Zeitreisen 30. Oktober 2013 Das Heft in der Hand Anspruch und Wirklichkeit der Straßenzeitungen in Deutschland von Philipp Schnee und Swantje Unterberg Redaktion: Winfried Sträter Collage, unterlegt mit Atmo 1, Straße oder U-Bahn: O-Ton Fili 1: "Ich kann sie gar nicht sehen, wie sie da klappern und frieren, ich muss denen jetzt was geben, ich muss ihnen eine Zeitung abkaufen, und die schenk ich meiner Tochter oder dies oder jenes. Das ist dann Mitleid, also ich würde Mitleid daraus hören, oder? O-Ton Müller 1: "Ein Straßenmagazin ist ein Magazin, womit ein Obdachloser oder ein Mensch in Not erst mal wieder in Augenhöhe gerät, er hat sofort - kann er Geld verdienen, sofort hat er aber auch ein Produkt in der Hand, das er würdig verkaufen kann." O-Ton Uzun 1: "Man muss sich eine dicke Haut zulegen, wenn man alles - ich hab mir die auch zugelegt, ohne die würde ich den Verkauf wahrscheinlich nicht bewältigen können." O-Ton Fili 2: "Das ist 'ne Alternative zum Nichtstun." O-Ton Uzun 2: "'Geh doch arbeiten', manche sagen es ganz offen, manche denken es sich wahrscheinlich bloß." O-Ton Jacky 1: "Ja, ich hab's dann probiert, Blut geleckt und jetzt bin ich 15 Jahre schon dabei und macht mir unheimlich viel Spaß." O-Ton Krampitz 1: "Wir hatten immer die Idee: Wir schaffen eine Gegenwelt. Wenn in dieser bürgerlichen Welt kein Platz für uns ist, dann machen wir unser eigenes Ding, Ja, das war ne großartige Utopie." O-Ton Denninger 1: "Unsere Verkäufer werden nie reiche Leute sein und sie werden auch nicht gut situiert sein, ja, aber sie werden leben können." Atmo 2, Ladenlokal, untergelegt: (Stimmengewirr, Geräusch Geldzählmaschine:) "Moin, moin. So, du hast ja 'nen Festplatz inzwischen, Edeka." Atmo 2 runter: Erzählerin Mittwochmorgens im Café der Hamburger Straßenzeitung Hinz und Kunzt, die Vertriebsplätze für die kommende Woche werden vergeben. Rund 30 Verkäufer, meist Männer im mittleren Alter, drängen sich pünktlich um halb zehn vor dem Tresen im Ladenlokal. Weitere kommen nach, warten an den vier Kaffeetischen. Es ist der wichtigste Termin der Woche: Die gut 500 Hamburger Verkäufer dürfen ihre Zeitungen nicht einfach anbieten, wo sie wollen. Die Plätze sind festgelegt. Atmo 2 rauf, 1:02: "Der ist besetzt. Da kannst du nicht verkaufen, ja? Da nicht verkaufen." Erzählerin Christian Hagen, stellvertretender Vertriebsleiter, trägt die Verkäufer in Listen mit den Plätzen ein. Wer dabei sein will, braucht den Verkäuferausweis von Hinz und Kunzt. Dann geht die neueste Ausgabe der Straßenzeitung für 90 Cent das Stück über den Tresen. Für 1,90 ? werden sie später weiterverkauft. Einen Euro pro Zeitung verdient der Verkäufer. Atmo 2 rauf, 2:18 "Ach, Arkaden, genau. Ja, ist ja alles geklärt. Ich hab ja mit dem telefoniert. Er wollte sich noch mal zurückmelden und mit dem Sicherheitsdienst reden. Er hat sich jetzt noch nicht zurückgemeldet, aber er war ja sehr freundlich." Atmo 2 Ladenlokal ausblenden Erzählerin Gut 30 Straßenzeitungen gibt es in Deutschland. Sie sind fester Bestandteil der Großstadtszenerie. Sie erscheinen monatlich, manche sogar vierzehntägig. Die Gesamtauflage aller deutschen Straßenzeitungen liegt nach Berechnung der deutschen Sektion des internationalen Netzwerks der Straßenzeitungen, INSP, bei etwa 400.000. Ihr kleinster gemeinsamer Nenner: Die Zeitung wird auf der Straße verkauft, von wohnungslosen und armen Menschen. Mindestens die Hälfte des Erlöses soll an den Verkäufer gehen. Der Anspruch: Hilfe zur