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Sprecherin: Die politische Mitte hat in der Politik der Bundesrepublik von Beginn an eine zentrale Rolle gespielt: als Resonanz auf die traumatischen geschichtlichen Erfahrungen des Nationalismus, als Antwort auf die Zeit der Extreme in der Weimarer Republik . Gerd Langguth, Politikwissenschaftler. Take 3: Gerd Langguth Die CDU war eigentlich von Anfang an ausgesprochen die Partei der Mitte. Man muss sehen, dass die Mittepositionierung der CDU die Voraussetzung für Ihren gewaltigen Erfolg unmittelbar auch nach dem Krieg war. Sprecher: Konrad Adenauer trug seinen CDU-Mitbegründern auf, Selbstverortungen wie "rechts", "konservativ" oder "bürgerlich" beiseite zu lassen. Und sich bundesweit scheinbar unideologisch als eine "Partei der Mitte" zu bezeichnen, die mit der christlichen Weltanschauung verbunden ist und die dem Wunsch in der Bevölkerung nach Entpolitisierung sehr entgegen kam. Take Gerd 4: Langguth Wenn man in der Mitte steht, dann kann man natürlich leichter Positionierungen in bestimmten Fragen einnehmen. Mal in der Sozialpolitik mal linker sein, in der Gesellschaftspolitik mal konservativer sein, das war aber gleichzeitig immer die Voraussetzung des Erfolges, dass man eine Einsammelpartei von möglichst vielen Strömungen und Stimmungen in der Gesellschaft war, und dass das natürlich eher die Integration breiter Bevölkerungskreise ermöglicht hat. Man muss allerdings sehen, dass der Gedanke der Mitte früher auch, ja durch die Gegnerschaft zum Sozialismus sehr deutlich wurde und deswegen hat sich ja doch ein Teil der Diskussion um -was ist politische Mitte- auch immer als ein Gegensatzpaar zum real existierenden Sozialismus der DDR in der deutschen Diskussion entwickelt. Sprecherin: Die politische Mitte definiert sich also -nicht nur, aber auch- durch die Ausgrenzung der Ränder. Sie positioniert sich damit als Chiffre für das Gute und Richtige, für Gleichgewicht, Harmonie und Überparteilichkeit, für Maß und Ordnung. Die Mitte, das sind wir. An den Rändern, da hausen die anderen. Sprecher: Die Ränder wurden beispielsweise im KPD-Verbot von 1956 deutlich markiert. Von dem Urteil gingen ernsthafte Bedrohungen gegenüber allen Linksabweichlern aus, die auf das damalige linke Lager eben so abschreckend wirkten, wie der erstarkte Antikommunismus des kalten Krieges. Als Konsequenz entwickelte die SPD 1959 das Godesberger Programm mit dem die Partei ihren einstigen Charakter als "Klassen- und Weltanschauungspartei" aufgab. Die SPD richtete ihren Kompass an der politischen Mitte aus und avancierte so zu einem potenziellen Koalitionspartner auf Regierungsebene. Robert Zion, Politiker der Grünen in Nordrhein-Westfalen. Take 5: Robert Zion Die Mitte war der Grundkonsens in der bundesrepublikanischen Gesellschaft, es war ein ökonomischer Grundkonsens, durch permanentes Wachstum konnte man den Klassenkompromiss herstellen, man hatte relativ ausgebaute Sozialversicherungs- systeme. Dieser alte Grundkonsens hat damals immer die Mitte definiert, im Grundgesetz steht für mich nur ein einziger Satz: "Wohlstand für Alle". Alles andere ist- legalistischer Überbau. Das können Sie in Reden von Erhard und Adenauer könne Sie das so genau nachlesen, das sie sozusagen immer dann, wenn sie von dem was für Sie Politik ausmacht in dieser zu schaffenden Bundesrepublik, das ist alles rein ökonomisch definiert. Sprecherin: Das Wirtschaftwunder, der versprochene Wohlstand für alle schenkte der Bundesrepublik einen breiten sozialen Aufstieg. Große Teile der Arbeiterschaft entfernten sich von