COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandrundfahrt Norderney im Winter Die Ostfriesische Insel in der Nordsee Von Hans-Otto Reintsch Sendung: 8. März 2014, 15.05h Ton: Regie: Karena Lütge Redaktion: Margarete Wohlan Produktion: Deutschlandradio Kultur 2014 0. Atmo: Meer, Wellen, Kein Wind…ab 00:00 (wie Atmo 2) Autor Norderney, die Urlaubsinsel. 15 Kilometer lang, zwei breit. 6000 unsichtbare Einwohner. Im Winter. Im Sommer ist Norderney pulsierende Großstadt, von Gästen erstürmt und belagert. Im Winter fast vergessen. Im Sommer ist der Badeort Norderney vor allem eins: Ein Ziel. Für hunderttausende Urlauber. Die Bewohner von Norderney richten ihr gesamtes Leben darauf aus. Sie leben nicht nur VON den Gästen, sie leben auch FÜR die Gäste. Jedes Bett, jeder Weg, jeder Tisch, jedes Stück Natur und alle Zeit gehört dem Gast. Norderney gibt alles. Rund um die Uhr. Jahr für Jahr. Und deshalb kommen immer mehr. Von über drei Millionen Übernachtungen im Jahr geht ein Gerücht. Wie überlebt man das? Wie gehen die Inselbewohner damit um? Wann leben sie ihr eigenes Leben? Und wie sieht es aus? Wann ist die Insel allein bei sich selbst? Was passiert, wenn nichts passiert? Kennmusik Sprecherin v. Dienst: Norderney im Winter. Die Ostfriesische Insel in der Nordsee. Eine Deutschlandrundfahrt von Hans-Otto Reintsch Kennmusik Blende in Atmo 1 Autor: Die Insel ist ein Riff. Auf Sand gebaut. Norderney, Ostfriesland. Ein Schmaler Klecks Land vor der Küste. Die letzten Bahnhöfe auf dem Weg zur Fähre heißen „Leer“. Oder „Norden“. Und es ist Winter. Endgültig. Die Fähre kommt pünktlich. Schafft zwanzig Uhr die letzten Seelen auf die Insel. Ein riesiger Pott mit Parkdeck und Sitzhalle. Tausend Plätze. Fast leer. 50 Fahrgäste schaukeln durchs dunkle Watt. Links Juist, rechts Baltrum im Schwarz. Und vorn die Nordsee. Wer jetzt nicht mitkommt, kommt morgen erst nach Norderney. 1. Atmo:…an Bord, Schiffsdiesel ab 00:21… Autor: Ein paar Lichter auf dem Wasser. Die Insel taucht auf, kaum dass der Kaffee bezahlt ist. Fast still legt die Fähre an. Keine Möwe, kein Wind. Nichts passiert. Doch. Vier Autos rollen von Deck. Die Ankömmlinge gehen wortlos von Bord. Der Schiffsdiesel jault auf und verstummt. Feierabend. 2. Atmo: Meer, Wellen, Kein Wind… Autor: Dicke Reifenspuren im Sand. Nach der Saison wird der Strand planiert. Kein Loch, keine Burg, kein Ast, kein Müll. Als wäre nie ein Gast hier gewesen. Als wolle die Insel schnell alles vergessen. Selbst die Brandung ist schlapp. Aber das Leben geht weiter. Oder fängt es jetzt erst an? Wie fragt man eine Insel nach dem Nichts, wenn alle fort sind? 2. O-Ton: Herbert Visser 00:15 Ja, das Nichts ist in der Tat so eine Frage auf so einer Insel, weil jeder, der in Deutschland lebt, der stellt sich halt vor, so im Winter, spätestens ab Oktober, November werden dort die Bordsteine hoch geklappt und dann ist Schicht im Schacht…Die Idee, die wir mal hatten, war wirklich vor zehn Jahren mit den Kollegen der anderen Inseln so etwas als Werbeidee zu verkaufen. Für den Wintertourismus: Wir verkaufen Ihnen NICHTS! Autor: Herbert Visser ist Spin-Doctor im Dienst. Der, der die Insel mit Ideen und Veranstaltungen versorgt. Groß, grau, gütig, gelassen. „Anwesende Privatheit“, gibt es das? Bart, Pullunder, Seglertyp. Um die 60, Insulaner durch und durch. Das Wort Marketingchef an seiner Tür im Rathaus wirkt viel zu amtlich. „Die Ruhe selbst“ würde besser passen. Beneidenswert. Oder liegt das an dem Nichts, das die Insel im Winter beschleicht? Der Ruhe, die selbst im Rathausflur zu spüren ist? 3: O-Ton: Herbert Visser 23:41 Ich muss mal eben in meinem Fremdwörterlexikon unter dem Wort RUHE nachschauen, was das ist. (lacht)…also für uns im beruflichen Bereich ist es natürlich so, dass wir im Sommer viel abwickeln, was an Veranstaltungen, Events - an diesen ganzen Geschichten läuft. Der Winter ist mehr geprägt von Vorbereitungen für die kommende Saison,…das Veranstaltungsprogramm steht…und vieles mehr. Sicherlich hat man mehr Freiräume. Autor: Natürlich, wer Massen beherbergt, muss unterhalten, beschäftigen, zerstreuen. Urlaubszeit vergeht nicht einfach so, sie will verbracht werden. Wenn im Sommer das Wetter den Strand leer fegt, reicht Kneipe nicht aus. Visser schafft Künstler auf die Insel. Wat mut, dat mut. Auf dem Kurplatz hängen noch die Stars der vergangenen Saison in den wetterfesten Schaukästen. Guildo Horn, Tim Bendzko, Howard Carpendale, Nena und die Warschauer Symphoniker. Die Scheiben haben Salzwasserspuren. Als wäre alles schon ewig her. Und Herbert Visser, der Macher, schon ewig hier. Ein echtes Stück Insel. Was geschieht mit ihm, wenn nichts passiert. In der Zeit, wenn nichts kürzer ist als ein Tag, wenn alle weg sind, auch die letzten Fähren. Und er bei seiner Insel ist, die an einem halben Tag umrundet ist. Tja, sagt da der Insulaner, leben. 