr, was sie haben möchte. Oder wenn ich dann mal Kartoffelsalat mache oder mal Sülze koche, kriegt sie was ab. Wie überall gibt es so ne und solche. (5, B, 1.34) Autorin Mehr als die Hälfte der Bewohner in der Siedlung Schillerpark sind heute über 60. Das Ehepaar Sachs ist sogar schon über 70. Eva Sachs würde eigentlich gerne in den Ruhestand gehen, aber es findet sich kein Nachfolger für den Konsum. O-Ton 28 Eva Sachs Mein Mann und ich machen jetzt alleine. Und unsere alten Kunden sterben alle weg. Und die jungen Leute, die kommen nur, wenn sie mal was vergessen haben. Sage ich ganz ehrlich. Wie wir angefangen haben, war der Laden sehr gut, aber wir sind ja jetzt schon etliche Jahre in dem Alter, wo andere schon lange nicht mehr arbeiten. Aber mein Mann kann nicht aufhören, und ich glaube - ich würde lieber gestern wie morgen aufhören, aber mein Mann ist nicht zu bewegen, und da machen wir eben so lange, wie wir können. (5, A, 6.10) Atmo 24 Kasse Autorin Der nächste Supermarkt liegt zehn Minuten entfernt - der Wedding, mit seinen lauten Straßen, Internetshops und türkischen Teestuben, scheint noch weiter weg. Häuserzeilen aus Backstein umschließen grüne Innenhöfe, die Parkbänke sind sauber, aber ungenutzt, ein Spielplatz liegt verwaist da. Nur die Flugzeuge nach Tegel stören alle zehn Minuten die Idylle. O-Ton 29 Eva Sachs Manchmal komme ich mir auch vor wie aufm Dorf. (lacht) Ich habe gestern nachmittag, bloß als Beispiel, eine Stunde telefoniert. Und hinterher rief dann eine Kundin an: Was war denn bei ihnen los? Telefon war ja so blockiert. Oder es wird auch mal angerufen: "Frau Sachs, Sie haben vergessen, im Laden brennt noch Licht." (5, B, 2.00) Atmo 25 Straße Schillerpark (mit Flugzeug) Autorin Viele Bewohner leben seit Generationen hier in der Siedlung. Und wollen auch nicht mehr wegziehen. Das freut uns natürlich, sagt Sylvia Walleczek von der Berliner Bau- und Wohnungsbaugenossenschaft von 1892. Problematisch wird es allerdings, wenn jemand nicht mehr laufen kann und auf den Rollstuhl angewiesen ist. Denn die Treppenhäuser sind zu schmal, um einen Lift zu montieren. Und außen an die Fassade einen Aufzug anzubauen, das verbietet der Denkmalschutz. Selbst ein Umzug ins Parterre löst das Problem nicht, weil auch das Erdgeschoss nicht ohne Stufen zugänglich ist. Also musste man sich etwas anderes einfallen lassen. O-Ton 30 Sylvia Walleczek Dann ging man eben nach außen, weil man im Treppenhaus nicht weiterkam. Und dann haben wir hier diese Hebeplattform installiert. Da waren diese Fenster, haben dann aus diesem Fenster eine Türe gemacht und so kann man hier reinfahren auf die Hebeplattform, dann wird man hochgehoben und kann dann eben zur Tür reinfahren. (5, A, 4.81 - draußen) Atmo 26 Schritte Autorin So verfügt die Siedlung Schillerpark heute nicht nur über einen eigenen Kindergarten, sondern auch über eine Alten-WG. Und weil die nicht unbegrenzt Platz bietet, hat die Genossenschaft 2005 einen Concierge-Service eingerichtet, der die Bewohner in ihrem Alltag unterstützen soll. Atmo 27 in Concierge-Büro Autorin Der wurde anfangs jedoch nur schleppend angenommen, erzählt Barbara Scherfling im Concierge-Büro. Denn die meisten älteren Menschen hatten Angst, dass der Service Geld kostet. Was nicht der Fall ist. Aber die kleine, resolute Frau hat nicht aufgegeben und die Bewohner einfach direkt angesprochen: O-Ton 31 Barbara Scherfling Ich laufe ja hier den Leuten hinterher, wenn ich sie rumkriechen sehe auf zwei Krücken. Und ich sage: Mensch, sagen Sie doch Bescheid, wenn wir Ihnen was bringen können. "Das macht mein Enkel und meine Nachbarin." Ich sage: Sie brauchen doch die anderen nicht zu belästigen. "Dann ist meine Nachbarin sauer." Denn wir machen hier ja