KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : LITERATUR 19.30 Kostenträger : P.6.2.30 Titel der Sendung: Lügen in Zeiten des Holocaust Jurek Becker Romane über die Shoah Autor : Michael Opitz Redaktion: : Sigried Wesener Sendetermin : 25.09.2012 Besetzung : Erzähler :Zitator (Becker) : Zitator (Sebald) /Musik/o-Ton Regie : Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Lügen in Zeiten des Holocaust - Jurek Beckers Romane über die Shoah Endfassung Autor: Michael Opitz Redaktion: Sigried Wesener Regie: Erzähler: 1. Zitator (J. Becker): 2. Zitator (W.G. Sebald): Musik: Musik: Jüdische Musik, klagende Klarinette in Verbindung mit Orchester, sehr langsam, leise, bedächtig. Durchgehend verwenden. Erzähler: Geburtsort: Zitator: Lodz Erzähler: Religion: Zitator: Jude Erzähler: Beruf: Zitator: "Kind"! Erzähler: Jurek Beckers Anmeldeformular für das Ghetto in Litzmannstadt. 1. O-Ton J. Becker, CD 1, Track 3, 23:08 Mich hat, seit ich mich erinnern kann, die Nähe von Tragödie und Komödie fasziniert. Musik: Jüdische Musik, klagende Klarinette in Verbindung mit Orchester, sehr langsam, leise, bedächtig. Erzähler: Das Kind ist zwei Jahre alt, als es mit seinen Eltern ins Ghetto kommt. Jurek Becker wurde am 30. September 1937 geboren. So steht es in jedem einschlägigen Lexikon. Doch das Geburtsdatum ist aller Wahrscheinlichkeit nach falsch. Jurek Beckers Vater hat die Geburtsurkunde seines Sohnes gefälscht. Er hat das Kind um ein oder zwei Jahre älter gemacht, um ihn vor der Deportation in ein Konzentrationslager zu bewahren. Angesichts herrschenden Unrechts nimmt sich der Vater das Recht heraus zu lügen. Zitator: "Als ich zwei Jahre alt war, kam ich in dieses Ghetto, mit fünf verließ ich es wieder in Richtung Lager. Ich kann mich an nichts erinnern. So hat man es mir erzählt, so steht es in meinen Papieren, so war folglich meine Kindheit. Manchmal denke ich: Schade, dass dort nicht etwas anderes steht. Jedenfalls kenne ich das Ghetto nur vom dürftigen Hörensagen. (J. B., Die unsichtbare Stadt, Akademie, S. 11) Erzähler: 1944 wird Jurek Becker zusammen mit seiner Mutter in das Konzentrationslager Ravensbrück deportiert, während sein Vater im Ghetto bleibt. Im Juni 1945 stirbt seine Mutter an Unterernährung im KZ-Sachsenhausen. Der Vater, der nach dem Ghetto auch Auschwitz überlebt, findet seinen Sohn in einem Krankenhaus. Das Kind kann kaum sprechen. Jurek Becker erinnert sich in seiner 1998 in Frankfurt am Main gehaltenen Poetik-Vorlesung, dass er seine Muttersprache verlernt hatte und die deutsche Sprache erst lernen musste. 2. O-Ton Jurek Becker, Warnung vor dem Schriftsteller, Track 1 2:53-3:35 "Deutsch ist nicht meine Muttersprache. Ich komme vom Polnischen her. Erst mit acht, fast neun Jahren fing ich an, Deutsch zu lernen, mein Polnisch war da aber ganz und gar nicht das eines Neunjährigen. Es war im Sprachumfang eines Vierjährigen steckengeblieben, denn in diesem Alter war ich Umständen ausgesetzt, in denen Sprache so gut wie überflüssig war. Die ersten deutschen Vokabeln, an die ich mich erinnere, stammen aus jener Zeit: 'Alles alle', 'Antreten - Zählappell' und 'Dalli-dalli'." (J. B. Warnung vor dem Schriftsteller, S. 10) Erzähler: Deutsch wird Jurek Beckers "Vatersprache". Er lernt die Sprache der Mörder seiner Mutter mit Hilfe seines Vaters, der ein strenger, aber auch ein kluger Lehrer war. Max Becker, der eigentlich Mieczyslaw hieß, versteht es, beim Lernen ökonomische Anreize einzusetzen. Als Jurek Becker in die Schule kommt, ist er größer und älter als seine Mitschüler, aber er spricht das schlechteste Deutsch in seiner Klasse. 