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Weil, das ist die Verantwortung, die man noch hat für den Jugendbereich, für die Mannschaften, für den Kreisfußballverband. Das zieht mich wieder hoch. Ich kann mich nicht gehen lassen. Funktioniert nicht. Fußballplatz Steinhoff Wenn ich keinen Sport hätte jetzt in meiner Situation, dann würd's mich nicht mehr geben. Das steht fest. Fußballplatz Sprecherin Andres Steinhoff steht auf einem Fußballplatz in Parchim. Zehn 13jährige laufen um ihn herum und versuchen, den Ball am Fuß zu halten. Fußballplatz, Steinhoff ...So jonglieren! Braucht ihr nicht laufen, könnt ihr Luft holen. Wer das so noch nicht packt, links, rechts prallen lassen bitte. Sprecherin Der Mann hat eher die Figur eines Langstreckenläufers. Er ist sehr schmal und hager. Das raspelkurze Haar schon grau an den Schläfen. Seine Augen sind so leuchtend blau wie sein Hemd. Parchimer Fußballclub steht quer über seiner Brust geschrieben. Zwei Nachwuchsmannschaften trainiert er selbst, für elf ist er verantwortlich als Jugendchef seines Vereins. Fußballplatz ...Klingelton Handy...Ja? Hallo? Weg. Ich bin noch Staffelleiter vom Kreisfußballverband, C-Jugend Großfeld, Kleinfeld, kümmere mich um sämtliche Spielansetzungen im Kreis in dieser Altersklasse. Telefon geht oft... Atmo Training weiter... Sprecherin 47 Jahre ist er. Die Hälfte seines Lebens arbeitet er ehrenamtlich als Fußballtrainer. Seit fast 20 Jahren ist er arbeitslos - trotz zweier Berufsabschlüsse als Bäcker und als Gartenbaufacharbeiter, trotz unzähliger Bewerbungen. Eine einzige Stelle bot ihm das Arbeitsamt in all der Zeit an, doch die hätte ein Auto erfordert. Das hat Steinhoff nicht. Er könnte es nie bezahlen. Zum Fußballtraining geht er zu Fuß oder nimmt das Rad. Platz, Steinhoff Sieben Tage die Woche. Sonnabend, Sonntag Punktspiel, dann mache ich noch Schiedsrichter bei den Kleinen, wenn ich selbst mal frei habe. Dann Montag bis Donnerstag Training. Und den Freitag lasse ich mir für mich persönlich um mal abzuschalten. Bin täglich hier von 13 bis 19 Uhr. Für nix. Alles ehrenamtlich. Dass man halt nicht zuhause sitzt. Und versucht, sich dadurch irgendwie wieder in feste Arbeit zu bringen. - So Jungs, jetzt macht mal hier. Wer von den Zwillingen? Die tricksen mich immer aus! Wer ist wer? Er hat schon weggeguckt eben... Atmo Fußball weiter... Sprecherin Männlich, rau und herzlich geht es zu. Wie auf einem Fußballplatz eben. Da müssen auch die Mädchen durch, die in der Mannschaft mitspielen. Doch die Kinder spüren genau: Die raue Schale, die ist nur außen. Sie können darauf vertrauen, dass ihr Trainer einer ist, der sich wirklich für sie interessiert. Der ihnen helfen will über die Klippen, die sich so aufbauen können in der Schule oder zu Hause. Über Klippen, die er selber gut kennt. Fußballplatz, Steinhoff Also wir reden sehr viel. Haben auch ein sehr gutes Verhältnis eigentlich. Bloß manchmal ist es so, man gibt den kleinen Finger und sie nehmen die ganze Hand. Ich gehe auch in die Schulen, Sprecherin Viele der Kinder, die im Parchimer Fußballklub spielen, haben es nicht leicht zuhause. Arbeitslose Eltern, alleinerziehende Mütter mit Minijobs, Migrantenfamilien. 