auch Urlaubspflege und solche Sachen, wenn die Leute verreisen. (5, B, 5.93) Autorin Außerdem übernimmt der Concierge-Service Einkäufe, fährt die Mieter zum Arzt, hier kann man seine Post oder Reinigung abgeben, BVG-Karten und Briefmarken kaufen. Finanziert wird diese Einrichtung von der Genossenschaft, die damit ihre Mieter halten, sprich: Auszüge, und damit Kosten, vermeiden will. Mittlerweile nutzen ungefähr 15 Prozent der 600 Mieter den Concierge-Service. Einige von ihnen heimlich - um den Nachbarn nicht zu brüskieren: O-Ton 32 Barbara Scherfling Dann denken die Leute immer, der Nachbar ist beleidigt, weil er den Schlüssel bei mir abgibt für die Urlaubspflege. Da muss man dann eben vermitteln. Oder die Leute bringen die Blumen hierher. Das hatten wir jetzt auch gehabt, dass wir die Blumen hier pflegen, damit der Nachbar das nicht merkt. (lacht) (5, B, 6.01) Autorin Heute früh, erzählt Barbara Scherfling, war hier im Büro richtig was los. Erst kam ein älterer Herr, der sich selbst ausgesperrt hatte und dem erst nach Stunden im Hausflur wieder eingefallen ist, dass er ja seinen Ersatzschlüssel bei uns abgegeben hat. Der war vielleicht froh. Sie lacht herzlich. Und mittlerweile kommen auch Bewohner, die gar keinen Dienst in Anspruch nehmen, sondern einfach etwas Gesellschaft suchen. O-Ton 33 Barbara Scherfling Da kam zum Beispiel heute Vormittag jemand, der hat Urlaub, der kam mit seinen Brötchen hier an, hat sich seinen Kaffee geholt und dann hat der erstmal hier gefrühstückt. Ist ja toll, wo hat er das sonst. Sonst ist er alleine zu Hause. (5, B, 6.13) Musik 4 Waldeck: Make my day Track 1 Waldeck: Ballroom Stories Autorin Es dürfte wohl eine knappe Woche dauern, wollte man sich alle sechs Siedlungen der Berliner Moderne hintereinander anschauen: Die Gartenstadt Falkenberg, die Siedlung Schillerpark, die Hufeisensiedlung, die Wohnstadt Carl Legien, die Weiße Stadt und die Ringsiedlung Siemensstadt. Seit sie im Juli 2008 zum Welterbe ernannt wurden, fragen Besucher aus aller Welt nach den Siedlungen aus den Zwanzigern. Denn oft finden sie erst gar nicht hin. Bislang gibt es nämlich weder ein Leitsystem noch Infotafeln, die vor Ort über die Geschichte der Siedlungen aufklären. Auch ein Musterhaus wie in Dessau oder in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung sucht man vergeblich - ebenso wie ein kleines Museum oder ein Café zum Aufwärmen. Atmo 28 klopfen Autorin Der Verein der Freunde und Förderer der Hufeisensiedlung will das jetzt ändern - auch damit die Bewohner selbst, wie zum Beispiel die Rentnerin Helga Schönfeldt, eine Anlaufstelle haben, wenn sie sich informieren wollen. O-Ton 34 Christoff Jenschke Also ich hatte hier so ein wenig die Idee, ein Haus zu einem Museum und einer Begegnungsstätte innerhalb der Siedlung umzubauen bzw. es absolut originalgetreu wiederherzustellen. Also ein Anschauungsobjekt für die Leute, die sich hier denkmalgerecht wieder einrichten wollen bzw. die eben denkmalgerecht das Haus sanieren wollen. (1, B, 6.04) Atmo 29 Tee kochen Autorin Christoff Jenschke ist Vorsitzender des Vereins. Der Rechtsanwalt und Vater von vier Kindern lebt selbst in der Hufeisensiedlung. Er schaut kurz bei Katrin Lesser auf eine Tasse Tee vorbei - auch die Gartenarchitektin ist Mitglied im Verein - um noch einige Ideen mit ihr zu besprechen. Auslöser für die Vereinsgründung vor gut einem Jahr war eine Veranstaltung, die einige Bewohner einberufen hatten, um sich gegen den Denkmalschutz zu wehren und ihre Plastikfenster zu behalten. O-Ton 35 Christoff Jenschke Es waren eigentlich nur drei oder vier Einzeleigentümer, die im Grunde schon eine Rückbauverfügung bekommen haben, weil sie Fenster eingebaut haben, die nicht so waren, wie es sein