3. O- Ton Jurek Becker, Warnung vor dem Schriftsteller, Track 2, 0:28, weiter 2:50 "Für keine schulische Leistung belohnte mein Vater mich so reichlich wie für gute Noten bei Diktat und Aufsatz. Wir entwickelten gemeinsam ein übersichtliches Lohnsystem: Für eine geschriebene Seite gab es im Idealfall fünfzig Pfennig, jeder Fehler brachte einen Abzug von fünf Pfennig. So lernte ich nebenbei rechnen. [...] Bald wurde die Sache meinem Vater zu teuer, und er handelte mich auf zehn Pfennig pro Fehler und später noch weiter nach oben." (J. B. Warnung vor dem Schriftsteller, S. 10f.) Erzähler: Für den Schriftsteller Jurek Becker stellt die Sprache kein Hindernis dar. Vielmehr haben die "Umstände", unter den er Deutsch lernte, sein Sprachempfinden sensibilisiert. Die Sprache ist ihm wichtig, weil er ihren Wert kennt. Zu einer Last werden ihm die fehlenden Erinnerungen. 4. O-Ton Jurek Becker, CD Mein Gott, mach nicht so viel Theater, Track 8, 3:00 "Wenn Du nicht weißt, wo Du herkommst, dann ist es ein wenig so, als würdest du dein Leben lang mit einem Rucksack herumlaufen, ohne zu wissen, was da drin ist. Das ist ein sehr unangenehmer Zustand und die Beschäftigung damit hat, wenn Sie so wollen, etwas damit zu tun, herauszufinden, was in dem Sack drin ist, den ich da mit mir herumtrage." Erzähler: Während andere von Kindheitserlebnissen wissen, kann er sich an nichts erinnern. Was das bedeutet, macht ein auf den ersten Blick kryptisch anmutender Brief von 1996 deutlich, in dem das Erinnerungsdefizit in der Form Gestalt angenommen hat. Zitator: "Lieber Achim, vielleicht interessiert Dich ein Blick auf meinen Lebenslauf, an dem ich gerade schreibe: Ich wurde am, in, als einziges. Mein Vater war, meine Mutter. Bei Kriegsausbruch kam ich, wo ich bis zum. Nach Ende des blieb mein Vater mit mir, was ich bis heute nicht. Er hätte doch auch. Jedenfalls ging ich zur und wurde ein halbwegs normales. Das änderte sich, als ich den Beruf eines. Wenn ich auf mein bisheriges Leben zurückblicke, dann muss ich leider sagen. In Liebe, Dein Jurek" Erzähler: Jurek Becker debütiert 1969 mit dem im Aufbau Verlag erschienenen Roman "Jakob der Lügner". Jakob Heym, der das Ghetto mit Nachrichten versorgt und behauptet, ein Radio zu haben, ist ein Lügner. Seine Nachrichten sind Erfindungen. Er denkt sie sich aus, damit im Ghetto wieder Hoffnung keimen kann. Jurek Becker schreibt sich mit dem Roman auch an ein Kapitel seiner eigenen Lebensgeschichte heran. 5. O- Ton Jurek Becker, CD Mein Gott, mach nicht so viel Theater, Track 8, 3:00 "Jakob hat damit zu tun: Wo komm ich her. Wissen Sie, ich war irgendwie Kaspar Hauser. Ich war in diese Welt gefallen mit acht Jahren und keiner hat mir erzählt, bis auf ganz dürftige Informationen, was ich für einer bin und was mit mir los ist und wo ich herkomme. Und sicher ist in dem Sinne 'Jakob der Lügner' der Versuch des Hauchs einer AutoBiografie. Ich wollte etwas Genauer wissen, was ein Ghetto für ein Ding ist. Das wusste ich nach dem Buch natürlich viel besser als vorher. Vorher war das Ghetto ein unheimlich bedrohliches schwarzes Ding in meinem Kopf und ich habe mich so lange damit beschäftigt, bis das ein Ding wurde, in dem Leute gewohnt haben, von denen mit Bestimmtheit ich einer gewesen bin. Ich weiß nur nicht welcher." Zitator (S): Bereits in 'Jakob der Lügner', einem Buch, von dem man annehmen müßte (und häufig auch angenommen