COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Forschung und Gesellschaft FuturICT Ein EU-Forschungsprojekt will die Gesellschaft "berechnen" von Maximilian Schönherr Dezember 2011 Webseite von FuturICT (englisch): www.futurict.eu Die Experten: Stefan Wrobel, Professor für praktische Informatik in Bonn und Leiter des Fraunhoferinstituts IAIS in Sankt Augustin Dirk Helbing, Professor für Soziologie an der ETH Zürich Paul Lukowicz, Professor für Informatik, Leiter des Lehrstuhls für eingebettete Systeme an der Universität Passau Albrecht Schmidt, Professor für Informatik, Universität Stuttgart Ich bin in meinem Büro, es regnet. Ich denke an meine Freundin Julia. Sie ist für vier Monate in Argentinien, hat ein Apartment in Buenos Aires gemietet. Wir skypen gelegentlich miteinander. Während es hier kalt ist, liegt sie im Bikini draußen auf der Veranda. Nur heute nicht. Vielleicht auch gestern nicht. Denn sie schreibt seit zwei Tagen nicht mehr auf Facebook. Wo steckst du, Julia? Dirk Helbing, Professor für Soziologie an der ETH Zürich Wir haben 30 Jahre lang die Globalisierung, den technischen Fortschritt vorangetrieben. Das ist natürlich auch in vielerlei Hinsicht wunderbar... Julia scheint in der Nähe einer "Estrada Nazaré" zu stecken, sagt mir das Ortungsprogramm auf meinem Computer. Dirk Helbing ...Aber es fehlt im Grunde genommen die Wissenschaft, die es uns erlaubt, diese globalen und stark vernetzten Systeme zu verstehen. Ich sehe, wo sie ist, weil sie ihr Mobiltelefon dabei hat, und das sendet Koordinaten ins Internet. Stefan Wrobel, Professor für praktische Informatik in Bonn und Leiter des Fraunhoferinstituts IAIS in Sankt Augustin Wir leben in einer Welt, in der immer mehr Daten entstehen. Wenn ich die Karte auf dem Bildschirm etwas weiter aufziehe, sehe ich über, also nördlich von der kurvigen Straße Nazaré ein großes Gelände: Ah, das ist ein Flughafen, aber welcher Flughafen? Der Internationale Flughaften von Sao Paolo. Ist das nicht Brasilien? Stefan Wrobel Wir hatten lange Zeit kein in irgendeiner Weise präzises Abbild der Sozialstruktur unserer Gesellschaft, dessen, was Menschen zusammenhält, was sie miteinander verbindet. Julia muss kurzentschlossen, ohne es bei Facebook oder sonst wo anzukündigen, ohne es über Twitter zu tweeten, von Argentinien nach Brasilien geflogen sein. Und siehe da, der rote Punkt setzt sich in Bewegung. Julia gleitet von der gelben auf die orange Linie, die Autobahn, und zieht auf dieser Linie Richtung Südwesten. Hat sie sich wieder ein Taxi genommen, statt den Bus? Fährt jetzt aber ziemlich langsam, das Taxi, nur so 32,2 km/h Stefan Wrobel Wenn Sie da zurückblicken auf soziologische oder auch psychologische Studien: Vor 10 oder 20 Jahren konnte man froh sein, wenn man diese Studien über einige Dutzende oder einige Hundert Leute durchführen konnte. . Später, in einem Internetcafé in der Innenstadt, meldet sich Julia wieder bei Facebook. Pünktlicher, aber etwas schaukeliger Flug, spontan von Buenos Aires nach Sao Paolo, ewiger Stau auf dem Weg in die Stadt - deswegen also so langsam. Stefan Wrobel Heute bilden soziale Netze auch diesen Aspekt unserer Realität zumindest ansatzweise ab, sodass das hochinteressante Informationen sind, aus jedem Blickwinkel. Und dann klingelt sie an, kostenlos, über Skype, Mordslärm um sie herum, und fragt, warum ich so spät immer noch im Büro hocke? Woher willst du das wissen, Julia, wo ich bin? "Du hast mir auch deine Koordinaten freigegeben! Und", fährt sie fort, "du machst in der letzten Zeit so komische Offroad-Schneckenfahrten vom Büro nach Hause!" Offroad? Schneckenfahrten? Achso, stimmt, ich probiere seit ein paar Tagen neue Wege mit dem Fahrrad