COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Die Reportage, 21. November 2010 Regie: Atmo 1_Obduktionssaal, darüber Autorin: Der Chefarzt Regie: 1.O-ton 1_Tsokos, Der Chefarzt (0'23) Ich glaube nicht, dass jemand, der Rechtsmedizinerin oder Rechtsmediziner wird, primär selbst eine dunkle Seite hat oder daran interessiert ist in Abgründe zu schauen oder voyeuristisch ist. Regie: Atmo 2_Vogelzwitscher, darüber Autorin: Die Assistenzärztin Regie: 2.O-ton_Dümpelmann (0'12) Seit ich den Job mache und auch jeden Tag mit dem Tod konfrontiert werde, habe ich gar keine Angst mehr vor dem Tod. Den Toten eine Stimme geben - Die Rechtsmediziner der Berliner Charité Eine Reportage von Sonja Heizmann Regie: Atmo 3_Flurgeräusche, Atmo 4_Handschuhe auspacken Autorin 1: Denise Dümpelmann steht im Treppenhaus eines Berliner Mietshauses. Die Rechtsmedizinerin holt ein Paar eingeschweißte Gummihandschuhe aus ihrem Einsatzkoffer, zieht einen hellgelben Kittel und eine durchsichtige Plastikschürze an. Spannt blaue Überzieher über ihre Schuhe. Regie: 3.O-ton_Dümpelmann (0'14) Ich bin jetzt zum Fundort gerufen worden, da eine männliche Person aufgefunden wurde und ich jetzt gucken soll, ob er sich die Verletzungen selber zugefügt hat oder eine andere Person da mit beteiligt war. Autorin 2: Die kräftige Frau mit dem dunkelblonden Zopf und der eckigen Brille ist Rechtsmedizinerin an der Berliner Charité und hat diese Woche Tag und Nacht Bereitschaftsdienst. Heute hat die Polizei sie zu einer Männerleiche in eine Privatwohnung gerufen. Regie: 4.O-ton_Dümpelmann Ich gehe jetzt mal rein und gucke mir den Leichnam an und komme dann später wieder. Regie: Atmo 5_Schritte (0'05) Autorin 3: Sie verschwindet hinter der Wohnungstür. Regie: Atmo 6_Polizei im Flur, kurz freistehend Autorin 4: Nur Dümpelmann und ein Kriminalbeamter dürfen die Wohnung betreten. Je weniger Personen, desto weniger Spuren werden verwischt. Ein zweiter Kriminalbeamter in Zivil wartet vor der Tür. Eine halbe Treppe weiter unten stehen zwei Frauen in Uniform. Sie sind von der Schutzpolizei. Passen auf, dass kein Unbefugter das Haus betritt. Der Kriminalbeamte: Regie: 5.O-ton_1.Kriminalbeamter Wenn es viel Aufmerksamkeit gibt, sind viele Leute vor Ort, mitunter sind die auch so neugierig, dass sie halt rein wollen, reingucken wollen. Insofern es nicht auffällt, sind auch weniger Leute da, man hat die Situation einfach besser unter Kontrolle. Regie: Atmo 7_Handschuhwechsel Autorin 5: Dümpelmann kommt aus der Wohnung, zieht das erste Paar Handschuhe aus, nimmt sich ein zweites Paar. Kurzer Zwischenstand: Regie: 6.O-ton_Dümpelmann (0'33) Ich mache jetzt als erstes die Todesfeststellung und checke dabei die sicheren Todeszeichen, das wären einmal die Totenflecken, dann die Totenstarre und die Fäulnisveränderung, um erst mal mit Sicherheit sagen zu können, dass die Person, die vor mir liegt auch wirklich tot ist. Dann schaue ich mir den Körper einmal von der Vorderseite und von der Rückseite komplett von Kopf bis Fuß an, suche nach Verletzungen, suche vor allen Dingen auch nach Griffspuren, Abwehrverletzungen und sonstigen Hinweise, die irgendwie auf die Todesursache schließen lassen. Regie: Atmo 7_Handschuhwechsel ausblenden