COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Literatur, 11.8.2009, 19.30 Uhr Die vergessene Grenze Ostmitteleuropas Literaturen im Schatten der deutschen Mauer Eine Sendung von Beatrix Langner Redaktion: Sigried Wesener Zitator ?In Polen dauerte es zehn Jahre, in Ungarn zehn Monate, in der DDR zehn Wochen; vielleicht wird es in der Tschechoslovakei nur zehn Tage dauern.? Autorin Mit diesen Worten versuchte sich der britische Historiker Timothy Garton bei einem Besuch in Prag am 23. November 1989 als Zukunftsseher. Der Spruch erschien bald danach auf Mauern und Plakaten der tschechoslowakischen Hauptstadt. Am 17. November 89 zog eine Studentendemonstration durch die Stadt an der Moldau; zwei Tage später gründete sich das Bürgerforum und forderte den oppositionellen Schriftsteller Waclaw Havel auf, sich zur Wahl des Staatspräsidenten zu stellen. Nach einem landesweiten Generalstreik am 27. November gab die Husak-Regierung nach. Ash hatte Recht behalten. Nach Polen, der Sowjetunion, Ungarn, der DDR betrat auch die Techoslowakei den politischen Weg von der Einparteiendiktatur zur parlamentarischen Demokratie. Zitator 1989 war ich davon überzeugt, dass es in zwanzig Jahren kein Osteuropa mehr geben würde. Und ich hätte nie gedacht, dass ich bei einem Berlin-Aufenthalt zwanzig Jahre nach der Wende noch immer so sehr von der Geschichte verfolgt werden würde, wie es jetzt der Fall ist. Manchmal sage ich mir, hey, das ist eine echte Obsession von Dir. Damit muss jetzt mal Schluss sein: Aber es gibt tatsächlich immer noch große Unterschiede zwischen West-und Osteuropa. Autorin Sagte der Schriftsteller Jachim Topol, einer der Unterzeichner der Charta 77 und heute einer der interessantesten Schriftsteller Tschechiens, in einem Interview für die Zeitschrift OSTEUROPA. Je weiter die dramatischen Monate der Revolution von 1989 dem historischen Blick entschwinden, je mehr das politische Osteuropa sich auflöst in der allgemeinen wirtschaftlichen Dynamik der EU-Osterweiterung, wird es zum Phantom. Osteuropa, das sind letzte Orte, wo sich Chaos und postkommunistische Lethargie noch nicht mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem arrangiert haben; Zeitinseln im Schatten der Weltgeschichte, ein bisschen anarchistisch, ein bisschen romantisch: Osteuropa als Lebensgefühl und als Sehnsucht. Sogar tief im Westen sucht es der polnische Erzähler und Verleger Andrzej Stasiuk auf seinen Lesereisen durch Deutschland. Zitator Ich fuhr durch das Rheinland und sann über die europäische Idee nach: Sich nicht waschen, die Kleider nicht wechseln und sich frei und zu Hause fühlen, von Charkow bis Lissabon. Sich wie auf dem eigenen Dorf fühlen und den lieben langen Tag in Unterhosen von vorgestern herumlaufen. Autorin Mit seinen Romanen, Erzählungen, Essays, Reisereportagen plädiert er für die Unteilbarkeit des kulturellen Gedächtnisses in einem Europa, das nach der sogenannten Osterweiterung noch viel zu wenig Verständnis aufzubringen scheint für die instabilen Gemütslagen, Neurosen und Komplexe seiner östlichen Mitglieder. Rückständig, arm, schäbig, apathisch, peripher sind die mittelosteuropäischen Szenarien, die Stasiuk beschreibt, eine unterbelichtete, untergehende Welt, die ihn magisch anzieht. Wie Jachym Topol kommt Stasiuk aus dem Untergrund; in den achtziger Jahren schloss er sich, noch als Jugendlicher, der polnischen Friedensbewegung an und verschwand hinter