500 Meter hinter dem Fußballplatz liegt die Parchimer Weststadt, ein Plattenbauviertel. Die Kinder der Einwanderer sind die ersten, die den Vereinsbeitrag von 19 Euro pro Halbjahr bezahlen, erzählt der Trainer, bei anderen er oft lange hinterherlaufen. Fußballplatz, Steinhoff Weststadt ist da oben, sozialer Brennpunkt, auch offiziell vom Landkreis erklärt. Und wir sind der erste Anlaufpunkt hier, weil wir ja günstig liegen. Wir sind genau Mitte zwischen Alt- und Weststadt. Und da sind wir auf die Idee gekommen über den Landessportbund, wir machen das jetzt das 5. Jahr: Stützpunktverein "Integration durch Sport". Sprecherin Integration durch Sport. Die Schlagzeile, die für Migranten gilt, deren Familien von einem nochmals reduzierten Hartz-IV-Geld leben müssen, gilt genauso für das Leben von Andreas Steinhoff. Und für das Leben vieler anderer, für die der Sport zu einem Strohhalm wird, an den sie sich klammern können, um nicht unterzugehen. Tausende Arbeitslose gibt es wie den Parchimer, die ihre viele freie Zeit unentgeltlich den Kindern der anderen widmen, Tausende, ohne die der Breitensport wohl zum Schmalspursport werden würde. Immer die Frage: Hast du Geld dafür oder nicht? Fußballplatz, Kinder Darauf Sprecherin Steinhoff hält der Sport am Leben. Doch viele Menschen in seiner Situation, und das ist die Mehrzahl, treten nicht wie er die Flucht nach vorn an, die Flucht in die Aktivität. Die meisten Langzeitarbeitslosen, die älteren zumal, halten wenig vom Sport treiben. Und auch wenig vom gesund leben. Sie sitzen damit oft in einer Falle: Wer wird sie je einstellen bei ihrem Gesundheitszustand und ihrer Fitness? Brandt Eines der größten Vermittlungshemmnisse ist einfach der Gesundheitszustand. Wir haben Tests gemacht, Befragungen in Gruppen zwischen 200 und 300 Personen im Jahr, die von uns begleitet werden wieder zurück in Arbeit. Und die Ergebnisse waren auch für uns deprimierend. Wir haben also festgestellt, dass so zirka 80 Prozent gesundheitliche Probleme haben, darunter noch mal 60 Prozent mit schweren gesundheitlichen Einschränkungen. Sprecherin Jürgen Brandt ist der Geschäftsführer der Regio-Vision GmbH in Schwerin. Im Auftrag der Arbeitsagenturen kümmert sie sich besonders um ältere Langzeitarbeitslose. Allein in der Landeshauptstadt Schwerin gibt es 2000 Langzeitarbeitslose über 50 Jahre. Status: Nahezu unvermittelbar. Brandt Diese ganz normalen Alterserscheinungen, die man ja auch bei normal arbeitenden Menschen hat wie Rückenprobleme, Kreislaufprobleme sind dort noch verstärkt. Und der Bereich psychische Probleme, der ist ganz besonders ausgeprägt, weil Langzeitarbeitslosigkeit dazu führt, dass man eine sogenannte soziale Isolation hat. Und wir sollen dann diese Personen in Arbeit vermitteln. Da geht es dann nicht nur um die normale Qualifizierung, Vorbereitung auf den Beruf. Sondern wir müssen die allgemeine Leistungsfähigkeit durch diese Gesundheitsangebote verbessern. Sprecherin Seit fünf Jahren läuft das Programm "Fit 50 Plus", ein Programm der Bundesregierung. Deutschlandweit gibt es 62 sogenannte "Beschäftigungspakte", die versuchen, Gesundheit und Sport mitzufördern statt den dritten Computerkurs, das vierte Bewerbungstraining oder den fünften Kommunikationskurs. Fitnessmaßnahmen vom Arbeitsamt sozusagen. Brandt Die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit bei den Personen, die wir hier haben, ist bei 10,8 Jahren. Durchschnittsalter 55. 10,8 Jahre Arbeitslosigkeit heißt: Hat man überhaupt noch Sportzeug? Wann ist man das letzte Mal aktiv gewesen? Und jetzt kommt jemand, der sagt: Ich möchte dich in Arbeit vermitteln, aber Voraussetzung ist, dass du auch fitter bist! Fitnessstudio, Ergometer Darauf Sprecherin Schwerin, ein Fitnessstudio am Rande der Stadt. Christiane Behm, Mitte 50, strampelt sich auf dem Ergometer, einem stationären Fahrrad mit Messgeräten, ab. Zweimal pro Woche kommt sie für das Programm "Fit 50 plus" hierher, zehn Monate schon. Am Anfang ging es ihr nicht so gut, erzählt sie. Das regelmäßige Training hat ihr geholfen. Behm Ich gehe auch allein hin. Und