Autorin 6: Dann verschwindet sie wieder. Als Rechtsmedizinerin untersucht die 34Jährige täglich Leichen von Menschen, die eines nicht-natürlichen Todes, also durch Mord, Suizid oder durch ärztliche Behandlungsfehler gestorben sind oder infolge äußerer Einwirkungen, durch Verkehrsunfälle, Blitzeinschläge oder extreme Kälte. Regie: Atmo 8_Schritte, Atmo 3_Flurgeräusche runterziehen, darüber Atmo 9_Wohnung Autorin 7: Als der Fall klar ist, zeigt der Beamte, der mit Dümpelmann in der Wohnung war, was sich hinter der Tür verbirgt und anfänglich für Verwirrung sorgte. Regie: 7.O-ton_2.Kriminalbeamter (0'15) Ganz viel Blut überall, Sie sehen das ja selber, auf dem Fußboden, links und rechts der Heizung, die Kleidung ist stark beblutet, die Badewanne ist voll, das Waschbecken, rechts, Wäsche und Stühle, also erst mal ein Bild, oh...die Tür. Autorin 8: Der Kriminalbeamte deutet auf die blutigen Handabdrücke am Türrahmen. Vor ihm, im Badezimmer, die Leiche. Der Mann hat sich erhängt. Regie: 8.O-ton_2.Kriminalbeamter (0'14) Ja, warum, wieso, weshalb? Dann gucken Sie hier unten, Bluttropfen, diese beblutetet Zellophantüte und ganz hinten in der Kammer, am Ende des Flures, ne Blutlache am Boden, die ja auch noch flüssig ist. Autorin 9: Es gibt also mehrere Spuren und viel Blut, deswegen auch die Frage, ob hier ein Kampf stattgefunden hat. Dümpelmann erklärt: Regie: 9.O-ton_Dümpelmann (0'30) Wenn sich jemand erhängt, ist das eigentlich sehr blutfrei. Jetzt ist die ganze Wohnung voller Blut, da könnte man natürlich sofort an ein Kampfgeschehen denken. Dass dann die Rechtsmedizin hinzugerufen wird, ist in solchen Fällen normal, um dann noch zu gucken, was hat er denn für Verletzungen, wo kommt das ganze Blut her, gehört das vielleicht gar nicht zu ihm oder zu jemand anders. Und in diesem Fall haben wir jetzt aber festgestellt, dass er auch die Blutungsquelle war, sowohl an den Armen als auch im Gesicht eine Verletzung hatte. Autorin 10: Die Ermittlungen des Kriminalbeamten und die äußere Leichenschau von Dümpelmann kommen zu einem eindeutigen Ergebnis: Suizid. Worauf deuten dann die unterschiedlichen Spuren hin? Regie: 10.O-ton_2.Kriminalbeamter Dass das ganze Geschehen eine schöne Dynamik hatte, die sich ganz offensichtlich zugespitzt hat im Badezimmer. Weil es da natürlich ein bisschen aussieht, wie in Metzgers Bude. Autorin 11: "Suicide overkill" nennt sich das in der Fachsprache, die Anwendung mehrerer Methoden, um sich umzubringen. Bevor er sich erhängt, fügt sich der Mann andere Verletzungen zu. Will sicher gehen, dass sein Vorhaben gelingt. Regie: Atmo 9_Wohnung ausblenden, Atmo 10_Gewusel einblenden, darüber Atmo 11_Zusammenpacken Dümpelmann und Atmo 12_Telefonat Reinigungsfirma Autorin 12: Dümpelmann hat ihre Arbeit am Fundort beendet, packt ihre Sachen wieder in den Einsatzkoffer. Einer der Beamten ruft eine Reinigungsfirma an, die die Wohnung in Ordnung bringen soll. Regie: Atmo 12_Telefonat Reinigungsfirma hochziehen Beamter: ...Badezimmer, im Schlafzimmer wenig und im Flur den Teppich und die Kammer, also insbesondere das Badezimmer.... Regie: Atmo 12_Telefonat Reinigungsfirma runterziehen, Atmo 13_Fahrer mit Bahre Autorin 13: Dann tauchen zwei Fahrer von der Rechtsmedizin