hat), dass es zurückgeht auf die frühen Erfahrungen des Autors, ist Becker nirgends anzutreffen." Erzähler: W. G. Sebald in seinem 1993 entstandenen Essay "Ich möchte zu ihnen hinabsteigen und finde den weg nicht", der 2010 erstmals in der Zeitschrift "Sinn und Form" erschien. Zitator (S): "Ich glaube, dass die Bücher Beckers auch von einem von der Verfolgung nicht Betroffenen hätten geschrieben werden können. Sie erwecken geradezu den Eindruck von Erfahrungslosigkeit." Erzähler: Es klingt so, als würde Sebald bedauern, dass Jurek Becker im Lager keine anderen Erfahrungen gemacht hat, Erfahrungen, die sich tiefer und dann auch schmerzhafter eingeprägt hätten, Erfahrungen, die dann vielleicht hätten erinnert werden können. Dieser kalte, analytische Zugriff lässt einen erschauern, denn Sebald richtet ja auch über Jurek Becker, als er mit dessen Romanen abrechnet. Doch der Essayist und Literaturwissenschaftler W. G. Sebald, der Autor von Romanen wie "Die Ausgewanderten", "Die Ringe des Saturn" und "Austerlitz" ist, Romanen, in denen er immer wieder den durch den Holocaust verursachten Zivilisationsbruch thematisiert, missversteht Jurek Beckers Poetologie gründlich. Beinahe könnte man den Eindruck bekommen, Sebald will diesen poetischen Ansatz nicht verstehen, denn das Missverstehen hätte ihm Aufmerksamkeit garantiert, wäre der Aufsatz noch vor Sebalds Tod im Jahr 2001 veröffentlicht worden. Musik: Jüdische Musik des Anfangs, klagende Klarinette ... Erzähler: Jurek Becker umschreibt in seiner 1989 in Frankfurt am Main gehaltenen Poetikvorlesung die Erlebnisse im Ghetto mit einem neutralen Wort: Er spricht davon, dass er "Umständen" ausgesetzt war. Hinter den "Umständen" jedoch zeichnen sich die Konturen eines konkreten Wortes ab: Es heißt "Endlösung" und es steht in Beziehung zu einer Konferenz, die 1942 in einer idyllisch gelegenen Villa am Wannsee stattfand. Dort wurden die organisatorischen Details für die Deportation der jüdischen Bevölkerung in die Konzentrationslager beschlossen. Viele waren zuvor in Judenghettos interniert, die es seit 1939 gab. 6. O-Ton J. Becker CD 1, Track 2, 5:03-6:30, 3:02-3:22 "Eines Tages, als sich mein Vater wohl oder übel damit abfinden musste, dass ich wohl Schriftsteller werden würde, hat er mir mal gesagt: Du, Jurek, ich habe einen Mann im Ghetto gekannt, das war ein großer Held, über den solltest Du schreiben. Das war einer, der hatte ein Radio versteckt. Das war bei der Todesstrafe verboten. Der hat Nachrichten gehört - Radio London, Radio Moskau - und hat die verbreitet. Eines Tages hat das die Gestapo herausbekommen, vielleicht ist er verraten worden von einem Spitzel, und die haben den erschossen. Und er sagte: Das war ein großer Held, über den müsste ich schreiben. ... Und ich habe das vergessen. Jahre später fiel mir die selbe Geschichte ein, mit dem Unterschied, dass der eben kein Radio hat, sondern die andern glauben, dass er eins hat. Das ist das, was man einen künstlerischen Einfall nennen könnte. Das ist der reale Kern, alles andere ist dazu erfunden. Ich hatte bestimmte Absichten mit der Geschichte und hab mir eine Wirklichkeit zusammengebaut. Mein Vater war krachsauer über dieses Buch. Der hat mit mir ein Jahr kein Wort geredet. Der hat gesagt: Ich weiß, wie es gewesen ist, ich bin dabei gewesen, mich kannst du nicht belügen. Die andern kannst du betrügen, aber ich bin ein Zeuge." Erzähler: In Jurek Beckers Roman ist Jakob, der Held, ein Lügner, aber er lügt Hoffnung. Die verkehrte Welt des Ghettos wird von Jurek Becker in der Lügengeschichte aufgerufen und zugleich wird diese Welt mit den Mitteln der Sprache unterlaufen. Die sich auf deutsche Befehle gründende Ghettowelt ist nur eine endliche, aber keine endgültige Wahrheit. Jakob widerspricht ihr, indem er diese Wirklichkeit mit Lügen Lügen straft. Der Lügner ist im Recht, weil seine Lügen Einspruch gegen das Unrecht erheben. 