mir geht's auch besser. Das muss das Arbeitsamt mehr fördern. Tun sie aber nicht. Ich hab Halswirbelsäule, Bandscheiben schon gehabt. Und jetzt kann ich wieder weiter arbeiten. Sprecherin Wenn sie denn Arbeit bekommt. In ihrer Heimat hat sie keine Chance, und so treibt es die 56jährige Küchenhilfe immer für mehrere Monate im Jahr zu Saisonjobs nach Österreich. Studio Ergometer Sprecherin Zum ersten Mal wird in diesem Jahr das Programm "Fit 50 plus" wissenschaftlich begleitet. Das Institut für Präventivmedizin der Universität Rostock bittet die Teilnehmer am Anfang, in der Mitte und am Ende der "Maßnahme" zur Untersuchung. Dr. Steffi Kreuzfeld schaut besonders auf die klassischen Risikofaktoren: Bluthochdruck, Diabetes, Nikotin- und Alkoholabhängigkeit, Übergewicht. Dr. Kreuzfeld Durch diesen Wegfall des sinnhaften Arbeitens, der Struktur, der Tagesstruktur leidet die Gesundheit auch, insbesondere Selbstbewußtsein nimmt deutlich ab. Und das merkt man den Menschen auch an, wenn sie hier auf uns zukommen. Dass sie schon von der Körperhaltung, mit vorgebeugten Schultern so klein erscheinen. Im Laufe der Maßnahme stellt man da Veränderungen rein äußerlich fest. Wie die sich wieder gerade machen, wie sie ein Bewußtsein entwickeln, für ihre eigene Gesundheit selber zu sorgen. Laufband Sprecherin Ob Laufband, Fahrrad, Hantel, Rückenschule - jeder Teilnehmer bekommt von den Rostocker Ärzten ein auf ihn persönlich abgestimmtes Programm. Euphorie und Enttäuschung liegen immer nahe beieinander. Gitta vom Scheidt im Schweriner Fitnessstudio bekennt es schweißüberströmt. Gitta vom Scheidt Ich muss ganz ehrlich sagen: Ich hatte so ein bisschen Minderwertigkeitskomplexe, weil ich nicht den Erfolg erreicht habe, den ich mir versprochen habe. Hab´ gedacht: Was soll das alles? Bin ein bisschen depressiv gewesen. Aber gestern wurde ich wieder mächtig motiviert, und da hab´ ich mir gesagt: Ich mache weiter! Dr. Kreuzfeld Das ist ihnen auch so gänzlich abhanden gekommen, für sich selbst zu sorgen. Das müssen sie erst wieder verstehen, unabhängig davon, ob letztendlich ein Arbeitsplatz für sie am Ende der Maßnahme rauskommt. Dass sie aber trotzdem, unabhängig davon feststellen: Ich tu auch etwas für mich. Fitnessstudio Zirkeltraining, Musik, Trainer ...versucht mal, den Rhythmus wieder zu spüren. Erinnert euch, früher habt ihr auch mal getanzt. Geht alles...Musik weiter... Gitta vom Scheidt Ich hab´ gedacht, ich bin fitter, wie ich hier anfing. Ich hab´ früher mal Leistungssport gemacht, Geräteturnen. Da hat man natürlich ganz andere Ansprüche an sich. Aber es geht nicht mehr so schnell, ich bin 55 jetzt und wann habe ich aufgehört? Mit 26, als mein Sohn unterwegs war! Fitnessstudio ...und los! Immer gleich weiter machen, wen ihr gewechselt habt. Keine extra Pause für die Ausdauerstrecke... Sprecherin Ausdauer. Dranbleiben. Wieder aufstehen. Das sind Dinge, die man wieder lernen muß, wenn viele Jahre fast gar nichts ging. Die man über den Sport fürs Leben lernt, wieder erlernt. Holger Vowinkel, der mit den Schweriner Kursteilnehmern trainiert, sorgt dafür. Der Sportherapeut ist, obwohl etliche Jahre jünger als die meisten hier, so etwas wie der väterliche Ratgeber. Dem Sportkurs voraus geht ein Gesundheitskurs, in dem er zum Beispiel nicht nur über Ernährung spricht, sondern auch gemeinsam mit allen kocht. Vowinkel Der Anfang ist die Gruppenarbeit und das Gruppentraining, um die Leute dabei zu behalten. Um sie erst mal richtig aus ihrer Isolation rauszuholen, denn oft ist es nicht nur die Lethargie, nicht in Bewegung zu kommen, sondern oft ist es auch die Vereinsamung, die da sehr viel