aus, und das ging stellenweise querfeldein, das stimmt schon. Heute regnet es, ich fahr heute mit dem Bus nach Hause, Julia. Ist der Kaffee in Sao Paolo gut? Ich trinke keine Kaffee, sondern ne Limo. Willst du mal sehen? Da springt ein Fenster auf meinem Bildschirm auf, ich sehe eine sehr müde Julia in ihrem blauweiß gestreiften Kleid, die an einem Strohhalm aus einer Ingwer-Orangen-Limonade aus Deutschland - nuckelt. "Ich nuckel nicht." Dirk Helbing Es gibt eine Komplexitätsforschung, die aber weitgehend theoretischer Natur ist. Um das auf die reale Welt zu übertragen, braucht es sehr viele Daten. Aber es braucht auch eine neue Datenwissenschaft. Dirk Helbing, Professor für Soziologie an der ETH Zürich, und Stefan Wrobel, Leiter des Fraunhoferinstituts IAIS in Sankt Augustin. In dem, was Julia und ich und unsere Facebook- und Landkarten-Freunde so an Duftmarken im Netz hinterlassen, sehen die beiden Wissenschaftler Forschungsträume wahr werden: Endlich gigantische Mengen quasi offen herum liegender Daten von privaten Personen im Internet! Abbilder der Gesellschaft! Ah, da ist noch einer, Paul Lukowicz, Leiter des Lehrstuhls für eingebettete Systeme an der Universität Passau: Paul Lukowicz, Professor für Informatik, Leiter des Lehrstuhls für eingebettete Systeme an der Universität Passau De Frage, wie man aus dieser sehr sehr diffusen, täuschenden Information, die da in enormen Mengen ist, zuverlässiges Wissen extrahiert, das ist die wissenschaftliche Essenz dessen, womit ich mich in dem Projekt beschäftige. Und das Projekt heißt "FuturICT". Schreibt sich seltsam, nämlich wie die Zukunft, "Futur", gefolgt von drei Großbuchstaben I-C-T. Und wenn man ICT ins deutsche IKT übersetzt, wird es ganz ingenieurstrocken: "Informations- und Kommunikationstechnologie". FuturICT ist also ein Kunstwort, das zukünftige Computer- und Vernetzungsdinge in der digitalen Welt vereinen will. Wozu das Kunstwort? Um einem Call - einem Aufruf - der europäischen Union für ein Flagship- Programm - ein Leuchtturmvorzeigeprojekt - zu folgen. Dirk Helbing. Dirk Helbing FuturICT - Es ging letzten Endes natürlich darum, die Zukunft dieser Technologien zu definieren, also Visionen zu entwickeln. Insofern lag es nahe, das Projekt "Futur-I-C-T" zu nennen. Man kann es gleichzeitig auch "Futurict" nennen. Diese zwei Lesarten passen eigentlich ganz gut zu unserem Projekt. Der sehr hochgewachsene junge Professor in seinem Altbaubüro in Zürich spricht nicht besonders gern über das Projekt, er würde lieber mehr forschen. Aber er ist nun mal Projektleiter von FuturICT, als Mathematiker, der jetzt eine Professur für Soziologie in Zürich hat, ideal. Es geht um eine Milliarde Euro Fördergelder auf 10 Jahre. Das ist nicht viel im Verhältnis zu dem, was die EU und europäische Staatsregierungen in Elementarteilchenphysik, Gentechnik, Nanotechnologie, Rüstungsforschung oder Elektromobilität stecken. Aber immerhin so viel, dass sich eine ganze Reihe von Wissenschaftlern um diesen Geldtopf bemühen. FuturICT war der Favorit der ersten Ausschreibungsrunde. Im Jahr 2013 fällt die Entscheidung. Wir sprechen hier also über ungebackene Brötchen, aber wir sprechen über Themen, die die Zukunft in jedem Fall weitreichend betreffen. Bis das Projekt angenommen ist, muss getrommelt werden; unter anderem mit einer spacigen Webseite und einem Prospekt, der die Lettern "FuturICT" ökologisch grün auf seriösem Weltraumschwarz zeigt. Von dem Wort ziehen Fäden Richtung Planet Erde, tasten dessen Netzhülle wie mit Stethoskopen ab. Dazu der Claim: "Global computing for our complex world". Globale Informatik für unsere komplexe Welt. Klingt sehr schillernd, sehr futuristisch, ähnlich verführerisch wie