auf. Sie hüllen dieLeiche in eine Plane, schnallen sie mit Gurten auf einer Bahre fest und bringen sie ins Institut, wo sie in den nächsten Tagen obduziert wird. Regie: Atmo 13_Fahrer mit Bahre hochziehen Beamtin: Wie viele Jahre hält man das durch? Fahrer: Mach Dir mal um uns keine Sorgen. Beamtin: Mache ich aber. Regie: Atmo 13_Fahrer mit Bahre überblenden mit 14_Treppenstufen Autorin 14: Die Ärztin macht sich jetzt auf den Weg zu ihrem Auto. Regie: Atmo 15_Straßengeräsche einblenden, darüber Atmo 16 _Auto einräumen Regie: 11.O-ton_Dümpelmann (0'09) Also jetzt, wo man die Wohnung verlassen hat, fällt dann doch die Anspannung von einem ab und man atmet erst mal richtig durch und ich rauche jetzt erst mal eine Zigarette, um wieder runter zu kommen. Regie: Atmo 17_Zigarette anzünden, 18_Autotür, Atmo 15_Straßengeräusche ausblenden, überblenden Atmo 19_Autofahrt Autorin 15: Ein paar Minuten später ist Dümpelmann auf dem Weg ins Institut. In den Obduktionssaal geht sie heute nicht mehr, sie muss später noch ins Amtsgericht, als Sachverständige in einem Fall aussagen. Ein junger Mann, der des Mordes angeklagt wird, steht vor Gericht. Dümpelmann hat vor einem halben Jahr die Leiche des Opfers seziert. Vor dem Termin, will sie sich in ihrem Büro noch einmal die Akten ansehen. Regie: Atmo 20_Obduktionssaal Tsokos: So.... Autorin 17: In Haus O des Instituts für Rechtsmedizin in Berlin Moabit untersuchen Dümpelmanns Chef und die Kollegen währenddessen die Leichen der Vortage. Regie: 12.O-ton_Tsokos (0:27) Der ist 80 Jahre alt, offensichtlich ein Bilanzsuizid, der hatte keine Lust mehr, so ein richtiges Motiv ist nicht zu sehen, der ist finanziell versorgt, hat eine Wohnung und alles, hat auch keine, zumindest bisher nicht bekannt, lebensbedrohliche Erkrankung und hat früher schon mal einen Suizid Versuch unternommen. Jetzt hat es anscheinend geklappt, der hing frei, hatte eine Treppe als Steighilfe genommen, so eine Bodentreppe. Ja, ist erst mal die Vorgeschichte. Autorin 18: Chefarzt Michael Tsokos , 43 Jahre alt, steht in dem weiß gefließten Saal mit Milchglasfenstern. Im Raum fünf Metalltische, darauf Leichen in unterschiedlichen Farben und Formen, je nach Verwesungsgrad und Todesumständen. Der Geruch - unerträglich. Nach überreifen Früchten und faulem Fleisch, setzt er sich sofort in Nase, Haaren und Kleidung fest. Da hilft auch die Klimaanlage nicht, die rund um die Uhr läuft. Atmo 20_Obduktionssaal hochziehen Autorin 19: Noch schnell ein Rat an die neuen Studenten, die heute zuschauen. Regie: Atmo 21 Wenn Ihnen das ein bisschen komisch vorkommt, gehen Sie lieber raus. Ja. Autorin 20: Mit dem Diktiergerät in der Hand umkreist Prof. Tsokos eine nackte Männerleiche. Auch sie hat einen Strick um den Hals. Tsokos Hände stecken in Handschuhen, seine Füße in Gummistiefeln, am Körper trägt er einen weißen Kittel. Das grau melierte wellige Haar hat der stämmige Mann leicht zurückgegelt. Regie: Atmo 22_Diktiergerät (0:36) Ins Diktiergerät: Die Leichenstarre fortgeschritten gelöst, Punkt, Ziffer....schütteres bis ca. 8cm langes graues Kopfhaar, Punkt, Ziffer, in den Augenbindehäuten... Zu den Studenten: ...hier, da ist eine.... Ins Diktiergerät: ...sehr vereinzelt punktförmige