DEUTSCHLANDFUNK ? Köln im Deutschlandradio Redaktion Hintergrund Kultur Essay und Diskurs Dr. Norbert Seitz/Dr. Matthias Sträßner Essay und Diskurs Verstädterung 2. Favelas in Caracas von Klaus Englert Sprecherin: Kerstin Fischer Sprecher: Axel Gottschick Zitator: Hendrik Stickan Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Deutschlandradio - unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Sonntag, 04. April 2010, 09:30 ? 10:00 Uhr Sprecher: Der Architekt Frank Lloyd Wright publizierte 1932 den Artikel "The Disappearing City". Wright stellte darin sein uramerikanisches Modell der "Broadacre City" vor ? eine städtische Vision für den freien und mobilen amerikanischen Bürger. Nach Vorstellung des Architekten, der im ländlichen Wisconsin aufwuchs, konnte sich die Zukunft des american way of life nur abseits der von seinen Kollegen gepriesenen Großstädte abspielen. Autarkes Leben war für ihn nur möglich in der Weite des Landes, in einer sich über den Horizont erstreckenden Stadtlandschaft. In diesen dezentralen Siedlungen sollte jeder Familie 4.000m² Land zugesprochen werden. Wright's "Broadacre City" war in den dreißiger Jahren das amerikanische Gegenmodell zu Le Corbusiers "ville contemporaine", einer kompakten, rationalisierten Stadtmaschine mit zahlreichen Wohnhochhäusern. Sprecherin: Selbstverständlich verschwanden die Städte nicht, dagegen wurde Wright's Vision der "Broadacre City" bald zum Horrorszenario. Nur wenige Jahre nach der Publikation von "Disappearing City" breiteten sich fast überall in den Vereinigten Staaten endlose Siedlungsteppiche über die Landschaft aus. Das europäische Modell der kompakten Stadt war zwar niemals völlig ausgestorben, aber die suburbanen Siedlungen übten in den Gesellschaften, die nach dem Weltkrieg zu Wohlstand gelangt waren, eine unwiderstehliche Faszination aus. Das bürgerliche Ideal von Eigenheim, Glück, Freiheit und Mobilität war ungebrochen. Viele Käufer erlagen den wohlklingenden Versprechungen der Investoren und entflohen der sozialen und städtischen Enge. Sprecher: Der UN-Habitat Report "State of the World's Cities" von 2009 belegt, dass die unter den führenden Industrienationen am schnellsten wachsenden Städte in Nordamerika zu finden sind. Eine Luftaufnahme von Las Vegas zeigt die Stadt der Glücksritter wie einen bunt gefleckten Teppich, der über einem endlosen Plateau ausgebreitet ist. Grenzenlose Freiheit vermengt sich hier mit grenzenloser Einöde. Las Vegas erscheint wie ein einziges, riesiges suburb. Ein anderes Beispiel ist das südkalifornische San Diego, das eine Einwohnerzahl von 1,3 Millionen aufweist. Der UN-Habitat Bericht belegt, dass der ökologische Fußabdruck in der brasilianischen 20-Millionen Megacity São Paulo um ein Vielfaches niedriger ist. Denn São Paulo produziert nur 10 Prozent der in San Diego entstehenden Emissionen. Sprecherin: In den Großstädten der südlichen Hemisphäre lässt sich vielerorts beobachten, wie urbanistische Fehlentwicklungen nordamerikanischer Städte bedenkenlos kopiert worden sind. Das ging so weit, dass renommierte Stadtplaner aus den Vereinigten Staaten beauftragt wurden, Städte in südamerikanischen Ländern zu modernisieren. So wandte sich 1949 die Stadtverwaltung von São Paulo an den einflussreichen New Yorker Planer Robert Moses und bat ihn, einen Entwicklungsplan zu entwerfen. Er wollte São Paulo ? entsprechend seines Modells der autogerechten Stadt - mit urban highways durchziehen. Der Amerikaner