7. O-Ton Jurek Becker, Track 5 (Ende), Track 6 "'Ich habe ein Radio!' sagt Jakob. Nicht die Posten haben geschossen. Die haben bis jetzt nichts gesehen, die sind beschäftigt mit ihrem Abwechselspiel, Jakob hat geschossen und ins Herz getroffen. Ein Glücksschuß, von der Hüfte und ohne richtig gezielt zu haben, und doch hat er getroffen. Mischa bleibt regungslos sitzen, die Russen sind vierhundert Kilometer von uns entfernt. [...] Ganz plötzlich ist morgen auch noch ein Tag. [...] 'Nimm dich zusammen und steh auf. Und vor allem halt das Maul. Du weißt, was das heißt, ein Radio im Ghetto. Kein Mensch darf davon erfahren.' Mischa wird den Mund nicht halten können, das ist klar. [...] Die Freude wird es sein, nichts anderes. Hört auf, euch das Leben zu nehmen, bald werdet ihr es wieder brauchen. Hört auf, keine Hoffnung zu haben, die Tage unseres Jammers sind gezählt." (J. B. Jakob der Lügner, S. 29f.) Erzähler: Den Keller, in dem Jakob angeblich das Radio versteckt hält, darf niemand betreten. Es ist kein Keller, in dem Leichen versteckt werden. Entgegen der sprichwörtlichen Bedeutung ist Jakobs Keller ein Hoffnungsraum, denn auf wundersame Weise wachsen aus ihm Visionen hervor, durch die jene, deren Todesurteil bereits gefällt ist, wieder ans Leben denken können. Der Roman kehrt die ursprüngliche Bedeutungszuweisung des Kellers um. In Jakobs Keller, einem Sprachlabor, werden Nachrichten erfunden, die Zuversicht spenden. In der verkehrten Welt des Ghettos, in dem der Ausnahmezustand herrscht, wird ein Lügner zum Verkünder. In einer Welt, in der alle moralisch-ethischen Werte ihre Gültigkeit verloren haben, widerspricht Jakob dem christlichen Gebot, dass man nicht lügen soll. Lügen wird unter diesen Umständen zur weltlichen Pflicht. Musik: Jüdische Musik, klagende Klarinette in Verbindung mit Orchester, sehr langsam, leise, bedächtig. Durchgehend verwenden. Erzähler: Der zweite Teil von Jurek Beckers Trilogie über die Shoah erschien 1976. Auch in dem Roman "Der Boxer" ist die Lüge ein zentrales Motiv. Aron Blank hat das Lager überlebt und er will mit dem geschenkten Leben im östlichen Teil Deutschlands einen Neuanfang wagen. Nach den Schrecken der Vergangenheit träumt Aron von einer besseren Zukunft. Sein Blick richtet sich nach vorn und nicht zurück. Er will nicht daran erinnert werden, was gewesen ist. Deshalb versucht er aus seinem Gedächtnis zu streichen, was er in den Lagern erlebt hat. Er ändert seinen Vornamen, sodass aus Aron Arno wird, und er macht sich um sechs Jahre jünger. Mit der Namensänderung kappt er seine jüdischen Wurzeln, durch die Verjüngung streicht er die Kriegsjahre aus seiner Biografie, die für ihn Lagerjahre waren. Weder seine Herkunft noch die leidvollen Erlebnisse in der Lagerhölle sollen ihm in seinem neuen Leben im Wege stehen. Deshalb belügt Aron, als er sich Arno nennt, die Behörden. Im Lügen hat ihn die Geschichte unterrichtet. Als es zum guten nationalsozialistischen Ton gehörte, Lügen zu verbreiten, war er eine Unperson, jemand, der keine Rechte hatte. Nun nimmt er sich das Recht heraus, in die Geschichte einzugreifen, indem er Vorkehrungen für die Zukunft trifft. Offen bleibt im Roman, ob Aron dem Glück nicht auch nachgeholfen hat, als er seinen Sohn wiederfand - wiederfinden wollte. Seine Frau starb im Lager, in dem auch sein Sohn war. Den Sohn wollte er sich nicht auch noch nehmen lassen. Aron erzählt einem Interviewer über sein Leben erzählt. 