COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Thema: Weinen allein hilft nicht - der Kampf der Eltern von Winnenden. Redaktion Peter Marx/Ricky Matejka Sendung: DLR, 14. Februar 2010 Atmo 1 hoch Sirene, Stimmen O-Ton 1 0'30 Collage 0'10 Birgit 2/139 I hab manchmal's Gefühl es hilft gar nix, du musst einfach so weiter leben, musch's beschte draus machen, pff. I kann eigentlich ned sagen, was hilft. 0'10 Thomas, 2/121 dann ist meine Frau da gestanden, hat Richtung Albertville Realschule geschaut und hat gesagt: die liegt noch da drin. Dann hab ich sie bloß in den Arm genommen. Schluck. Und hab gesagt, ich weiß. 0'10 Barbara Nalepa, 43 I hab Wut auf den Jungen, i hab Wut auf ihm, dass er meine Nicole mir weggenommen hat - weint - aber mehr Wut hab ich auf dem Vater! Atmo 1 hoch 0'5 frei stehen lassen, dann darüber: Sprecher Weinen allein hilft nicht - der Kampf der Eltern von Winnenden. Eine Reportage von Svenja Pelzel Atmo 2 hoch Wohnung 3/15 0'5 frei stehen lassen, dann darüber: Autorin Es ist still im Haus von Thomas und Birgit Schweitzer. Ab und zu hört man in der Ferne ein Auto, alle viertel Stunde läutet die Dorfglocke, manchmal maunzt die Katze, gähnt der Hund laut. Wie ein Donnerschlag hallt das Geräusch durch die stillen Räume, als Thomas Schweitzer die Kinderzimmertüre öffnet. O-Ton 2 0'26 Thomas Schweitzer, 2/64 Des Haus isch ruhig, obwohl drei Parteien hier wohnen. Wenn Kinder im Haus sinn, egal auf welchem Stock, isch immer was los. Da hört man mal hier a Getrampel und dort mal a Geschrei, dann isch dort mal Musik. Und die ganze Sache fehle jetzt. Es wird Mittag, 13 Uhr, es kommt kein Kind zum Mittagesse von der Schule nach Haus. Es kommt keiner mehr, fragt einen, des fehlt alles. Autorin Atmo 3 darunter Blättern im Album Thomas Schweitzer zieht ein Photoalbum aus dem Regal, lässt sich damit auf dem bunt gemusterten Bett nieder, betrachtet lange ein Bild des Kindes, das nie wieder nach Hause kommt. Selina. Sie ist 15 als sie am 11. März 2009 beim Amoklauf in der Albertville Realschule in Winnenden erschossen wird. O-Ton 3 0'25 Thomas Schweitzer, 2/53 Nach dem 11. März haben wir mal die ganzen Photoalben und die ganzen Bilder, die wir so von ihr haben durchgeguckt und haben so eine Diashow zusammengestellt von ihrem Leben und alles. Und da haben wir feststellen müssen, es gibt kein Bild, wo das Kind traurig ist oder nichts isst. Entweder sie lacht oder sie macht dicke Backen. Lachen. Autorin Atmo 4 darunter (Zimmeratmo) Das Lachen erhellt nur kurz Schweitzers Gesicht. Er ist Selinas Stiefvater, ein stattlicher Typ, 44 Jahre, leicht ergraut, Feuerwehrmann, seit dem 11. März nur noch im Innendienst. Jetzt, beim Bilderangucken auf dem Bett sinkt sein Kopf langsam nach vorne, rollen Tränen über die Wangen. Dem Mann sieht man an, dass er bis ins Mark verletzt ist. Daniela, Selinas große Schwester studiert in Hohenheim. Aus ihrem alten Kinderzimmer hat Schweitzer sich vor kurzem ein Büro gemacht, mit vielen Photos der beiden an den Wänden. In Selinas Zimmer dagegen stehen immer noch die Kindermöbel, hängen ihre geliebten VfB-Poster, liegen bunter Mädchen-Krimskrams und Fußball-Pokale im Regal. Birgit