KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : Literatur Titel der Sendung : "Buchmarkt digital" Wie das Netz Produktion und Veröffentlichung verändert Autor : Brigitte Neumann Redakteurin : Dorothea Westphal Sendetermin : 04.12.2012 Regie : Klaus-Michael Klingsporn Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503- Deutschlandradio Kultur, Literatur 4. Dezember 2012. 19,30 Uhr Buchmarkt digital Wie das Netz Produktion und Veröffentlichung verändert Eine Sendung von Brigitte Neumann Redaktion: Dorothee Westphal Kommentatorin - Kommentar Sprecherin - Voice Over Dubravka Ugresic (Autorin liefert OV mit den O-Tönen) Sprecher - Voice Over David Gelernter - Voice Over Gary Shteyngart - Voice Over Tim Parks - Zitat Michael Krüger - Zitat Thomas Assheuer O-Ton Lutz Schulenburg "Also, eigentlich hab ich gar keine richtige Zukunftsvorstellung. Weil, ... Pff. Ah. ... ich kann zwar sagen was war, das kenn ich ganz gut. Das was hinter uns liegt. Und was kommen wird, weiß ich nicht." Musik Kommentatorin Seit 40 Jahren betreibt Lutz Schulenburg in Hamburg die Edition Nautilus zusammen mit seiner Partnerin Hanna Mittelstädt. Von der digitalen Zukunft erwartet er sich für die Verlage jedenfalls nichts Gutes. Am besten sei es, davon verschont zu bleiben. O-Ton Lutz Schulenburg "Ja, klar wünscht man sich das, weil das ist ja etwas Neues. Wir haben eben immer gedruckt, und da kommt das jetzt plötzlich so als digitales Piepsen daher. Das ist natürlich was ganz anderes." Musik Kommentatorin Seit mehr als eineinhalb Jahrzehnten leben wir in der sogenannten Netz-Ära. Zeit, Bilanz zu ziehen. Musik Kommentatorin Alle Produkte, die je digitalisiert wurden - Fotos, Musik, Filme, und jetzt auch Bücher - verlieren im Netz rapide an Wert, zum Beispiel aus Gründen massenhafter Piraterie. Die Branchenzeitschrift Buchreport meldet, dass in Deutschland weitaus mehr e-books illegal und umsonst aus dem Netz heruntergeladen werden als legal gekauft. Bücher verlieren auch an Wert, weil die drei amerikanischen Firmen, die sich den Kuchen des Geschäfts mit digitalen Inhalten teilen - Google, Apple, Amazon - zur Befüllung ihrer Geräte und Suchmaschinen billigen Content brauchen und entsprechenden Druck auf die Verlage ausüben. Und Bücher verlieren auch deshalb an Wert, weil sich die Bürger an Gratis- oder Billig-Inhalte im Internet gewöhnen. Wieso sollen sie dann im Laden 30 Euro für bedrucktes Papier zahlen? O-Ton Frank Rieger "Wenn ich mir so angucke, wie experimentierfeindlich die Buchbranche insgesamt ist, dann stellt man sich schon die Frage, ob allen klar ist, dass es da gerade um das Überleben des Systems geht." Kommentatorin Frank Rieger, 41jähriger Sprecher des Chaos Computer Clubs in Berlin und - mit der FAZ-Kolumnistin Constanze Kurz - Sachbuchautor im Fischer Verlag, ist genervt von der Unbeweglichkeit der deutschen Verleger. Dass sie experimentieren kann, hat die Branche in den letzten 500 Jahren seit Erfindung des Buchdrucks durchaus bewiesen, allerdings eher inhaltlich, gestalterisch, marketingtechnisch. Rieger meint andere Experimente. Er meint mehr Mut beim Eintritt der Branche in die virtuelle Zone. Aber die virtuelle Zone ist eine für Buchmenschen fremde Sphäre, geprägt von Technik, Schnelligkeit, Funktionalität. Geprägt