griff auf seine Planungen fürs New Yorker Highway Research Board zurück, um die brasilianische Stadt auf die vermeintlich globalisierten Lebensbedürfnisse einzustellen. Plötzlich standen der mobile Bürger und die horizontale Ausdehnung der Wohnvororte auch in São Paulo im Vordergrund. Robert Moses entwarf Expressways, die den Individualverkehr zwischen Zentrum, Vororten und Hinterland erleichtern sollten. Als São Paulo in den folgenden Jahren Rio de Janeiro als größte Stadt Brasiliens ablöste, offenbarten sich mehr und mehr die Planungsmängel: Es fehlte ein funktionierender öffentlicher Nahverkehr, lebendige Nachbarschaften und urbane Identitäten verwahrlosten, die Attraktivität der Innenstadt nahm ab. Sprecher: Auch in Rio de Janeiro finden sich heute die Strukturprobleme einer typisch amerikanischen downtown, deren Identität sich zusehends auszehrt, da man sich nach getaner Arbeit in die Vororte der selbstgenügsamen Mittelschicht zurückzieht. Eckhart Ribbeck, emeritierter Stadtforscher an der Universität Stuttgart, beschreibt die Leere von Rios Centro: Zitator: "Wie in anderen lateinamerikanischen Metropolen ist das Zentrum Altstadt und City zugleich, deshalb stehen Denkmalschutz und Bodenspekulation im Dauerkonflikt. Überlastung und Imageverfall im Centro haben dazu geführt, dass viele Banken, Büros und Läden in die Zona Sul abgewandert sind. Durch Menschen- und Verkehrsmassen, die täglich durch das Centro fluten, lastet auf der Stadtmitte ein enormer Druck. Nachts und am Wochenende aber ist das Zentrum leer und gefährlich, weil es keine Wohnbevölkerung gibt. Diese wurde in früheren Jahren durch Abriss und durch ein Wohnverbot im Centro rigoros eliminiert, weil man die Altstadt in einen Central Business Distrikt nach nordamerikanischem Vorbild verwandeln wollte." Sprecherin: In Rio manifestiert sich schockartig der Kontrast zwischen dem ausgestorbenen Centro und dem Gewusel der favelas, zwischen den geschützten, elitären Wohnquartieren der Zona Sul und dem Strand, der des Nachts von den Gangs der favelas okkupiert wird. Städte wie Rio de Janeiro und São Paulo sind Orte klaffender sozialer Gegensätze und mangelnder Infrastrukturen. Der World-Habitat Report belegt, dass die tiefsten sozialen Gegensätze Lateinamerikas in Brasilien zu suchen sind. Während sich 2005 10 Prozent der Bevölkerung an 45 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erfreuten, blieben für die ärmsten lediglich 0,9 Prozent übrig. Da das verkehrsreiche Rio lediglich über zwei Metrolinien und ein schlecht funktionierendes öffentliches Transportsystem verfügt, haben sich die Reichen ihre eigenen Verkehrswege geschaffen. Sprecher: Weit oberhalb des gefährlichen Stadtraums sind 400 Helikopter unterwegs, um gestresste Manager sicher zum nächsten Besprechungstermin zu fliegen. Zum Extra-Service gehören sogar Helikopter-Taxis. In der Megacity São Paulo steht für die upper class sogar eine Hubschrauber-Flotte von 700 Maschinen bereit. Sprecherin: Eine sozial ausgeglichene und kompakte Stadt, eine Stadt öffentlicher Plätze und Einrichtungen bleibt unter diesen Umständen ein schöner Traum der Utopisten. Stattdessen fallen Rio und São Paulo in historische Stadtkerne und ausufernde Luxusquartiere und Elendsviertel auseinander. Einziges Bindemittel ist vielerorts die Gewalt auf den Straßen. Sprecher: São Paulo entwickelte sich in den letzten 130 Jahren von einem 30.000 Seelen-Städtchen zu einer 20 Millionen Hypercity. Claude Lévi-Strauss beschrieb in seinem ethnologischen Reisebericht "Traurige Tropen" den Ursprung São Paulos, zuerst sei es eine einfache 'reducción', eine Missionsstation gewesen, in der die portugiesischen Jesuiten sich seit dem 16. Jahrhundert bemüht hätten, die Eingeborenen zusammenzufassen und ihnen die Tugenden der Zivilisation beizubringen. Als Lévi-Strauss 1935 zum ersten Mal São Paulo besuchte, bemerkte er bereits eine emsige Bautätigkeit. 