8. O-Ton J. Becker, CD 2, Track 1, 0:50 "Der Interviewer verdächtigt ihn, dass er ihm nicht immer Begebenheiten erzählt, die dem Vorgefallenen entsprechen. Aber er kann es nie beweisen." Erzähler: Was der Interviewer ahnt, wird für den Leser zur Gewissheit: Aron lügt. Er lügt, um nicht erinnert zu werden. Er lügt sich ein Leben zurecht und zugleich belügt er sich um sein Leben. Das macht seine Tragik aus. Er findet nicht in sein neues Leben, weil über dieses Leben bereits im Lager entschieden wurde. Sein so umsichtig geplanter Lebensentwurf scheitert nicht an seiner kleinen Lüge, sondern an der, die 1933 zur Staatsdoktrin wurde, und die die Welt zwölf Jahre lang in Angst und Schrecken versetzte. Im letzten Teil von Jurek Beckers Trilogie über die Shoah, dem 1986 veröffentlichten Roman "Bronsteins Kinder", steht wiederum ein Mann im Zentrum, der auf den Namen Arno hört. Arno, der, ebenso wie seine beiden Freunde, das Lager überlebte, hält in einem Waldhäuschen den ehemaligen SS-Mann Arnold Heppner gefangen. Heppner, ein KZ- Aufseher, soll bei privaten Verhören seine Verbrechen gestehen. Da er sich weigert, wird er von den ehemaligen Häftlingen geschlagen. Durch Zufall entdeckt Hans, Arnos Sohn, Heppner, der versucht, sich zu rechtfertigen. Zitator (B.): "Die fühlen sich immer noch umzingelt, die denken, dass unsereins auf eine Gelegenheit wartet, sie wieder in die Baracke zu stecken. Ich habe mir den Mund fusselig geredet, was für ein Nichts ich damals war. Aber so was glauben die einem nicht. [...] Er sagte: 'Nur noch eines: ich kann mir vorstellen, dass ich am Ende umgebracht werde. Nicht, dass sie es jetzt schon vorhätten, aber wie soll es denn weitergehen?'" (J. Becker: Bronsteins Kinder, S. 103ff.) Erzähler: Jurek Becker, der mit dem letzten Teil der Shoah-Trilogie den Anschluss an die unmittelbare Gegenwart herstellt, erzählt in "Bronsteins Kinder" von Opfern, die zu Tätern werden und von einem Täter, der zum Opfer wird. Während die Opfer die Jahre im Lager nicht vergessen können, lügt der Täter, der sich einredet, unschuldig zu sein. Vor diesem Hintergrund spitzt sich der Konflikt zwischen Arno und seinem Sohn zu. Hans, der Nachgeborene, hält die Selbstjustiz, die sein Vater und dessen Freunde üben, für Unrecht. Für Arno hingegen ist es eine Zumutung, wie gut Heppner mit dem von ihm mitverantworteten Unrecht leben kann. Als Hans sich schließlich entschließt, Heppner zu befreien, findet er im Haus seinen Vater, der tot am Boden liegt. Nicht Heppner, sondern Arno ist nicht mehr am Leben. Doch Heppner, der es eigentlich nicht gewesen sein kann, denn er liegt gefesselt auf dem Bett, ist dennoch einer der Täter. Juristisch trifft ihn an Arnos Tod keine Schuld, aber es wäre eine Lüge, wollte man behaupten, er sei unschuldig. Mit Arnos Ermordung ist sehr viel früher begonnen. Sein Tod war geplant. Am Schluss des Romans äußert Heppner, indem er auf den toten Arno zeigt, einen entscheidenden Satz: Zitator (B.): "Er hat den Schlüssel bei sich." Musik: Jüdische Musik, klagende Klarinette in Verbindung mit Orchester, sehr langsam, leise, bedächtig. Durchgehend verwenden. Erzähler: Falschen Realismus hat W. G. Sebald Jurek