Klassenbewusstsein und Parteimilieu und begannen sich zu verbürgerlichen. Sie orientierten sich am Leistungsprinzip, dem Willen zum gesellschaftlichen Aufstieg vor allem durch Bildung. Willi Brandt und seine Genossen erkannten und umwarben diese neuen Zielgruppen: Eine Melange aus der Traditionswählerschaft mit den neuen Mittelschichten, ein Bündnis aus dem demokratischen Teil der ehemaligen Arbeiterbewegung und einem inzwischen politisch geläuterten sozialliberalen Bürgertum. Diese neue potentielle Wählerschaft der Sozialdemokraten repräsentierte - so die Hypothese - die Mehrzahl der Bevölkerung und wurde politisch verortet in der "Neuen Mitte". Zitator: Matthias Machnig Also zunächst mal: Die politische Mitte ist nicht existent, sondern die politische Mitte und deren Reklamation ist nichts anderes als eine politische Kampfformel, weil der jenige, der sich als Mitte definiert, definiert andere als nicht in der Mitte, also an den Rändern stehend. Das ist eine Frage von -nicht Mitte- sondern von Deutungshoheit und auch von Personen, die glaubwürdig für ein solches politisches Angebot stehen. Sprecher: meint Matthias Machnig. 1998 und 2002 Leiter der Kampa, der Wahlkampfzentrale der SPD, ein deutscher spin doctor. Zitator: Matthias Machnig Wenn man sich anschaut, dann im Laufe von Jahrzehnten, in der bundesdeutschen Geschichte, wo denn die Mitte, also die Mehrheit und die Deutungshoheit lag, so wird man doch verstehen, dass sich dieses verschoben hat, weil die Brandtsche Mitte, also die Brandtsche Deutungshoheit war doch eine völlig andere, als die von Konrad Adenauer. Take 6: Robert Zion Brandt hat ja die Bewegung der 68-er in die politische Klasse hineingeführt und das als Mitte definiert, oder als den Weg, den jetzt die politische Mitte zu gehen hat. Also es is´n historischer Prozess, der da stattfindet. Sprecherin: Mit der Inklusion der ehemaligen 68-er hatte die Mitte an kultureller Vielfalt gewonnen und war nach links gerückt. Bis das Pendel wieder zurückschlug. Die Mitte, die Deutungshoheit über die Mitte ist immer auch Spielball sich verändernder wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Konstellationen. So verlieren Ende der siebziger Jahre die meisten Sozialdemokraten in Europa die Mehrheit. Sprecher: In der der Bundesrepublik geschah dies 1982. Die Christdemokraten, die sich ohnehin qua Naturgesetz zur Regierungspartei berufen fühlten, gewannen die Deutungshoheit über die Mitte zurück. Helmut Kohl redefinierte die neue politische Mitte wieder zur alten politischen Mitte und selbstverständlich nannte er seine Koalition eine Koalition der Mitte und selbstverständlich entstand sie als bürgerliche Koalition im Bunde mit der FDP. Als Zünglein an der Waage galt diese damals als die mittigste Partei schlechthin. Aber es war Helmut Kohl der beispielhaft die Sehnsucht der deutschen Gesellschaft nach Mitte verkörperte. Sprecherin : Keine Ideologien bitte, Sprecher: höchstens die von der Freien Marktwirtschaft, Sprecherin: Keine Utopien bitte, Sprecher: höchstens die vom Mauerfall. Sprecherin: Dann fiel die Mauer. Systemalternativen, Ideologien und Utopien waren erst mal passé. Die politische Mitte galt als gewissermaßen eingelöste Utopie. Es war sogar die Rede vom Ende der Geschichte. Sprecher: In diesem alternativlosen Kontext versuchen die Sozialdemokraten sich neu zu positionieren, mehr noch, sich neu zu erfinden. Das Ergebnis ist der so genannte "Dritte Weg": Bill Clinton beschritt ihn 1992 mit den New Democrats. 