20 Jahre später notierte der französische Ethnologe: Zitator: "Im Jahre 1935 brüsteten sich die Bewohner von São Paulo damit, dass in ihrer Stadt durchschnittlich jede Stunde ein Haus gebaut werde. Damals handelte es sich um Villen; man versicherte mir, dass der Rhythmus bis heute derselbe geblieben ist, nur dass jetzt Wohnblöcke entstehen. Die Stadt entwickelte sich mit solcher Geschwindigkeit, dass es unmöglich ist, sich einen Stadtplan zu besorgen: jede Woche müsste eine neue Ausgabe erscheinen." Sprecher: Der Reisende aus Frankreich nahm nicht nur die vielen Baustellen im Zentrum wahr, sondern auch die ersten Vorstadt-Ringe, die Anfänge der Suburbanisierung: Zitator: "Die Millionäre sind mit der Ausdehnung der Stadt den Südhang des Hügels hinabgestiegen, in steile Gegenden mit krummen Straßen. Ihre Wohnhäuser aus glimmerhaltigem Zement und mit schmiedeeisernem Geländer sind im kalifornischen Stil erbaut und liegen in den Parks versteckt, die aus den ländlichen Waldungen herausgeschnitten wurden." Sprecherin: Mittlerweile hat sich die Verstädterungsdymanik um São Paulo dramatisch verschlimmert. Zwischen den beiden größten Metropolen Brasiliens hat sich eine ? wie es im World Habitat-Report heißt - Extended Metropolitan Region herausgebildet. Entlang einer 500 Kilometer langen Transportachse haben sich zahllose kleine und mittlere Städte zu gigantischen Megastadtregionen zusammengedrängt. Der Freiburger Humangeograf Christoph Dittrich beschreibt, wie Millionenstädte und Megastädte ineinander wachsen. In Lateinamerika gehe man davon aus, dass São Paulo und Rio de Janeiro in 20 Jahren eine riesige städtische Agglomeration mit einer Einwohnerzahl bis zu 100 Millionen Menschen bilden würden. Sprecher: Bereits vor 25 Jahren beschrieb der britische Stadtplaner Peter Hall Mexico-Stadt als die extremste Stadt der Welt: extrem in der Größe, extrem in der Bevölkerungszahl, extrem im alltäglichen Schreckensszenario und in den sozialen Spannungen. Mittlerweile hat die mexikanische Hauptstadt eine Bevölkerungszahl von 37 Millionen Einwohnern erreicht. Der urbane Polyp hat sich bereits Toluca einverleibt und greift jetzt mit seinen Tentakeln nach Cuernacavaca, Puebla, Cuautla, Pachuca und Querétaro aus. Mitte unseres Jahrhunderts dürfte Mexico-Stadt schließlich 50 Millionen Einwohner zählen und 40 Prozent der mexikanischen Gesamtbevölkerung umfassen. Sprecherin: Zum Stadtbild lateinamerikanischer Metropolen gehören gemeinhin auch die favelas. Also mittellose Bewohner, die von bewaffneten Drogendealern terrorisiert und von Polizeirazzien eingeschüchtert werden. Menschen, die in primitivsten Baracken hausen. Dennoch darf man sich Rio nicht zweigeteilt in Ober- und Unterstadt vorstellen. Denn die favelas sind nicht immer fernab der formellen Stadt, viele befinden sich sogar mittendrin. Sprecher: In Rio sind sie über das gesamte Stadtgebiet verteilt, mit starken Konzentrationen im Norden. Im Süden grenzen sie unmittelbar an die reichen Viertel Botafago, Copacabana und Ipanema, deren Bewohner