von Fricklern, Hackern, Programmierern, die den Begriff "geistiges Eigentum" unpassend finden. Wie Frank Rieger: O-Ton Frank Rieger "Wenn da einmal der Begriff Eigentum steht, der sofort impliziert, wenn jemand anders es nutzt, hat er ihm was weggenommen, hat er ja nicht, ist ja nur mehr geworden." Kommentatorin Verleger sind da anderer Meinung. Aber es hilft nichts. Deshalb retten sie, was noch zu retten ist. Und Menschen wie Frank Rieger, der sich virtuos in der virtuellen Welt bewegt, und auch während unseres Gesprächs nicht von seinem Notebook ablässt, O-Ton Geräusch tippen (unterlegen) Kommentatorin ... wirken provozierend siegesgewiss, ohne wirklich zu verstehen, worum es geht. O-Ton Frank Rieger "Also, die deutsche Verlagsbranche hat es zum Beispiel trotz des relativ erheblichen Zeitvorsprungs, der eigentlich da war, nicht hinbekommen, eine Alternative zu Amazon als Gemeinschaftswerk aufzubauen und zu sagen, wir wollen halt uns einfach nicht überrollen lassen. So wie es dann passiert ist." Kommentatorin Wäre es so einfach, eine Verlagsfront gegen das Online-Warenhaus Amazon aufzubauen, dann hätten die agilen Amerikaner sicher schon vorgemacht, wie das geht. O-Ton Lutz Schulenburg "Nein. Das ist ein Monopolunternehmen. Ein Weltkonzern. Und wir sind kleinteilige Produzenten. Also die Ausgangslage ist derartig schief, dass sie lässig auf uns verzichten können." Musik (elegisch) Kommentatorin Der Buchmarkt steckt im Umbruch. Jürgen Boos, Direktor der Frankfurter Buchmesse, spricht von einer "kreativen Zerstörung", wie sie die Welt seit Erfindung des Buchdrucks nicht mehr gesehen habe. Aber: Ist die Zerstörung wirklich "kreativ"? Oder ist es nicht vielmehr so, dass wir im Moment, wie in einer Champagnerlaune, völlig fasziniert sind von einer Internettechnologie, die unser Leben in sich aufnimmt? So fasziniert, dass wir die Verluste im realen Leben nicht weiter beachten. Ein Beispiel: Die Leute kaufen im Netz, also machen die Fachgeschäfte dicht. Allen voran die Buchläden. In 10 Jahren wird es in Deutschland nur noch halb so viele Buchläden geben wie heute, sagt Carel Halff voraus, der Chef der Buchhandelskette Weltbild. Stirbt der Buchhandel, geht es auch den Verlagen schlechter. O-Ton Hans-Jürgen Balmes "Seit zwei Jahren gehen wir alle auf einem dünneren Eis. Und das spüren wir alle. Und jeder versucht unter das Eis zu schauen, um herauszufinden, was jetzt da Neues von unten dazu kommt." Kommentatorin Hans-Jürgen Balmes ist seit 1999 Programmleiter für Internationale Literatur beim S. Fischer Verlag. Er spricht vom Jahr 2010, als der Amazon Reader "Kindle" in Deutschland an den Start ging. Mit ihm können bequem und drahtlos Titel aus dem Angebot von Amazon heruntergeladen werden. Es ist ein fast geschlossenes System, an dem außer dem Online Buchhändler nur noch der Verlag verdient, falls er es auf die Seite amazon.de geschafft hat. Musik - harter Anfang, dann Unterlage Kommentatorin Während der 54jährige Programmleiter aus dem S. Fischer Verlag einerseits hofft, dass das dünne Eis, auf dem die Verlage stehen, hält und sich andererseits bemüht auszumachen, was da von unten heraufkommt, sehen andere klar: Von unten, aus dem Netz, kommt Genreliteratur. Und die ist sehr erfolgreich. Vampirromane, Fanzines - also die 175. Folge von Star Wars oder Harry Potter - und andere Me- Too-Texte, die im Netz von Fans weitergeschrieben werden, sowie interaktive SMS- Fortsetzungsstories, wie sie in Japan Furore machen. Dubravka Ugresic, kroatische Essayistin, hat sich in ihrem preisgekrönten Buch "Karaokekultur" unter anderem damit beschäftigt: O-Ton Sprecherin OVERVOICE Dubravka Ugresic "Die Verleger entdeckten dieses Phänomen und sie veröffentlichten diese Handy- Romane sofort. Keiner dieser Romane hat weniger als 3 Millionen Exemplare in einer erstaunlich kurzen Zeit verkauft." Musik Trenner O-Ton Sprecherin OVERVOICE Dubravka Ugresic "Die Frage ist, warum 15- bis 18jährige Mädchen, Schulabbrecherinnen, die einen primitiven Roman schreiben, wieso die eine derartige Popularität erreichen können. Und ein Teil der Antwort ist, dass die Leser, die sich im Internet an der Gestaltung des Plots beteiligten, dass die das Buch dann auch deshalb kauften, weil es ein klein wenig auch ihres ist." Kommentatorin Warum aber ist das Eis so dünn geworden, wenn Verleger offenbar prima Reißer verkaufen könnten wie die Handyromane von Schulabbrecherinnen oder Hausfrauenpornos wie "Fifty Shades of Grey", ein Papier- und e-book-Weltbestseller von E.L. James, der ursprünglich nur im Netz kursierte. Hans-Jürgen Balmes muss etwas ausholen, und wieder geht es ... um Amazon. O-Ton Hans-Jürgen Balmes "Amazon ist eigentlich für uns das größte Problem, eigentlich für die gesamte Branche. Weil das jemand ist, der aus der Monopolstellung, die er sich erarbeitet hat, jetzt auch weitere Schritte plant, die dazu führen können, das Verlage in ihrer jetzigen Form quasi abgeschafft werden, weil sie für Amazon keine Rolle mehr spielen." Kommentatorin Das gigantische Online-Warenhaus hat 1994 mit Büchern angefangen und ist heute nicht nur der weltweit größte Buchhändler für neue und antiquarische Bücher, sondern in den USA auch Verleger mit insgesamt neun Produktlinien (von literarischen Debüts und Übersetzungen über Kinderbücher bis zu Horror- und Serienromanen). Und - gegen 30 Prozent Erfolgsbeteiligung - ermöglicht die Firma von Jeff Bezos es jedermann, sein eigenes Buch auf dem "Kindle Direct Publishing"- Portal einzustellen und nach eigenen Kräften zu vermarkten. Amazon kann alles, so scheint's und Amazon macht alles - allein: Verlag, Herstellung und Vertrieb von Büchern. Vielleicht bleibt also am Ende nur noch Amazon? O-Ton Hans-Jürgen Balmes "Dann hätten wir nachher nur noch Bücher da von Leuten, die selber publizieren, und dann werden irgendwelche Tanten und Omas aktiviert, um die fünf Sterne da rein zu schreiben. Und die Vorstellung find ich eigentlich ganz, ganz grässlich, weil die hat was von 'Orwell von unten'. Wo dann nämlich so eine Art von Einheitsbrei hergestellt wird, der wird noch nicht mal von oben verordnet, sondern der wird von unten durchwachsen." Kommentatorin 43 Prozent der neu erscheinenden Titel auf dem US-Markt sind inzwischen Produkte verschiedener Selbstverlagsplattformen, eine davon ist Amazon. Aber schon 16 von 100 Kindle-Bestsellern kommen von Amazon Selfpublishing, verkündete Jeff Bezos kürzlich auf einer Pressekonferenz. Musiktrenner Sprecher ZITAT Michael Krüger "Wenn wir, die Verleger, uns nicht verändern, wird