4. O-Ton: Herbert Visser 24:32 Ich fröne einem leidenschaftlichen Genuss, Hobby, ich trinke Abend gerne mal einen leckeren Malt Whisky. Der wo dieses Hobby KENNT, kann verstehen, dass das wirklich ein Hobby ist. Weil – wenn man so hundertvierzig verschiedene…Malt Whiskys sein Eigen nennen darf, dann weiß man, dass das mit einem guten Buch…und der Wind heult ums Haus und dann gemütlich dort zu sitzen, dass kann schon einen sehr gut runter bringen. Autor: Nichts leichter, als sich Visser vor einem Regal mit hundert Whiskyflaschen vor zu stellen. Stellt klar, dass ein Insulaner hier geboren wurde und ein Norderneyer ein Zugezogener sei. Darauf legt er Wert. Er sei eben ein echter Aborigines. Und weiß ALLES über Norderney. Geologie, Tradition, Statistik, Bevölkerung. Alles. Aber dazu später. Schau Dich um, frag die, die du triffst nach deinem Nichts. Frag den Insel-Ausrufer, was er ruft, wenn es nichts zu rufen gibt. Jetzt oder nie. Komm wieder vorbei, einen Termin braucht`s nicht unbedingt. Hier geht keiner verloren. Auf Inseln sieht man sich immer zweimal. Oder öfter. 1. Musik: ausgespielt, George Winston, CD Dezember, Track 6, Night 3. Atmo: Einsames Hotel, Dudelradio… ab 00:12 Autor: Das Nichts hat einen Namen. Hus up Dün, das Haus in den Dünen. Es gehört der Arbeiterwohlfahrt und beherbergt in der Saison Senioren. Das Hotel ist ein moderner Zweckbau direkt am Nordstrand. 35 Zimmer und nur ein Gast. Mit Hausschlüssel. Ausnahmsweise, eigentlich ist Winterpause. Die Rezeption ist nicht besetzt, im Foyer stehen ausgebaute Fernsehapparate in Reih und Glied. Rechts die alten Röhrengeräte, links neue Flachbildschirme. Das Hotel rüstet auf für die nächste Saison. Der Herbergsbetrieb steht auf Aus. Das Aquarium am Eingang ist dunkel. Alle Zimmer offen, in den Gängen liegen Wäscheberge, es riecht nach Latex und irgendwo dudelt ein Handwerkerradio durch die Gänge. Es ist das einzige Geräusch im Haus. Endzeitstimmung. Inselgefühle. Wer jetzt in Ohnmacht fällt, den findet so schnell keiner. 4. Atmo: Einsames Hotel, Dudelradio ab 02:19, Atmo Wellen, kein Wind ab 00:42 überblenden, drunter Autor: Ein Schritt ins Freie und dann liegt da die Nordsee. Wohin man auch geht auf Norderney, sie liegt da. Friedlich, unaufgeregt. Nicht zu fassen. Hundert Meter breiter Strand. Bei Ebbe. Norderney ist eine riesige Badeanstalt. Aber es herrscht Inselwinter. Keine Landratten in Sicht. Nicht mal ein Schiff. Das Licht ist unentschlossen. Fast unheimlich. Und die See sieht aus, als wüsste sie nicht genau was läuft. Aber vielleicht tut sie nur so, als wäre nichts. Nicht mal der Inselausrufer ist zu hören, der wie im Mittelalter Bekanntmachungen verkündet. Alle Sensationen herausruft. Eine Art lebendes Radio. In der Saison. 5. O-Ton Bernd Krüger 01:46 Ich habe erstmal eine Uniform an, meine Uniform besteht aus einer roten Mütze, weiße Hose, Schifferhemd und dann habe ich eine große Glocke und auch eine Tasche bei mir. Und denn ziehe ich durch den Ort und an bestimmten Stellen dann bimmele ich und denn gebe ich bekannt, was man auf Norderney machen kann, was für Veranstaltungen sind, weise auf besondere Sachen hin und stehe selbstverständlich für alle Fragen zur Verfügung. Was bei den Leuten sehr gut ankommt. Autor: Bernd Krüger, der Inselausrufer, sitzt in seiner geheizten Laube. Ein gut gelaunter Rentner, der aus einer winzigen Hütte auf seinen Schrebergarten schaut. Sein windgesichertes Frühbeet aus Plastik, seine vielen Gartenzwerge und die Zäune ringsum. 400 m². Mitten im Inselparadies hat er sich eine Gegenwelt erschaffen. Ein kleines Paradies im Paradies. Als wäre ihm die ewige Weite, der Horizont da draußen zu viel. Hier in der Gartenparzelle kommt er da an, wo er im Sommer selten ist. Bei sich. Im Sommer ist er täglich für die Gäste da. Steht im Getümmel, läutet die Glocke, verkündet die Schönheit seines Ortes und bringt den Urlauber auf den rechten Weg. Denn der gemeine Gast hat keine Zeit zu verlieren. Krüger bringt die Verwirrten und Genervten dann auch gern direkt zur Post, zur Bank oder zum Arzt. Ausrufer sind Tröster, Wegweiser und sagen die Flut voraus. Ausrufer laden eine Menge auf sich. Ausrufer waren fast ausgestorben. Herr Krüger ist ein auferstandener Ausrufer. Und der Ausrufergilde beigetreten. Wenn nichts passiert auf der Insel, passiert, dass sich die Ausrufergilde zur „Deutschen Ausrufer Meisterschaft“ auf dem Festland trifft und um die Wette ruft. Aber im Winter, nein, im Winter wird hier nicht gerufen. Und schon gar nicht in der Laube. 6. O-Ton Bernd Krüger 03:45 …dann wird gebimmelt, Beeeekannntmachung! Und denn sagt man seinen Text…mein Name ist Bernd Krüger von der schönsten Insel der Welt! Und in einem Durchgang preisen wir dann die Schönheit des Heimatortes an…erstmal den endlosen schönen Strand…bei uns kann man reiten! Radfahren, wir haben die einzige Windmühle auf der Insel, nä, und so weiter, wir haben ein Fischerhausmuseum, einen Jachthafen, - alles. Und das ist was unsere Insel so reizvoll macht und sie liegt auch im Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer. Autor: Bernd Krüger, den Ausrufer, kennt hier jeder. Aber das ist nichts Besonderes. Auf einer Insel mit sechstausend Einwohnern achtet jeder auf jeden, genauer als an Land. Auf dem Weg zu Krügers Garten. Menschenleer. Noch 150 Meter bis zum Ziel. Plötzlich steht der Ausrufer vor seiner Tür und winkt aus der Ferne. Der Buschfunk am Beginn der Straße hatte ihm den Besuch schon gemeldet. Das passiert, wenn nichts passiert: Ein Fremder läuft auf der Straße. Dabei ist Krüger nach Lage der Dinge selbst ein Fremder hier, kein Insulaner, nein, ein Norderneyer. 