Einblutungen, Punkt. Vertrocknung der Augäpfel, Punkt, Farbe der Hornhäute nicht mehr zu beurteilen, Punkt, Ziffer, Schädeldach und Mittelgesicht bei betasten stabil, Punkt, Ziffer... Autorin 21: Der Arzt hebt die Augenlider der Leiche, schaut in die Mundhöhle, tastet routiniert den Körper ab. Währenddessen wird um ihn herum gemeißelt, gehämmert, gesägt. Eine Ärztin scheucht sich eine Fliege vom Haar, die später vielleicht dort landen wird, wo unzählige vor ihr endeten - in den Klebestreifen an der Decke. Regie: Atmo 23_Pinzette Tsokos: Pinzette. Student: Pinzette? Tsokos: Ja, danke. Autorin 22: Der 80jährige Mann vor Tsokos wird obduziert, weil die Familie des Toten bezweifelt, dass er sich selbst umgebracht hat. Regie: 13.O-ton Tsokos (0'20) Offensichtlich hat er im Vorfeld sein Auto und andere persönliche Gegenstände auf andere Personen, die nicht direkt zur Familie gehören, überschrieben und das kommt der Familie wohl komisch vor. Obwohl jetzt erst mal so primär aufgrund des Abschiedbriefes und der Auffindesituation kein Anhalt dafür ist, dass da nun irgendjemand nachgeholfen hat oder dass das inszeniert ist. Autorin 23: Bei solchen Vermutungen der Angehörigen liegt es nahe, dass die Staatsanwaltschaft eine Untersuchung des Leichnams einleitet, sagt Tsokos. In Berlin werden fast alle Suizide untersucht, um sicher zu gehen, dass sich dahinter keine verdeckten Tötungsdelikte verbergen. Regie: Atmo 24_Schlinge Tsokos: Um den Hals liegend ein... ne eintubige Schlinge, Komma, gebildet durch ein....was ist das? Student: Ne Wäscheleine. Tsokos: Ne Wäscheleine? Was steht denn hier? Von Obi. Ketten und Seile, ja...ein.... Tsokos: Derbes Hanfseil. Punkt. Regie: Atmo 24 ausblenden Autorin 24: Tsokos sorgt 2009 für Aufsehen als er behauptet eine seit Jahrzehnten zur anatomischen Sammlung seines Instituts gehörende Leiche, könnte die der 1919 ermordeten Sozialistin Rosa Luxemburg sein. Der Rechtsmediziner war an der Identifizierung deutscher Tsunami-Opfer beteiligt und hat in Bosnien Massengräber exhumiert. Mehrere Tausend Leichen hat er in seinem leben seziert. Regie: 14.O-ton_Tsokos (0'42) Man wird ja als Rechtsmediziner mit unglaublichen Konstellationen konfrontiert, ob das Tötungsdelikte sind oder ob das auch die Umstände sind, die zum Tode geführt haben. Zum Beispiel, dass jemand beim Streit um einem Parkplatz erstochen wird, dass hat mich gelehrt, mich sicherlich nicht mehr um einen Parkplatz zu streiten. Oder eine andere Situation, auch aus einer Ermittlungsakte: Eine Frau klingelt bei ihrer Nachbarin und fragt sie, ob sie ihren Mann vermisst und dann sagt sie, ja, ich vermisse meinen Mann. Und dann sagt die, dann geh mal in den Keller, da hängt der. Also wie Mitmenschen auch mit Todesfällen umgehen, diese Gleichgültigkeit, das ist teilweise unfassbar, was man da mitkriegt. Da wundert man sich wirklich schon, wie einige Menschen leben oder wie wenig empathisch einige Menschen sind. Autorin 25: Der Mediziner hat gelernt seine Fälle hinter sich zu lassen, wenn er abends nach Hause zu Frau und Kindern geht. Aber natürlich hat die Arbeit auch Einfluss auf sein Leben genommen: "Man wird sehr sensibel", sagt er. "Bekommt ein Gefühl dafür, wo gefährliche Situationen entstehen