Gefängnismauern. Wie der Russe Viktor Pelewin, der Ukrainer Juri Andruchowytsch oder der Rumäne Dan Lungu verweigert Stasiuk die politische Zentralperspektive. Er sucht die Grenzerfahrung, den Blick von den Rändern. OT Manfred Sapper Der Begriff des Ostblocks war ja ein politischer Kampfbegriff und er suggeriert eine Homogenität, die dem Raum eigentlich nie eigen war. Also wenn man sich in der DDR bewegt hat, dann war damals schon klar, dass es einen fundamentalen Unterschied ausmacht, ob man mit Polen, mit Tschechen, oder aber mit Russen aus der Sowjetunion, ob mit Bulgaren oder Ungarn zu tun hat, da ist eine ganz grosse Differenz gewesen, die sich auch in den jeweiligen politischen Systemen ausgedrückt hat. Autorin Sagt der Politologe und Chefredakteur der Zeitschrift Osteuropa, Manfred Sapper. Diesen neuen Regionalismus in der Literatur, der den ehemaligen Ostblock als Raum erlebbar macht, bezeichnete Katharina Raabe, Lektorin und Entdeckerin von Andrzej Stasiuk, als Geopoesie. In einem ?Europa der Ränder? sind es gerade die vergessenen Grenzen, die Zwielichtzonen, die multiethnischen Randprovinzen, wie sie Stasiuk 2002 in der poetischen Erzählung ?Die Welt hinter Dukla? am Beispiel von Südostpolen beschrieben hat. OT Esther Kinsky Das sind solche Inseln, wo man dann auch Verhaltensweisen studieren kann, das wird es bald dann auch nicht mehr geben; es ist die Erfahrung mit einer sozialen Sprachlosigkeit, meiner eigenen sozialen Sprachlosigkeit, die mich zwang und vielleicht dann eine Auseinandersetzung ......die Fremdheit der Sprache, in der ich lebte. Autorin Esther Kinsky ist literarische Übersetzerin aus dem Polnischen. Sie hat Bücher von Olga Tokarczuk, Magdalena Tulli und Hanna Krall übersetzt. Als eine der wenigen Deutschen hat sie sich vor einigen Jahren in Battonya niedergelassen, einem Dorf an der ungarisch-rumänischen Grenze. OT Kinsky In Battonya, dem Dorf, in dem ich lebe, gibt es eine serbische, eine ungarische und eine rumänische Schule, gibt auch genügend Familien und Kinder, um diese Schule zu füllen,. Und auf der andern Seite genauso, also in Arat, der nächsten großen Hauptstadt gibt es ein ungarisches und ein deutsches Gymnasium neben dem rumänischen. Der Banat geht fast bis Belgrad und wird begrenzt von Donau, Theiss und den Hügeln im Osten; das ist deutschen Lesern durch Herta Müller und Richard Wagner bekannt. Also da kommt eigentlich das Interessanteste her, aus diesen Randgebieten. Autorin Aufsehen erregte vor einigen Jahren die Gründung der Autorengruppe ?Club 8? im Banat, um den Einfluss des immer noch mächtigen rumänischen Schriftstellerverbands auf die Verlagspolitik zu stoppen. Einer der Initiatoren war der Soziologe und Erzähler Dan Lungu, dessen satirische Romane noch nicht ins Deutsche übersetzt wurden. Wie Topol und Stasiuk gilt Lungu als Rebell und pflegt eine Art selbstironischer Unterground-Mentalität. Der neue rumänische Literatur-Star auf dem deutschen Buchmarkt heisst Mircea Cartarescu, 1956 geboren. Cartarescu wird der sogenannten 80er Generation zugerechnet, die in den Jahren der Ceaucescu-Diktatur schon erwachsen waren. Sein erstes Buch ?Nostalgia?, erschien im Revolutionsjahr 1989 zensiert in Bukarest, dieses Jahr nun vollständig auf deutsch. Während Exilschriftsteller wie Norman Manea oder Mircea Eliade romantische und surrealistische Schreibweisen aus den 1920er Jahren bevorzugtenan , die sich stark am italienischen Futurismus