Schweitzer kommt herein, setzt sich zu ihrem Mann aufs Sofa. Die 48jährige ist schmal, trägt enge Jeans, weiße Bluse, Goldschmuck, die blonden Haare sorgfältig frisiert. Eigentlich wollte sie nach Selinas Tod das Zimmer gleich ausräumen. O-Ton 4 0'30 Birgit Schweitzer 2 /72, 81 Wir haben au ein paar Sachen, ziemlich viel schon weg gmacht. Aber der große Schritt, dann einfach die Möbel raus zu tun. - Ich hab am Anfang so nach sechs, acht Wochen gsagt, ich muss ausräumen, damit das kein Denkmal wird. Dann kamen wir aber nedda dazu, weil einfach zu viel war und jetzt wird's immer schwerer. Und vielleicht schaffma des dann nimmer. Atmo 5 hoch nimmt Parfümflasche, sprüht sich damit an 0'10 frei stehen lassen, dann darüber: O-Ton 5 0'25 Birgit Schweitzer, 2/79 Ab und zu muss i mal mit ihrem Parfüm a bissle sprühen. Des hat sie dann immer hin gmacht, so was die Jonge halt ham und dann riechts halt a bissle, aber mach ich immer nur ein ganz kleinen Sprüher. Autorin Vorsichtig stellt Birgit Schweitzer die kleine Parfümflasche zurück ins Regal, den Blick abwesend, gedankenversunken. Meistens kommen beim Parfümschnuppern die guten Erinnerungen. Die schlimmen Gedanken überrollen die Schweizers immer dann, wenn sie irgendwo Sirenen hören, im Fernsehen geschossen wird, im Radio ein Hubschraubergeräusch zu hören ist. Atmo 6 hoch Minihörspiel aus dem Archiv: Sirenen, Hubschraubergeräusch, schreiende Kinder, Stimmengewirr draußen 0'15 frei stehen lassen, dann darüber: O-Ton 6 0'40 Birgit Schweitzer 2/120 Diese Bilder kann Dir auch keiner aus dem Kopf nehmen, das Erlebte und wie die Kinder in dem Nebengebäude in dem Lessinggymnasium hinter den Glasscheiben standen und herunter guckten, wie das SEK sich aufgebaut hat: und die ganzen Rettungswägen, die ganze Straße, die an der Schule vorbei führt, war voll mit Rettungsdiensten, mit Polizei. Man hat nur Uniformen gesehen. Da ging's drunter und drüber, das sind Bilder, die einem ned aus dem Kopf gehen. Autorin Die Schweitzers hören von dem Amoklauf durch die Nachbarn. Deren Sohn liegt mit einem Beinschuss im Klassenzimmer und meldet sich per Handy Zuhause. Birgit und Thomas Schweitzer fahren sofort die acht Kilometer zur Schule, suchen nach der Tochter. Lange denken beide, dass Selina ebenfalls nur verletzt und im Krankenhaus ist. Als gelernter Feuerwehrmann hält vor allem Thomas Schweitzer das Nichtwissen und Warten kaum aus. O-Ton 7 0'50 Thomas, Birgit, 2/121 Hab mich dann etwas separat hin gestellt, hab die Gedanken geordnet, hab dann einfach nur versucht zu funktionieren und des, was i irgendwann mal gelernt habe, umzusetzen und habe dann angefangen, das Schema ablaufen zu lassen. Und irgendwann waren wir dann vorne, die Polizei und die Einsatzkräfte haben dann einen Suchdienst aufgebaut, dann ist meine Frau da gestanden, hat Richtung Albertville Realschule geschaut und hat gesagt: die liegt noch da drin. Dann hab ich sie bloß in den Arm genommen - schluckt - Und hab gesagt, ich weiß. - sie: (Stimme zittert) Man hofft ja immer noch. Aber schlimm war für mich diese hysterischen Kinder in dem Wunnebad, das Geschrei, was die gemacht haben, wie die geschrieben haben, wie die am