7. O-Ton Bernd Krüger 00:09…Ich bin seit 50 Jahren jetzt auf Norderney. Bin geboren in Hameln und vor 50 Jahren hat es mich aus gesundheitlichen Gründen auf die Insel verschlagen. Autor: Ein Zugezogener aus der berühmten Rattenfängerstadt. Vielleicht laufen ihm deshalb alle nach. Im Sommer. 8. O-Ton Bernd Krüger 02:16…viele sagen, die waren als Kind auf Norderney, ein Kinderheim, und finden das gar nicht wieder und würden das gern mal wiedersehen…und so was, ja…Und für die Kinder habe ich immer Gummibärchen und Luftballons in der Tasche…die Kinder kommen morgens immer als erstes bevor die mit ihren Eltern an den Strand gehen, müssen sie erst zu mir die Gummibärchen und Luftballons abholen. 5. Atmo: Laube 3 ab 00:16 Kaffeeklatsch…alle gemütlich durcheinander…drunter… Autor: Jetzt, wo alle Urlauber fort sind, ist endlich Zeit, alte Freunde wieder zu sehen. Gar nicht so leicht. Denn so klein die Insel ist, im großen Urlaubergetriebe sehen sich die Einheimischen oft monatelang nicht. Den Nachbarn, den Freund. Inselausrufer Bernd Krüger hat Besuch in seine Laube geladen. Ein winziger Raum, 6 Stühle, ein Tisch, eine Kaffeekanne. Und jeder Quadratzentimeter voller Nippes, Erinnerungen, Fotos und Figuren. Hier ist sein halbes Leben konserviert, nirgendwo ist mehr Heimat. Und die Insel weit weg. Eine Kuckucksuhr läutet das Treffen in Bernd Krügers Erinnerungskabinett ein. Otto, Karin und Herr Daeglau kommen. Das war mal wieder fällig. Reden über Identität. Die Insel. Und das Festland. 6. Atmo: Laube 01:16:20 Kuckucksuhr 9. O-Ton: Karin, Otto, Deglau 27:44 (durcheinander) völlig andere Mentalität!...(Daeglau) Wir sind ein bisschen ruhiger als das Festland. (Karin) Das sehe ich manchmal ein bisschen anders. Manchmal denke ich sogar, also wenn du so im ostfriesischen Bereich bleibst, da sind die doch noch viel gelassener als wir. Wir haben nämlich manchmal überhaupt keine Zeit mehr! Also mir geht’s persönlich so, ich empfange gerne Gäste…aber wenn man gerade so im Stress ist, sage ich mal, nä? Und die kommen ungelegen, dann mache ich nicht gerade noch eine Tasse Tee. Und auf dem Festland…da kann man zu jeder Zeit kommen und kann Bekannte besuchen – da kommt SOFORT, ob die nun tietern oder nä, kommt eine Tasse Tee auf den Tisch! Und das ist der Unterschied bei uns, bei uns sitzt da einfach durch den Tourismus immer diese Hektik da drin. Dieses „ha ich muss, ich muss“ – Man muss funktionieren! Atmo: Karin Visser weiter…leise drunter (9a) Autor: Und plötzlich liegt alles offen auf dem Tisch. Vier Monate Gästetrubel und dann Ruhe? - Das war einmal. Das ist lange her. Die Saison ist mit den Jahren immer länger geworden, geht inzwischen bis Ende November. Und um Weihnachten ist schon wieder Hochbetrieb, der Strand „schwarz vor Gästen“. Das eigene Leben findet in der ersten Dezemberwoche statt. Karin Visser, Mitte 50, ist hier geboren, leitet den Heimatverein der Insel. Nein, mit dem Marketingchef Herbert Visser ist sie nicht verwandt. Visser heißen auf Norderney irgendwie alle. Wahrscheinlich stammt der Name aus einer Zeit, als es noch Fischer auf der Insel gab. Als die Eingeborenen noch kürzer traten, wenn die Boote nicht raus konnten. 10. O-Ton: Laube, Karin Visser 29:08…Und jetzt kommen wir mal auf den Punkt. Es hat sich nämlich ganz viel in den letzten 30 Jahren geändert. Vor 30 Jahren, da konnte man hier im September noch sagen…die Herbstferien….da fuhren die Familien mit ihren Kindern in Urlaub. So. Und danach war einfach Ruhe auf der Insel! Da hatte jeder ein bisschen Zeit – gut, man hat renoviert, aber es war nicht mehr so der Druck dahinter. Und man hat, wie soll ich jetzt sagen, mehr Zeit für sich, für die Vereine gehabt…da hat ja heute überhaupt keiner mehr Zeit. Wir kriegen ja überhaupt keinen Nachwuchs, ja? Warum kriegen wir alle keinen Nachwuchs. (Otto: da hat sich was verändert, ja.) Der Idealismus ist gar nicht mehr da…Nä? Und wir haben heute einfach alle keine Zeit mehr, für Ruhe, für Vereine… Autor: Wenn nichts passiert, wird über die fehlende Ruhe geredet. Und wenn Insulaner von Ruhe reden, meinen sie etwas anderes, als wenn Festlandbewohner von Ruhe reden. Seit 200 Jahren ist Norderney Nordseeheilbad. Kaum eine Insel hat so viel Ehrgeiz an den Tag gelegt, sich von einer abgelegenen Fischerinsel in ein überranntes Urlaubereldorado zu verwandeln. Die Fischer wechselten ihre Identitäten. Verwandelten sich über die Jahrzehnte in Vermieter, Bademeister und Masseure. In Dienstleister. Es ist nicht leicht, einen Lebenden auf der Insel zu finden, der nicht im Service arbeitet. Wahrscheinlich ist das der Grund für die allgegenwärtige Freundlichkeit auf Norderney. Fast schon unheimlich. Schon Kinder auf der Straße fragen den Mann mit dem suchenden Blick professionell, ob er Hilfe brauche. Der Fremde ist König. Für ihn in allen Lebenslagen da zu sein und das eigene Leben zurück zu stecken, – das haben Generationen inzwischen mit der Muttermilch aufgesogen. Karin Visser erzählt. 