in den 1980er Jahren die Künstliche Intelligenz - "KI". Die versprach damals, die menschliche Intelligenz in Computer zu gießen. Die Rechenleistung und Programmvielfalt nahmen vor 25 Jahren stark zu. Viele Zukunftsforscher und Philosophen - die Informatiker sowieso - hielten Computersysteme für möglich, denen man menschliche Fragen stellen und die diese dann beantworten konnten. Enorme Gelder flossen damals in diesen gescheiterten Traum. Nicht ohne Grund kommen viele der FuturICT-Wissenschaftler aus diesem alten Forschungsfeld der Künstlichen Intelligenz. Auch der Informatiker Paul Lukowicz. Paul Lukowicz Sagen wir so: Die klassische KI hat sich damit beschäftigt, die menschliche Denkweise, die menschliche Art, die Welt wahrzunehmen, nachzubilden. Man dachte, wenn man das Computern beibringt, können sie wie Menschen handeln. Davon hat man sich an vielen Orten jetzt verabschiedet, also, sag ich mal, den Anspruch, den Menschen nachzubauen, zurückgeschraubt, sich vielmehr auf das Funktionale beschränkt: Systeme zu bauen, die vernünftig mit der Umwelt umgehen können. Lukowicz im FuturICT Video auf Youtube (englischer Originalton) Paul Lukowicz Na gut, aber sie sagen in ihrem YouTube-FutureICT-Video, der Input wären menschliche Fragen an die Zukunft der Gesellschaft, dann passiert etwas in der Blackbox, und danach kommt die Antwort heraus. Das ist doch quasi das, was wir am Hirn exerziert haben, ohne großen Erfolg, und dasselbe sollen wir jetzt an dem Riesen-Organismus "Gesellschaft" praktizieren? Wie kann das klappen? Vor kurzem gab es einen Artikel im "Scientific American" über das Projekt, der hatte den Titel: "Die Maschine, die die Zukunft vorhersagt." Das ist eine reißerische, übertriebene Art und Weise, das, was wir machen, wiederzugeben. Das stimmt einfach so nicht. Die Funktionalität, die man in FuturICT hat, spaltet sich in drei Teilaufgaben. Die erste ist die, die der klassischen KI am nächsten kommt. Das heißt ich gebe jetzt eine frei gesprochene Anfrage ein - so etwas, wie ist die Stimmung im Land, oder wie ist das Konsumentenverhalten -, und das System analysiert diese Anfrage und versucht, sich daraus einen Sinn zu machen, welche Daten es suchen muss. Das ist etwas, das auch Fortschritte gemacht hat. Da ist sicherlich auch noch Forschung nötig. Aber auch da ist ein etwas anderer Anspruch als bei der klassischen KI. Wir wollen nicht die menschlichen kognitiven Prozesse nachbauen, sondern versuchen, solche Anfragen zu interpretieren. Das ist Punkt 1. Punkt 2 ist, dass das System so eine Anfrage "verstanden" hat - ich benutze das Wort "verstanden" mit Absicht vorsichtig, weil ich nicht in Anspruch erheben möchte, dass der Computer das so versteht, wie es der Mensch versteht, sondern dass der Computer einfach aus der Anfrage eine bestimmte Anforderung an das ableitet, was er tun soll. Wenn er das getan hat, geht er sozusagen in das Internet, in das Netz, und versucht, Daten zu sammeln, die ihm helfen können, die Frage zu beantworten. Wenn man zum Beispiel an das Konsumentenverhalten denkt, dann könnte man sich überlegen, etwa "Foursquare" oder andere Services anzugucken: Wo gehen denn die Leute hin, wie machen sie ihr Tracking [Bewegungsdaten], gehen sie in teure Geschäfte, gehen sie in billigere Geschäfte, gehen Sie essen, gehen Sie seltener essen? Und daraus versucht man, irgendetwas abzuleiten. Das Zweite ist sozusagen das Sammeln der Daten aus dem Netz. Und das Dritte ist, dass man diese Daten nimmt und sie in mathematische Modelle hineinsteckt, die versuchen, zum Beispiel eine Vorhersage darüber zu machen, wie sich das Verhalten weiter entwickeln wird, oder was aus diesem Verhalten für irgendwelche ökonomischen