Selbsthilfe, Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Straßenzeitungen wollten von Anfang an nicht nur Zubrot sein, sie wollen das Selbstvertrauen stärken, eine Tagesstruktur bieten, gegen die soziale Isolation vorgehen. Los ging es in Deutschland vor 20 Jahren: O-Ton Müller 2: "Damals waren wir ganz naiv. Wir waren ne ganz kleine Gruppe und völlig naiv, und es hieß, dass es in Hamburg 500 Obdachlose geben sollte. Wir hatten gedacht, in zwei Jahren schaffen wir das, 500 Leute, wenn's denn so wenige wären, von der Straße zu holen. Jenseits davon, dass wir irgendwie nen Sozialarbeiter dabei gehabt hätten. Und so naiv sind wir angetreten." Erzählerin Birgit Müller, Chefredakteurin von Hinz und Kunzt, war von Anfang an dabei. Vorbild war Big Issue, ein Straßenmagazin aus London. Wie auch in München. Dort startete fast zeitgleich 1993 die Zeitung BISS, Bürger in sozialen Schwierigkeiten. O-Ton Müller 3: "BISS ist drei Wochen vor uns rausgekommen und wir haben nichts voneinander gewusst. Also es muss ein Zeitgeist gewesen sein, der sich dagegen stemmte, dass die Gesellschaft so was von erodiert." Erzählerin Nicht ganz zufällig, sagt auch Birgit Müller, war dies die Zeit, in der in vielen Städten eine neue Politik der Ausgrenzung gegenüber Obdachlosen begann. Aus Parkbänken wurden Sitzschalen - ungeeignet zum längeren Verweilen, zum "Platte machen". Ab Mitte der neunziger Jahre gründeten sich in der ganzen Republik Straßenzeitungen - Trott-war, Straßenfeger, fifty-fifty, Bodo - bis zu vierzig waren es zwischenzeitlich. Der Zeitgeist war auch in anderen deutschen Städten zu spüren. Der Hamburger Gründungsgruppe schwebte nicht weniger als die Abschaffung der Obdachlosigkeit vor. Karsten Krampitz, Journalist und Autor, erlebte diese Euphorie der Anfangsjahre in Berlin mit. O-Ton Krampitz 2: "Ich denke, da war so ne Goldgräberstimmung, es gab drei Projekte damals, die ne Obdachlosenzeitung gründen wollten in Berlin. Animiert von diesem Erfolg von Hinz und Kunzt, die ja sofort über 100.000 gegangen sind, und das war Hamburg, wie viel ist dann erst in Berlin drinne." Erzählerin 30.000, 60.000, 120.000. Hinz und Kunzt verdoppelte die Auflage zu Beginn mit jeder Ausgabe. Auch in München starteten die Zeitungsmacher mit viel Idealismus. Den Wohnungslosen sollte ein Stück Würde zurückgegeben werden, mit der Zeitung in der Hand - so der Plan - mussten sie fortan vor dem Supermarkt und in der U-Bahn nicht mehr um Almosen bitten, sondern konnten ein Produkt anbieten - und im Idealfall ökonomisch auf eigenen Beinen stehen, die Beschäftigung als Sprungbrett ins Berufsleben nutzen. O-Ton Krampitz 3: "Das Ziel war der aufrechte Penner, ja, der selbstbewusste Penner, der dann sein Leben selbst in die Hand nimmt, und der dann auch irgendwie seinen eigenen Weg geht." Erzählerin Eine legale Einnahmequelle für den Junkie und den Alkoholiker, eine Beschäftigung, die den Betroffenen neues Selbstbewusstsein gibt. Es sollte ein Weg sein, um drogenabhängige und obdachlose Menschen in die Gesellschaft wiedereinzugliedern. O-Ton Müller 4: "Wir hatten die Illusion, einen Zustand, der über Jahre einen Menschen bedroht, belastet und beschädigt hat, abzuschaffen, zu schnell abzuschaffen. Wir hatten gehofft und die Illusion, durch Hinz und Kunzt, dadurch, dass er wieder eine Aufgabe hat, gleich alle seine Probleme über Bord werfen kann. Und wir haben gelernt, er kann vieles, dadurch, dass er wieder dazugehört, aber es dauert und man braucht