Defizite aufbaut. Und wenn man sieht, wie sie dann miteinander in Kontakt kommen, sich dadurch wieder gegenseitig motivieren, dann ist das stimmig vom Programm her. Fitnessstudio Training, Musik Vowinkel Da arbeiten wir mit den Leuten so intensiv, dass es sich auch innerlich als Erlebnis festsetzt. Und wenn sie das immer wieder auch in Lebensphasen reaktivieren können, in denen es ihnen nicht so gut geht, in denen wieder Rückschritte da sind, dann können sie sich halt selber helfen und wissen: Ach, ich könnte ja mal wieder diese Übungen machen. Oder: Damals hat mir das ja gut getan, vielleicht sollte ich doch noch mal losgehen. Und wie ich die Rückmeldung habe, erinnern sich viele daran. Raum Sprecherin Aus einem Kurs, der nach 10 Monaten beendet war, hat sich schon eine Gruppe gebildet, die gemeinsam weiter trainiert. Andere machen zu Hause weiter - auch ohne Trainer und Gruppe, weil sie spüren: Es tut gut. Vowinkel Und so Stück für Stück baut sich das auf, dass sogar Leute, die noch nie irgendwas mit ihrem Körper angefangen haben, die wirklich eine Anti-Sport- Haltung hatten früher, dass die in dem schon etwas höheren Alter. Oft sind sie ja schon fast 60, dann doch entdecken, dass das eine ganz neue Erfahrung ist für sie. Und dass sie etwas tun können, was sie vorher noch gar nicht so für möglich befunden haben. Training, Musik ...Musik...Trainer: Noch mal schön unten den letzten Zug, das ist das Wichtigste. Das letzte Stück noch mal richtig festhalten...Musik... Darauf Sprecherin Beim Training im Kreis, wo Hanteln, Geräte und Körper im Rhythmus der Musik bewegt werden sollen, fällt eine besonders schmale, kleine Frau auf: blonde, kurze Haare, eine modisch-rote Brille. Brigitte Jahnke, 58 Jahre alt. Sie will sich nichts fragen lassen, nur ihren Sport machen. Bei der Wiederbegegnung in Rostock, wohin sie zur Untersuchung ans Institut für Präventivmedizin gekommen ist, hat sie es sich anders überlegt. Sehr offen erzählt sie über ihr Leben. Jahnke Sie müssen sich mal vorstellen: Ich war 23 Jahre Alkoholikerin. Ich bin ja erst seit 5 Jahren trocken. Ich habe vorher ein - Scheißleben geführt. Da möchte man am liebsten streichen die 23 Jahre, kann man ja aber nicht. Ich bin auch erst jetzt aufgewacht, ich bin auch erst jetzt klug geworden. Natürlich, man glaubt nicht an sich selber. Ich hab nie geglaubt, dass ich es schaffe. Sprecherin Jemand hat es geschafft, nach vielen Rückschlägen. Aber was kommt dann? Eine Chance im Beruf hatte die studierte Ingenieurpädagogin nicht mehr. Zu DDR- Zeiten war sie für die gesamte Lehrlingsausbildung im Backwarenkombinat Schwerin zuständig. Als sie trocken war, stürzte sie sich in Minijobs: Putzen, alles, egal was, Hauptsache, etwas tun. Dann kam die Pflege ihrer alten Mutter hinzu. Da putzt sie auch wieder. Und nun eine Maßnahme vom Arbeitsamt für die Hartz-IV-Empfängerin: Gesundheit und Sport. Was das wohl soll, hatte sie am Anfang gedacht. Brigitte Jahnke Da habe ich gesagt, für mich kommt das gar nicht in Frage, ich hab´ die Zeit dafür gar nicht, weil ich meine Mutter pflege. Er sagte, es ist nur zweimal in der Woche und ich soll mir das mal angucken. Und dann habe ich es angefangen. Und natürlich geht man ja immer an Neues mit Vorurteilen ran. Aber das hat sich ganz schnell gelegt. Es ist ´ne ganz klasse Sache. Laufband Jahnke Es ist das erste Mal, dass einem das Arbeitsamt was Vernünftiges, was Gescheites, was Sinn hat, gegeben hat. Denn all die Lehrgänge, die ich sonst hatte: Ich hab´ nicht mal einen Praktikumsplatz gekriegt! Die waren wertlos. Das ist ein Papier, das man für nichts gebrauchen kann, ob man es hat oder nicht hat. Und das