und der französischen écriture orientierten, lieben die Jüngeren den anekdotisch-epischen Stil. Geschichte statt l?art pour l?art. Fakten statt Metaphern. OT Sapper Wenn wir uns mit der Frage beschäftigen, was ist eigentlich das Besondere an der Literatur aus Ostmitteleuropa oder aus Osteuropa, dann ist das wirklich diese existentielle Erfahrung- Katharina Raabe, die Lektorin vom Suhrkamp-Verlag, hat das mal so bezeichnet, das ist der Raum, wo einem die Geschichte über die Haut läuft. Autorin Viele jüngere Autoren wenden sich geschichtlichen Stoffen zu. Der Tscheche Jachym Topol lässt seinen neuen Roman ?Teufelswerkstatt? in Weissrussland spielen, im ehemaligen Ghetto von Minsk und in Chatyn. OT Sapper Diese Beschäftigung mit der Geschichte kommt jetzt erst hoch, da war zwanzig Jahre ein Korken drauf. Es konnte nur die Generation wie Olga Tokarczuk sich mit der Vertreibungsgeschichte, mit den deutschen Wurzeln in Mitteleuropas beschäftigen, die ganze Debatte über die Stalinschen Verbrechen, die Stalinisierung, die war Tabu bis in die Wendezeit, und die Auseinandersetzung mit der Leidenserfahrung, mit der jüdischen Leidenserfahrung, die konnte wirklich so richtig frei diskutiert werden auch erst nach 1989. OT György Dalos Also ich hab für mich eher den Begriff Osteuropa benutzt, weil das ist auch eine Konstruktion, wie Mitteleuropa, weil ich glaube, Länder haben ebenso viel Unterschiedliches als Gemeinsames, und ich glaube, Mitteleuropa war eher der Sollzustand, das war das Ersehnte, man möchte eine Gemeinsamkeit haben ohne sowjetische Vormundschaft und das war ein Begriff, der von Kundera und von Konrad sehr stark geprägt wurde, aber wir nannten uns ja Osteuropäer, weil wir im Ostblock waren, was auch eine künstliche, von der SU geschaffene Bildung war, wo das sowjetische Modell durchgesetzt wurde. Autorin Der ungarische Erzähler und Essayist György Dalos, geboren 1943 in Budapest, hat Ungarn 1988 mit einem legalen Reisepass verlassen. Er lebte einige Jahre in Wien, jetzt wohnt er in Ostberlin. Gerade ist sein grosser historischer Essay ?Der Vorhang geht auf? über ?Das Ende der Diktaturen in Osteuropa? im Münchener Beck Verlag erschienen - ein differenziertes Weitwinkelpanorama der nationalen Aufstände in Polen, Ungarn, Bulgarien, der DDR, CSSR und Rumänien in ihrer zeitlichen und politischen Abfolge. György Dalos Das ist kein Roman, aber ganz so wie eine Saga der ostmitteleuropäischen Völker, weil es kommt etwas zu seinem logischen Ende, aber diese historische Logik erscheint für die Beteiligten als Wunder. Autorin Das Wunder von Berlin: nach 28 Jahren wurde in der Nacht zum 10. November 1989 das Brandenburger Tor, Symbol der deutschen Teilung, für Bürger der DDR wieder geöffnet. Von einem auf den andern Tag war die Mauer nichts weiter als ein kilometerlanger Stahlbetongürtel, mit dem sich die Regierung der DDR seit 1961 langsam, aber todsicher selbst stranguliert hatte. Die Deutschen waren vor Freude aus dem Häuschen. Die meisten empfanden es als Geschenk des Schicksals, wenn auch wohlverdient nach monatelangen friedlichen Protesten auf den Strassen der ostdeutschen Großstädte. Und das war es im Grunde auch, ein Geschenk, das die Deutschen von ihren östlichen Nachbarn empfingen, mit denen sie eine lange, gemeinsame Geschichte verbindet. OT Dalos Aber ich glaube, die Ungarn und die Polen neigen auch dazu, ihre Rolle zu demonstrieren, das ist wie immer in