auch ne gewisse Unterstützung dabei." Erzählerin Heute sind es zumeist die kleinen Erfolge, die Straßenzeitungen für sich verbuchen: die Lust auf saubere Kleidung, der Antrieb, sich wieder zu rasieren, der Gang zum Zahnarzt. Sozialberatung gehört mittlerweile zum Standard, ist eine wichtige Säule aller Projekte. Großteils beschäftigen sie eigene Sozialarbeiter. Und das Geld? Der Zeitungsverkauf ist vor allem eine Alternative zum Betteln und Pfandflaschensammeln. O-Ton Verkäufer: "Das geht nicht um Geld, das geht nur einfach so wie gesagt Mensch zu Mensch. Ich kann mit Leute unterhalten, sie fragen mich, ob was ich hab gearbeitet. Dann kommt eine und sagt, sag mal, hast du Interesse für eine Job, dann kannst du gehen. Manche Hinz-und-Kunzt-Verkäufer hat Glück gehabt und Job gefunden und jetzt sie verkaufen nicht mehr diese Zeitung und sie hat gute Leben." Erzählerin Wie der 38 Jahre alte Verkäufer aus Russland, der wegen eines Arbeitsunfalls seit drei Jahren Hinz und Kunzt verkauft, wissen auch Redakteure und Sozialarbeiter die tollsten Geschichten zu erzählen: von Stammkunden, die einen Job vermitteln, eine Wohnung anbieten - oder sich gar in einen Verkäufer verlieben und mit ihm ein neues Leben beginnen. Doch nur selten läuft es wie im Märchen. Straßenzeitungen konnten die Armut nicht abschaffen. Im Gegenteil: Es gibt sie nur, weil es Armut und Obdachlosigkeit gibt. Atmo 3 Verkauf Chaka, weiter unterlegen bis O-Ton: "Sie vielleicht ne Zeitung ...." Erzählerin Sie verkaufen sich vor allem, weil die Passanten wissen: Der, der da mit dem Heft in der Hand vor dem Supermarkt steht, der war mal ganz unten. Das ist das eine Signal: ein Bedürftiger. O-Ton Käuferin und Atmo 3 weiter: "Grundsätzlich kaufe ich sie immer. Weil ist ne gute Sache. Jeder kann ja mal abrutschen. Aber mal was tun ist aber das Richtige." Erzählerin Das zweite Signal: Der will wieder hoch. Der will sich wieder in die Leistungsgesellschaft eingliedern. Der tut was. Die Zeitung ist so in den Augen mancher Käufer bloß eine Lizenz zum legalen Betteln. Der Straßenzeitungsverkäufer als Penner mit Potential. O-Ton Käuferin 2: "Ich find´s in Ordnung, die Leute, die das machen zu unterstützen. Es ist ne Art und Weise, sie zu unterstützen. Und es stehen immer ganz nette Berichte drin." Erzählerin Wie diese Passantinnen aus Hamburg kaufen die meisten die Zeitung aus Mitleid. Atmo 4 Jacky (U-Bahnhof) unterlegen: "Grüß dich." Erzählerin Haben die Straßenzeitungen den Obdachlosen damit Würde zurückgegeben? Atmo 4 Jacky (U-Bahnhof): "Grüß dich, Peter." (lachen) Erzählerin Glaubt man Jacky, der in der Münchner U-Bahnhaltestelle Rosenheimer Platz seinen Stammplatz hat, auf jeden Fall: O-Ton Jacky 2 auf Atmo 4: "Ja, ich hab's dann probiert, Blut geleckt und jetzt bin ich 15 Jahre schon dabei und macht mir unheimlich viel Spaß. Jeder kennt mich, und jeder hat ein nettes Wort für mich übrig. Es ist wirklich schön, wie herzlich manche Leute sein können." Erzählerin Für ihn ist es der richtige Job, wie er sagt. Eine Schädigung des Kleinhirns schränkt ihn motorisch und sprachlich ein. Trotzdem hat er alles, was er möchte: Viel Freiheit, Spaß bei der Arbeit, eine Wohnung und seine 13-jährige Hündin, die bei der Kundenakquise hilft. Andere seiner Kollegen sind da skeptischer: Atmo 5 Uzun: "Zwo zwanzig, bitte." Geld klimpert. "Danke." O-Ton Uzun 3: "Man muss sich eine dicke Haut zulegen, wenn man alles.. - ich hab mir die auch zugelegt, ohne die würd ich den Verkauf