ist das erste Mal was für einen persönlich. Nicht nur, dass man in der Gemeinschaft ist mit den Leuten, sondern dass man persönlich von Mal zu Mal Erfolge sieht an sich selber. Zuerst war's ein Muss, weil das Arbeitsamt das ja so wollte. Sonst kriegt man ja weniger Geld. Und jetzt ist's ein Muss für mich. Dass ich hingehe, zweimal die Woche immer noch. Laufband Sprecherin Immer noch kommt Brigitte Jahnke zum Training, obwohl das Programm für sie nach den zehn Monaten beendet ist. Sie konnte bei der nächsten Gruppe mit unterschlüpfen. Doch sie bekommt nun kein Fahrgeld mehr für die Straßenbahn wie als offizieller Kursteilnehmer. 24 Euro für acht Fahrten hin und zurück. Und sie bezahlt die zehn Euro Monatsgebühr selbst, die die Regio-Vison mit dem Fitnessstudio für die Langzeitarbeitslosen aushandelte. 34 Euro im Monat für Sport auszugeben sind für einen, der abzüglich Strom, Telefon und Versicherung über nicht mehr als 200 Euro bar im Monat verfügt, sehr viel Geld. Da muss es einem wirklich schon sehr viel wert sein, dabei zu bleiben, auch ohne Druck oder Geld vom Arbeitsamt. Jahnke Man fühlt sich ein bisschen selber auch wieder was wert. Ist schon ein schönes Gefühl, wenn man in der Straßenbahn sitzt und man fährt zum Sport. Man fühlt sich anders. Man hat einen Termin. Und die ersten Termine sind ja mit Trainer, das ist ja noch Pflichtprogramm. Und das ist erst ein tolles Gefühl: Man muss ja. Man muss ja zu seinem Sport! Und man sagt das auch mit einem gewissen Stolz. Training, Sprecherin Die Rostocker Ärzte um Dr. Steffi Kreuzfeld registrieren nicht nur eine, wie sie sagen "erstaunliche" Änderung der medizinisch messbarenWerte, sondern vor allem auch einen Anstieg des sozialen Wohlbefindens. In ihren Befragungen erfuhren die Ärzte, dass Langzeitarbeitslose für Angebote der Krankenkassen oder Sportvereine meist nicht erreichbar sind. Ihr Fazit: Man muss sie dort abholen, wo sie sind: Bei den Bildungsträgern. Dorthin gehören solche Programme. Kreuzfeld Wir werden damit leben müssen, dass es immer Arbeitslose gibt. Und wir müssen für sie Möglichkeiten finden, wie sie trotzdem in die Gesellschaft integriert werden. Damit sie eben nicht so krank werden, wie wir das jetzt sehen. Ich finde es sehr traurig, dass Biographien durch das Thema Arbeitslosigkeit extrem unterbrochen und verändert werden. Fußball, Kinder Steinhoff Wenn ich keinen Sport hätte jetzt in meiner Situation, dann würd's mich nicht mehr geben. Das steht fest. Das ist so. Innerlich habe ich damit abgeschlossen. Weil, ich hab´ ja keine Zukunft. Ich lebe mit 200 Euro im Monat. Das ist gar nichts. Ich sage auch: Man kommt damit aus, aber man muss sich ganz, ganz doll einschränken. Also wirklich, sobald hier Hartz-IV-Diskussionen aufkommen, springe ich an die Decke. Es gibt viele, die nutzen das aus, natürlich. Ich habe sechs Jahre gebraucht, um bei der Möbelbörse mal ´n Antrag zu stellen - um diese Scham zu überwinden. Ich meide die Parchimer Tafel, obwohl mir das zusteht. Es ist nicht einfach. Sprecherin Andreas Steinhoff ist in seine kleine Trainerbude gegangen. Alles noch Original- DDR-Standard sagt er mit etwas verkniffenem Lachen und klopft auf Sprelacart- Tisch und Pappwand. Der Trainer ersetzt hier auch den nichtvorhandenen Platzwart, den sich der Parchimer Fußballclub nicht leisten kann. Was heißt: Klos putzen, Umkleideräume sauber halten, Hecken beschneiden, Wege harken, Rasen mähen. Entlohnung auch hierfür: Null. Jemand tut etwas für die Gesellschaft, trainiert deren Kinder, gibt vielen von ihnen Halt und räumt ihnen den Dreck hinterher. Sechs Tage in der Woche. Und gehört trotzdem nicht dazu. Steinhoff