und versucht diese dann zu vermeiden oder andere davor zu bewahren." Seine Kinder hält er von unabgedeckten Swimmingpools und leicht zu öffnenden Fenstern fern. Regie: 15.O-ton_Tsokos (0'23) Ich glaube, man muss sehr fest im Leben stehen und ein positiv denkender Mensch sein, der emotional sehr stabil ist, um das alles ertragen zu können und vor allen Dingen auch verarbeiten zu können bzw. nicht zu nahe an sich heran zu lassen. Regie: Atmo 25_Rippenschere einblenden Autorin 26: Kaum hat der Chefarzt die äußere Leichenschau beendet, öffnet ein Assistent den Oberkörper des 80jährigen Mannes mit einer Rippenschere, um Todesursache und -umstände festzustellen. Regie: 16.O-ton Tsokos (0:18) Es ist in der Strafprozessordnung vorgeschrieben, dass wir bei der inneren Leichenschau, bei der Obduktion - also Obduktion, Autopsie, Sektion, das ist alles synonym -- dass wir eben alle drei Körperhöhlen öffnen, das heißt Kopfhöhle, Brusthöhle, Bauchhöhle, wir können jetzt nicht aufhören, wenn wir jetzt meinetwegen am Gehirn einen Schlaganfall finden oder wenn wir einen Herzinfarkt finden. Regie: Atmo 26_Organe Autorin 27: Der Assistent entnimmt der Leiche Leber, Herz, Nieren und andere Organe. Legt sie auf das Brett, das am Fußende des Sektionstisches über einem Waschbecken befestigt ist. Messer, Skalpelle, Scheren, Pinzetten liegen dort. Manche Instrumente erinnern an Küchenutensilien, nur länger und größer sind sie hier. Regie: Atmo 27_Tsokos erklärt Herzschnitt Wir können das ja mal zusammen machen...man schneidet das Herz entsprechend des Blutflusses auf....dann schneiden Sie hier zur Herzspitze runter. Autorin 28: Tsokos und der Student entnehmen eine Probe, die später feingeweblich untersucht wird, genau wie die Proben anderer Organe. Regie: Atmo 20_Obduktionssaal hochziehen, Atmo 28 Bahre reinfahren Autorin 29: Eine neue Leiche wird auf einer Bahre hereingefahren. Sie ist grünlich verfärbt und von Maden übersät. Der Geruch im Saal wird noch beißender. Regie: 17.O-ton_Tsokos (0'22) Das sind fortgeschrittene oder weit fortgeschrittene Leichenfäulnisveränderungen. Das ist die typische Konstellation, dass Leute eben alleine leben, sozial isoliert und dann viele Wochen, manchmal auch Monate oder sogar Jahre in ihrer Wohnung liegen bevor sie gefunden werden. Das ist einfach, weil sie keiner vermisst. Der Einzige, der ihn dann vermisst ist am Ende des Monats der Wirt von der Stammkneipe, der seinen Deckel nicht bezahlt kriegt und andere soziale Kontakte gibt es nicht. Autorin 30: Bevor Tsokos nach Berlin kommt, ist er zehn Jahre Rechtsmediziner in Hamburg. In der Hauptstadt gibt es nicht nur mehr sozial isoliert lebende Menschen, sagt er, sondern auch mehr Menschen, die wegen psychischer Erkrankungen in Behandlung sind. Die verwesten Leichen machen auch den Studenten zu schaffen. Regie: 18.O-ton Student (0'14) Gestern hatten wir Springlarven, die können dann noch rumspringen. Also manchmal steht man hier und überall wuselt es und krabbelt und alles auf dem Boden...denkt man wirklich manchmal: Oh, was mache ich hier eigentlich? Autorin 31: Adrian macht als Teil seines Medizinstudiums gerade ein vierwöchiges Praktikum in der Rechtsmedizin. Der Geruch ist für ihn immer noch unerträglich, an