Durchdrehen gewesen sind. Autorin Am Durchdrehen sind auch die Journalisten, die schon kurz nach der Tat wie eine Plage über die Menschen herfallen. O-Ton 8 0'30 Thomas Schweitzer, 2/129 Da wurde teilweise so extrem Journalistenarbeit betrieben. Die haben einem die Teleobjektive regelrecht ins Gesicht gehalten. Sie haben keine Intimsphäre gewahrt. Sind auf die Leute los, haben teilweise Kinder zusammen gehortet, so nach dem Motto, stellt euch mal da hin, macht mal ein trauriges Gesicht und zeigt mal, was hier los ist. Autorin Nach langem Warten erfahren die Schweitzers schließlich, dass ihre Tochter tot ist, ebenso wie weitere acht Schüler und sechs Erwachsene, außerdem gibt es 13 schwer Verletzte. Sehen dürfen sie ihre Tochter noch nicht, die Rettungskräfte erzählen ihnen nur, dass das Mädchen mit dem Kopf vornüber auf dem Pult lag, den Stift noch in der Hand. Manchmal ist das ein kleiner Trost für Birgit Schweitzer. O-Ton 9 0'20 Birgit Schweitzer 2/117 Tausendprozentig sie hat nix mit bekommen und sie au zu fast hundert Prozent nicht mal den Schuss gehört. Sie saß ja mit dem Rücken zur Türe, sie saßen alle mit dem Rücken zur Türe, die ham au ned gemerkt, dass jemand rein gekommen ist. Autorin Für heute reicht's mit dem Bildergucken. Birgit Schweitzer will zum Friedhof. Mann und Hund kommen mit. Atmo 7 hoch Losgehen zum Friedhof, 3/26 0'5 stehen lassen, dann darüber: Autorin Meistens fahren die Schweitzers mit dem Auto zum Friedhof - 400 Meter durchs Dorf. Die neugierigen und mitleidigen Blicke der Nachbarn sind nur schwer zu ertragen. Atmo 8 hoch Anbinden am Zaun, Atmo Friedhof 3/29, x 0'5 stehen lassen, dann darüber: Autorin Vor dem Friedhof bindet Thomas Schweitzer den Hund an, geht langsam die paar Schritte zu einem bunten Grab am Rand, das übersät ist mit Engelchen, Kerzen, Bildern, frischen Blumen und Briefen. Das meiste stammt von Freundinnen, Mädchen aus Selinas Fußballverein und Mitschülern. Vorsichtig ordnet Birgit Schweitzer ein paar umgekippte Gipsfiguren neu an, nimmt die abgebrannten Teelichter vom Grab. O-Ton 10 1'00 Birgit 2/138 Nach einer Zeit kamen einfach keine Tränen mehr. Man saß da und hat gedacht, was bisch du für a Mutter, du kannscht ned um dein Kind heulen. Des gibt's nedda. Dieses Gefühl, dass man da keinen Bezug dazu hat. Und jetzt isch es so, jetzt fließen einfach die Tränen und man lässt sie laufen, ohne irgendwelche Gedanken, weil der Kopf wird dann besser, was ganz leer. Man fällt jetzt dann mehr in eine Art Depression, man guckt stier auf einen Fleck, man wird angesprochen, man reagiert nicht. Und das ist jetzt eine ganz gefährliche Phase, weil man muss gucken, dass man nicht in dieser Situation bleibt. Autorin Vor der Beerdigung damals wünscht sich Daniela, dass ihre kleine Schwester nicht - wie sie es ausdrückt - von Würmern gefressen, sondern verbrannt wird. Die Eltern stimmen dem zu, besorgen eine Fußballurne in rot-weiß, den Farben des geliebten VfB. O-Ton 11 0'35 Birgit, 3/37,36 Und i muss sagen im Nachhinein isch des richtig gut. Weil i könnt mir jetzt ned vorstellen, dass des Kind da drunten liegt im Sarg und mit Erde zugedeckt bin in so nem kalten Loch. Und dann haben