wahrscheinlich nicht bewältigen können." Erzählerin An die Blicke, die man beim Verkauf erntet, muss man sich gewöhnen, sagt Ercan Uzun. O-Ton Uzun 4: "Es gibt immer welche, die beim Vorübergehen sagen: Geh doch arbeiten!" Erzählerin Andrerseits, Uzun hat auch eine Verkaufsstrategie: Meist lässt er sich einen Stoppelbart stehen. Die Leute mögen es, wenn man ärmlich aussieht, sagt er grinsend. Die Frage also, ob die Zeitungsprojekte den Bedürftigen Würde zurückgegeben haben, würde der Münchner Stadtgeograph Rainer Kazig deshalb zumindest teilweise verneinen. Die Verkäufer bleiben als bedürftig stigmatisiert und sichtbar. Mit dem "Straßenzeitungsverkäufer" wurde nur ein neuer Typ des Obdachlosen etabliert, so Kazig. Dennoch hat sich etwas geändert, wie Kazig festgestellt hat: Werden Bettler meist als bemitleidenswerte oder gar "moralisch unzulängliche" Personen wahrgenommen, denen man möglichst ausweicht und maximal von oben herab ein Almosen in den Becher wirft, so hat der neue Typ "Straßenzeitungsverkäufer" zumindest die Möglichkeit geschaffen, mit dieser Gruppe ins Gespräch zu kommen, sprichwörtlich auf Augenhöhe. Verkäufer erzählen Passanten direkt und aus erster Hand aus dem Leben in Armut. Doch über das persönliche Gespräch hinausgehend haben Wohnungslose in der Straßenzeitung meist wenig Raum, ihre Interessen als Experten in eigener Sache zu vertreten. Dies berührt eine von Anfang an viel diskutierte Grundsatzfrage: Wer schreibt hier eigentlich für wen? Der altgediente Straßenzeitungsredakteur Karsten Krampitz - er schrieb unter anderem für die Straßenzeitungen Mob, Haz und Straßenfeger - hat seinen Frust über die Szene in Berlin in seinem Roman "Affentöter" verarbeitet. Dort stellt er fest: Zitator "In Berlin gab es noch nie eine Obdachlosenzeitung. Es gibt nur ein Blatt, das von Obdachlosen verkauft wird." Erzählerin Leute wie Krampitz haben das Projekt Straßenzeitung immer eher als eine Bewegung von unten begriffen, als Selbstermächtigung der Obdachlosen. O-Ton Krampitz 4: "Und da habe ich auch immer darauf geachtet, dass ein Drittel bis ein Viertel von den Obdachlosen selber kam. Zur Not habe ich ein Diktiergerät hingehalten und dann haben die eben erzählt, von ihrer Vertreibung, dem Zoff mit privaten Sicherheitsdiensten und so, das ist alles immer thematisiert worden in der Zeitung. Die verkaufen auch ne Zeitung, zu der sie nen Eigentumsverhältnis haben, auch ganz anders." Erzählerin Und heute - was ist aus daraus geworden? O-Ton Krampitz 5: "Da sind Obdachlose nur noch Transporteure eines fertigen Produktes." Erzählerin Der sozialrevolutionäre Hauch von einst ist weitgehend verflogen, beklagt Krampitz. Heute herrscht auf dem Straßenzeitungsmarkt vor allem Realismus und Pragmatismus. Sprachrohr der Unterprivilegierten, Stimme von der Straße, das ist heute nicht mehr der Anspruch. Und man muss auch ehrlich sein - nur wenige sind mit solch hehren Zielen angetreten. Birgit Müller etwa sagt: O-Ton Müller 5: "Es war von Anfang an klar, dass wir kein Sprachrohr sind. Wir hatten schon ne Schreibwerkstatt, wir hatten Sonderhefte, wo wir mit Verkäufern zusammen etwas erleben, wo sie auch selber schreiben." Erzählerin Aber: Die Erfahrungen waren keine guten. Immer dieselben Themen, der Schreibstil ließ zu wünschen übrig. Heute sitzen in der Redaktionskonferenz bei Hinz und Kunzt keine Obdachlosen, die Jubiläumsausgabe zum 20-Jährigen konzipieren professionelle Journalistinnen: Atmo 6 Redaktionskonferenz - vorne