das Internet das für uns erledigen," Kommentatorin sagt Michel Krüger, Chef des unabhängigen Hanser Verlages. Krügers Instinkt für Autoren, die das Zeug zum Büchner- oder Nobelpreisträger haben, ist legendär. Aber seine Rede dieses Jahr auf den Buchtagen in Berlin, dem Jahrestreffen des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, klang wie ein Abgesang auf die Branche. Sprecher ZITAT Michel Krüger "Wahr ist, dass wir mitten in einem Prozess der Verflüssigung stehen, der die Grundlagen unserer Arbeit und unserer Existenz wegspülen wird, wenn wir nicht aufpassen. Wer der Ansicht ist, dass unser Beruf eine Bedeutung hat, muss jetzt dafür kämpfen." Kommentatorin Krügers Rede wurde von vielen Insidern als Einlassung eines enttäuschten alten Mannes gewertet. Kurt Drawert, Dichter, Romancier und Essayist aus Darmstadt, empfindet Krügers Angst, dass die digitale Zukunft ihm alles rauben könne, was er geschaffen hat, hingegen als angemessene Reaktion auf die aktuellen Umbrüche: O-Ton Kurt Drawert "Angst ist etwas ganz wichtiges. Also, jemand der keine Angst hat, der wird ins Unglück laufen. Und in dem Sinne ist die intellektuelle Angst durchaus begründet. Ja! Kommentatorin Tatsächlich wirken aber die Kritiker der digitalen Wende derzeit abgeschlagen, als seien sie höchstens Spielverderber, Witzfiguren, Maschinenstürmer. Kurt Drawert hält dagegen: Alles Neue ... O-Ton Kurt Drawert " ... setzt sich durch seine Kritiker durch und nicht durch seine Befürworter. Kritik ist dazu da, dass sie verifiziert wird, dass das Ding, das kritisiert wurde, seine Kraft zeigt. Dafür ist sie da. Bitte, dann kann man doch sagen: geht nicht so nachlässig mit euren Kritikern um." Musik Kommentatorin Einer davon ist der Amerikaner David Gelernter. Mit nicht einmal 30 Jahren hat er die Computersprache Linda entwickelt, aus der sich dann das Cloud Computing entwickelte. Mit heute 57 ist er einer der bekanntesten Kritiker der Internetkultur. Seine These: Wir treten ins Zeitalter des universellen Publizierens ein. Es wird einhergehen mit einem Kollaps des Denkens und der Sprache. In seiner Berlin Lecture 2012 "Remembering how to read" führt er zur Illustration das Beispiel e-book im Vergleich zum herkömmlichen Buch an. Der literarische Roman im Buch sei weiterhin unübertroffen, was die gründliche, weil arbeitsteilige Produktionsweise, das Design und die praktischen Vorteile beträfe. Allein schon die Tatsache, dass der Käufer ein elektronisches Buch nicht besitze, sondern nur die Lizenz zum Lesen erworben habe, mache die Sache zu einem Witz. Aber der Preis sei das schlagende Argument. e-books sind billiger. Bei Amazon USA gilt der Einheitspreis, umgerechnet 7,80 Euro. O-Ton Sprecher OVERVOICE David Gelernter "So wie der Stand der Dinge ist, werden e-books wohl künftig den Markt beherrschen und richtige Bücher zu raren Luxusobjekten werden lassen. Nicht weil e-books so gut sind, sondern weil sie billig sind. Sie müssen nicht gedruckt, nicht gebunden und nicht physisch vertrieben werden. Während also die Kosten für ein elektronisches Buch sinken und immer mehr Titel immer schneller auf den Markt kommen, werden auch die Qualität der Texte und die verlegerische Sorgfalt abnehmen. Tatsächlich ist inzwischen die Frage, ob Verleger