11. O-Ton: Karin Visser 22:40 Es fängt ja schon in der Kindheit an,…wenn unsere Eltern vermietet haben, dann geht das morgens ja schon los: Psscht! Die Gäste schlafen noch!...Früher war das noch so, da hat man einfache Häuser gehabt…dann hat man die Betten frei gemacht, und in den Betten, von den Eltern, Großeltern, da sind die Gäste erstmal rein gekommen…So, die Zeit kenne ich auch noch…und dann haben die Gäste bei uns in der Stube gefrühstückt. Und dann hat meine Mutter morgens nichts anderes zu tun gehabt, als vor acht immer zu uns zu sagen, Psscht, die Gäste schlafen noch!! Und das prägt natürlich, nä?...Darum macht MIR persönlich das nichts aus, weil man eben damit groß geworden ist. 21:08….Der März, der fängt an, oder die Osterzeit, dann stellt man sich drauf ein. Es geht los mit dem Vermieten. Die Gäste kommen. Sommer ist natürlich die Hauptsaisonzeit…Hier haben wir ja zeitweise 40 000 Gäste dann auf einem Stück auf der Insel, und es gibt hier immer noch Flecken, da kann man seine Ruhe finden… Atmo: Wellen…wie Atmo 2 Autor: Stimmt, auch wenn es wie pfeifen im Walde klingt. Wenn nichts passiert auf Norderney, kommt die Insel erst richtig zur Geltung. Ihre flachgelegte Schönheit. Der weite Strand nach Nordost, der bald den Ort verlässt und nicht aufhören will. Landhöhe normal Null. Rechts der mächtige Deich mit Weg, und links das berauschende Etwas. Ganz entspannt. Kein Handy weit und breit. Im Winter muss sich die See nicht zu Tode fotografieren lassen. Seewärts zerklüftete Weißdünen, manchmal 25 Meter hoch. Zum Inselinnern folgen Grau- und Braundünen, die in Salzwiesen übergehen. Dann das Watt und der Blick aufs Festland. Kein Wald nirgendwo. Nur niedriges, windgeplagtes Gehölz in kleinen Gruppen. Birken, Kriechweiden, dazwischen Binsen und Moose. Karg, wie am Rande der Sahelzone. Winter, nichts passiert. Auch in der Natur nicht. Doch. Wind quirlt eine Sandsäule in die Luft. Ein paar asphaltierte Fahrradpisten durchziehen die Insel, geben dem Gast den Weg vor. Der Rest ist Ruhezone. Jede Menge Hinweisschilder. Nicht anfassen, nur gucken. Kein Wunder. Erst Luftaufnahmen zeigen, wie zerbrechlich die Insel ist. Dünnhäutig. Fein geädert durch schmale Wasserläufe, die vom Watt in die Insel schneiden. Eine einsame Möwe, groß wie ein Huhn, steht auf der Wiese und tritt auf der Stelle, als hätte sie kalte Füße. Endlos. 2. Musik: ausgespielt, George Winston, CD Dezember, Track 3, Joy Autor: Die Möwe tritt immer noch auf der Stelle. Ein Wurm erscheint an der Oberfläche und wird gefressen. Die Möwe tritt weiter auf der Stelle. Es passiert IMMER was auf Norderney. Und besonders, wenn scheinbar nichts passiert. Sagt Herbert Visser, der sympathische Alleswisser aus dem Rathaus. Die Inseln wandern, stehen niemals still, seit Jahrhunderten. 12. O-Ton: Herbert Visser 14:42 Diese Inseln sind ja im Grunde genommen natürlich entstanden. Durch Begrünung von Riffs, von Sandbänken. Norderney ist…die jüngste der ostfriesischen Inseln. Und diese Inseln sind immer gewandert. Sind immer von West nach Ost gewandert. Was einfach den Strömungsverhältnissen angepasst ist,…der Sand wird im Westen weggespült und im Osten angespült. Und die Inseln wurden bevölkert, man hat ein Dorf gebaut, meistens in der Mitte dieser Inseln. Und die sind dann über die Jahre, über die Jahrhunderte an den Westkopf gerutscht. Damit die nicht ins Meer kippen, hat man die Inseln praktisch befestigt…Und damit hat man die Inseln…festgehalten 7. Atmo:…Innenstadt, Baugeräusche, Fußgänger, ab 01:00 drunter… Autor: Der Ort Norderney hält sich am Westbogen der Insel fest. Kleinstadtfeeling. Jetzt, wo nichts passiert, dringt Baulärm durch die Luft. Jedes Jahr. Im Sommer herrscht striktes Bauverbot auf Norderney. Jetzt liegt der Blick frei auf den Fassaden. Konservierte Noblesse, viel Weiß, ein bisschen Gründerzeit, Jugendstil, Reste von Viktorianischem Stil. Alles wie unbewohnt, kaum ein Geschäft geöffnet, ein Potemkinsches Dorf? Und vorn am Wasser eine Zeile in Beton und Glas. Da, wo die Insel am schönsten ist, hat sie sich die Silhouette verrammelt. Ein Investor hat sich in den Sechzigern des vorigen Jahrhunderts gar ein Hochhaus genehmigt. 12 Geschosse Diktatur des rechten Winkels. Ignorante Zeitgeist-Architektur am Filetstück der Insel. Der Besitzer lebt irgendwo an Land, seine Appartements stehen anonym und leer. Nichts passiert hinter den Rollos. Wenn Fenster die Augen eines Hauses sind, dann ist der Block blind. Haus Investorenglück ist der Sündenfall von Norderney. Lokalpatriot Herbert Visser nimmts mit Galgenhumor. 13. O-Ton: Herbert Visser 06:11 Ja, vielleicht kann man das ja auch als Fiktion bezeichnen und sagen, wir geben mal eine Aufgabe auf, dass automatisch diese Rollläden immer mal geöffnet und geschlossen werden…dass ist ja das, was man als Sylteffekt auch bezeichnet. 