und hinten unterlegen, frei stehen soll: O-Ton Redaktionskonferenz "Thorsten hatte ja die Idee aufgebracht, zum Geburtstag 20 Hinz-und-Künztler, die zu unterschiedlichen Zeiten zu uns gestoßen sind, zu fragen, was hat dir das Projekt bedeutet, was hat dir der Zeitungsverkauf bedeutet und so weiter und so fort. Dass man über den Dreh in die Jubiläumsausgabe auch noch Verkäufer mit einbringen könnte. Ich find die Idee ganz, ganz schön." - "Ja, die ist schön." - "Schaffen wir bloß nicht mehr." - "Warum nicht?" Erzählerin In Hamburg schreiben Profis, ausgebildete Journalisten. So halten es inzwischen fast alle Zeitungen: Ein gutes Produkt, mit dem die Bedürftigen Geld verdienen können, soll es sein, so sieht es auch BISS-Geschäftsführerin Hildegard Denninger: O-Ton Denninger 2: "Von Anfang an haben wir auch gesagt, wie geben euch ein tolles Heft in die Hand, ihr müsst euch nicht genieren, es ist immer ein schönes Papier gewesen, es sind immer inhaltlich qualitativ hochwertige Sachen gewesen, so, weil ihr uns das Wert seid...." Erzählerin Almosen statt Empowerment? Nicht unbedingt: Müller und auch die anderen Zeitungen betonen immer, wie stark, wie wichtig es ist, politisch zu sein: O-Ton Müller 6: "Wir sind in dieser Stadt relevant. Wir werden ernst genommen. Wir haben Gespräche mit Politikern. Unsere Ideen werden ernst genommen. Und das ist sehr, sehr wichtig. Ich glaube, wir brauchen eine Lobby, und diese Lobby hat auch mit Qualitätsjournalismus zu tun." Erzählerin Leerstand und Wohnungsmangel, die Zustände in Hamburgs Gefängnissen, prekäre Arbeitsverhältnisse - die Themen von Hinz und Kunzt sind politisch und nah an der Lebenswelt der Verkäufer. Die Zeitung ragt heraus, ihr sind bereits einige journalistische Coups gelungen: In drei Beitragsserien über Hotels deckte sie etwa Dumpinglöhne für Reinigungskräfte auf, oder auch den größten Mietskandal Hamburgs um einen Ex-CDU-Politiker - journalistisch der größte Erfolg von Hinz und Kunzt. Die Verkäufer fungierten, wenn man so will, dabei als Informanten. O-Ton Müller 7: "Die tollsten Geschichten sind so zustande gekommen, dass ein Verkäufer etwas aus seiner Lebenswirklichkeit erzählt, sich darüber aufregt. Und wir mit unseren Mitteln, mit unseren Recherchemöglichkeiten, dem sozusagen nachgehen und auf diese Art und Weise sind unsere mitbesten Geschichten entstanden." Erzählerin Markenzeichen aller deutscher Straßenzeitungen ist ihre lokale Verankerung: regionale Kultur, Veranstaltungstipps, Service-Rubriken mit Hinweisen auf Drogen- und Schuldnerberatung, aber auch guter Lokaljournalismus rund um die Themen Armut und Soziales. Für die direkte Beteiligung der Verkäufer am Inhalt bleiben hingegen meist nur wenige feste Rubriken. Die Mehrzahl der Zeitungen veröffentlicht regelmäßig Verkäuferporträts, persönliche Schicksale, die Mitgefühl wecken und zeigen: Armut und Obdachlosigkeit kann jeden treffen. Häufig werden sie von den Betroffenen in Schreibwerkstätten mit Hilfe der Redaktionen verfasst. Einzig einige Projekte wie "Motz life" aus Berlin oder der "FreieBürger" aus Freiburg bestehen fast ausschließlich aus Selbstgeschriebenem. Und viele Verkäufer finden es gar nicht so wichtig zu schreiben. Oder sie schreiben mit anderen Zielen: O-Ton Uzun 4: "Ich schreibe in erster Linie, damit ich einen Draht zum Kunden hab und der Kunde ein Motiv, ein Motiv mehr, sie bei mir zu kaufen." Erzählerin Sagt Ercan Uzun - ein Hochleistungsverkäufer aus München, 1.200 Hefte des