registriert es mit wachsender Verbitterung. Steinhoff Ich bin ausgeschlossen von sämtlichen kulturellen Veranstaltungen - wenn nicht gerade Sport. Da lerne ich ja die meisten Leute kennen. Aber ich war schon zig Jahre nicht mehr im Kino, zig Jahre nicht mehr auf dem Martinimarkt, geschweige Weihnachtsmarkt. Auch wenn man sagt: Man kann ja trotzdem durchgehen, aber es kostet alles Geld und man möchte auch Spaß haben. Friseur wird mir gesponsert von einem Bürger aus Parchim. Bis ans Lebensende - also solange, wie ich Hartz-IV kriege. Das ist mir zugesichert worden und wird jeden Monat bezahlt. Aber halt auch nur durch den Sport. Weil die wissen, was ich mache. Sprecherin Bis ans Lebensende - also solange, wie ich Hartz-IV kriege, hat Steinhoff gesagt. Ein Satz, der den Schrecken eines 47 Jahre jungen Mannes birgt, der sich bis zu seinem Lebensende als ein vom Staat Abhängiger sieht. Steinhoff Ich hab echt jeden Morgen zu tun um zu sagen: Junge, jetzt gehst du wieder raus, motiviert. Und das 365 Tage im Jahr. Weil, das ist die Verantwortung, die man noch hat für den Jugendbereich, für die Mannschaften, für den Kreisfußballverband. Das zieht mich wieder hoch. Weil: Ich kann mich nicht gehen lassen. Funktioniert nicht. Ich sitze nicht 24 Stunden in meiner Wohnung. Ich muss unter Leute kommen, muss raus kommen. Sonst hätte ich keine Chance. Ich bin ja auch schon ein paar Mal abgestürzt in den 20 Jahren, weil nichts mehr ging. Aber ich bin halt wieder alleine aufgestanden. Sprecherin Einmal in den 20 Jahren Arbeitslosigkeit hatte er eine "fast richtige" Arbeitsstelle: Mit Zuschüssen vom Arbeitsamt war er Sportstreetworker. Zwei Jahre raus aus Hartz IV. Jetzt hat Andreas Steinhoff einen neuen Traum. Steinhoff Das Projekt ist so angelegt, dass ich in Goldberg, Lübz und Parchim - das richtet sich direkt an Hartz-IV-Empfänger - hauptsächlich Hartz-IV- Empfänger - durch Sportkurse wieder fit mache für den Arbeitsmarkt. So ist es ausgelegt. Und Sportkurse heißt nicht Fußballspielen, sondern da hole ich mir dann Partner, das ist alles schon in der Vorbereitung, falls das mal was wird: Rückenschule, die Krankenkassen, Suchtberatung usw. Sprecherin Sport als Rettungsanker - seine eigene Lebenserfahrung, vielleicht kann er die vermitteln - wenn es was wird, das Projekt. Doch auch das wird nur wieder ein, zwei Jahre gehen, dann ist die vom Arbeitsamt geförderte Stelle zu ende oder ein anderer bekommt sie dann. Andreas Steinhoffs ganz großer Traum scheitert immer an einem Stück Papier. Ich bin der einzige lizensierte Übungsleiter beim Parchimer Fußballclub. Ich hab´ auch richtig ´ne C-Lizenz. Ich habe sämtliche Zertifikate gemacht, was Integration durch Sport betrifft, Fairness und all so was. Ich habe mich auf Stellen beworben, wie die Sportjugend, die Stelle ist frei. Da ist die Bedingung Diplom. Jeder sagt, ich könnte das machen nach 20 Jahren Erfahrung. Da wird immer ein Diplom verlangt und dann geht es nicht. Aber ehrenamtlich kann ich alles machen. Komplett. Fragt kein Mensch nach! Fußballplatz, Kinder Sprecherin Auf dem Platz draußen wartet die nächste Mannschaft schon auf ihren Trainer. Andreas Steinhoff klemmt sich einen Ball unter den Arm und läuft zu den Kindern auf den Hartplatz. Ein prüfender Blick auf den Rasen: Der müßte schon wieder gemäht werden. Die Räume in der Baracke bräuchten auch einen neuen Anstrich. Geld für Farbe gibt es nicht. Irgendetwas muss ihm einfallen... Fußballplatz ...so, kommt her, jeder einen Ball! So, Ball an Fuß und einlaufen! Los geht's!... ENDE Anschlussmusik Interpret: Mint Royale, Titel: From Rusholme With Love, Archiv Deutschlandradio Kultur 12