sich an den billigen Dienstleistungen und Hilfskräften aus den Spontansiedlungen erfreuen. Formelle und informelle Stadt liegen auch in São Paulo eng beieinander. Beispielsweise breitet sich die berühmte favela Paraisópolis inmitten des reichen Viertels Morumbi aus. Direkt angrenzend an die Dachterrassen, Grünflächen, Tennisplätze und Swimming-Pools der begüterten Stadtbewohner. Selten prallen erdrückende Armut und ostentativer Reichtum stärker aufeinander. Sprecherin: Während in Paraisópolis 82.000 Menschen an Abwasserkanälen und an Hängen mit bis zu 35 Prozent Gefälle leben, erfreuen sich die Bewohner Morumbis eines der besten städtischen Krankenhäuser, eines riesigen privaten Fußballstadions sowie einer deutschen und amerikanischen Schule. Der amerikanische Stadtsoziologe Mike Davis beschreibt in seinem Buch "Planet der Slums", wie sich eine weitere umfriedete Wohlstandsinsel aus dem Stadtgewebe São Paulos ausgesondert hat: Zitator: "Brasiliens berühmteste befestigte und amerikanisierte Edge City ist Alphaville im nordwestlichen Quadranten des Großraums São Paulo. Perverserweise benannt nach der düsteren neuen Welt in Jean-Luc Godards schrägem Film von 1965, ist Alphaville eine vollständig privatisierte Stadt mit einem großen Bürokomplex, einem teuren Einkaufszentrum und befestigten Wohngebieten, die alle von mehr als 800 privaten Sicherheitskräften verteidigt werden." Sprecher: Stadtforscher Eckhart Ribbeck hat sich nicht nur in Rio de Janeiros historischem Zentrum und den zahlreichen favelas, sondern auch in den Stadtquartieren der aufstrebenden Mittelschicht und den sich ausbreitenden gated communities umgeschaut. Dabei stellte er eine auffallende Gemeinsamkeit fest: Eine städtische Öffentlichkeit gibt es weder im luxuriösen Viertel Barra da Tijuca noch in einem der sogenannten condomínios fechados: Zitator: "Die gated communities sind von Mauern umgeben und die Eingänge durch Wachleute gesichert. Passiert man das Tor, gelangt man in einen Service-Bereich, wo sich die Verwaltung, Läden und Taxi-Stände befinden. Hier ist die Anlaufstelle für Besucher, Zulieferer, Handwerker und sonstige Bedienstete, die in großer Zahl zum Betrieb der Luxus-Ghettos gehören. Auch im Innern des Quartiers ist das Sicherheitsbedürfnis fast obsessiv, Privatpolizei patrouilliert in den Straßen, und die Villen sind noch mals mit Mauern, Warnanlagen und Hunden geschützt. Nur gelegentlich wird die Ruhe der begrünten Wohnstraßen durch teure Autos gestört, die wenigen Fußgänger sind Hausangestellte, Wachleute oder gelegentlich ein Jogger. Freizeit-Clubs, Sport- und Spielplätze, Schwimmbäder und kleine Privatparks ergänzen die Ausstattung. Fitness-Center dienen dem Rio-typischen Körperkult. Manche condomínios fechados verfügen über private Anlegestellen an den Lagunen, von wo aus man mit den Booten das Meer erreicht." Sprecherin: Gated communities entsprechen dem Sicherheitsbedürfnis arrivierter Schichten in einer Welt wachsender sozialer Spannungen. Die in den Vereinigten Staaten entstandenen Luxus-Ghettos erlebten binnen weniger Jahre eine sprunghafte Nachfrage in den Entwicklungsländern ? von Istanbul bis Bangalore, von Johannesburg bis Lagos, von Buenos Aires bis Mexico-Stadt. Mike Davis beschreibt, wie die Eliten der Dritten Welt begierig die Fernsehbilder eines idealisierten Südkalifornien aufsaugen und sich in ihrem eigenen Beverly Hills und Orange County häuslich einrichten. Billigend nehmen sie es in Kauf, dass sie