wir auch gesagt, des isch ja paradox, jetzt musch den Grabstein für die eigens Kind aussuche. Wenn's mal nimmer in der Reihenfolge isch, dann stimmt irgendwas nedda. Autorin Noch einmal zupft Birgit Schweizer die Engelchen und Blumen auf dem Grab ihrer Tochter zurecht, dann dreht sie sich plötzlich um, verlässt den Friedhof. O-Ton 12 0'5 Birgit Schweizer, 3/38 Also ich muss jetzt raus, mir wird's zu viel. Atmo 9 hoch Schritte auf Dorfstraße, Getrappel von Hundepfoten 3/26 0'5 frei stehen lassen, dann darüber: Bellen eines mittelgroßen Hundes aus dem Archiv Autorin Am Ausgang streichelt Birgit Schweitzer kurz über den Kopf ihres Hundes, der sie bereits schwanzwedelnd erwartet, läuft langsam mit Tier und Mann nach Hause. Schweitzer ist Jäger, geht täglich mit seinem Hund spazieren, nimmt ihn mit in den Wald, auf den Hochsitz. Seine Waffen jedoch lässt er neuerdings Zuhause. Ob er jemals wieder schießen wird, weiß er nicht. O-Ton 13 0'15 Thomas 2/114 Ich hab ehrlich gesagt bis zum heutigen Tag nur ein einziges Mal die Waffen in die Hand genommen seit dem 11. März und des war der Tag, als ich sie vom Jagdkollegen zurückgeholt hatte, weil ich sie nach dem 11. März außer Haus gab, Und geschossen habe ich bis heute noch gar nicht mehr. Atmo 10 hoch Ankommen Zuhause 0'3 stehen lassen, dann darüber Autorin Atmo 2 darunter Zuhause steht der mannshohe, graue Waffenschrank aus Stahl wie ein hässlicher Fremdkörper gleich im Wohnungseingang. Schweitzer lagert darin fest verschlossen seine Gewehre, Pistolen und Munition. So will es das deutsche Waffengesetz, das seit dem Amoklauf von Erfurt 2002 gilt. Auch Birgit Schweitzer kommt an die Waffen nicht ran. O-Ton 14 0'35 Thomas, 3/42 Geklapper Waffenschrank - Schlüssel - im Langwaffenschrank sind dann die Langwaffen schön sauber drin und in dem kleinen Innenfach ist dann die Kurzwaffenmunition drin. Sonst befindet sich hier keine Munition. - Geklapper- und der Schlüssel isch immer bei mir. Autorin In seinem Arbeitszimmer hat Schweitzer sämtliche Zeitungsausschnitte der letzten Monate über den Amoklauf gesammelt. Der Stapel ist einige Zentimeter dick. Atmo 11 hoch Zeitungsgeraschel 0'2 stehen lassen, dann darüber Autorin Oben auf liegen Berichte über den geplanten Prozess gegen Jörg Kretschmer, den Vater des Täters. Kretschmer ist Sportschütze. Waffen und Munition bewahrt er im März 2009 ebenfalls im Tresor auf, doch Sohn Tim kennt angeblich die Kombination, holt sich 284 Schuss Munition aus dem Schrank. Eine großkalibrige Pistole liegt ungesichert im Schlafzimmer - die Tatwaffe. Auch heute noch schüttelt Schweitzer ungläubig den Kopf, wenn er über diesen leichtsinnigen Umgang mit Waffen nachdenkt. Seiner Meinung nach ist es deshalb absolut richtig, dass Kretschmer sich vor dem Landgericht Stuttgart verantworten muss wegen fahrlässiger Tötung, fahrlässiger Körperverletzung und Verstoß gegen das Waffengesetz. Atmo 11 hoch Zeitungsgeraschel 0'3 stehen lassen, dann darüber Autorin Einiges, was Schweitzer in seinen gesammelten Berichten gelesen hat, stimmt ihn auch heute noch besonders nachdenklich: Deutschland führt nach den USA die Statistik bei Amokläufen an. Seit 1964 haben Täter