Fragestellungen folgt. So wie bei der Künstlichen Intelligenz Hirnforscher mit Informatiker zusammenarbeiten sollten, sind es also nun die Gesellschaftsforscher, die mit Mathematikern und Informatikern verschaltet werden. Dirk Helbing Also im Grunde genommen möchte das Projekt FuturICT drei Dinge zusammenbringen: Daten, Modelle und Menschen. Helbing interessieren zum Beispiel die Bewegungen von Menschenmengen, und er ist gerade mit einer Forschungsarbeit fertig, die zeigt, dass Menschen, je dichter sie gehen, umso stärker im Gleichschritt gehen. Die besten und üppigsten Daten über das Bewegungsverhalten von Menschen kommen aus dem Futtertrog, aus dem sich FuturICT speist, dem Internet, in diesem Fall aus dem Videoportal Youtube. Helbing lässt Computer die Positionen und Geschwindigkeiten der Personen ermitteln und simuliert dann die Bewegung von Menschenmassen in anderen Zusammenhängen, wie der Love Parade in Duisburg etwa. Die Bewegungen lassen sich aber auch mit Autos und Wertpapieren vergleichen. All diesen Systemen ist etwas sehr schwer Berechenbares gemeinsam, nämlich das plötzliche Umkippen, der Kaskadeneffekt, wenn sie vom geordneten in den chaotischen Zustand übergehen. Dirk Helbing Das heißt, wenn es eine lokale Überlastung gibt, dann führt das zu einer Überbeanspruchung des Systems und letzten Endes dazu, dass andere Komponenten auch überlastet werden können. Auf diese Art und Weise breitet sich das immer mehr aus. Stau auf der Autobahn? Genau das ist ein einfaches Beispiel, aber vielleicht in der Regel kein besonders Bedrohliches. Dagegen hat die Finanzkrise schon ein anderes Kaliber. Es braucht neues Wissen, um diese Probleme besser zu verstehen. Wir haben sowohl für die Autobahn, als auch für den innerstädtischen Verkehr völlig neuartige Lösungsansätze entwickelt, die darauf beruhen, dass man letzten Endes die Interaktion zwischen den Systemkomponenten verändert. Also zum Beispiel: Fahrzeuge, die mit Radarsensoren ausgestattet sind, die Abstände und Geschwindigkeitsdifferenzen messen und auf diese Art und Weise schneller und genauer auf Veränderungen in der Verkehrssituation reagieren können. Und das kann man auf eine Art und Weise machen, die letzten Endes den Verkehrsfluss stabilisiert und an Engstellen noch Kapazitätsreserven herausholt. Das heißt, autonome Systeme? Genau so ist das. Bereits wenn nur 10 % der Fahrzeuge mit einem solchen System ausgestattet sind, bringt das eine Verbesserung für den Gesamtverkehr. Bis zu einem gewissen Grade könnte man sich dann eben auch den Bau von zusätzlichen Spuren sparen. Das funktioniert wirklich erstaunlich gut. Und das Gleiche kann dann eben unter bestimmten Umständen auch in einem Markt- Kontext, zum Beispiel in Finanzmärkten passieren. Selbst wenn alle die beste Intention hätten: Wenn das System falsch konstruiert ist, oder wenn es sozusagen im falschen Parameterbereich betrieben wird, dann verhält es sich instabil, und früher oder später bricht es dann zusammen. Da kann sich dann auch keiner dagegen stemmen. Diese Zusammenhänge muss man verstehen. Paul Lukowicz Was die Modellierungsleute, mit denen ich jetzt in FuturICT interagiere, sagen, ist, dass eines der Probleme darin besteht, dass sich zum Beispiel Finanzmodelle darauf konzentrieren, wirklich nur die Finanzfaktoren - also irgendwelche Volumen von gehandelten Aktien und Einkommen - zu betrachten, während natürlich für die Entscheidung der Menschen viele viele andere Dinge eine Rolle spielen, wie etwa die Stimmung im Land ist, oder die Frage: Ist Griechenland nun pleite? Unsere Entscheidungen werden von vielen Dingen beeinflusst, und diese Dinge werden oft in den Modellen nicht gut genug berücksichtigt. ...führt Paul