überhaupt überleben werden." O-Ton Kurt Drawert "Wenn wir uns die große Weltliteratur anschauen, ein Kafka hatte 200 Auflage. Und ein Beckett gar nichts. Die Weltliteratur würde es gar nicht geben, würde es nicht immer auch die emphatischen Leser und die emphatischen Verleger gegeben haben, die etwas aufgehoben haben, um es einer späteren Welt letztlich zu geben. Es geht um die Rettung von Minderheitsrechten.", Kommentatorin ... findet Kurt Drawert. Würde Kafka heute einen Verleger finden? Balmes meint, ja, einen Kleinstverleger wahrscheinlich. Aber wie würde der heutzutage seinen Autor bekannt machen? O-Ton Hans-Jürgen Balmes "Gut, da verlässt man sich ein bisschen auf die sozialen Medien und deren weitere Zukunft. Man konnte es schon gut in Amerika beobachten, wo man als Autor seit sechs oder sieben Jahren abgefragt wird, welche Plattformen man denn hätte. Und mit Plattformen meint man dann all die Arten Verkehr, die man um sich herum im Internet produziert hat, und dass man den quasi nutzbar machen kann für das Marketing eines Buches." Kommentatorin Auf der Frankfurter Buchmesse berichtete eine Agentin, dass viele deutsche Verlage neue Autoren mittlerweile bitten, es erst einmal mit Self-Publishing zu versuchen. Wenn da die Zahlen stimmten, könne man auch an ein Papierbuch denken. Musik Kommentatorin "Selbst ist der Autor!", hatte die Publizistin und Krimiautorin Cora Stephan vor ein paar Monaten in der Tageszeitung "Die Welt" jubiliert. "Leser und Autoren können dank Internet nun endlich direkt zueinander finden." Aber wie viele Leser hätte Stephans Statement gehabt, wie viel Aufmerksamkeit hätte es erfahren, stünde es nur in ihrem Blog? Ein Verlag, auch ein Zeitungsverlag, veredelt sozusagen die Äußerung eines Autors durch sein Votum: "Dieser Autor ist es uns wert." Und verschafft ihm so einen Namen, die Grundlage seines Erfolgs. Cora Stephans Traum von einer Welt ohne Verwerter, sprich: ohne Arbeitsteilung, ist eine archaische Sehnsucht, die direkt in den Dilettantismus führt. Und in den Bankrott, denn der andere Traum, dass Autoren zwar durch File Sharing auf Tauschbörsen finanziell Federn lassen müssen, andererseits im Internet aber viele neue Einkommensquellen auftun können, hat sich bislang nicht bewahrheitet. O-Ton Sprecher OVERVOICE Tim Parks "Was wir denken ist ja, Kunst sei notwendig und rein und stünde außerhalb des kommerziellen Bereichs. Aber das ist eben nicht der Fall. Kunst hängt sehr wohl von dem Funktionieren des kommerziellen Bereichs um sie herum ab.", Kommentatorin ... sagt Tim Parks, Mitglied der Jury des renommierten Booker Preises, Autor von über 20 Romanen und Sachbüchern. Er folgert: Wenn das Urheberrecht fällt, weil es de facto durch die Gratisangebote im Internet unterminiert wird, dann endet auch die literarische Kultur wie wir sie kennen, dann können auch die Verlage nicht mehr überleben und in der Folge wird auch der Beruf des Autors sterben: O-Ton Sprecher OVERVOICE Tim Parks "Die Frage ist ganz einfach: Würde denn jemand einen 500-Seiten Roman beginnen, wenn er wüsste, dass er dafür nicht bezahlt wird? Dass es noch nicht mal die Aussicht gibt, dafür bezahlt zu werden? Ich meine, die Leute schreiben heute, auch ohne dass ihre Bücher letztlich veröffentlicht werden, aber