zehn Mal in Schulen um sich geschossen und dabei immer Waffen von Sportschützen benutzt. Schweitzer und seine Frau engagieren sich deshalb für einen anderen Umgang mit Waffen, fordern ein schärferes Waffengesetz. An dieser Stelle braucht die Geschichte noch einen Rückblick. Atmo 12 hoch Atmo Café, Lachen, Stimmen,1/1 0'5 frei stehen lassen, dann darüber: Autorin Frühsommer 2009, ein Caféschiff liegt vor dem Berliner Innenministerium auf der Spree vor Anker, an Deck Birgit Schweitzer und fünf andere Frauen aus Winnenden. Atmo 12 hoch Atmo Café, Lachen, Stimmen,1/1 0'3 frei stehen lassen, dann darüber: Autorin Birgit Schweitzer und die Frauen lachen fröhlich, unterhalten sich, tragen schicke Hosenanzüge, große Sonnenbrillen, weiße, gebügelte Blusen, sorgfältig geschminkte Gesichter. Doch die äußere Ausflugstimmung täuscht. Die Frauen haben eine politische Aufgabe, gleich einen Termin beim damaligen Innenminister Wolfgang Schäuble. Im Café besprechen sie noch einmal die geplante Strategie. Seit dem gewaltsamen Tod ihrer Mädchen und Jungen vor wenigen Wochen kämpfen die Eltern von Winnenden gemeinsam für ein geändertes Waffengesetz. Sie fordern, dass großkalibrige Pistolen und Gewehre für Privatleute verboten, Munition und Waffen von Sportschützen getrennt gelagert werden, und diese weniger Schusskapazität haben sollen. Sie sammeln Tausende Unterschriften, geben Interviews, reden mit zahllosen Politikern. O-Ton 15 0'30 Sellinger-Matt 1/3 Also mir erwarten uns von dem Termin, dass der Herr Schäuble offene Ohren für uns hat, dass er uns ohne Vorurteile uns anhört, unsere Sorgen, unsere Nöten, dass er uns anhört zum Waffengesetz und dass man ned uns sieht als Eltern, die in ihrer Trauer wirr daher reden, dass mir sehr wohl überlegte Forderungen stellen, die unser Erachtens schon lang überfällig sind. Autorin Sylke Sellinger-Matt rührt in einem Glas Latte Macchiato, das vor ihr auf dem Tisch steht. Ihr Sohn Mark hat bei dem Amoklauf seine erste große Liebe verloren, ein Mädchen, das für sie wie eine Tochter ist- Nicole. Deren Mutter Barbara Nalepa ist ebenfalls dabei, sitzt neben ihr. Die 38jährige, sieht schmal aus, die Augen müde, die Wangen hohl. Darüber täuschen auch der große Kragen ihrer weißen Rüschenbluse und die modische Kurzhaarfrisur nicht hinweg. O-Ton 16 0'30 Nalepa 1/6 Das ischt jetzt kein Trauerverarbeitung. Das ist diese bewusste Aufgabe, was unsere Kinder uns gestellt haben. Das isch kein Verarbeitung. Ich opfer jetzt so viel Zeit und so viel Kraft, obwohl ich so wenig an mich hab jetzt und ich werde weiter kämpfen, weil ich kämpfe jetzt nicht für Nicole ich kämpfe jetzt nicht für die anderen Opfer. Ich kämpfe für ganze Gesellschaft in Deutschland. Autorin kürzbar Barbara Nalepa wirkt vor dem Termin mit Wolfgang Schäuble kein bisschen nervös. Nur ab und zu bricht ihr beim Reden die Stimme, was nicht am deutschen Innenminister, sondern an ihrer Trauer liegt. Die gebürtige Polin und gläubige Katholikin erhofft sich einiges von dem Termin. Sie hat sich vorgenommen Schäuble daran zu erinnern, dass er als Christ die Pflicht hat, Leben zu beschützen. Sie will ihn ganz direkt fragen, wie er das in Zukunft