Lukowicz aus Passau als Grund an, in FuturICT neue mathematische Modelle zu entwickeln, die viel umfassender sind als das, was man bisher kennt. Sein Optimismus, dass das gelingen könnte, speist sich unter anderem aus der Länge des Forschungsprojekts. In 10 Jahren kann man ein so großes Vorhaben stemmen, meint er. Die Komplexitätstheorie, die dahinter steckt, erlebt durch die großen Datenmengen, die man zur Verfügung hat, gerade eine Renaissance. Sie ist der mathematische Kern von FuturICT. Paul Lukowicz Die klassische Fragestellung: Sie haben eine Gruppe von Leuten, die kooperieren alle miteinander, jeder verhält sich regelkonform. Plötzlich kommt einer daher und fängt an, sich nicht regelkonform zu verhalten, und er profitiert davon. Unter bestimmten Umständen breitet sich eben diese Nicht-Regelkonformität aus, und man bekommt eine Gruppe von Menschen, die sich im Prinzip alle nicht regelkonform verhalten und nicht mehr kooperieren, sondern gegeneinander kämpfen, wodurch es natürlich jedem schlechter geht. Und unter Umständen kommt dann wieder einmal die andere Phase, wo die Leute anfangen, zu kooperieren. Man kann jetzt mathematische Modelle aufstellen, die in Abhängigkeit davon, wie groß die Wahrscheinlichkeit dafür ist, dass jetzt jemand anfängt zu kooperieren, oder nicht, also gewissermaßen ein Modell für die Moral, wie groß der Nutzen dafür ist, dass die Leute kooperieren, im Prinzip sagen kann, unter welchen Umständen das Verhalten der Gruppe vom Kooperativen ins nicht Kooperative umschlägt. Oder umgekehrt, wenn Sie sich den Aktienmarkt angucken, da stellt sich die Frage: Wann kommt die Panik, dass jeder verkauft - wobei jeder verliert, wenn sie alle verkaufen, weil die Preise fallen -, und wann halten die Leute? Das sind also die Fragestellungen, die solche Modelle beschreiben können. Ein Modell ist ein Abbild der Wirklichkeit. Die Mathematik hat für die komplexen gesellschaftlichen Simulationen drei solcher Modellklassen in ihrem Werkzeugkasten. Die ersten beiden sind lange erprobt. Bei "Agentensystemen" setzt man sozusagen Pseudomenschen (oder Pseudowertpapiere oder Pseudoautos) in Form kleiner Computerprogramme in einen "Topf" und schaut, was passiert. Die einzelnen Agenten haben relativ wenige Grundeigenschaften aus der Kognitions- und Kommunikationswissenschaft, etwa dass sie bei Gefahr flüchten oder das Bedürfnis haben, andere zu beeinflussen, mitzunehmen. In der Summe kann man mit ihnen im Rechner das komplexe Verhalten von Massen simulieren. Solche Simulationen mit Agenten kosten viel Zeit und Rechenpower. Das zweite Modell betrachtet den Menschen nicht als Individuum, sondern als statistische Größe. Die Gleichungen dafür kommen aus der Hydrodynamik, sie beschreiben da Strömungen und Wirbelbildung in Flüssigkeiten. Der Grundgedanke besteht darin, dass der Einzelne zwar mikroskopisch frei und komplex entscheiden kann, wie er sich verhält, aber makroskopisch aus der Ferne betrachtet, geht das in einem Massenverhalten unter. Wenn ich mir am Ende der Party die Nase putze und die Jacke suche, ist das eine unbedeutende Einzeltätigkeit, denn ich ströme letzten Endes dann doch, wie alle anderen, mit einer mittleren Strömungsgeschwindigkeit durch die viel zu enge Tür ins völlig überfüllte Treppenhaus. Diese so genannten stochastischen Modelle kennt man gut, sie lassen sich rechnerisch gut handhaben, aber sie funktionieren nur gut, wenn alles schön vor sich hinströmt. Das eine Wertpapier, das an der Börse verrückt spielt, oder der einzelne Mensch, der im Treppenhaus Panik auslöst, liegen der Stochastik fern. Paul Lukowicz Und die dritte Art von Modellen sind so genannte Netzwerkmodelle. Sie sind gerade jetzt mit dem Internet