Münchner Magazins BISS verkauft er pro Monat an der Haltestelle Sendlinger Platz. Eine solche Erfolgsgeschichte ändert jedoch nichts an der grundsätzlichen Frage 20 Jahre nach Erscheinen der ersten Obdachlosenzeitungen: Wie weit hat sich die Wirklichkeit vom Anspruch der Gründerzeit entfernt? Wenn sie schon nicht selber schreiben, wie soll gesichert werden, dass Straßenzeitungen auch ein Projekt von Obdachlosen bleiben - und nicht nur ein Projekt für Obdachlose, eine weitere Charity-Maßnahme? Mit Mitbestimmung und Vertretung in den Vorständen ist es in den meisten Projekten, bei den meisten Trägervereinen, nicht weit her. Die Zeitungen sind - wenn auch soziale - Unternehmen, mit Geschäftsführung und Chefredakteur, hierarchisch organisiert. Viele Obdachlosenzeitungen haben Verkäuferversammlungen, doch ein echtes Mitspracherecht gibt es kaum. Eine Ausnahme ist der Vertrieb, in dem es häufig ehemalige Obdachlose sind, die eine feste Anstellung finden. Hinz und Kunzt sieht sich sogar explizit als Kooperationsprojekt: Auf der einen Seite die professionelle Redaktion, auf der anderen Seite der Vertrieb als genuines "Obdachlosen-Projekt". So wurde es vor 20 Jahren in der Gründungsgruppe aus Obdachlosen, Journalisten und der Diakonie von den potentiellen Verkäufern eingefordert: O-Ton Müller 8: "Und ganz viele haben damals gesagt, das hört sich ja voll an wie die Drückerkolonne und so, und deswegen kam auch die ganz klare Ansage, wir machen nur mit, wenn wir den Vertrieb komplett allein übernehmen dürfen." Erzählerin Also: Professionalisierung, festangestellte Redakteure, freie Verkäufer. Was heißt das für das Gesamtkonzept "Straßenzeitung"? Für das soziale Unternehmen? Abgesicherte Redakteure und Verwalter, deren Gehalt von prekären Wohnsitzlosen erwirtschaftet wird? Ein Zustand, den Hildegard Denninger von BISS unhaltbar fand. In München haben sie daraus den Schluss gezogen: Festanstellung - und zwar für die Verkäufer! Obwohl es viel Gegenwind gab: O-Ton Denninger 4: "Wie könnt ihr diese Leute anstellen, haben viele Leute gesagt. Da war ich so schockiert und hab gesagt, was bildet ihr euch denn ein, wir sind Straßenzeitungen. Die Straßenzeitungsverkäufer erwirtschaften das Geld, von dem auch das Fachpersonal lebt, auch die Spenden gehen ja ein wegen der Verkäufer." Erzählerin Inzwischen arbeiten 41 Menschen fest als Verkäufer bei BISS. Je nach Vertrag, ob in Voll- oder Teilzeit, müssen sie monatlich ein festes, hohes Kontingent an Zeitungen loswerden. Dafür sind sie aber - anders als ihre Kollegen in anderen Städten - abgesichert. Sie sind renten- und sozialversichert, erhalten Zuschüsse zu Privatvorsorge und auch Hilfe bei Krankheitskosten, etwa wenn Zahnersatz nötig ist. So schafft es Uzun - der Hochleistungsverkäufer vom Sendlinger Platz - trotz einer psychischen Erkrankung, eine sechsköpfige Familie zu ernähren. Für Denninger ist die Festanstellung der beste Weg zu einer, wie sie sagt, langfristigen und nachhaltigen Reintegration. O-Ton Denninger 5: "Sie blühen auf richtig, sie zahlen Steuern. Sie haben das Gefühl, sie sind jetzt vollwertige Bürger. Und oft hat das erst wirklich geklappt, auch mit der Wohnung, als sie angestellt waren." Erzählerin Gute Gründe also dafür, dass Denninger mit viel Nachdruck auch die Festanstellung bei den anderen Straßenzeitungen fordert, aber: Damit hält auch der Leistungsgedanke Eingang in das soziale Unternehmen Straßenzeitung. So heißt es etwa in einem BISS-Verkäuferporträt: Er "hat sich über 400, 600 und dann 800 auf 1.000 Exemplare pro Monat hochgearbeitet". Klingt nach Versicherungsvertreter. Die Gefahr besteht, nur noch leistungsfähige Edelverkäufer anzusprechen, der kaputte Junkie fällt raus. Und, das betont Birgit Müller in Hamburg, die Verkäufer gehen Verpflichtungen ein, die Zeitung wird zum normalen Arbeitgeber, der im Zweifelsfall Druck ausüben muss: Nur die Verkäufer, die das leisten können, profitieren. Bei Hinz und Kunzt verkaufen viele auch nur 20 Zeitungen pro Monat. Die Klientel scheint breiter zu sein, die Fluktuation höher. Den klassischen Suchtkranken von der Straße, bei BISS findet man ihn kaum, bei Hinz und Kunzt hingegen schon. Das Münchner Modell bedeutet für einige wirklich den Weg aus der Armut, Hinz und Kunzt bietet für viele eine Verdienstmöglichkeit in der Armut. O-Ton Müller 9: "Wir wollen im Grunde die erreichen, die anderswo keine Chance haben. Ja, wir wollen genau den erreichen, den keiner will." Erzählerin Den erreichen, den keiner will. So beschreiben eigentlich alle Straßenzeitungsprojekte ihre Zielgruppe. Nur wer ist das? Das ist längst nicht mehr so klar. Die Hartz-IV-Reformen haben zum Beispiel die Frage aufgeworfen: Wer ist arm genug für den Verkaufsjob? Die Straßenzeitungen bieten nicht mehr nur Obdachlosen einen Zuverdienst. Auch Rentner, die zur kärglichen Altersversorgung ein paar Euro für die Enkel hinzuverdienen wollen oder der Hartz-IV-Empfänger mit eigener Wohnung und festem sozialen Umfeld sind heute typische Verkäufer. Das alte Ziel der Zeitungen, die Menschen wieder zurück in das staatliche Hilfesystem zu bringen, wird aus zwei Gründen konterkariert: Für die einen reicht die Hilfe ohnehin nicht zum Leben, andere, wie den 35 Jahre alten Verkäufer Chaka, schrecken die Sanktionen und Forderungen des Amtes ab: Von der Verarmung breiterer Bevölkerungsschichten können alle Straßenzeitungen ganz praktisch berichten - ihre veränderte Verkäuferstruktur spiegelt sie wider. Und in den vergangenen Jahren kam auf viele Zeitungen noch ein weiteres Problem hinzu: Heimische Armut versus fremde Armut, auch in Hamburg: O-Ton Müller 10: "Wir hatten neulich, vor ein paar Monaten, einen der schwärzesten Tage, seit ich hier bin. Da wollten wir zehn Ausweise an Rumänen vergeben und hundert sind gekommen. Die haben teilweise geweint, die haben geschrien, der eine hat gesagt, er würde sich verbrennen..." Erzählerin Viele Zuwanderer aus Osteuropa sehen im Verkauf der Straßenzeitung ihre Chance zum Lebensunterhalt. Das stellt die Zeitungen vor große Probleme. Helfen wollen sie: Vor ihnen stehen Menschen, die hungern und jedes Recht auf einen Verkäuferausweis hätten. Das erste Problem aber ist der Alltagsrassismus. Die Straßenzeitungen aus dem Ruhrgebiet berichten von Stammkäufern und Spendern, die sich gegen die neuen Verkäufer wehren. Wenn "diese Zigeuner" weiter beteiligt werden, drohen sie mit Entzug der Unterstützung. Bastian Pütter, Redaktionsleiter der Dortmunder und Bochumer Zeitung Bodo, sagt: Erst nachdem sie massiv Öffentlichkeitsarbeit gegen die rassistischen Ressentiments gemacht hatten, habe sich sein Projekt getraut, öffentlich zu kommunizierten, dass sie auch Sinti und Roma beschäftigen. Zweitens stellen die neuen Verkäufer aus Osteuropa auch die Zeitungen selbst vor neue Herausforderungen. Bisher hatten es die Projekte vor allem mit alleinstehen Männern zu tun, die für das Alltagsleben wieder fit gemacht werden sollten, Menschen ohne Selbstwertgefühl