der Mythologie, es gibt wahre Momente, es gibt Vorstellungen, dass Ungarn mit der Öffnung des eisernen Vorhangs der deutschen Einheit oder dem Zerfall der Mauer beigetragen hat, das ist sicher so, was aber nicht bedeutet, wenn die Ungarn es nicht getan hätten, dann hätten wir bis heute die DDR, das ist nicht so. Autorin Die gemeinsame Geschichte der ehemaligen ?Bruderländer? ist eine katastrophische, eine Leidensgeschichte - von den polnischen Teilungen des 18. Jahrhunderts, den Verträgen von Versailles und Trianon 1919, die das habsburgische Vielvölkerreich zerschlugen, der faschistischen Okkupation, den Verbrechen der SS, der sowjetischen Bevormundung nach 1945 bis zu dem Versuch, über alle nationalen Unterschiede hinweg die Erinnerung an die Ermordung von Millionen europäischer Juden als gesamteuropäische Aufgabe wahrzunehmen. OT Sapper Also das Auseinanderdividieren und Gegeneinanderausspielen, wechselseitige Tabus und Denkverbote und Vergleichsverbote sind immer wieder Zeichen dafür, dass wir überhaupt noch nicht verstanden haben, was sich seit 1989 in Europa verändert hat und dass die Mauer, die eben dazu führte, dass man immer nur einen Teil Europas wahrnahm, zwar zusammengebrochen ist, aber die Steine, der Schutt, der von dieser abgebrochenen Mauer liegt, bei weitem noch nicht weggeräumt ist. Er liegt immer noch im Feld und führt zu total komplizierten Einschränkungen unserer intellektuellen Bewegungsfreiheit. Autorin Die Arbeit an der eigenen nationalen Geschichtsschreibung ? und dazu gehört auch der eigene Anteil an der Vertreibung und Vernichtung ethnischer Minderheiten ? als Teil einer gemeinsamen ostmitteleuropäischen Geschichtsschreibung zu begreifen, diese Einsicht setzt sich nur schwer durch. György Dalos hat in seiner letzten Erzählung ?Jugendstil? über seine problematische Jugend als ungarischer Jude und glühender Kommunist berichtet. OT Dalos In ?Jugendstil? behandle ich das Thema des Antisemitismus, und zwar in einer Zeit, wo dieser ? ich möchte sagen Gedankenschatz nicht einmal wirklich bemerkbar war; wie alles in den sechziger Jahren war es unter den Teppich gekehrt und trotzdem wirkt er weiter; und natürlich war in der Aktualisierung dieses Themas von Wichtigkeit die Tatsache, dass der Antisemitismus wie jeder Rassismus, wie alle möglichen Formen von Intoleranz in der Kultur in Ungarn und im ehemaligen Ostblock sehr stark in den letzten Jahren geworden sind. OT Sapper Wenn man sich zB mit der Frage beschäftigt, was diese Leidenserfahrung, diese Schichten des Leidens, die von der Oktoberrevolution über den Bürgerkrieg, den stalinistischen Terror, den 2. Weltkrieg, die Konzentrationslager, den Gulag, durchgemacht wurde, was diese Menschen da durchgemacht haben, da scheint es mir immer nützlich, dass man den Blick weitet auf ähnliche Erfahrungen in andern Regionen. Wenn wir eine Lagererfahrung nehmen, dann kommt man nicht umhin einzuräumen, dass es halbiertes Bewusstsein ist, wenn wir nur die Literatur, die literarische Verarbeitung der Erfahrung von Auschwitz bei Primo Levi oder bei Imre Kertesz lesen. Wir müssen auch Semprun über Buchenwald oder aber - was erst in der letzten Zeit ohne ideologische Scheuklappen entdeckt werden kann - einen Warlam Schalamov lesen, der 18 Jahre seines Lebens unter unvorstellbaren Bedingungen in einem sowjetischen Lager an der Kolyma verbrachte und Literatur über die Lagererfahrung zum Bedeutendsten gehört, was