und sozialen Netzwerken beliebt geworden und versuchen zunächst einmal zu analysieren, wie die Interaktions- und Kommunikationsmuster zwischen den Menschen sind. Wenn sie sich zum Beispiel Meinungsbildung ansehen, dann ist es relativ bekannt, dass sich Meinungsbildung in Internet-Foren nicht symmetrisch bildet, dass also jeder Mensch genauso viel dazu beiträgt, sondern dass Sie solche Knoten haben, die praktisch die Meinungsbilder darstellen. Die Art und Weise, wie sich solche Meinungs- oder Interaktionsnetzwerke bilden, entspricht überraschend wenigen bekannten Gleichungen. Der Appetit auf solche Modelle kommt vor allem daher, weil die Datenmengen im Internet so locken. Das, was Menschen mehr oder weniger öffentlich über Videoportale, soziale Netze, Kurznachrichtendienste wie Twitter, Blogs, also Internettagebücher, täglich preisgeben, Texte, Bilder, Videos, liegt im Bereich von Petabytes. Ein Petabyte sind eine Billiarde Digitalinformationen, das Tausendfache einer großen Festplatte von einem Terabyte. Facebook setzt nicht nur laufend neue Festplatten in seine Rechenzentren ein, sondern baut alle paar Monate neue Rechenzentren, weil die Datenmengen alles bisher Bekannte sprengen. Viele Daten lassen sich gar nicht mehr auf Dauer speichern und werden deswegen gelöscht oder auf bestimmte Relevanz hin untersucht und dann nur in Bruchteilen gesichert. Für Soziologen, Politiker, Mathematiker ein Datenparadies. Aber wenn ich genauer nachfrage, welche Daten zurzeit eigentlich konkret infrage kommen, wirkt das große FuturICT-Projekt ziemlich bescheiden. Machen wir ein Gedankenexperiment. Ich biete alle Facebook-Daten auf einmal an, komme mit einem Lastwagen voller Festplatten direkt ins Informatikinstitut der Universität Stuttgart gefahren und lade sie vor dem dortigen FuturICT-Beteiligten Albrecht Schmidt ab. Der auf Mensch- Maschinen-Interaktion spezialisierte Informatiker winkt, wie übrigens auch die anderen Experten, ab: Albrecht Schmidt, Professor für Informatik, Universität Stuttgart Ich würde zunächst einmal mit einem Rechtsanwalt reden, denn es ist natürlich datenschutztechnisch komplett unvorstellbar, dass man mit solchen Daten arbeiten würde. Sie können sie doch anonymisieren? Ich halte es für unwahrscheinlich. dass man es hinbekommt, diese Daten zu anonymisieren, weil eben sehr viele Informationen versteckt sind. Sie können natürlich den Namen und das Geburtsdatum rausmachen. Ein typisches Verhaltensmuster auf Facebook ist: Die Leute sagen, ich bin jetzt da, ich bin jetzt da, ich bin jetzt da. Dann können Sie relativ schnell auf Orte schließen, auch aufs Alter, und dann eben die Anonymität brechen. Das Zentrale ist, dass wir Daten schaffen, die uns ähnliche Möglichkeiten schaffen, die aber von vornherein darauf ausgelegt sind, dass sie eben anonymisiert sind. FuturICT ist ein explizit europäisches Projekt, und Albrecht Schmidt setzt sich dafür ein, europäische Datenschutznormen einzuhalten. Aber die neue Datenlage erfordere Anpassungen. Albrecht Schmidt Wir sehen, dass sich da im Moment ein Wandel auftut, insbesondere, wenn man soziale Netze oder die Datensammlungen auf mobilen Geräten anschaut, die privaten Datensammlungen. Das Stichwort hier ist "Quantify myself" oder "The quantified Self". Da versuchen Leute, mehr über sich zu verstehen. Sie nehmen Daten darüber auf, wie viele Schritte sie am Tag gehen, wie viele Kalorien sie zu sich nehmen, also eine große Mengen an Daten über sich sammeln, um darüber zu reflektieren. Und eine Frage, die mich jetzt insbesondere interessiert, ist, was passiert, wenn viele Leute, die sich interessieren, die Anwendung bauen können, wenn die den Zugriff auf die große Menge an öffentlichen Daten