sich damit vom öffentlichen Raum absondern, den sie mit anderen Bevölkerungsschichten teilen. Gleiches geschieht in der mexikanischen Gemeinde Ixtapaluca bei Mexico-Stadt - einer riesigen Schlafstadt, die den amerikanischen suburbs für den begüterten Mittelstand nachempfunden wurde. Nach verrichteter Arbeit verläßt man die Hauptstadt in langen Autokolonnen und kehrt zurück in die endlosen, eintönigen Reihenhaus-Ketten der heimatlichen Vorstadt. Sprecher: Das Interesse der Käufer ist derart groß, dass das Bevölkerungswachstum innerhalb von zehn Jahren von 200.000 auf 600.000 Bewohner emporschnellte. Der Boom der suburbs und gated communities ist darauf zurückzuführen, dass der Staat ehemals öffentlichen Grund und Boden an private Investoren veräußerte. Die Immobiliengesellschaften nutzen ihre Chance und verwandeln die noch übrig gebliebenen Freiflächen in weitere Backsteinwüsten mit renditeträchtigen Einfamilienhäuschen. Der mexikanische Architekt José Castillo beschreibt die Strategie der developer: Zitator: "Als einige dieser Siedlungen geplant wurden, entstanden über Nacht zahllose Häuser, in letzter Zeit sogar 13.000. Hinter der Planung steht zumeist ein einziger developer, in vielen Fällen ein einziger Architekt. Obwohl es sich um großflächige Siedlungen handelt, erstaunt immer wieder der geringe Planungseinsatz. Je größer eine Siedlung desto geringer scheint die Planung zu sein. Gleichgültig, ob es am Entwurf oder am Zufall liegt, die vorherrschende Stadtplanung läuft stets darauf hinaus, dass dabei riesige gated communities mit homogenen Straßenverläufen, eintönige Reihenhäuser und zahllose Einbahnstraßen entstehen. Stadtplanung beschränkt sich darauf, ein Straßenraster zu entwerfen und möglichst viel verkäufliches Land zu veräußern, indem man die verschwindend geringe Zahl von Haustypologien unentwegt wiederholt. Entwürfe für Schulen, Geschäfte oder öffentliche Einrichtungen sind nicht vorgesehen. Das äußerst geringe Interesse am öffentlichen Raum trifft sich mit dem Fehlen öffentlichen Nahverkehrs. Schließlich wird jede Möglichkeit stadträumlicher Veränderung zunichte gemacht. Auf diese Weise reduziert sich Urbanität auf den simplen Hausbau, mit der Bildung von Nachbarschaften hat das nichts zu tun." Sprecher: In Mexico-Stadt, Rio de Janeiro und São Paulo gibt es neben den endlosen, uniformen Reihenhaus-Siedlungen und den wohlbehüteten Wohnparadiesen auch spontan gebaute Wellblechhütten, chaotisch geplante und ausufernde favelas. In Rio haben jüngste Zählungen 970 favelas ergeben, die sich über das gesamte Stadtgebiet verteilen. Allein in den letzten zehn Jahren sind 218 neue favelas hinzugekommen. Mittlerweile leben 30 Prozent der Stadtbevölkerung in informellen Siedlungen, außerhalb der eigentlichen, formellen Stadtbezirke. Die brasilianische Architektin Paula Berenstein erklärt, wie sich favelas von der übrigen Stadt absetzen: Sprecherin: "Eine favela unterscheidet sich grundsätzlich von einem geplanten Stadtteil. Favelas werden von den Bewohnern gebaut und die bauen ihr Zuhause völlig anders als Architekten und Stadtplaner. Wenn diese einen Stadtteil entwerfen, existieren meistens schon Straße und Grundstück. Sie beschäftigen sich also damit, wie Häuser und Siedlungen aussehen sollen. Die favela-Bewohner haben keinen Plan. Ihr erstes Ziel ist es, ein Dach über dem Kopf zu haben ? und danach bauen sie immer weiter. Denn das Geld reicht nie, um sofort das Ganze Haus zu bauen." Sprecher: Wie