im 20. Jahrhundert überhaupt geschrieben wurde. Autorin Die Geisterstunde schlug 1990. Ein trüber Dunst aus Nationalismus und Separatismus stieg von den Rändern Ostmitteleuropas auf. Eine in der europäischen Geschichte beispiellose Welle von Staatsgründungen, ethnischen Abspaltungen und Rivalitäten erschütterte die Nationen vom südlichen Balkan bis in den Kaukasus, deren dramatischer Gipfelpunkt die russische Okkupation Tschetscheniens und der Yugoslavien-Krieg waren. OT Sapper Auf der einen Seite hat der Nationalismus eine ganz wichtige Rolle bei der Überwindung der Mauer gespielt, bei der Überwindung der Teilung. Es gibt keine Perestrojka, es gibt keine Bewegungen im Baltikum, in der Ukraine, im Kaukasus ohne die Idee einer nationalen Selbstbestimmung, weil Sprachfragen immer Machtfragen sind, und auf der andern Seite erkennt man, dass der emanzipative Gehalt des Nationalismus in einer ganz spezifischen Form schnell umschlägt und dann diese Fratze des Nationalismus zu Chauvinismus wird; und das erleben wir seit geraumer Zeit eigentlich jetzt in Ungarn am schlimmsten, wo die ungarische Mobilisierung gegen die Slowaken und gegen die Roma zu unappetitlichen Konstellationen führt. Aber gleichzeitig würde ich sagen, das ist eine Reaktion auf die gigantischen Umbrüche der letzten 20 Jahre OT Dalos Die Ungarn tun sich überhaupt schwer, mit jemand zusammenzuleben, mit sich selbst sogar haben sie Probleme, mit der eigenen Vergangenheit klarzukommen und ein ruhiges Verhältnis zu dem nationalen Dasein zu finden. Der Kommunismus ist vorbei und wir wissen nicht eigentlich, wo wir uns befinden, auch ein bisschen Niemandsland, weil wir sind nicht ganz dort gelandet, wo wir wollten. Autorin Dass ein genialer Erzähler wie Imre Kertesz, dessen poetisch-philosophische Bücher das gesamte europäische Denken der Moderne tief in sich aufgenommen haben, über Jahrzehnte in Ungarn totgeschwiegen und verkannt wurde und noch wird, ist eine Tragödie. Und noch immer wälzt sich die Gerölllawine, die der Abbruch der Berliner Mauer auslöste, weiter bis an die Ränder Europas und türmt neue Mauern auf, die uns heute den Blick verstellen auf Dukla, Novi Sad, Babadag oder Battonya. Letzte Orte, wo sich die Menschen allein gelassen fühlen, vergessen von Europa. Esther Kinsky hat das ?Lebensgefühl Osteuropa? in ihrem literarischen Debut ?Sommerfrische? beschrieben: die verlassenen Baracken eines ehemaligen Urlauberdorfes, in dem sich neue Träume eingenistet haben: Sehnsucht nach dem Traumland Konsum, Nostalgie und Resignation, eine plebejische Halbwelt; ein bisschen billig, dekadent und romantisch, wo man sich zwischen Autoschrott und Strassenstrich von Tag zu Tag im Provisorium eingerichtet hat, während aus den Autoradios pausenlos der Ostpop der achtziger Jahre schallt. OT Dalos Jetzt gibt es eine Tendenz zur Rückkehr zum konventionellen Erzählen, nach der Postmoderne, das ist die Rache für die Postmoderne, und man liest Texte, die man Anfang des 19. Jh. Lesen konnte, das ist in der ungarischen Prosa diese anekdotisierende Welle, also ein bisschen Märchen. Oder man liesst schwere Romane wie von György Spiro, ?Die Gefangenschaft?; das ist auch ein Autor, der stark im historischen Stoff ist, leider im Westen nicht genug bekannt. Er hat einmal Anfang der achtziger Jahre einen Roman über das polnische Theaterleben Anfang des 19. Jh geschrieben und jeder wusste, dass das eigentlich mit Ungarn in den