alles andere hat er sich gewöhnt, sagt er. Regie: 19.O-ton Student (0'10) Gestern war das erste Mal ein kleines Kind, das war auch ein bisschen emotional, das erste Mal, dass mich das ein bisschen berührt hat, aber ich kenn die Menschen nicht, die sterben, es wird halt gestorben... Autorin 32: Rechtsmediziner will Adrian trotzdem nicht werden, er möchte lieber Lebende behandeln. Während der Obduktion kaut er Kaugummi, sagt aber, dass würde auch nicht gegen den Geruch helfen. An den Geruch hat auch Tsokos sich bis heute nicht gewöhnt. Regie: 20.O-ton_Tsokos (0:21) Wenn ich nach Hause komme, ist das Erste was ich mache, duschen. Da nehme ich nicht die Kinder auf den Arm oder setze mich an den Abendbrotstisch. Das möchte man dann auch nicht hören: Du riechst aber komisch. Ich habe die Erfahrung schon ein paar Mal gemacht, dass unser Hund mich dann schwanzwedelnd begrüßt hat, wenn es dann ganz faule Leichen waren. Insofern, der Geruch, der hängt noch an einem. Autorin 33: Nur wenige Medizinstudenten entscheiden sich für die Rechtsmedizin. Auch, weil es wenige Jobs in dem Bereich gibt. Aber die Bewerberzahlen steigen trotzdem. Durch Fernsehserien wie CSI, Crossing Jordan oder Quincy interessieren sich immer mehr unqualifizierte Leute für die Rechtsmedizin. Ein Friseur war auch schon dabei, erzählt Tsokos. Regie: Atmo 20_Obduktionssaal hochziehen Autorin 34: Die Obduktion des 80jährigen Mannes ist jetzt beendet. Der Mediziner fasst noch einmal für die Studenten zusammen: Regie: 21.O-ton_Tsokos (0'22) Keine überraschenden Befunde....die Totenflecken auch insbesondere mit den Leichenfleckeneinblutungen an den Füßen entsprechend der Auffindesituation. Dann haben wir hier ganz normale zum Erhängen passende Befunde mit Blutstauungen der inneren Organe. Kein Tumorleiden oder eine schwerwiegende Erkrankung, die ein Motiv liefern würde und insofern ist Todesursache Erhängen. Regie: Atmo 29_Danke Gut, vielen Dank, das war's eigentlich hier erst mal. Autorin 35: Die Organe werden wieder in den Körper gegeben und die Leiche zugenäht. Tsokos geht zum zweiten Sektionstisch, lässt sich vom Kollegen den nächsten Fall erklären. Regie; Atmo 20_Obduktionssaal ausblenden, Atmo 30a und Atmo 30b_Vogelgezwitscher einblenden (unter gesamte Bürosequenz), darüber Atmo 31_Blättern Autorin 36: 500 Meter weiter sitzt Assistenzärztin Denise Dümpelmann in ihrem Büro und bereitet sich auf ihren Gerichtstermin vor. Sie hat die Balkontür geöffnet, lässt frische Luft herein. Auf dem Tisch vor ihr liegen Sektionsprotokoll und Anklageschrift von ihrem Fall. Regie: 22.O-ton_Dümpelmann (0'13) Da ging es um eine Auseinandersetzung in einem Lokal. Erst war es verbal, dann kam es zu einer körperlichen Auseinandersetzung, wo jemand dann ein Messer gezogen hat und damit jemand anders tödlich verletzt hat. Autorin 37: Vor Gericht wird sie Fragen über die äußeren und inneren Verletzungen, die Tiefe der Stiche und Abwehrverletzungen beantworten. Ihre Aussage ist eine von vielen. Alle zusammen sollen helfen den Tathergang zu rekonstruieren. Meistens erfährt die Ärztin im Nachhinein noch nicht einmal das Urteil. Regie: Atmo 32_Fotos rausholen, Atmo 33_Foto angucken Autorin 38: Aus einer Plastikhülle zieht sie jetzt