sollte. Und das hatte dann mal das Denkmalamt durchgesetzt, da stand wohl eine Gerichtsentscheidung an - und man versuchte dann, politisch Rückenstärkung zu bekommen von der Bewohnerschaft. (1, B, 4.31) Autorin An diesem Abend aber stellte sich heraus, dass es durchaus auch Bewohner in der Hufeisensiedlung gibt, die das Wohnen im Denkmal sehr schätzen, erzählt Katrin Lesser - gerade die jungen Familien, die in den letzten Jahren hergezogen sind. O-Ton 36 Katrin Lesser Und ich bin da auch nach vorne ans Mikrofon gegangen und habe für den Denkmalschutz Stellung bezogen. Und habe dann gemerkt, dass - es war sehr voll in der Aula - dass bestimmt fünfzig Prozent gegen den Denkmalschutz, aber auch fünfzig Prozent dafür plädiert haben. Und dann haben wir uns zusammengesetzt und überlegt: Was kann man tun? Und unserer Meinung nach ist es so, dass viele, die Veränderungen vornehmen, das nicht gar nicht aus Boshaftigkeit machen, sondern oft auch aus Unwissenheit. Und wir haben dann den Verein gegründet nicht weil wir als Denkmalpolizei auftreten wollen, sondern wir möchten die Menschen, die hier leben, informieren. Und denken, dass sie dann dadurch mehr Gefühl dafür entwickeln und dann entsprechend die Sanierung durchführen. (1, B, 4.85) Autorin Die 679 Häuser der Hufeisensiedlung werden in Zukunft ebenso viele Eigentümer haben. Sie stehen nämlich zum Verkauf. Ungefähr die Hälfte sind schon von der GEHAG in neue Hände gewechselt. Damit die Einheitlichkeit der Siedlung trotzdem erhalten bleibt, und auch die Details, die in den Häusern noch original erhalten sind - wie alte Holzkastenfenster, Lichtschalter oder Fensteroliven - beim Renovieren nicht aus Unwissenheit beseitigt werden, will der Verein für die Bewohner eine Datenbank im Internet einrichten. O-Ton 37 Christoff Jenschke Es ist sehr schwer für die einzelnen Neu-Eigentümer, die ihre Häuser sanieren wollen, zu den Unterlagen zum Originalzustand des Ganzen zu kommen. Es gibt eben nur ganz wenige Exemplare von diesen Gutachten, die werden sehr ungern herausgegeben. Wir haben es so erlebt, dass wir mehrere Wochen auf die Unterlagen zu den Originalfarben an den Fenstern und den Türen gewartet haben. Und eben das soll diese Datenbank vereinfachen. (1, B, 4.83) Autorin Im Haus von Katrin Lesser lässt sich gut nachempfinden, wie sich das Wohnen in den Zwanzigern angefühlt haben muss: Türen, Klinken, Einbauten und Fenstergriffe sind noch von damals, es hängen keine Bilder an den Wänden - und keine Vorhänge vor den Fenstern, sodass das Sonnenlicht einmal quer durch Wohn- und Esszimmer fluten kann. Die Fensterrahmen leuchten in gelb, hellblau und schwarz und geben den Blick frei ins Grüne. Atmo 30 Fenster öffnen (Vögel im Hintergrund) Autorin Keine Viertelstunde braucht die U-Bahn von der Hufeisensiedlung bis zum Alexanderplatz, aber hier ist nichts von der Großstadt zu merken. Im Sommer, sagt Katrin Lesser und ihr Pferdeschwanz schwankt fröhlich hin und her, als sie zum olivenförmigen Fensterknauf greift und das Fenster zum Vorgarten öffnet, im Sommer bekommen wir oft Besuch von Freunden. O-Ton 38 Katrin Lesser Die sagen dann natürlich immer etwas abwertend: Wir kommen dann mal raus zu Euch aufs Land. (lacht) (2, A, 2.03) Autorin Im Frühjahr wird es hier wieder vor Farben explodieren, mit all den bunten Fassaden und blühenden Obstbäumen. Aber halt: Wo ist eigentlich der obligatorische Vorgartenbaum der Familie Lesser? Den werden wir natürlich nachpflanzen, sagt die Gartenarchitektin und lacht, aber erst, nachdem ich die Einweckgläser besorgt habe. Wohnen im Denkmal ist eben auch viel Arbeit. SpvD Wohnen im Denkmal. Die sechs Siedlungen der Berliner Moderne. Eine Deutschlandrundfahrt mit Stefanie Müller-Frank. Musik hoch 1