achtziger Jahren zu tun hat; es ging um Zensur, um Macht; und das weiss man seit Bulgakow, dass das ein sehr politisches Thema ist. Autorin Der deutsche Kritiker Marcel Reich-Ranicki und sein polnischer Kollege Janusz Saliski wetterten vor fast zehn Jahren noch unisono über die junge polnische Gegenwartsliteratur: sie sei mittelalterlich, rückwärtsgewandt, wirklichkeitsfremd. Es kam aber anders. Die drei angegriffenen Autoren, Andrzej Stasiuk, Magdalena Tulli und Olga Tokarczuk werden in Deutschland erfolgreich vermarktet. Vor ein paar Wochen widersprach die Warschauer Literaturkritikerin Justyna Sobolewska in der Zeitschrift ?Polyticka? energisch dem Richtspruch der Literaturpäpste. Zitatorin Nach 1989 hat sich weniger die Literatur selbst verändert, als ihre Rolle und Funktionsweise: das literarische Leben, der Verlagsmarkt, die Medien. Unsere Erwartungen an sie stammen noch aus einer anderen Epoche. Die Tatsache, dass die Kunst nicht die Welt darstellt, gibt in gewissem Sinne die neue Wirklichkeit, in der wie uns befinden, wieder: sie ist fließend, flirrend und lässt sich nicht als Ganzes erfassen. Eine solche Wirklichkeit ist eine Herausforderung für die Literatur. Autorin Das das umstrittenste Buch der letzten zehn Jahre war in Polen der Debutroman der damals achtzehnjährigen Dorota Maslowska ?Schneeweiss und Russenrot?, eine provozierende Parodie der neupolnischen Gesellschaft und ihrer aus Pop, Medien und volkspolnischer Tradition geclusterten Sprachklischees. OT Kinsky Ich glaube, der Umbruch zu einer andern Form von Literatur, der in meinen Augen jetzt von der Rolle Polens in der Nachkriegsliteratur, auch der Opferrolle Polens wegführt, die kam dann wahrscheinlich frühestens Mitte der neunziger Jahre; ich kann mich jetzt nicht mehr genau erinnern, aber das war, als Stasiuks ?Weisser Rabe? erschien, von Huelle ?Weiser Dawidek?. Da kündigte sich dann eine Umorientierung in der Thematik an. Die Selbstfindung, neues Selbstbewusstsein als kulturelle Gruppe, die fing erst Mitte der 90er Jahre an, da kam dann auch von Magda Tulli, die ich sehr schätze, dieses ?Steine und Träume?, eine spracharchäologische Arbeit an der Vergangenheit, von dem, was man so in sich trägt, aber ohne die Ideologisierung.Und dann Olga Tokarczuks frühe Sachen, wieder ganz anders, so bisschen esoterisch angehaucht.... Autorin Diese jüngste Generation ostmitteleuropäischer Schriftsteller muss sich auch der Tatsache stellen, dass mit dem Einfluss der demokratischen Opposition auf das soziale und kulturelle Leben auch ein Stück eigener kultureller Identität und landestypischen Zeitgefühls verlorengegangen ist. Die Samisdat-Literatur hat keine nennenswerten literarischen Folgen hinterlassen. OT Dalos Ein Teil der Literaten in der Ära Kadar war auch kritisch gegenüber dem System, aber keine Dissidenten, es war überall im Osten dieser feine Unterschied zwischen kritischen Intellektuellen und dissidentischen Intellektuellen; manchmal gab es sogar zwischen den beiden Konflikte. Diesen Unterschied gibt es nicht mehr, und die Autoren ? entweder kehrten sie zu ihren Schreibtischen zurück und entweder landeten sie ganz rechts oder ganz links. OT Sapper Weil die Mauer in den Köpfen nicht nur ein deutsches Problem ist, sondern es ist in der Tat so, dass diese Mauer einen Schatten wirft, der bis nach Portugal im Westen und bis nach Wladiwostok im Osten reicht. OT Kinsky Ich glaub die Leute haben alle die