sie hoffen darauf." Kommentatorin Tim Parks hält große Stücke auf die deutsche Verlagskultur. Und vergleicht sie mit der seines Heimatlands, wo es keine Buchpreisbindung gibt und wo die Vorboten der Auflösung deutlich auszumachen sind. O-Ton Sprecher OVERVOICE Tim Parks "Nun, die Verlage, speziell die in England, sind im Moment panisch. Sie machen weniger Geld. Und in der Folge zahlen sie sehr viel weniger. Ich verdiene jetzt definitiv weniger als zuvor. Und das gilt für die meisten Schriftsteller, die ich kenne." Kommentatorin Der Grund ist nicht nur Piraterie, sondern auch eine Erosion der Lesekultur: Für Bücher scheint keiner mehr Zeit zu haben. Gary Shteyngart, ein russisch- amerikanischer Autor, sagt, er habe seinen letzten Roman, den Science-Fiction Super Sad True Love Story auch aus einem Gefühl der Wehmut über die untergehende Bücherwelt geschrieben. O-Ton Sprecher OVERVOICE Gary Shteyngart "Obwohl Wehmut nicht besonders hilfreich ist, denn nichts bleibt so wie es war. Und jede Generation beklagt die Tatsache, dass die guten Zeiten vorbei sind. Aber es ist tatsächlich traurig, dass etwas, das ich sehr liebe, nämlich das Buch, so derart absteigt und an den Rand gedrängt wird - jedenfalls in Amerika." Musik O-Ton Sprecher OVERVOICE Gary Shteyngart "Eunice in meinem Roman benutzt Bücher nur noch als Türstopper. Das habe ich mir nicht ausgedacht, sondern aufgeschnappt in einem Gespräch gebildeter junger Leute. Es gibt hier eine gewaltige Gegenbewegung gegen das Lesen. Der Trend geht hin zu visuellen Formen der Unterhaltung." Kommentatorin In Shteyngarts Roman postet jeder per Äppärät möglichst voyeuristische Filmchen im Netz und versucht so, ein wenig Geld zu verdienen. Andere Einkommensquellen gibt es kaum noch. Der Äppärät ist Pflicht. Jeder trägt ihn bei sich. Äppärät erinnert im Wortklang nicht umsonst an die Firma Apple mit der Beigabe einer Prise zackiger Nazi-Diktion. Denn der Äppärät in Gary Shteyngarts Super Sad True Love Story ist so etwas wie Apples I-Phone mit neuen Funktionen, die das komplette Ausspionieren und Überwachen seiner Besitzer ermöglichen. Und die Leute sind begeistert und benoten und bespitzeln sich gegenseitig bis in die letzten Winkel ihrer Existenz. O-Ton Sprecher OVERVOICE Gary Shteyngart "Wir sind eine Kultur der endlosen Selbstdarstellung. Jeder will aktiv sein und denkt, er hätte eine tolle Story zu erzählen. Und jeder möchte diese Story wieder und wieder erzählen. Es ist wie mit dem i-Phone, das macht pausenlos ping , und die Leute um einen herum machen das gleiche. Jeder postet auf Teufel komm raus." Kommentatorin Und das Internet scheint den Drang zu befördern, die eigenen Geschichten öffentlich zu machen. Aber zumindest die Essayistin Dubravka Ugresic bezweifelt, ob es im Netz ebenso viele Leser wie Autoren gibt. Weil es so schwer sei, im Netz sichtbar zu werden, seien die Menschen von einer Panik erfasst, keine Subjekte mehr zu sein und gäben deshalb viel zu viel preis, sagt sie. Die Menschen wollten auf Teufel komm raus Spuren hinterlassen ... O-Ton Sprecherin OVERVOICE Dubravka Ugresic " ... ihre Pyramiden bauen. Sie benutzen dazu Kameras ... alle möglichen Geräte. Sie nutzen Facebook ... Facebook ist eine Art Beerdigungsunternehmen. Denn jeder möchte, dass