1997 folgte Tony Blair mit "New Labour", und ein Jahr später rief Gerhard Schröder die "Neue Mitte" aus. Der dritte Weg sollte ein Mittelweg werden zwischen Reaganomics und Thatcherismus auf der einen Seite und den gescheiterten Projekten des Sozialismus auf der anderen. Sprecherin: "Innovation und Gerechtigkeit" lautet folglich der vielversprechende Slogan mit dem die SPD zurück an die Macht kommt. Take 7: Gerhard Schröder: Die neue Mitte hat sich entschieden, sie ist von der SPD zurück gewonnen worden, Sprecher: Bald darauf erscheint das Schröder/Blair Papier. Ein Modernisierungskonzept für die europäische Sozialdemokratie. Take 8: Tony Blair A manifest of the modernizing of the center-left and social democracy and for modernizing Europe Sprecherin: Ein Manifest zum dritten Weg welches postuliert: die meisten Menschen teilten ihre Weltsicht längst nicht mehr nach dem Dogma von Links und Rechts ein. Pragmatismus statt Ideologie so lautet das zeitgemäße Credo. "Ideologisch" steht von nun an für eine eingeschränkte Wahrnehmung der Wirklichkeit durch eine bestimmte, nämlich linke Brille. Pragmatisch steht dem zufolge für eine unideologische Wirklichkeitswahrnehmung. Tatsächlich aber ist das Schröder-Blair-Papier zutiefst ideologisch: Es nimmt eine Umwertung der sozialdemokratischen Grundwerte vor. Die bis heute nicht aufgearbeitet ist. Robert Zion von den Grünen. Take 9: Robert Zion Der Ausspruch, es gibt keine Ideologien mehr ist natürlich selbst hochideologisch, also es wird immer die Gegensätze geben, der Weltanschauungen, der Menschenbilder, auch der politischen Vorstellungen und Programmatiken und Konzepte, das werden wir nicht aus der Welt schaffen und das ist auch gut so, schon allein der Versuch, das aus der Welt schaffen zu wollen würde zu Totalitarismen führen. Der Ausspruch TINA: "There ist no Alternative", stammt ja von Margret Thatcher, und sie meinte in der Tat, das kapitalistische System ist alternativlos geworden, auf der realen Ebene ist es mittlerweile auch so. Man kann nur noch in ihm agieren, es gibt kein Außen mehr. Und da es keine Alternative mehr gibt, ist das sozusagen der Mainstream, die politische Mitte. Das ist ne konstruierte Mitte. Sprecher: Konstruiert ist diese Mitte nicht nur, weil sie politische Alternativen ausschließt. Die parteispezifischen Milieus lösen sich auf, die traditionellen Sinnstifter verlieren zusehends an Vertrauen - seien es Parteien, Gewerkschaften, Verbände oder die Kirchen. Ähnlich wie die Wähler immer weniger Unterschiede zwischen den Parteien finden, stochern diese im Nebel bei der Frage, wohin sich ihre ehemaligen Stammwähler zerstreut haben und konstruieren sich eine virtuelle Wählerschaft. Take 10: Gerhard Schröder Die politische Mitte, die wir für unsere Arbeit in Anspruch nehmen, ist der entscheidende Motor der gesellschaftlichen Modernisierung. Sie ist offen für alle, die teilhaben sollen und die teilhaben wollen. Von der Mitte aus wird die Gesellschaft politisch geführt, wohlgemerkt geführt, meine Damen und Herren, also weder verwaltet noch zurückgezerrt. Sprecherin: Einigkeit herrscht darüber, dass die gesellschaftliche Mitte, sprich die Mittelschicht, ein vielschichtiges Phänomen und Tummelplatz der Wechselwähler ist. In diesem Pool wollten die Sozialdemokraten 1998 Stimmen fischen: die der Leistungsfähigen, Flexiblen, gut Ausgebildeten, Eigenverantwortlichen. Ungelernte Arbeiter, Arbeitssuchende, oder Jugendliche ohne Ausbildung, also all jene, die einst mit zur Stammwählerschaft gehörten, sollten sich nur angesprochen fühlen, falls sie unbedingten Leistungswillen und Einsatzbereitschaft zeigen. Wieder einmal wurde der Vergleich des