02:19…wie geht man damit um, immer unter Power zu stehen…wie kann die Natur sich regenerieren vom Menschen. Auch das sicherlich ein Thema, aber es gibt natürlich auch andere Facetten, wie die Überfremdung der Insel, Eigentums-, Zweitwohnungen, wenn sie sich hier umschauen – es gibt mittlerweile mehr Eigentumswohnungen wie Haushaltungen. Die Eingeborenen, die Aborigines,- ich bin ein solcher, ich bin hier geboren auf der Insel,…wird immer weiter abnehmen… 8. Atmo: Kanalreinigung ab 00:09… kurz, drunter Autor: Norderney fällt auf durch Sauberkeit. Wege akkurat mit rotem Betonstein belegt. Roter Teppich für den Gast. Kein Sandkorn im Ort, keine Kippe, überall Papierkörbe und Wegweiser zu den öffentliche Toiletten. Kästen mit Tüten für Hundekot. Schietbüdel gibt es an jeder Ecke, mehr als Gäste. Jetzt, im Winter. Eine Maschine reinigt zischend die Kanalisation. Aber es ist niemand da. Jede Menge Gebotsschilder. Im Park bitte kein Fahrrad, kein Hund, kein Tretauto. Ruhezeiten von - bis. Eine Parkbank am Hafen ist nur für Einheimische reserviert. Es wird seinen Grund haben. Und plötzlich der Garten des Grauens. Zerzauste Bäume, zerwühlte Beete, schiefe Holzhütten, Garage, Blechtonnen, Oldtimer. Freilaufende Hühner, Puter, Gänse, Enten, Wachteln. Und ein Emu. Ein Taubenschwarm zieht Kurven. Schnatternde Wildnis zwischen Kurklinik und uniformierten Gästehäusern in Wartestellung. Absurder Hingucker. Arche Noah. Hinter der Gartenpforte eine ausgediente Telefonzelle, in der eine sorgsam gekleidete Frauenpuppe steht, an der Hand ein Kind. Türschild: Wegen Betriebsstörung geschlossen. Skurriles Schaufenster. Daneben eine uralte Zapfsäule. Es braucht eine Zeit zu begreifen, was hier geschieht. Hier muss ein Inselelf sein Wesen treiben, in keinem Fremdenführer erwähnt. 14. O-Ton: Harald Hoffmann, außen 22:30 Wir sind die Insulaner. Das ist auch ein Unterschied zu den Ostfriesen. Ein riesiger Unterschied. Gehört zwar zu Ostfriesland die Inseln. Aber die Insulaner sind ein Volk für sich…Ganz, ganz anderer Typ als auf dem Festland. Autor: Das seltsame Grundstück gehört Harald Hoffmann, Inselbarde in Rente. Frohnatur in den Sechzigern. Vollbart, Schiebermütze, blaue Augen. Es gibt sie also wirklich, die Bilderbuchfriesen aus der Werbung. Hoffmann ist eine echte Inselbegabung. Bekannt auf Norderney wie ein bunter Hund. Inseln funktionieren wie Boote auf See. Man kann sich an Deck nicht verfehlen. Irgendwann knattert Harald mit seinem Hühnerschreck vorbei. Sein Grundstück ist eine Welt für sich. Harald der Vogelwärter, Bastler, Sammler, Schausteller, Tagträumer. Sein Leben lang war er Bademeister am Strand von Norderney. Jetzt scharren im Sand seines Gartens 200 Vögel. Inszenierte Schaufensterpuppen stehen stumm dazwischen. Hier zwischen all dem Federvolk ist er vor allem eins: Vorhanden. Nicht zu übersehen, wenn nichts passiert. Hier bewahrt der Schwimmmeister das Strandgut der Zivilisation und stellt es aus. Er kann einfach nichts und niemanden umkommen lassen. 15. O-Ton: Harald Hoffmann, außen 06:00 Die kleine Puppe…Die war auf der Recyclingstation…ich sage, was passiert jetzt damit. Kommt weg. Ich sag, die nehme ich mit. Bin ich zu KIK gefahren, habe die für 8 Euro 30 eingekleidet. Von Schuhe, Strümpfe, Unterhöschen, Jeans und Poloshirt. So. Und nun kommt hier ein Bekannter vorbei…Harald, da habe ich auch noch welche von!...aber irgendwie muss ich die aufstellen. Ich sage, ich brauche eine Telefonzelle…Nächsten Morgen kam er, du Harald, ich habe die schon mitgebracht. 07:05 Und da habe ich noch welche drin stehen. Nette Frauen! Musik: ausgespielt, George Winston, CD Dezember, Track 10, Peace Autor: Harald Hoffman hat ein Näschen für alles, was schräg ist im Leben. Harald hat eine Inselnase. Mit blauen Äderchen. Wer will, darf Käpt’n Blaubär zu ihm sagen. Voller Schnurren und Anspielungen. Nein, die Puppen sind nicht eingesperrt in der Telefonzelle. Sie sind geborgen, untergebracht. Insulanerlogik. 16. O-Ton: Harald Hoffmann, außen 22:50 Weil wir immer mit Gästen zu tun hatten. Alles was jetzt noch lebt hat immer mit Gästen zu tun. Wir mussten immer Rücksicht auf die Gäste nehmen. Meine Großmutter hat ja die Pension gehabt und wir haben 24 Gäste im Hause gehabt. Ich habe mit meiner Mutter und meinem Bruder…in einem kleinen Zimmer gewohnt. Im nächsten Zimmer waren schon Gäste. 23:23 August war ja Feierabend. Da kamen ja schon…auf der Kaiserstraße die Schotten vor die Fenster. Da war kein Gast mehr da…Zu der Zeit war es auch noch so, dass die Norderneyer zusammen krochen und zusammen hielten. Aber heute, heute sind alle nur hinterm Geld her. Autor: Erinnerungen kommen, greifen Raum. Bademeister Harald musste nie in die Welt fahren, die Welt kam zu ihm. Urlaubsinseln sind Transitorte. Durchgangsstationen für Urlauber, die reif für die Insel sind. Wöchentlich ausgetauscht. Sie bringen all ihre Sorgen mit. Nackt und roh. Und lassen sie auf der Insel, am Strand, bei Harald Hoffmann. Das große Welttheater, es spielt sich ab im Strandkorb nebenan. Wenn Harald Hoffmann von seinen Stammgästen erzählt. 17. O-Ton: Harald Hoffmann, außen 34:45 Die sind 30 Jahre da auf den Strand gekommen, die haben nicht einmal guten Tag gesagt. Ich bin so erzogen, zu grüßen. Das kostet nichts…Was ich im Hinterkopf über diese Person denke – kann mir kein Mensch reingucken. Ja? Aber nach vorne hin freundlich. Und da sind auch Gäste, wo ich nur Theater mit gehabt habe. Die nur gekommen sind, um zu meckern. Herr Hoffmann, Sie haben eine falsche Fahne hochgezogen, Herr Hoffmann, da liegt ein bisschen Sand,… Herr Hoffmann, unser Strandkorb ist umgekippt…Ich war ja für den Gast da. Autor: Objektive Lügen oder subjektive Wahrheiten. Egal. Wenn käptn Blaubär erzählt, spricht die Insel. Und die vielen Hühner, Enten und Gänse, die er heute umsorgt, - Ersatz für die Gäste, die sein Leben bestimmt haben? 