alle Freunde wissen, was er mag, was er liest und wer er ist. Darunter spürbar ist die Angst vor dem Tod, vor dem Verschwinden. Es geht um nichts anderes mehr." Kommentatorin Die Geräte, die heute als Statusausweise gelten, Smart-Phones, Tablets, Notebooks, sind Geräte des Ersatzes oder der Ergänzung für reale Beziehungen. Auf denselben Geräten sind nun auch Bücher zu lesen. Da aber alles mögliche in diesen Geräten steckt - Kontostand, Film, Musik, Kontakt, Recherche - kann der vielleicht schwierige, quälende, düstere, pessimistische literarische Text nicht mehr zu seinem Recht kommen. Denn der Leser müsste sich ihm widmen. Die tausend Ablenkungen und Auswege einen Klick weiter entwerten den Text, der ja nur aus Buchstaben besteht. Autoren wie Kurt Drawert und Dubravka Ugresic haben aus diesem Grund das Gefühl, dass bald keiner mehr da sein wird, der auf ihre Bücher wartet. O-Ton Sprecherin OVERVOICE Dubravka Ugresic "Ich glaube, dass das Lesen als Fähigkeit verschwunden ist." Kommentatorin Das sagte Ugresic einen Tag nachdem ihr der Jean-Amery-Preis für Essayistik in Frankfurt verliehen wurde. O-Ton Sprecherin OVERVOICE Dubravka Ugresic "Nein. Was immer ich sage, es zählt nicht. Ich wäre viel glücklicher, würde ich meinen Wert spüren, denn normalerweise passiert das nicht. Gestern aber ging es mir extrem gut, denn ich spürte meinen Wert. Ich bekam diesen wunderbaren Preis. Einige Leute sagten wunderbare Dinge über meine Bücher. Für mich ein Moment großer Ehre. Denn offenbar hatten die Leute gelesen, was ich geschrieben habe." Zitat Sprecher Thomas Assheuer, Die Zeit, 5.5.2012 "Mit dem Internet betreten wir eine spektakulär neue Epoche der Kommunikation, und darin ist alles ganz anders. Wer in der schier unerschöpflichen Lava aus Texten, Tönen und Bildern noch nach dem klassischen Urheber sucht, der sucht ihn vergeblich. Der "alte" Urheber, das Originalgenie des Abendlandes, wird von den digitalen Strömen verschluckt; im Netz sind Individuum und Gemeinschaft kaum mehr zu unterscheiden. Alles fließt, und alle sind alles gleichzeitig.", Kommentatorin ... schrieb Thomas Assheuer im Wochenmagazin "Die Zeit" im Mai 2012. Aber wenn es den Autor, das Originalgenie, nicht mehr gibt, was tritt an seine Stelle? Der menschliche Filter. Die Idee stammt aus der Piratenpartei. Die Piraten sagen, ein Autor könne heutzutage nicht mehr sein als ein Filter. Er filtere aus dem, was es schon gibt, das heraus, was ihm nützlich und gut erscheine, setze also bereits Existierendes neu zusammen. Jedes Buch wäre dann also nur ein Mash-up vorhandener Inhalte. Der Autor? Eine bessere Suchmaschine. O-Ton Kurt Drawert "Ja, das ist eine furchtbare These. Das ist die völlige Auflösung jeglichen Subjektverständnisses. Es ist ein geradezu suizidaler Gedanke.", Kommentatorin ... so Kurt Drawert. O-Ton Kurt Drawert "Es ist so verheerend, weil es aberkennt, dass in der Zusammenführung von vielen Diskursen, die natürlich schon waren, etwas Neues entsteht, das das Individuum formatiert. Also das, was Ich wird, ist nicht die Summe aller Denkteile, sondern ist das Transzendierte dessen, wo das Ich sich ausdrückt, wo es sich sein Selbst-Sein erarbeitet hat. Dieses Element wird an der Stelle ausgelöscht und auf eine Egalität verteilt, die dieses