haben. Paul Lukowicz hat vor kurzem in einem EU-Projekt an das "Quantifizierte Ich" des Einzelnen appelliert. Und zwar bat er, doch Daten für ein Forschungsprojekt in England zur Verfügung zu stellen: Paul Lukowicz Es gibt in London etwas, das nennt sich "Lord Mayor's Show". Das ist ein großer Karneval, da sind eine halbe Million Leute auf den Straßen, und es ziehen verschiedene Wagen von Vereinen durch, also wie Karneval. Wir haben jetzt eine App für die Mobiltelefone der Leute geschrieben. Diese App gibt ihnen Informationen über die Show, wie sie dahin kommen können, wo welche Verkaufsstände sind. Gleichzeitig haben wir die Leute gebeten - das müssen sie bestätigen, und sie können das auswählen -, dass sie uns gerne zu Forschungszwecken periodisch ihre Location, also ihre Koordinaten geben, die wir dann anonymisieren. Und daraus haben wir dann so eine Art grafische Darstellung von der Dichte der Menschenmenge und wie sich die Menschenmenge bildet erzeugt. Der Sinn besteht darin, dass man zum Beispiel pro-aktiv solche Dinge, wie sie, glaube ich, in Duisburg [gemeint ist die Katastrophe bei der Love Parade im Juli 2010 mit 21 Toten] passiert sind, erkennen und verhindern kann. Aber es ist eben die Frage, wie kann man diese Daten von den Handys effektiv sammeln, und wie kann ich daraus Aussagen oder Vorhersagen darüber ableiten, was sich da in der Menschenmenge tut? Die Forscher baden genüsslich in diesen Datenmengen. Sie sind Voraussetzungen dafür, überhaupt auszuprobieren, wie viele Daten man in Echtzeit, also "live" speichern kann, welche mathematischen Modelle man darauf ansetzt und wie man die Lösungen wie schnell interpretiert. Hier gerät FuturICT in Konkurrenz zu einem bestehenden EU-Polizeiprojekt namens INDECT, wo versucht wird, etwa aus Überwachungskameras, aber auch in Internetforen auffälliges Verhalten Einzelner herauszufiltern. Pro-aktiv ist auch bei INDECT ein zentraler Begriff. Die FuturICTen sehen sich politisch jedoch auf der anderen Seite, auf der Seite der Bürger. Die Daten müssen freiwillig kommen, etwa von den Autofahrern, die ein Interesse an einer stau- und stressfreien Reise haben. Albrecht Schmidt: Albrecht Schmidt Das Fahrzeug ist im Moment ein Umfeld, in dem sehr viel Sensorik eingebracht ist. Wir haben sozusagen ein Gedankenexperiment, was passieren würde, wenn die Sensorik, die in einem Fahrzeug ist, alle Daten, die dieses Fahrzeug aufnimmt, in anonymisierter Weise nach außen mitteilt. Sie könnten dann in Echtzeit, zu jeder Minuten, jeder Sekunde, eine Karte der Straßen haben, in der Sie vermutlich jedes Schlagloch verzeichnet hätten. Das heißt, mit den Informationen, die alle zusammen sammeln, könnte ich dann eine ganze Karte bauen. Und es zeigt auch hier wieder: Da müsste nicht jeder mitmachen. Es ist eben wieder die Frage, wie viel Privatsphäre erlauben wir im Auto? Kann ich geheim halten, wo und mit welcher Geschwindigkeit ich fahre? Oder, wenn ich damit sozusagen pro Jahr 2.000 Verkehrstote weniger hätte, wenn ich wie im Flugverkehr immer sagen müsste, wo ich bin und mit welcher Geschwindigkeit, und wir dann irgendwelche, ja, ,große Algorithmen' hätten, die schauen, dass es keine Kollision gibt mit Fußgängern oder Wänden usw. - das sind Szenarien, die aufzeigen, dass da ein Werteproblem besteht, das wir als Gesellschaft lösen müssen, und zwar nicht als Technologe oder Sozialwissenschaftler, sondern als Gesamtgesellschaft. Alle Wissenschaftler von FuturICT eint, dass sie nicht auf Großrechner und nicht auf staatliche Datensammlungen bauen. Albrecht Schmidt Die Demokratisierung von Daten ist etwas ganz Zentrales. Ich möchte lieber in einem Staat wohnen, in dem Viele Zugriff auf viele Daten