und Struktur. Die Roma hingegen seien gesund, hätten ein Netzwerk, Familie, seien sprachbegabt, lustig und an harte Arbeit gewohnt, sagt Pütter. Sie hätten alle Ressourcen - nur kein Geld und nichts zu essen. Einen Sozialarbeiter brauchen sie nicht und im Gegensatz zu den meisten Verkäufern sind sie leistungsstark und damit eine Konkurrenz für kranke oder eingeschränkte Verkäufer. Um diesen verschiedenen Lebenslagen gerecht zu werden, haben die meisten Zeitungen, die es betrifft, so bitter es klingt, eine Ausländerquote eingeführt. Auch für Hinz und Kunzt ein schwerer Schritt: O-Ton Müller 11: "Und was natürlich schwer ist zu merken, wie angewiesen die Leute darauf sind, auf die Zeitung. Und gleichzeitig zu merken: Wir können nicht mehr aufnehmen. Wir müssen das dosieren. Wir können nicht den Laden zum Platzen bringen. Für unsere Auflage, wenn es nur ums Geld ginge, wäre es fantastisch, ja. Die verkaufen wirklich toll." Erzählerin Manche Straßenzeitung, gerade in Großstädten, stößt an ihre Grenzen. Schwarzverkäufer machen den offiziellen Verkäufern Konkurrenz. Der Andrang ist größer als die Kapazität. Die Zahl der Wohnungslosen steigt. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslose e.V. hat im Jahr 2012 284.000 Menschen in Deutschland ohne Wohnung gezählt, ein Anstieg von knapp 15 Prozent gegenüber 2010. evtl. Musikakzent: Erzählerin Obdachlosigkeit abschaffen: unmöglich. Zwanzig Jahre nach dem visionären Start der Straßenzeitungen ist die Realität eine andere als erhofft. Aus den Obdachlosenzeitungen der neunziger Jahre sind Armenzeitungen geworden. Zu einer Emanzipationsbewegung obdachloser und armer Menschen haben sich die Straßenzeitungen in Deutschland nicht entwickelt. Statt auf Empowerment setzen sie auf journalistische Qualität. Nach außen soll das Blatt lesbar sein. Ein gutes Produkt, das sich verkaufen soll. Würde es sonst gekauft werden? Was aber bleibt für die Verkäufer, die Betroffenen? Durch die sozialen Hilfsangebote werden sie wieder in die Gesellschaft eingebunden, die Arbeit gibt Struktur und Selbstbewusstsein zurück, ja, sie bietet auch ganz platt eine Einkommensquelle. Kein Sprachrohr - aber ein wohlwollender Arbeitgeber, das waren die Zeitungen seit ihrer Gründung für mehrere zehntausend Verkäufer. Die wenigen wissenschaftlichen Studien, die es zu Straßenzeitungen gibt, verbuchen auf der Habenseite diese Steigerung des Selbstwertgefühls der Verkäufer. Und in der Breite noch viel wichtiger: eine Sensibilisierung der Bevölkerung. Aus dem abfällig gemeinten "Penner" wird ein obdachloser Mensch, und die Armut vor der eigenen Haustür wird stärker und anders wahrgenommen. Das ist nicht der ganz große Wurf gegen Obdachlosigkeit und Armut. Die Zeitungen sind eher karikativ, weniger emanzipatorisch. Trotzdem - sie wollen politisch, auch unangenehm sein, als Lobby: O-Ton Denninger 6: "Man muss politisch sein, ja, man muss sich immer auch im Kontext sehen innerhalb der Gesellschaft. Wo bin ich? Was möchte ich? Welche Gesellschaft möchte ich haben? Möchte ich eine Ellenbogengesellschaft? Wenn man sich diese Frage stellt, dann kann man nur politisch werden, ja? Und dann muss ich mich einbringen, und zwar bei konkreten Sachen, die schief laufen. Da muss man dann auch auf die Straße gehen. Bei anderen Sachen muss man sich im Hintergrund kümmern. Man muss sich eigentlich kümmern, weil das unsere Gesellschaft ist. Und da sind wir uns alle einig, da sind sich alle Straßenzeitungen einig." 1