zu tun gedenkt? O-Ton 17 (kürzbar) 0'43 Nalepa Ich muss sagen, es ist ein alter Spruch, der Hoffnung stirbt zuletzt. An diese 11. März ist meine Hoffnung auch zuletzt gestorben. (Stimme fängt an zu brechen) Ich hab immer gehofft, dass meine Tochter lebt und wo ich das erfahren habe, dass sie auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben ist, da ist auch meine Hoffnung gestorben. Und jetzt hab ich den Hoffnung schon wieder, dass wir zugehört werden und ich hoffe, dass das auch so wird. Atmo 12 hoch Atmo Café, Lachen, Stimmen,1/1 0'3 frei stehen lassen, dann darüber: Autorin An diesem Nachmittag wird der Innenminister eine Stunde mit den Frauen reden, ihnen zuhören, die gestellten Forderungen ernst nehmen. Als Reaktion auf den Amoklauf und die Aktivitäten der betroffenen Eltern tritt am 25. Juli 2009 ein schärferes Waffengesetz in Kraft. Atmo 13 hoch (kürzbar) 0'35 Türgespräch 4/9 Schritte - ja - wir sind's - wer wir? - ja ich - wer ich? - ja Mark! - wir verkaufen Socken und Bürsten - wir kaufen keine Kinder - Lachen - Papa! - aber wir haben welche zu verkaufen - sie haben sich verirrt, bitte wenden sie - Papa!!!!!- Türöffner - Schritte im Flur 0'35 frei stehen lassen (kürzbar), dann darüber Autorin Atmo 14 darunter Winnenden, ein paar Monate später. Lachend stürmen der sechsjährige Sebastian Nalepa und seine Zwillingsschwester Michelle zur Wohnungstüre herein, gefolgt von Familie Sellinger-Matt. Die beiden Kinder haben den Vormittag bei Sellinger-Matts verbracht, weil Barbara und Christoph Nalepa am Morgen bei einem Gedenkgottesdienst für Nicole waren. Atmo 14 hoch Kaffeeautomat, 4/18 0'5 stehen lassen, dann darüber: Autorin Atmo 15 darunter (Wohnzimmer, 4/12, 85) Christoph Nalepa bringt aus der Küche Latte Macchiato für alle, stellt die hohen Gläser zum selbst gebackenen Kuchen auf den gedeckten Kaffeetisch im Wohnzimmer. Schon lange ist seine Familie mit den Sellinger-Matts befreundet. Seit dem 11. März verbringen sie noch mehr Zeit miteinander, stützen sich gegenseitig, hören zu oder trösten, wenn bei einem mal wieder unvermittelt die Tränen fließen. Vor allem das schätzt der 39jährige an der Freundschaft zu anderen Betroffenen, dass er nichts erklären, sich für nichts entschuldigen muss. O-Ton 18 0'30 Christoph, 4/37 Das war die Mutti von Selina, die hat gesagt: wir haben unsere geliebten Menschen verloren, aber wir haben sehr viel dazu gewonnen. Das isch wirklich so. Die anderen betroffenen Eltern, wir haben uns gegenseitig zur Unterstützung und das hilft eigentlich. Autorin Genauso wie der gemeinsame Kampf, der auch jetzt noch weiter geht. O-Ton 19 0'20 Christoph 4/46, 75 Wir haben doch Treffen gehabt mit verschiedene Politiker. Und glauben sie uns, jeder, der mit uns am Tisch sitzt, wo keine Medien sind, die sagen alle zu uns, wir brauchen die Dinger nicht Zuhause. Warum sagen sie das nicht öffentlich? Autorin Der Kuchen ist verputzt, die Zwillinge verschwinden im Kinderzimmer, am Kaffeetisch dreht sich das Gespräch - wie so häufig in den letzten Monaten- um die geplanten Aktionen. Die beiden Frauen möchten als Nächstes Wolfgang Schäuble an sein Versprechen vom Sommer erinnern. O-Ton 20 0'30 