haben, statt eine ganz kleine Menge. Und wie aktuelle Beispiele zeigen, ist es eben sehr sehr schwierig zu kontrollieren, wenn Wenige Zugriff auf Daten haben und die Masse im Dunklen bleibt. Dirk Helbing, der Sprecher von FuturICT in Zürich, ist ein Fan des Volksentscheids. Er sieht in der Demokratisierung der Daten eine Chance der Bürger, ihre Gesellschaft besser kennen zu lernen. Er setzt auf das "Open Government", also auf ein transparentes, basisdemokratisches Regieren, von Behörden, die Daten aus ihren inneren Beständen im Internet freigeben. Dirk Helbing Letzten Endes braucht man nicht unendliche viele Daten, um bestimmte Zusammenhänge zu verstehen. So, wie wir gelernt haben, unsere Umwelt besser zu schützen, in dem Moment, als wir eben lernten, die Umweltschäden zu messen und zu quantifizieren. Das hat Bewegungen auf den Plan gerufen, die dazu geführt haben, unsere Umwelt besser zu schützen. Und das Gleiche sollten wir für unsere Gesellschaft. Aber als man wusste, welche Halbwertszeit Plutonium hat - das weiß man schon seit Ewigkeiten - hat es die Leute überhaupt nicht davon abgehalten, Kernkraftwerke zu bauen! Ja, das sind aber nun politische Entscheidungen, die eben dieses partizipative Element nicht eingebaut hatten. Im Kern aber geht es bei FuturICT dann aber doch um wirtschaftliche Interessen, und die könnten für die EU-Kommission das schlagende Argument sein, das Projekt in gut einem Jahr zum europäischen Forschungsleuchtturm zu erheben. Und dieses Argument lautet: Google. Albrecht Schmidt Wir weigern uns, darüber nachzudenken, erforschen dann auch nicht, haben dann auch keine Firmen. Und wenn die Technologie dann reif ist, kaufen wir sie ein; siehe im Moment Facebook, siehe Google. Wir haben keine vergleichbaren Firmen in Europa. Und dann versuchen wir heute, im Nachhinein unsere Werte, an denen wir, meine ich, schon alle hängen, den Unternehmen auch noch zu kommunizieren. Paul Lukowicz Wir wollen so etwas wie Google bauen, ein System, wo Sie eine Frage zu diversesten Themen stellen, und das System kann sich dann selber die Datenquellen zusammensuchen und die Fragen, ich weiß nicht, ob beantworten, aber Ihnen zumindest Informationen liefern. Albrecht Schmidt Und ich denke, deshalb ist es notwendig, Forschung in dem Bereich zu machen, weil wir schon in Europa Werte haben, die es auch sehr lebenswert machen, in Europa zu leben. Wenn wir aber immer abwarten, was die anderen tun, und es dann am Ende doch einkaufen, dann ist Forschung ganz zentral, mit einer europäischen Sichtweise auf den Datenschutz, die unsere Grundwerte schützt. Auch die Grundwerte meiner Freundin Julia, die jetzt gerade aus dem Café in Sao Paolo auscheckt und nach links geht. Warum nicht nach rechts, zum Park? Paul Lukowicz Ich spreche gerne von dem so genannten ,digitalen Schatten'. Heutzutage ist es so, dass jedes Ereignis in der reellen Welt einen Schatten, ein Echo in der digitalen Welt hinterlässt. Und die Frage, wie man diesen Schatten interpretiert, ist schwierig. Ich wähle den Vergleich mit dem Schatten mit Absicht, denn wenn Sie sich überlegen: Jedes Objekt hat einen Schatten, aber der ist mal klein, mal groß. Ein Schatten kann eine sehr gute Wiedergabe der Wirklichkeit sein, er kann aber auch wahnsinnig täuschen. Sie können in einem Schattentheater zwei Hände für einen Drachen halten. Und die Frage, wie man aus dieser sehr sehr diffusen, täuschenden Information, die da in enormen Mengen ist, zuverlässiges Wissen extrahiert. Das ist eigentlich die wissenschaftliche Essenz dessen, womit ich mich in diesem Projekt beschäftige. So, jetzt schalte ich das Ortungssystem meines Mobiltelefons aus und radle im Regen nach Hause, ohne digitalen Schatten. 2