18. O-Ton: Harald Hoffmann, außen 39:53 Jaa!!…aber hier müssen sich alle miteinander vertragen. Und am Strand habe ich das erlebt, dass sie mit den Schaufeln voreinander stehen. Und dann kommen die Frauen an: Herr Hoffmann, Herr Hoffmann, hier passiert gleich was!! - Hier passiert nichts!- Und dann muss ich das schlichten. Und wissen Sie, was das Tollste ist? Danach sind das die besten Freunde! Über Jahre! Die haben voreinander gestanden mit der Schaufel: -Nein das ist meine Burg, nein das ist meine Burg! - Ich sage, wissen Sie was: Da hinsetzen! Zwei Mann Personal kommen von mir und bauen für jeden eine Burg. - Nee, das brauchen die nicht. – Ich sage, dann macht das doch zusammen!!...Ich wollte immer Bücher drüber schreiben, meine Memoiren. Aber ich habe es dann lieber sein lassen. 9. Atmo: Ab 38:19 (Gackern) (Hoffmann: Das ist der Hahn hier.) 19. O-Ton: Harald Hoffmann, außen 36:12 Wenn irgendwas war am Strand, da einer mopsen wollte,…die habe ich alle auf frischer Tat ertappt. Das konnte ich sehen, wer da nicht hingehört. Zwei Leute, die Ball spielen, einer haut den Ball in die Burg rein, der Nächste schiebt eine Hand in die Tasche, Portemonnaie raus oder die ganze Tasche mitnehmen. Weil die Gäste im Wasser waren…Wenn ich heute mit dem Fahrrad hier über die Wanderwege oder über die Straße fahre, und da ist irgendetwas, was da nicht hingehört in den Dünen. Das sehe ich, das fällt sofort ins Auge. 33:42 Ich habe da zwei Mülleimer im Garten stehen, in einem sitzt ein Jäger mit einem Fernglas, und im anderen guckt ein junges Mädchen raus. Und er beobachtet sie. Da haben sie sich schon drüber aufgeregt. Da muss man drüber stehen. Autor: Winter auf Norderney, Besinnungszeit. Immer dann, wenn nichts passiert. Harald Hoffmanns unbekümmerter Schaugarten ist der Spielplatz eines Unbeugbaren. Wie ein Diorama, das Inselgeschichten erzählt. Hier bewohnt einer die Insel. Einer, der sich fast trotzig weigert, sich seine 1000 Quadratmeter Heimat abkaufen zu lassen. Er wäre mit Sicherheit Millionär. 20. O-Ton: Harald Hoffmann außen 15:47 Weil…wissen Sie, Geld ist für mich nicht alles. Meine Freizeit kann mir kein Mensch bezahlen…Ich kann auf Geld gut verzichten. Ich hab soo genug… Autor: Dreht sich deshalb am Zaun zur Straße ein durchsichtiger Globus, der mal als Lostrommel genutzt wurde? 21. O-Ton: Harald Hoffmann außen 07:47 …Und innen drin ist ein hundert Jahre altes Karussell, das dreht sich dann auch. Aber genau entgegengesetzt. Autor: Ein Storchennest hat er auf einen Mast gebaut. Es überragt die Umgebung. Aus dem Nest schaut ein kleiner Junge. Hält die Puppe eine Flinte im Anschlag? Nicht alle Nachbarn finden das lustig. Dabei macht Harald Hoffmann nur dass, was er immer gemacht hat: Alles für den Gast. 22. O-Ton: Harald Hoffmann außen 08:36 (lacht) Wissen Sie, Gäste hier - im Sommer kann ich sagen, stehen tausend Personen hier. Groß und klein. Und gucken…Herr Hoffmann, wir müssen wieder gucken, ob es was Neues gibt. Und wir müssen hier her mit den Enkelkindern. 23. O-Ton: Harald Hoffmann außen 16:28 Im Sommer hat der eine für den anderen keine Zeit. Da wird Geld verdient. Und im Winter dann kommt das große Gerede hier auf. Ja? Da steht irgendein Mann mit irgendeiner Frau – oh, hest geseh, oh, haste gesehen? Die haben zusammen gestanden. Der nächste macht schon wieder was dabei, und der übernächste, da sind die schon geschieden…das ist hier das Komische. 3. Musik: ausgespielt, George Winston, CD Dezember, Track 10, Peace Eventuell Atmo ruhig außen Autor: Etwas passiert. Auf Norderney geht ein Gerücht um. Nicht erst seit heute. Und mit Gerüchten ist es so eine Sache auf Norderney. Sind sie erstmal da, gehen sie nicht so schnell wieder. Kreisen herum, kommen nicht wieder weg von der Insel. Liegen in der Luft. Ein paar Touristen mit Kapuzen kommen plötzlich an. Das Gerücht lautet: Sturm soll kommen. Noch regt sich nichts. Die Ruhe vor dem Sturm? Die Warnungen werden immer deutlicher. Es soll heftig werden. Aber nichts passiert. Doch. Ein paar Schotten werden dicht gemacht. Mehr passiert nicht. Nichts ist unaufgeregter als ein Friese. Und ein Insulaner sowieso. Am Strand von Norderney stehen ein paar Männer. Der Wind hat aufgefrischt. Das ist egal, die Männer stehen immer hier. Im Windschatten der geschlossenen Milchbar. Bei jedem Wetter, morgens viertel vor neun. Jeden Tag. „Das Schattenkabinett“, wie sie sich selber nennen. Eine Institution im Ort. Vielleicht sogar die Seele vom Ganzen? Pünktlich wie die Maurer gehen die Männer am Meer die Gerüchte durch, die Politik und das Wetter. 24. O-Ton: Schattenkabinett 02:39 Pöschel: Wir machen im Schatten hier die Politik! Heinz: Guten Morgen erstmal! (halloo) 01:29: Packus: Nimm mal auf, du Kulturbanause! (lachen) Das ist auch Kultur! Andere Leute abhorchen.