Sellinger-Matt, Barbara Nalepa, 4/72, 73 Ich möchte die CD mitschicken von dem Schießen meine Leidenschaft, um klar zu stellen, wie die Schützen dastehen. Ich möchte fragen, ob er für uns irgendwie einen Kontakt herstellt zum neuen Innenminister, ob wir dann vielleicht noch mal hin gehen. -Bis jetzt haben wir nix gehört. Aber wir werden weiter bohren und versuchen, noch mal nachzufragen. - Sie müssen sich warm anziehen. - Genau. Autorin Während der Unterhaltung kämpft Barbara Nalepa häufiger mit den Tränen. Sie verkraftet Nicoles Tod extrem schwer, obwohl sie regelmäßig in Therapie ist. Immer wieder schweift ihr Blick zu dem kleinen Altar, den sie auf der Wohnzimmerkommode errichtet hat: darauf ein Bild ihrer lächelnden Tochter, brennende Kerzen mit Kreuz, weiße Engelchen, eine Rose. Mindestens zwei Mal am Tag geht Barbara Nalepa zum Friedhof, sucht dort die Nähe zu ihrem Kind oder setzt sich für eine Weile in das leere Kinderzimmer. Manchmal betrachtet sie dann einfach nur die vielen Geschenke und Andenken, die andere Menschen auf das Grab gelegt haben und die jetzt aufgereiht auf einem Regalbrett über Nicoles Bett stehen. Auch an diesem Nachmittag verschwindet sie kurz aus dem Wohnzimmer. Atmo 16 hoch Raschelgeräusch 4/59 0'5 frei stehen lassen, dann darüber: Autorin Aus dem obersten Fach von Nicoles Einbauschrank zieht Barbara Nalepa eine weiße Pappschachtel, öffnet den Deckel. O-Ton 21 0'10 Weinen, Sniefen 7/30 0'5 frei stehen lassen, dann darüber O-Ton 22 0'30 Barbara Nalepa 4/59 Raschelgeräusch. Das sind auch alles Sachen, wo am Grab gelegen haben. Verschiedene Maskottchen, Bärchen, Briefe, das wurde alles für die Nicole gemacht. Geraschel. Autorin Sebastian kommt herein, setzt sich auf den Schoß seiner Mama, legt tröstend den Arm um ihre Schultern, steckt seine Stupsnase schmusend unter ihren Hals. O-Ton 23 0'20 Sebastian, Mutter 4/68 Mit diesem Arm so. - so machst du das. Ich hab dich auch ganz lieb, sag ich immer. Sei so lieb, hol der Mami ein Taschentuch. Autorin Sebastian springt vom Schoß, saust in die Küche. Wegen ihm und Michelle will Barbara Nalepa unbedingt durchhalten, sich Arbeit suchen und irgendwie neuen Lebensmut finden. Doch manchmal erscheinen ihr diese Suche nach dem Sinn, dieses Kämpfen und Weiterleben einfach unerträglich. O-Ton 24 0'35 Nalepa, 43, 44 I hab Wut auf den Jungen, i hab Wut auf ihm, dass er meine Nicole mir weggenommen hat - weint - aber mehr Wut hab ich auf dem Vater! Dass der gewusst hat, womit der Junge sich beschäftigt und so viel Waffen Zuhause gehabt hat. dass der irgendwie nicht im Griff gehabt hat als Vater, das werde ich ihm nie verzeihen. Das werde ich ihm nie verzeihen. Atmo 17 hoch 0'10 Weinen, Schniefen 7/30 0'5 frei stehen lassen, dann darüber Autorin Wenn der Prozess gegen den Vater vor dem Stuttgarter Landgericht losgeht, werden Barbara Nalepaund ihr Mann auf jeden Fall hinfahren. Zusammen mit ihrer Freundin Sylke Sellinger-Matt und den Schweitzers werden sie dabei sein, wenn zum ersten Mal ein Urteil wegen eines Amoklaufs gesprochen wird. Sprecher Sie hörten: Weinen alleine hilft nicht - der Kampf der Eltern von Winnenden. Eine Reportage von Svenja Pelzel