Becker vorgeworfen. Vor allem bemängelt er an Jureck Beckers Romanen "die faktische nicht sowohl als die emotionale Absenz des Autors". Zitator (S): "Verdächtig oft und ausführlich muss der Erzähler uns auch auseinandersetzen, wie er über die Ereignisse, von denen er berichtet, so genau Bescheid wissen kann - ganz als antizipiere er den Zweifel des Lesers an seiner Authentizität. [...] Diese Art von Legitimationsmanöver ist, auch bei ironischer Handhabung, bezeichnend für eine Erzählhaltung, der es an Glaubwürdigkeit gebricht, weil der Erzähler - aufgrund des unverbindlichen Verhältnisses von Autor und Text - in der von ihm erzählten Geschichte aller gegenteiligen Behauptungen zum Trotz einfach nicht vorkommt. [...] Becker bezieht nirgends in seinen Büchern eine exponierte Position. Die Radikalität der subjektiven Reaktion, die Kompromißlosigkeit [Primo] Levis und [Jean] Amerys sind ihm offenbar fremd. Sorgsam hält er sich aus allem heraus." (W. G. Sebald: Ich möchte zu ihnen hinabsteigen, SuF 2/2010, S. 228ff.) Erzähler: Jurek Becker gehört wie Primo Levi und Jean Amery zu den Überlebenden des Holocaust. Doch im Unterschied zu Levi, der 1919 geboren wurde und zu Jean Amery, der sieben Jahre älter als Levi war, kam Jurek Becker als Kind ins Ghetto und später ins Lager. In Levis autobiographischem Roman "Ist das ein Mensch?" und in Jean Amerys "Jenseits von Schuld und Sühne" werden die Torturen und Erniedrigungen, die sie als Häftlinge in den Todeslagern erlebten, unmittelbar, aus der Kenntnis des Vorgefallenen beschrieben. Noch im Lager hatte Primo Levi damit begonnen, sich erste Notizen für seine Aufzeichnungen zu machen, weil er Angst hatte, er würde das Geschehene vergessen können. Er erinnert sich. Seinen Roman versteht er als "Zeugenaussage". Triebfeder seines Schreibens ist die "Qual der Erinnerung". Jurek Becker hingegen schreibt sich an das Geschehene heran, weil er hofft, seine ausgelöschten Erinnerungen würden durch die schriftstellerische Arbeit wieder zum Vorschein kommen. Er ist weniger subjektiv präsent als Primo Levi, weil er erfinden müsste, wo Levi sich auf Erlebtes beziehen kann. Zitator (S): "Es ist Becker also, nach eigenem Zeugnis, bisher nicht gelungen, sich mit dem Schreiben seiner Romane Aufschluss zu verschaffen über die ihm aufgebürdete Last. Vielleicht könnte man sogar sagen, dass die Romane in vorbewußter Absicht so angelegt sind, dass sie das Aufsteigen der Erinnerung unterbinden. Dann wäre Beckers mangelndes Interesse am und im Text zu verstehen als ein Mittel der Selbstbehauptung gegenüber einer Wirklichkeit, die noch heute, ein halbes Jahrhundert nach den Ereignissen, das sich erinnernde Subjekt mit ihrer zerstörerischen Gewalt einholt." (W. G. Sebald: Ich möchte zu ihnen hinabsteigen, SuF 2/2010, S. 234.) Erzähler: Sebald ist nicht bereit anzuerkennen, welche Bedeutung die Authentizität für Jurek Becker besitzt. Seine literarische Perspektive muss die des Beteiligten ohne Erinnerungen sein. Keine andere wäre glaubwürdig. Primo Levi und Jean Amery ließ die "zerstörerische Gewalt" der Erinnerungen an das Lager nie los. Jean Amery beging 1978 in einem Hotel in Salzburg Selbstmord; Primo Levi nahm sich 1987 in seinem Turiner Wohnhaus das Leben. Täglich bekam er Post von Schicksalsgefährten aus aller Welt. Sie antworteten ihm auf die in seinem Buch "Ist das ein Mensch?" beschriebenen Qualen, indem sie ihm von ihren Leiden berichteten. Sie konnten, auch nach der Befreiung, dem Lager nicht entkommen. Diese Erinnerungslast kannte Jurek Becker nicht. Deshalb konnte er in seinen Romanen nicht wie Primo Levi oder wie Jean Amery sprechen. Er konnte es nicht aus Respekt vor ihnen. 