…Harald: Sag bloß nicht dein Bankkonto. (lachen) … Autor: Heute Tagesordnungspunkt eins: Der Sturm. Das Meer hat längst angefangen, zu toben. Inzwischen reden alle Meldungen von Orkan. Die Kabinettsmitglieder winken ab, hören da nicht hin. Wer wissen will, was da anrollt, sollte nicht Nachrichten hören. Der sollte das Kabinett von der Milchbar fragen. Packus zum Beispiel. 25. O-Ton: Schattenkabinett außen, Meer… 05:58 Packus: Wir wissen ja noch nicht, ob Sturm kommt! Harald: Ob überhaupt was kommt. Packus: Natürlich, wenn wir Windstärke 8 haben oder so, kommt man nicht hier raus. Das ist klar. Aber – Heinz: Der soll gut 200 Stundenklometer erreichen! Packus: Ja, komm, jaa, ja. Heinz: 140 ist Orkan… Packus: Hundert Stundenkilometer in München und 100 Stundenkilometer in Köln, da haben wir auch 200… Autor: Das ultimative Inselgefühl, hier steht es. Heinz, Packus und Pöschel. Norderneyer Urgesteine, und Käptn Harald Blaubär darf auch nicht fehlen. Nach dem Aufstehen geht’s zum Strand. Zum snacken. Eine Art Morgenstammtisch im Stehen. Ohne Frühstück, ohne Alkohol, ohne Tabak. Eukalyptusbonbons werden herumgereicht. 26. O-Ton: Schattenkabinett 04:34 Wir sind unsere eigenen Herren!…Packus: Alle da: Maurer, Maurer, er hat mal Fahrtouren gemacht, ich bin Tischler, alles Arbeiter. Leben lang gearbeitet, nie gestempelt! Jede Rechnung bezahlt, heute kriegst du 800 Euro Rente – ja, und dann kannst du sehen, ob du damit zurechtkommst…Pöschel: Wir können uns ja nicht mal n Schnaps leisten. Packus: Und zu Hause ist es genauso kalt, weil wir nur sonnabends und sonntags heizen. (lachen) Harald: Das erzähle Helga mal nicht! Ho ho ho! Autor: Das Schattenkabinett ist das inoffizielle Kommunikationszentrum der Insel. Das Orakel von Norderney. Hier versichern sich die Insulaner ihrer Existenz. Hier ist die Insel unter sich. O-Ton: Jaaawoll! Und Norderney ist ein Pflaster, das zieht. Wie müssen nach Nodrerney hin! Warum, wissen wir auch nicht… Autor: Das Gespräch dreht sich eigentlich um nichts. Es ist das Beste, was im Moment passiert. Nur das Meer fängt an, gegen den Deich zu drücken. 27. O-Ton: Schattenkabinett, 2 26:11 (Schnäuzen) Packus: Das Meer hat jeden Tag ein anderes Gesicht. Jeden Tag! Mal Wind, mal Sturm, mal Totenstille…(Heute?) Macht sich bereit zum Springen! 10. Atmo: Pfeifender Wind am Fenster, ab 00:36 Autor: Nach einer halben Stunde ist Schluss. Bis morgen. Harald geht Schwäne füttern, Packus zu Netto, Pöschel muss renovieren und Heinz geht frühstücken. Es ist nicht die Kälte, es ist nicht die Angst vor dem Orkan. Es ist immer so. Damit die Welt eine Ordnung hat. Auf Inseln ist sie gefährdeter als an Land. Eine Bö dreht einen Kran wild im Kreis. Im Rathaus macht sich Herbert Visser langsam Sorgen. 28. O-Ton: Herbert Visser 26:22 Als wir vor vier Wochen diesen Sturm hatten. Der war ja angekündigt gegen die Mittagszeit und das ist ja dann tatsächlich so eingetreten…und die Norderneyer, die so etwas kennen, die vor allen Dingen wissen, wie UR plötzlich so eine Bö hier reinrauscht, - also viele die vom Festland kommen, die wissen eigentlich gar nicht, was so eine Bö denn eigentlich ist. Und während die Norderneyer Schutz suchten und sich unterstellten, gingen die Gäste…nach draußen, mit Kindern an der Hand um Fotos zu machen…lebensgefährlich!! Autor: Aber nicht nur Menschen könnten von der Insel stürzen. Herbert Visser weiß, was an Tagen wie diesen unaufhaltbar verloren geht. Sand. 29. O-Ton: Herbert Visser 15:39…auch an diesem Wochenende wird uns sehr viel Sand verloren gehen. So dass wir alle paar Jahre gehalten sind, dann auch Sand wieder aufzuspülen. Was sehr kostenintensiv ist, und es ist immer eine Frage der Naturgewalten: Wie lange hält das denn dann…2011 haben wir gespült, August, September. Das hat über zwei Millionen Euro gekostet…aber jetzt in den nächsten Tagen wird eine Menge Sand verloren gehen. 11. Atmo: Pfeifender Wind am Fenster ab 03:30…drunter Autor: Es passiert etwas Gewaltiges. Der Himmel ist weg. Der Strand auch. Braunes Licht. Es dröhnt. Waagerecht jagende Regenmassen. Jäh schlägt Hagel gegen die Scheiben. Steinhart. Blitze zucken, Donner kracht. Eine Parkbank fliegt vorbei. Der Vorhergesagte erscheint wie der Allmächtige. Das Meer tobt 20 cm unter der Deichkante. Wer jetzt ins Wasser fällt, ist verloren. Auf dem Deich warten schräg gebeugte Katastrophengaffer mit Kapuze und Handy, dass etwas passiert. Landratten. Morgen bei Facebook oder tot. 12. Atmo: Hagel, stärker werdend, ab 01:14 Kreuzblende Musik: ausgespielt, George Winston, CD Dezember, Track 5, Caroll of the Bells 30. O-Ton: Susan Ukro 00:58…Die Insel hält mich irgendwie gefangen…12:02 hat ja auch was mit „begrenzt“ zu tun. Nä? Das ist ja hier alles nur begrenzt…Und ich glaube, der Mensch ist ja einfach so, dass er auch gerne mal so ein Gefühl von Unbegrenztheit haben möchte. Autor: Susann Ukro gehört zu einer Menschengruppe auf der Insel Norderney, die dringend gebraucht wird. Die Zugezogenen. Von den langsam aussterbenden Insulanern „Fremdschkiet“ genannt. Vor sechs Jahren kam die 32jährige von Thüringen her und blieb. Klein, zierlich, energiegeladen. Verliebt in den Strand und ihren Beruf. Sie ist Sozialpädagogin, stellvertretende Leiterin einer Kurklinik. Eine norderneyer Einrichtung, die auch im Winter ihre Gäste beherbergt. Die Insel duckt sich weg. Der Sturm will nicht aufhören. In der Mutter-und-Kind-Klinik reißt er an den Fenstern und Nerven. Susann Ukro weicht ihren 100 Patientinnen jetzt nicht von der Seite. 