einen Packen Fotos. Darauf ein nackter Männerkörper, sportlich, durchtrainiert, nur die dunkelroten Flecken am Oberkörper stören das perfekte Bild. Regie: 23.O-ton_Dümpelmann (0'14) Ich habe mir das so sortiert nach Stich 1,2,3, nach den Nummerierungen mit den einzelnen Schichten, oben angefangen von der Haut, dann die Einblutungen in die Muskulatur, in den Knochen und dann die Organe. Regie: Atmo 33_Fotos angucken hochziehen Autorin 39: Bei Tötungsdelikten werden die Obduktionen so schnell wie möglich durchgeführt. Um den Sektionstisch stehen dann neben den Rechtsmedizinern auch Staatsanwalt, Polizeifotograf und Vertreter der Mordkommission. In diesem Fall wird auch der Täter untersucht, um festzustellen, ob er Verletzungen davongetragen hat. Regie: 24.O-ton Dümpelmann (0'14) Wir können jetzt hier nur sagen, dass z.B. eine große Kraft aufgewendet werden musste, weil es durch die Kleidung ging, durch die Haut, es ging durch Knochen und noch durch Organe. Das spricht ja dann für eine ziemlich heftige Krafteinwirkung. Autorin 40: Dümpelmann ist eine von vier Assistenzärztinnen, etwas länger als zwei Jahre ist sie an der Charité. Nebenher schreibt sie ihre Doktorarbeit -- über Menschen, die sich durch Selbstverbrennung das Leben nehmen. Regie: 25.O-ton Dümpelmann (0'26) Ich hatte schon immer den Hang dazu, dass ich etwas machen möchte, wo ich richtig suchen muss und wo ich nicht immer alles auf dem Präsentierteller habe, wenn ich in der Inneren bin, dann sagt mir der Patient, ich habe das, das, das und das. Und dann muss ich das einordnen und nehme ich dem noch Blut ab und mache vielleicht noch ein Röntgenbild und nehme dann die Summe und gucke dann. Das ist dann aber nicht so spannend, als wenn man vielleicht noch ein paar verborgene Informationen rauskriegen kann. Regie: Atmo 30 hochziehen Regie: 26.O-ton Dümpelmann (0'17) Ob man alles sieht, weiß ich nicht, vielleicht mit der Erfahrung, aber ein Toter spricht schon mit einem durch seine Krankheiten oder durch seine Organveränderungen und durch seine Verletzungen, der spricht schon und deckt auch viel auf... Autorin 41: Was die Rechtsmedizin außerdem für Dümpelmann spannend macht, viele andere Fachrichtungen fließen ein, Rechtsmediziner müssen sämtliche Krankheitsbilder kennen. Neben Leichen untersuchen sie auch Lebende, hauptsächlich vergewaltigte Frauen und misshandelte Kinder. Als Rechtsmediziner können sie Verletzungen besonders gut einordnen. Es sind die Fälle mit Kindern, die beiden - Dümpelmann und ihrem Chef - besonders nahe gehen. Regie: 27.O-ton Dümpelmann (0'15) Man sieht halt jeden Tag, wie schlimm es eigentlich sein kann und wenn man dann selber mal ein kleines Problem hat, das ist dann im Vergleich zu den Sachen, was wir hier jeden Tag sehen eigentlich gar nichts, da ändert sich schon die Lebenseinstellung auch. Regie: Atmo 34_Mappe zumachen Autorin 42: Dümpelmann packt ihre Unterlagen fürs Gericht zusammen. Vor ihr auf dem Schreibtisch steht die Nachbildung eines Oberschenkelknochens. In den drei Löchern in der Mitte des weiß glänzenden Design-Objekts stecken Kugelschreiber. Wenn man Rechtsmediziner ist, schenken die Leute einem gerne solche Sachen, sagt die Ärztin. Die Bilder an den Wänden hat sie selbst