Sozialstaats mit einer Hängematte bemüht - als die er allerdings keinesfalls begriffen werden sollte. Take 11: Gerhard Schröder sondern begriffen werden muss als ein Trampolin in das man hineinfällt, von dem man aber raus geschleudert wird und werden muss. Take 12: Robert Zion Was war New Labour, was war der dritte Weg? Der dritte Weg war das Eingeständnis der Sozialdemokratie, den Umbruch der Gesellschaft nicht mehr mit ihren eigenen Konzepten händeln zu können. Die SPD hat sich in der Tat geflüchtet in: wir doktern jetzt daran rum, wir versuchen einen Anschein unseres progressiven reformerischen sozialdemokratischen Anspruchs zu bewahren. Aber im Kern war es: Deregulieren, Sozialstandards abbauen und das immer mit dem Erklärungsmuster des Pragmatismus unterlegt. Sprecher: Das klassisch historische Bündnisprojekt der SPD war stets die Allianz des unteren mit dem mittleren Drittel der Gesellschaft - unter dem Leitspruch von Solidarität und Gerechtigkeit. 1998 hatten die gesellschaftliche Mitte und die neue Unterschicht seit langem wieder ein gemeinsames Anliegen. Sie suchten politischen Schutz gegen die sozialen Verwerfungen der Globalisierung. Es wäre eine gute Zeit gewesen für die Neudefinition einer demokratischen Linken, die nach 1989 von der Last des kommunistischen Systems befreit war. Diese Chance ist vertan worden. Jedenfalls für die SPD. Matthias Machnig, Wirtschaftsminister in Thüringen, war der Wahlkampfleiter jener Jahre, heute fühlt er sich missverstanden. Zitator: Das Missverständnis besteht in Folgendem: dass die Einen verstanden haben, die politische Mitte ist ein Kampf um Deutungshoheit, bezogen auf 1998, auch der Versuch, Wählersegmente von der CDU nach 16 Jahren unmittelbar zur SPD zu holen. Jetzt haben einige das verstanden als inhaltliches Konzept.... Sprecherin: Dabei hatte schon Konrad Adenauer von Deutungshoheiten gesprochen, ein alter Hut also. Zitator: Es zeigt sich, dass das Verständnis von politischer Mitte, oder von dritten Wegen, wie sie eine Zeitlang proklamiert worden sind, sehr unterschiedlich interpretiert worden ist. Für die einen war das die wirtschaftsliberale Öffnung, für die anderen war es ein strategisches Auseinandersetzungsfeld, um Deutungshoheit zu besetzen. Sprecher: Gerd Langguth: Take 13: Gerd Langguth Ein Teil der Diskussion um die Fragen der neuen Mitte, war in der Tat eine Diskussion, die die Empfänger nie erreicht hat. Es war eher eine Diskussion esoterisch im eigenen Parteibereich hängenbleibend was überhaupt das Problem der politischen Parteien häufig ist, dass dort interne Diskussionen geführt werden, die dann letztlich in der Breite der Öffentlichkeit überhaupt nicht ankommen. Und das war auch mit der Diskussion um die neue Mitte so. Sprecherin: Schon ein Jahr nach dem Wahlsieg platzte das nur für diesen Sieg konstruierte Bündnis von Modernisierern und Schutzbedürftigen, von Gewinnern und Verlierern mit dem Abgang von Oskar Lafontaine. Er sah in der neuen Mitte kaum noch Raum für genuin sozialdemokratische Politik. Sprecher: Immerhin räumte Sigmar Gabriel, der heutige Parteivorsitzende der SPD schon 2003 ein: Take 14: Sigmar Gabriel: Mein Eindruck ist, das wir den Kontakt zu den Leuten verloren haben die eigentlich unsere alte Mitte gewesen sind. Wir haben uns sehr um die neue Mitte gekümmert. Wir haben aber offensichtlich vergessen, das ein Koch in Deutschland 800 ? netto Einkommen hat und wenn er zwei Kinder hat, dann muss er heute zehn Prozent seines Einkommens für Kindergartenplätze ausgeben. Liebe Genossinnen und Genossen. Das ist ein Problem, warum wir bei