Ich nicht mehr zum Vorschein kommen lässt. Das ist eine ganz gefährliche Theorie." Kommentatorin Die virtuelle Welt bedroht die Existenz des einzelnen Autors genauso wie das literarische Werk als geschlossene Form, denn die neue Technologie hat großen Einfluss darauf, was und wie geschrieben wird. Netztexte sind in der Regel kurz und leben von "response". Sie sind "enhanced", angereichert mit Bild- und Filmschnipseln und eher ein Produkt des Augenblicks, gemacht für die Rezeption in genau diesem Augenblick. Musik Kommentatorin Literarische Romane, die auch in diesem Herbst wieder zu Tausenden neu erschienen sind, brauchen jedoch eine andere Zeitspanne. Sie sind keine Produkte des digitalen Wortwechsels, sondern Ausdruck eines einzelnen Autors. Ein Roman ist kein Konsensprodukt des digitalen Schwarms, sondern gerade wertvoll, weil ein Autor außerhalb steht und Menschen in ihrer Zeit aus einer gewissen Distanz sieht und beschreibt. Literatur braucht den Rückzug - sowohl zum Schreiben als auch zum Lesen, beides Vorgänge höchster Konzentration und ungestörter Imagination. Die große Gefahr des Internets, ist seine Geschwindigkeit, meint denn auch David Gelernter O-Ton Sprecher OVERVOICE David Gelernter "Sein Tempo gerät außer Kontrolle mit üblen Folgen für das sorgfältige Lesen und Schreiben und für vernunftgeleitetes Verhalten überhaupt. Das Internet ist eine Aufmerksamkeitsvernichtungsmaschine." O-Ton Kurt Drawert "Und das ist die Angst, die ich habe. Nicht dass wir irgendwie dümmer werden durch die Technik. Sondern dass wir das, was wir wissen, nicht mehr lesen können. Dass die Lesbarkeit nicht mehr da sein wird. Die Bibliotheken sind ja im Grunde genommen unser Denk-Gut, unser kulturelles Hintergrund-Wissen. Hegel sagte mal, er schreibt, um einmal zu wissen, was er gewusst hat. Und nichts anderes sind die Bibliotheken. Sie warten darauf, dass man sie wieder liest. Weil eine Gesellschaft ein Wissen auch wieder verlernt. ... Also man kann aus der Sicht, die ich für Literatur habe, Angst haben, dass es Literatur mal nicht mehr so gibt. Das kann ich mir durchaus vorstellen." Kommentatorin Der passionierte Leser, der es mit Werken der literarischen Tradition aufnimmt, ist gerade im Begriff, eine museumsreife Figur zu werden, fürchtet Kurt Drawert. Aber auch die Autoren zeitgenössischer Prosa verlieren allmählich das Vertrauen in die Strahlkraft ihrer Bücher. Tim Parks, der im Zweitberuf literarisches Übersetzen an der Universität in Mailand lehrt: O-Ton Sprecher OVERVOICE Tim Parks "Ich glaube, Romane sind heute nicht mehr so wichtig wie früher. Natürlich auch weil es so viele verschiedene Medien heutzutage gibt. Aber wenn ich an Thomas Hardy denke und die Wirkung, die seine Bücher auf die viktorianische Gesellschaft in England hatten oder DAS HEIßT Lawrence. Ein derartiger Einfluss ist heute undenkbar. Ich meine, das einzige Buch, das die Menschen heute für wichtig halten, ist Harry Potter." Kommentatorin Auch Gary Shteyngart hat sich lieber noch schnell eine weitere Verdienstquelle gesichert - Drehbücher für TV-Serien, könnte ja sein, dass die Buchbranche bald bauchoben treibt, meint er. O-Ton Sprecher OVERVOICE Gary Shteyngart "Ja, (lachen, meckern) naja, jeder hat den Ruf gehört und schreibt nun Serien." 18