die Istanbuler gecekondus sind die lateinamerikanischen favelas spontan errichtete Siedlungen ohne Architekten. Eckhart Ribbeck versteht sie als "Selbsthilfe-Städtebau". Manche Häuser sind lediglich aus grobem Backstein, Abfallholz und Stroh gezimmert, andere weisen sogar ein minimales Betonskelett auf, das mit Ziegeln ausgefacht ist. Ob am Flussufer oder am Berghang ? die Gebäude der Hüttensiedlungen sind äußerst flexibel und passen sich jeder Umgebung an. Zudem sind sie fast beliebig ausbaufähig. Einem Selbstbauhaus wird nach einigen Jahren ein neuer Raum und nach zehn Jahren ein weiteres Geschoss hinzugefügt. Eckhart Ribbeck erkennt in den favelas einen eigenen Stadttyp: Zitator: "Die überall aufragenden Betonstützen unfertiger Selbstbauhäuser sind weltweit zum Symbol des spontanen Bauens geworden, - eine improvisierte oder 'informelle Moderne', die sich die Massen überall dort geschaffen haben, wo der Städtebau der Moderne versagt hat oder auf halbem Weg stecken geblieben ist. Das spontane Bauen ist also keine Tradition, die es nostalgisch zu bewahren gilt und auch keine hilflose Improvisation, die dringend nach Experten verlangt, sondern eine erprobte Überlebenspraxis der städtischen Massen, die sich - trotz Armut und gegen alle Widerstände ? zielstrebig ein Stück Stadt erobern." Sprecherin: Mittlerweile gibt es mehrere Architekten, die sich neben ihrer eigentlichen Profession dafür einsetzen, dass sich Infrastruktur und Lebensverhältnisse in den favelas verbessern. Der argentinische Architekt Jorge Mario Jáuregui, der sich seit vielen Jahren darum bemüht, favelas in Rio de Janeiro zu urbanisieren, benennt das grundlegende Problem: Zitator: "Wenn Drogenhändler in einer favela das Heft in die Hand nehmen und alles andere in Frage stellen können, dann weil die öffentliche Gewalt abwesend oder nicht genug präsent ist. Vor einer Intervention ist eine favela ein Ghetto ? ohne öffentlichen Zugang oder bestenfalls nur mit eingeschränkten Zugangsmöglichkeiten. In den meisten Fällen ziehen sich die Drogenhändler aus einer urbanisierten favela zurück. Die Urbanisierung von favelas ? zusammen mit Erziehung und Bildung, mit der Schaffung von Arbeitsplätzen und Einkommen, mit Gesundheits- und Sicherheitspolitik, also eine strategische Planung verknüpft mit urbanem Design ? das ist der einzige Weg, der uns aus dieser komplizierten Situation herausführt. Die urbanistischen Eingriffe haben ein neues Verständnis von Teilhabe geschaffen, einen neuen Bezug zu Gemeinschaft und Gesellschaft." Sprecher: Der aus dem verhältnismäßig wohlhabenden Montevideo stammende Architekt Héctor Vigliecca arbeitet ebenso wie Jáuregui seit mehreren Jahren in brasilianischen favelas. In São Paulos berüchtigtem Elendsquartier Paraisópolis verwirklichte er so etwas wie eine ganz normale Infrastruktur. Er legte einen Park an und band das Bestehende Straßenraster in das Verkehrsnetz der Umgebung ein. Sprecherin: Verhältnisse wie São Paulo oder Rio de Janeiro weist auch Venezuelas Hauptstadt Caracas auf. Hier breiten sich die beiden größten lateinamerikanischen Favelas mit jeweils mehr als 1 Million Einwohner aus ? Petare und "3 de Enero". Planungsexperten, die sich einen Überblick über die gewaltigen Dimensionen der bebauten Hügelketten machen wollen, nehmen am liebsten einen Hubschrauber. Zu diesen Experten gehören auch der Österreicher Hubert Klumpner und der Venezolaner Alberto Brillembourg. Beide Architekten, die sich während des Studiums