denen nicht mehr verstanden werden. Take 15: Robert Zion Ob die SPD ihre Klientel verraten hat, da bin ich mir nicht so sicher, ich glaube, sie hat ihre Klientel neu zu definieren versucht, und ganz einfach diejenigen, die raus gefallen sind aus dem Prozess, links liegen lassen, im wahrsten Sinne des Wortes links liegen lassen. Und die parlamentarische Repräsentanz ist jetzt da dieser Menschen und vielleicht hat auch der Umgang mit der Linken gerade auch damit zu tun, dass man in der SPD genau weiß, dass sie da die Ergebnisse ihres eigenen Fehlverhaltens plötzlich im Parlament sitzen haben. Musik Sprecherin: Doch wie verhielt es sich damals eigentlich mit Bündnis 90/die Grünen? Schließlich saßen sie mit auf der Regierungsbank. Als linke und Friedenspartei haben sie die Mehrzahl der sozial unfreundlichen Gesetze -devot und tapfer zugleich- mit exekutiert. Robert Zion ist einer der wenigen Grünen, die die damalige Regierungsbeteiligung kritisch sehen. Take 16:Robert Zion Die Grünen, das ist wirklich eine hochinteressante Frage. Weil, als wir 1998 mit der SPD in die Regierung gingen, haben wir uns erstmal ergeben in diese Antwortlosigkeit der SPD. Die SPD hatte ja noch die Situation, dass sie den Links- oder traditionssozialdemokratischen Flügel mit Oskar Lafontaine stark repräsentiert hatte und diesen Dritten- Weg- Flügel mit Schröder. Und wir haben das erstmal so hingenommen und die Situation war nicht lösbar und dann kam irgendwann die Linksabspaltung der SPD und dann haben wir uns auf diesen dritten Weg, der ein Holzweg war, mitbegeben. Take 17: Gerd Langguth Die Entwicklung der Grünen ist ja sehr interessant. Die Grünen waren ursprünglich eine eher linksradikale nicht völlig extremistische Partei, sie kam aus einem bestimmten Milieu, aus einem bestimmten Lager. Wenn man die TAZ, die damals den Grünen nahestand, heute liest, wird man die gewaltige Veränderung der Grünen ansehen können, eine Entwicklung von einer Antiparteienpartei hin zu einer Partei, die ich mal als neobürgerlich bezeichnen möchte. Take 18: Robert Zion Man muss sich ja mal vorstellen, als die Grünen zum ersten Mal 1980 war es glaub ich, in den Bundestag eingezogen sind, die mussten ja durchs Spalier gehen, das war ja richtig schlimm. Und dieser Mechanismus von der totalen Ablehnung bis zur Affirmation, der ist ja sogar verständlich, finde ich. Sprecher: Dazugehören, mitregieren. Ohne den Weg in die politische Mitte zu gehen, scheint das -insbesondere auf Bundesebene- nicht möglich. Dabei hatten die Grünen durchaus originäre Konzepte für den Wandel von der Industriegesellschaft in eine postmaterielle Gesellschaft, standen für einen Arbeitsmarkt mit Grundeinkommen. Take 19: Robert Zion Das wurde allerdings aufgegeben, um eben mit der SPD regierungsfähig zu werden, bei den Grünen ist das ein wichtiger Begriff, es geht immer um Anschlussfähigkeit. Wir können keine gesellschaftlichen Konflikte stilllegen mit unserem Wählermilieu, wie die SPD das kann, oder die CDU, wir können immer nur Avantgarde sein, politische, das ist ja eigentlich unsere Rolle- und das ist das Problem, das die Grünen haben. Das wiederholt sich auch jetzt aktuell mit der Frage Schwarz-Grün, Ja oder Nein. Wenn wir diese Rolle, die wir haben, aufgeben, immer mit der Prämisse, wir müssen anschlussfähig sein, Ja, dann muss man sich irgendwann die Frage stellen: wozu dann noch grüne Partei? Wenn die Grünen immer nur das Korrelativ zu den anderen sind und nicht mehr das Korrektiv. Sprecherin: Da liegt die Annahme nahe, dass auch die Grünen inzwischen zu einer Allerweltspartei geworden