Nase voll von Europa - wenn es kein Geld gibt, und das war die große Hoffnung auf wirtschaftlichen Aufschwung, dass es den Leuten besser ging. In diesen Randgebieten sind die Menschen auch Opfer eines grauenhaften Nepotismus geworden, mit der EU; die Leute, die da die EU-Büros in diesen kleinen Gemeinden haben das ganze Geld in ihre Familien kanalisiert, das muss man ganz offen sagen. Autorin Einer dieser Demographen ist Laszlo Vegel, der in der serbischen Provinz Woiwodina lebt, in Novi Sad, der Heimat bedeutender serbischer Autoren wie Alexandr Ti?ma und Danilo Ki?. Auch Vegel schreibt wie Stasiuk, Topol oder Lungu über vergessene Territorien, er schreibt über den Jugoslavien-Krieg, in dem er als Mitglied der ungarischen Minderheit den serbischen Nationalismus am eigenen Leib erlebte. OT Kinsky Wenn sie heute durch Novi Sad gehen, da spriessen die Modeketten, die Cafés aus dem Boden, aber hinter den Fassaden spielen sich Traumata ab. Das ist das, was ich so furchtbar finde an der Behandlung von Ost- oder auch Südosteuropa, das immer nur dieser Wirtschaftsaspekt im Vordergrund steht. Als es um Schuldzuweisung ging, da war man da. Aber jetzt, wo man dieses Schlachtfeld räumen müsste, all diese liegengebliebenen Dinge mal beiseiteräumen, jetzt geht?s nur noch um die Wirtschaft. OT Dalos Und dann stellte sich bald heraus, dass hinter dem einheitlichen Menschenrechtsdenken viele große Unterschiede und sogar Gegensätze versteckt waren, und das war schon die Ausformung des Pluralismus und der innenpolitischen Kämpfe, schon in den 80er Jahren, noch mitten in der Opposition. Diese Bewegung ist weg, also jetzt ist das in Ungarn ganz eklatant geworden, die Bewegung, die in Ungarn gegen die Diktatur zum ersten Mal offen kämpfte, die hat 88 ihre Partei gegründet, Bund freier Demokraten, und diese Demokraten hatten bei den EU-Wahlen in diesem Juni 2,6 % bekommen. 1990 bei den ersten freien Wahlen hat diese Partei 20% bekommen; meine Partei, die Dissidentenpartei, hat sich verbraucht. Autorin Grossse Exilschriftsteller der 1970-er und -80er Jahre haben das Bild Ostmitteleuropas bis 1989 geformt: Czeslaw Milosz, Milan Kundera, Norman Manea, Mircea Eliade, Danilo Ki? oder Tibor Dery. Jetzt sind die Jungen dran, die vor zwanzig Jahren fast noch Kinder waren. Mit ihnen erscheint an den Rändern des alten Europa eine nomadische, unruhige, überregionale Literatur der sozialen Mobilität, für die Provinzialismus keine Abkehr von der Gegenwart bedeutet. Das Gegenteil ist der Fall: Der poetische Blick von den zerrissenen Rändern in das Herz ihrer Gesellschaften treibt Schächte in die unbeleuchteten Abgründe der osteuropäischen Geschichte. Sie sind die neue, sanfte Opposition; sie verweigern sich dem schnellen Sprung auf den Zug der neuen Zeit. In ihren Romanen verläuft die Grenze der europäischen Verständigung nicht mehr zwischen Ost und West, Stadt und Land, Arm und Reich, sondern - zwischen Erinnern und Vergessen. - Andrzej Stasiuk, Dojczland, aus dem Polnischen von Olaf Kühl, Edition suhrkamp, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2008, S.88 - Jachym Topol, Von der irrenanstalt nach Europa. Über die Obsession der Geschichte, aus dem Tschechischen von Anne Hudalla, in: Osteuropa, 59.Jg, Heft 2/3 (Febr./März) 2009, S. 198 -György Spiro, Kertesz in seiner Zeit, aus dem Ungarischen von Hans Skirecki, in: http://www.eurozine.com/articles/article_2005-07-20-spiro-de.html 1 4