ausgesucht. Regie: 28.O-ton Dümpelmann (0'08) Weil ich das super interessant fand, dieses Röntgenbild, und man im ersten Augenblick gar nicht weiß, was da im Schädel steckt. Autorin 43: Ein auf Holz aufgezogenes Röntgenbild aus den 70er Jahren zeigt einen Schädel in dem oberhalb des rechten Auges ein undefinierbares Objekt steckt. Regie: 29.O-ton Dümpelmann (0'13) Es ist ein Zapfhahn. Da hat wirklich jemand einen Zapfhahn genommen und jemandem auf den Kopf gedonnert und der ist dann im Schädel steckengeblieben. Autorin 44: Sie deutet auf eine anderes Bild. Darauf das Profil eines Mannes. Der Ledergürtel mit dem er sich erhängte, ist mit Löchern versehen, die Blütenblätter darstellen. Deswegen trägt die Leiche jetzt am Hals eine rote Strangmarke mit Blümchenmuster. Regie: 30.O-ton_Dümpelmann (0:07) Das hat man halt selten, dass man dann auch eine Musterung drin hat und deswegen fand ich das Bild schön und deswegen hängt das auch in meinem Büro. Autorin 45: Sagt sie etwas verschämt und fügt hinzu: Regie: 31.O-ton_Dümpelmann (0'06) Im Büro kann man solche Sachen aufhängen. Zuhause würde ich es mir natürlich auch nicht hinhängen. Autorin 46: Dümpelmanns Büro ist nicht größer als 10 Quadratmeter, hat aber einen ausladenden Balkon. Hier raucht sie, wenn sie vor Gerichtsterminen nervös ist, schaut ins Grüne. "Alle aus unserem Team sind bei Tötungsdelikten aufgeregt," sagt sie. Regie: 32.O-ton Dümpelmann (0'07) Ja, weil es da ja um richtig viel geht, also ich meine, mit meiner Aussage geht dann vielleicht jemand in den Knast... Regie: Atmo 35_Aufbruch Gericht Autorin 47: Zeit zum Rauchen bleibt jetzt nicht mehr, Dümpelmann muss los. Das Diensthandy hat sie bereits an einen Kollegen abgegeben. Protokoll, Ladung, Ausweis... Regie: Atmo 36_Schritte Regie: Atmo 37_Gericht Gänge, Atmo 38_Gerichtsausgang Autorin 48: Eine Stunde später hat Dümpelmann ihre Aussage als Sachverständige gemacht, läuft durch die langen Gänge des Amtsgerichts Richtung Ausgang. Regie: Atmo 39_Straße vor Gericht, darüber 33.O-ton Dümpelmann (0'26) (Das Gericht möchte natürlich am liebsten, dass man den genauen Tathergang rekonstruieren kann und denen sagt, wie ist was genau passiert, wie standen die Leute zueinander, was war der erste Stich, was war der letzte Stich, was natürlich aus rechtsmedizinischer Sicht gar nicht möglich ist. Ich kann etwas zu den Verletzungen sagen, was der tödliche Stich ist, kann ich auch sagen, aber ob jetzt der vordere Stich zuerst war oder der hintere, das lässt sich nicht mehr sagen.) Autorin 49: Wie das Verfahren ausgehen wird, weiß Dümpelmann nicht. Ihre Arbeit an diesem Fall ist abgeschlossen. Sie hat versucht dem Toten eine Stimme zu geben. Draußen vor der Tür stellt sich der psychologische Gutachter aus dem Gerichtssaal kurz zu ihr, gibt positives feedback: Regie: Atmo 40_Gutachter Gutachter: Lief doch gut, ist doch schön. Dümpelmann: Ja, ja, weiß ich nicht, ich bin immer so nervös. Gutachter: Das ist gar nicht mal so schlecht, wenn ich nicht nervös bin, bin ich schlecht, ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Regie: Atmo 40 hochziehen, darüber Atmo 41_Verabschiedung Gutachter Gutachter: Ok, man sieht sich, zwangsläufig. Dümpelmann: Ja, ich denke, Mahlzeit. 1