sind. Programmatisch breit genug aufstellt, um am Tisch in der Mitte teilzunehmen an der Koalitionslotterie, wo jeder mit jedem kann. Take 20: Renate Künast Das zeigt uns was: Dass in Stadt und Land die Grünen in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind. Sprecher: 2001 erreicht der Zirkus um die politische Mitte seinen vorläufig grotesken Höhepunkt. Franz Müntefering führt in der Frankfurter Rundschau aus: Sprecherin: "warum für die CDU in der Mitte kein Platz ist". Sprecher: Darauf hin entspinnt sich in der Zeitung ein Disput zwischen CDU und SPD, bestehend aus 6 Beiträgen in Sachen Deutungshoheit über die politische Mitte. Mit von der Partie war auch Jürgen Rüttgers. Take 21: Jürgen Rüttgers Die neue Mitte ist das Spielfeld von Herrn Schröder, das ist ein Konstrukt, die gibt es in der Wirklichkeit gar nicht. Aber natürlich gibt es einen Kampf um die politische Mitte und die ist da, wo Wahlen gewonnen werden und das ist schon wahr, das Schröder versucht, die CDU aus der Mitte zu vertreiben. Sprecherin: Und umgekehrt. Eine derartige Übereinstimmung der politischen Basisideen zwischen den Fraktionen, mehr noch, zwischen Regierung und Opposition hatte es in der deutschen Parteiengeschichte zuvor noch nicht gegeben. Sprecher: Die große Koalition 2005 war, so kann, aber muss man es nicht sehen, eine logische Konsequenz. Inhaltlich ähnlich entkernt wie die beiden großen Parteien, ist die politische Mitte auf die sie sich berufen. Das Resultat davon ist eine personalisierte Mitte in Gestalt der Bundeskanzlerin Angela Merkel. Der Vorsitzenden einer, wie es bis heute heißt, "sozialdemokratisierten Union". Der SPD fällt die Rolle vom Hasen zu. Sprecherin: So sehr sich die SPD auch mühte, die Kanzlerin war immer schon da. Die Union musste sich auch kaum bewegen, um der SPD das Mitte Territorium abzuluchsen. Die SPD unter Schröder war schon weit genug nach rechts gerückt. Deutungshoheitsvolle Worte genügten. Take 22: Angela Merkel Wir sind offen für Neues und bewahren Bewährtes. Das ist der Kurs der Mitte. Die Zukunft Deutschlands liegt in der Mitte. Ganz gleich, welche Kapriolen andere drehen, wir halten Kurs. Da, wo die Mitte ist, sind wir und da, wo wir sind, ist Mitte. Sprecher: ruft Angela Merkel den fast 1000 Delegierten auf dem CDU-Parteitag 2007 zu. Mehr als 35-mal beschwört Merkel in ihrer Rede die "Mitte". Mit irgendetwas muss man ja punkten, wenn die Unterschiede so rar sind. Take 23: Gerd Langguth Ich sehe wenig Möglichkeiten aus dem Dilemma der Mitte und das ist ein Dilemma, herauszukommen, weil jeder in der Mitte sein will und jede Partei die sich von der Mitte entfernt, nicht mehrheitsfähig ist. Ich sehe nur insoweit einen Ausweg, als jede Partei verpflichtet ist, die der Mitte zugehörig ist auch ihre geistigen Grundlagen zu offenbaren und nicht nur eine reine pragmatische Machthuberei vorzunehmen, man muss schon das Gespür, das Gefühl haben, dass Parteien wissen was es bedeutet, wie die Gesellschaft der Zukunft ausschaut. Sprecherin: Pragmatische Machthuberei. Auf diesem Zug fuhr schon Gerhard Schröder. Die Bundeskanzlerin brauchte nur noch aufzuspringen. Gerd Langguth, ehemaliges Mitglied des CDU-Bundesvorstandes hat eine Biografie über Angela Merkel verfasst und beschreibt sie als: Take 24: Gerd Langguth Eine unideologische pragmatische Problemlöserin. Sie liebt überhaupt keine ideologischen Auseinandersetzungen, das hat ihr übrigens auch ein Großteil der Sympathien in der Bevölkerung eingebracht. Das Versprechen der Politik nach Sicherheit, auch nach ökonomischer Sicherheit, das ist das, was