9. O-Ton J. Becker, CD 1, Track 3, 9:38-9:52 "Es beschäftigt mich schon, dass in meiner Biografie ein sieben Jahre langes Loch existiert und ich schreibe so an diesem Loch herum. Erzähler: Jurek Beckers Erzähler ergreift in "Jakob der Lügner" nicht als Zeuge das Wort und auch nicht als Chronist. Der Autor lässt die Geschichte, die ein Geschenk seines Vaters ist, durch seinen künstlerischen Einfall zu einer anderen werden und macht sie erst dadurch zu seiner. Sie hat einen realen Kern und ist umgeben von Fiktionen. Als lügender Wahrsager ähnelt Jakob Heym seinem Autor Jurek Becker. Zitator (B): "Manchmal erfinde ich Erlebtes solange um, wie ich es gern erlebt haben möchte. Denn nicht alles, was ich erlebt habe, möchte ich ja gerne erlebt haben. Aber es ist einfach zu sagen, dass das, was ich schreibe, auf Erlebnissen basiert. Ich erfinde mir eine Geschichte zusammen, mache mir eine Geschichte zurecht, und nur insofern von mir Erlebtes für diese Geschichte von Belang ist, taucht es darin partiell auf. [...] Vieles, was in diesen Büchern vorkommt, sowohl Konstellationen wie auch [...] Theorien, sind nicht Resultate von Erleben, sondern Resultate von Interesse, von Recherchen, weil man damit beschäftigt sein will. Also eine Art nachträgliche Anteilnahme und nicht direkte." (Gespräch mit Jurek Becker, Text u. Kritik, S. 4.) Erzähler: Jurek Becker greift im Roman auf keinen allwissenden Erzähler zurück. Deshalb steht da, wo Sebald gern einen Imperativ lesen würde, ein Konjunktiv. Vorsichtig wägt er ab, was er sagt. Es ist eine Vorsicht aus Respekt denen gegenüber, die, anders als er, mit einer Kiste sie bedrängender und stets gegenwärtiger Erinnerungen leben müssen. Er aber weiß nicht einmal, wie die Jakobs Geschichte ausgegangen ist. Deshalb bietet er zwei unterschiedliche Schlussvarianten an. Zitator (B.): "Also zunächst ein Ende, das sich nie ergeben hat. [...] Zum Beispiel, Jakob hat alle Hoffnung aufgegeben, dass das Ghetto befreit wird, solange Juden noch darin sind und will folglich sein nacktes Leben retten. Oder er flieht vor den eigenen Leuten, vor ihren Nachstellungen und Anfeindungen, vor ihrer Wißbegier auch, ein Versuch, sich vor dem Radio und seinen Folgen in Sicherheit zu bringen. Das wären die wichtigsten Gründe, alle nicht von der Hand zu weisen [...], aber ich kann mir kein Herz fassen und Jakob auf einen von ihnen festlegen." (J. Becker: Jakob der Lügner, S.246/256) 10. O-Ton Jurek Becker, CD 1, Track 2, 11:14 "Das Ende des Buches ist ja ein grauenvolles und das Ende des Buches konnte ich mir nicht aussuchen." Regie: Zugfahrt, ratternde Räder, erst laut, dann leiser werdend, dem Zitat unterlegen Zitator (B.): "Aber nach dem erfundenen endlich dass blaßwangige und verdrießliche, das wirkliche und einfallslose Ende. [...] Dann fahren wir. In dem Wagon ist es sehr eng und stickig, die Juden hocken oder sitzen neben ihren fünf Kilogramm auf dem Boden, mindestens dreißig meine ich. [...] Bis ich Jakobs Stimme höre: 'Willst Du nicht endlich schlafen?' Laß mich noch ein bißchen stehen', sage ich. 'Aber du siehst doch gar nichts mehr', höre ich ihn sagen.' 'Doch.' Denn ich sehe noch die Schatten von Bäumen, und schlafen kann ich nicht, wir fahren, wohin wir fahren." (J. Becker: Jakob der Lügner, S. 259/270.) Musik: Jüdische Musik des Anfangs, klagende Klarinette ... 5 1