31. O-Ton: Susann Ukro (Sturm hörbar vorm Fenster) 21:33…man wartet, was passiert denn jetzt, was bringt denn der Sturm jetzt tatsächlich. Jeder kann sich gar nicht so richtig auf die Arbeit konzentrieren…06:56 Und die Frauen sind auch durch den Wind. An solchen Tagen wie jetzt kommen auffällig viele Beschwerden…sie sind total sauer, dass sie nicht rausgehen können, weil ja so ein Sturm ist. Und man merkt aber, in ihnen drinnen brodelt es auch. Und plötzlich schmeckt das Brot nicht, das Essen nicht, also… Ukro5 00:00 Man merkt den Menschen den Wind an, den Sturm…im Seehospiz haben sie auch mal einen Aushang gemacht, bitte schreien Sie Ihre Kinder nicht an, der Wind ist dran schuld…Manchmal ist eben dann nicht nur draußen Sturm, sondern auch im Haus…Durch den Wind sein. Es geht einem auch selber so… Autor: Die ganze Insel ist durch den Wind. Hält den Atem an. Nichts passiert. Doch. Hinterm Badehaus mischt ein Handwerker in aller Seelenruhe Mörtel. Denn es passiert eigentlich nichts Besonderes. Jan Rasmus nennen die Insulaner ihren Nordweststurm. Ein alter Bekannter auf Durchreise. Es ist halt Winter auf Norderney, Reparaturzeit, weiter nichts. Es ist die Zeit, in der andere Gedanken angeweht kommen als im Sommer. Jedes Jahr. Susann Ukro. 32. O-Ton: Susan Ukro 10:01 Fakt ist, im Winter kommt immer der Gedanke, wann gehen wir von der Insel wieder runter. Das ist ganz phänomenal. Im Winter und jetzt so in der Phase, habe ich immer den Gedanken, will ich mich jetzt noch mal irgendwie neu orientieren? Will ich jetzt vielleicht doch von der Insel runter? Das ist IMMER in den Wintermonaten…Dass man sich damit beschäftigt, was tue ich jetzt hier? Was bedeutet es für mich, noch hier zu sein? Autor: Die heilende Kraft der Nordsee. Es gibt sie. Auch wenn im Moment alle lieber woanders wären. Noch vor zwei Tagen war Susann Ukro im Meer schwimmen. 4 Grad Luft-, drei Grad Wassertemperatur. Strahlt sie deshalb diese Frische aus? Für die Sozialpädagogin ist die Nordsee mehr als ein Erholungsort. Sie arbeitet mit der Nordsee zusammen. Und geht mit psychisch kranken Frauen, Drogensüchtigen und Borderlinern ins Wasser. Am liebsten im Winter. 33. O-Ton: Susan Ukro 27:44 …Morgens um 8 Uhr. Wir warten immer eine Woche, bis die Frauen sich an das Klima adaptiert haben…haben den Strand ganz für uns alleine…sie tun es und durch den kurzen, knappen Kältereiz haben sie eine enorme Endorphinausschüttung, das ist einfach nachgewiesen…nach 40 Sekunden kommt die Euphorie…und das hat Suchtpotential. Autor: Die Insel Norderney ist großzügig. Alle gehen reicher, als sie gekommen sind. Sagt Susanne Ukro. Vielleicht liegt das an diesem kaum fassbaren Inselgefühl, unterwegs, nur auf Zeit hier zu sein. Zu Gast. Zu Besuch bei sich selbst. Und alle Patienten lassen immer auch eine Menge hier auf der Insel. Ihre Sorgen und Probleme, wie einen unsichtbaren Abdruck. 34. O-Ton: Susan Ukro 25:46 Schön finde ich persönlich in meiner Arbeit, dass nach drei Wochen auch alle Probleme wieder fahren. Bin ich ganz offen…man kann hier super gut mit diesem Setting, mit dieser Insel, mit den Frauen tolle Dinge erarbeiten, wo die sich einfach wieder spüren!...und nach drei Wochen sind die wieder weg. Und man kann sich so bereinigen. 13. Atmo:…Wind am Fenster, drunter… Autor: Der Orkan lässt nach. Es ist nichts passiert auf Norderney. Doch. Auf dem gepflasterten Weg zum Deich liegt ein totes Wildkaninchen. Eine Strandkrähe weidet das Aas aus. Der Kreislauf der Natur in Aktion. Die Krähe arbeitet schwer, duckt sich beim Fressen geschickt weg, wird fort geweht, kämpft sich zurück. Es dauert Stunden, bis sich der Vogel durch das Kaninchenfell gearbeitet hat. Jetzt im Winter, wo Futter knapp ist, wird sich die Überlebenskünstlerin satt fressen. Oder auch nicht. Eine Touristin, Mitte 50, ist auf dem Weg zum Deich. Die Frau steht tapfer vor dem aufgerissenen Kadaver. Verscheucht den Vogel, krempelt die Ärmel hoch, zieht einen Schietbüdel über die Hand wie eine Chirurgin und entsorgt das tote Kaninchen im Papierkorb. Dann geht sie zum Meer, die raue Natur besichtigen. Die Krähe ist fort. Der Weg liegt wieder da, als wäre nichts passiert. 35. O-Ton: Susan Ukro 02:30 Man MUSS die Fähigkeit haben, Dinge hier sehen zu können,…die einen glücklich machen. Das sind ganz kleine Dinge. Kleinigkeiten…Und man muss sich hier selber glücklich machen können…Und nicht die Erwartung haben, irgendwas macht jemand hier mit einem… Atmo: 2 sec. Stille Kennmusik Sprecherin v. Dienst Norderney im Winter. Die Ostfriesische Insel in der Nordsee. Sie hörten eine Deutschlandrundfahrt von Hans-Otto Reintsch Ton: Regie: Karena Lütge Redaktion: Margarete Wohlan Eine Produktion von Deutschlandradio Kultur 2014 Manuskript und das Audio der Sendung finden Sie im Internet unter www.deutschlandradiokultur.de 1