jeden Politiker, egal ob er oder sie links oder rechts oder in der Mitte oder wo auch immer steht. Dieses Versprechen ist letztlich das entscheidende Versprechen, das begann schon auch mit Clinton, wie er den berühmten Satz gesagt hat: It´s the economy stupid, es ist die Wirtschaft, Dummerchen. Sprecher: Aber welche Wirtschaft? Mit der Behauptung, es gebe keine linke oder rechte Wirtschaftspolitik, sondern nur eine richtige oder falsche bzw. eine moderne und eine altmodische, hatte schon Gerhard Schröder unnötig Verwirrung gestiftet. Folgt man den Gewerkschaften, hat die SPD das bessere Konzept. Die Mehrzahl der Arbeitgeber hingegen sieht die Wirtschaftkompetenz bei den Unionsparteien. Es geht also um verschiedene Interessen. Um politische Ideologie. Sprecherin: Von einer Ideologie leiten lässt sich auch die angeblich unideologische Kanzlerin. Es ist ihr Wachstumsglaube. Die Mitte unter Merkel ist Name für ein fragwürdiges wirtschaftliches Erfolgsversprechen, das nur unter der Bedingung forcierten Wachstums eingelöst werden kann. Wieder einmal an die Wand gemalt wird eine Mitte ohne Alternative, eine Mitte, die einer Drohung gleichkommt: Nur mit Wachstum können wir den Sozialstaat aufrecht erhalten. Diese Drohung appelliert an die Abstiegsängste der breit gefächerten Mittelschicht, und verschärft damit die Gefahr von Verteilungskämpfen. Sprecher: Die Politik der Wachstumsbeschleunigungsgesetze umgibt der fiskalische Ernst einer Haushaltsfrage. Sie besteht aus administrativen und organisatorischen Problemen. Es geht um Kilometer, um Jahre, um Netto und Brutto, um Humankapital und Krämergeist. Take 25:Robert Zion Es würde auch eine Entwicklung bestätigen, die in die Richtung geht, dass Politik immer mehr ja Verwaltung wird, Verwaltung eines angeblich objektiven vorgegebenen Sachzusammenhangs, wo es dann sachliche Lösungen gibt, wo dann rein instrumentelle Vernunft von Nöten ist, aber so, was politische Ziele, Idealvorstellungen, der ganz normale politische Wille an Gültigkeit verliert. Sprecherin: Der soziale Aufstieg, der ersten drei Nachkriegsjahrzehnte, der Fahrstuhl, in dem Willy Brandts neue Mitte nach oben fuhr, schaltete ab den 80-er Jahren in die Gegenrichtung um, nach unten. 1998 konnte die SPD einen Teil ihrer Stammwähler für die neue neue Mitte zwar noch mobilisieren, aber eine politische Heimat bieten konnte sie ihnen nicht mehr. Musik Sprecher: Die Unionsparteien sind auf die Zukunft auch nicht besser vorbereitet. Noch zehren sie stärker als die SPD von den Traditionsmilieus, von den älteren Bürgern, denen das christliche Weltbild noch heilig und die klassische Familie lieb und teuer sind. Doch die großen gesellschaftlichen Trends: Pluralisierung der Lebensstile und Individualisierung gehen auch an den Christdemokraten nicht spurlos vorbei. Auch ihre Politiker bleiben inzwischen Singles, leben in Patchworkfamilien oder bekennen sich zur gleichgeschlechtlichen Beziehung. Sprecherin: Der wirtschaftsliberale Flügel der CDU hat mit all dem am wenigsten Probleme und wird momentan von der FDP gut bedient. Die Konservativen murren, einige drohen gar mit der Gründung einer Partei rechts der Mitte. Take 26: Gerd Langguth Es gibt immer weniger Flügelpersönlichkeiten, und Angela Merkel muss als Parteivorsitzende irgendwie sehen, dass sie auch ihrer eigenen Basis die Motivation bringt: was ist eigentlich heute noch in der Welt der Gegenwart noch das spezifisch Christlich Demokratische. Ein klassischer Christdemokrat hat zum Beispiel eine andere Einstellung zur Bundeswehr, nämlich in der Regel eine sehr positive, überhaupt zum Staat, ein klassischer Christdemokrat hat immer eine relativ offene Beziehung zur Notwendigkeit der inneren Sicherheit, dass die vorhanden sein muss und natürlich, was die ökonomischen Fragen angeht, ja immer auch ne Verbindung zur Sicherheit der Arbeitsplätze. Sprecher: Der sozialkatholische Flügel der CDU kommt kaum noch vor. So, wie das Christliche überhaupt - außer in Sonntagsreden- zunehmend nur als Träger der Leitkultur angerufen wird. Sprecherin: Angela Merkel liegt mit ihrem progressiven oder sanften Konservatismus durchaus im europäischen Trend. Als Antwort auf den Rechtsrucks der Mitte-Links-Parteien in den 90- Jahren drifteten die Mitte- Rechts-Parteien dann inhaltlich nach links. Sie attackieren, nein sie umarmen nachgerade die Mitte- Links- Konkurrenz auf deren eigenem Territorium: Dem Sozialstaat. Mit ihrer - unstrittigen - Wirtschaftskompetenz, so das Argument, seien sie für dessen Bewahrung besser geeignet als die Sozialdemokraten. Take 27: Angela Merkel Wir werden die Kraft sein, die Kraft der Mitte, die Kraft, die darauf achtet, dass auf der einen Seite wirtschaftliches Wachstum in unserm Lande möglich ist, und auf der andern Seite aber die Interessen aller Menschen auch wirklich durchgesetzt werden. Sprecher: In Schweden, dem Wohlfahrtsstaat per se ist diese Rechnung für die Moderaten, wie sich die Konservativen dort inzwischen nennen aufgegangen. Sie haben ihren Wahlkampf an der Tatsache ausgerichtet, dass der Wohlfahrtsstaat den Schweden ein unumstößliches Anliegen ist. Auch David Cameron, der neue englische Premier von den Tories hat seine Partei inhaltlich neu ausgerichet. Er hat das ausgefuchste Kampagnenmodell von Tony Blair inhaltlich neu gefüllt und dann Labour mit eigenen Waffen geschlagen. Von George W. Bush entlehnten Camerons Spin Doctoren noch den Slogan des "compassionate conservatism". Der steht derzeit in Europa hoch im Kurs. Mitfühlender Konservatismus? Das kann unsere Kanzlerin auch. Take 28:Angela Merkel: und auf der andern Seite aber die Interessen aller Menschen auch wirklich durchgesetzt werden und wir ein Herz für all diejenigen haben, die auch Hilfe und Solidarität brauchen. Take 29:Gerd Langguth Wenn ich meine Studentinnen und Studenten frage, man möge mir doch mal den Unterschied zwischen SPD und CDU/ CSU nennen, dann ist es teilweise schon außerordentlich schwer. Weil natürlich sich die politischen Parteien in der Rhetorik bis hin zu den Zielsetzungen zumindest vordergründig annähern. Und was mir auch auffällt ist, dass die leidenschaftlichen Diskussionen, die ich teilweise, ohne zu behaupten, dass früher alles besser und schöner war, aber die ich teilweise in meiner Jugend erlebt habe, wo auch noch über Systemalternativen diskutiert wurde, dass diese Leidenschaft eigentlich weitgehend nachgelassen hat und wenn unsere Demokratie und auch die Zukunft unserer Gesellschaft allzu vielen gleichgültig ist, wenn also hier kaum noch wirklich Leidenschaft entwickelt wird, dann sehe ich auch Gefährdungen für die Demokratie. Take 30 :Robert Zion Also die Formulierung von Alternativen und auch Widersprüchen ist ja eigentlich der Sinn und das A+O des Parlamentarismus. Wenn das nicht mehr möglich sein soll, und wenn alle nur noch über das Regieren reden, ja dann können wir ja gleich die Monarchie wieder einführen. Spr. vom Dienst Wir sind Mitte oder die Angst vor politischen Alternativen Eine Sendung von Eva Hillebrand Es sprachen: Simone Kapst und Robert Frank Ton: Ralf Perz Regie: Stefanie Lazai Redaktion: Constanze Lehmann Produktion: Deutschlandradio Kultur 2010 1