in New York an der Columbia University kennen lernten, gründeten in Caracas den Urban Think Tank. Klumper verweist darauf, dass Venezuela das am stärksten urbanisierte Land in Lateinamerika sei. Fast 90 Prozent der Venezolaner lebten in Städten. Deswegen müsse man Caracas als städtisches Laboratorium betrachten. Aber Caracas sei genaugenommen überall, so Klumpner. Der Urban Think Tank Caracas sei der Auffassung, dass man den hier lebenden Menschen das nötige know how vermitteln müsse, um Katastrophen zu verhindern. Sprecher: In Caracas und den meisten lateinamerikanischen Metropolen begann die Verstädterung deutlich früher als in den asiatischen Boomregionen. Während der wirtschaftliche und demografische Aufschwung in China, Indien und Indonesien ab den neunziger Jahren einsetzte, hat sich Caracas schon seit 50 Jahren geradezu schwindelerregend ausgedehnt. Brillembourg erklärt, wie aus Caracas eine nahezu unkontrollierbare Megacity wurde: Zitator: "In den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts war Caracas eine regelrechte Boomstadt. Damals hatte die Metropole eine Million Einwohner, doch nur ein sehr kleiner Teil davon besiedelte die Hügel. Ab 1958 strömten schließlich die Einwanderer aus Kolumbien, Ecuador, Peru, Paraguay und Chile nach Venezuela, vornehmlich ins reiche Caracas. Seither wurden zusehends die Hänge besiedelt, wobei von den insgesamt 6 Millionen Einwohnern allein 4 Millionen auf den Hügeln leben. Auf jedem Hügel gibt es riesige informelle Siedlungen, außerdem kleine in den Flussbetten der Stadt. Unsere Hauptaufgabe sehen wir darin, die informellen Städte in die Infrastruktur von Caracas zu integrieren." Sprecherin: Brillembourg und Klumpner leben wie alle freien Architekten von Aufträgen, die sie von den vermögenden Schichten erhalten. Sie arbeiten für die formelle Stadt ? für die Klientel in den gut gesicherten barrios von Caracas. Die beiden Architekten setzen sich zum Ziel, Bauweise, Infrastruktur und Lebensbedingungen der Menschen in den riesigen favelas zu verbessern. Sie helfen den Bewohnern, infrastrukturelle Module herzustellen. Die können beispielsweise dazu dienen, Regenwasser für die Toilettenspülung zu speichern. Ein anderes Projekt regelt die Trinkwasseraufbereitung. Ein weiteres leitet die Favela-Bewohner dazu an, Erde mit Zement zu vermischen, um die Konstruktionsweise ihrer Hütten zu stabilisieren. Sprecher: Die Architekten haben auch größere Ambitionen. Dazu gehört der Bau einer Kabinenseilbahn, um die Ziegelbauten an einem steilen Hang besser erreichen zu können. Die zwei Kilometer lange Anlage soll das Viertel, in dem es bislang weder Straßen noch offizielle Wege gab, besser zugänglich machen. Für die Metrocable-Bahn hatte sich vor zwei Jahren sogar Präsident Chávez medienwirksam eingesetzt. Ein weiteres Projekt für die favelas, in denen es kaum Freizeitangebote gibt, ist das Gimnasio Vertical ? ein mehrgeschossiger Kubus mit einer Laufbahn sowie Spielflächen für Volleyball, Basketball und Fußball. Die von den Anwohnern begeistert aufgenommene Sportstätte erwies sich als wirkungsvolles Mittel, um der eskalierenden Gewalt in der ärmsten favela von Caracas zu begegnen. Sprecherin: Auch Rio de Janeiro ist seit einigen Jahren bestrebt, etliche favelas in normale Stadtteile zu verwandeln. Das Strukturprogramm, das durch Kredite der Interamerikanischen Entwicklungsbank subventioniert und von anderen lateinamerikanischen Staaten kopiert wurde, heißt Favela-Bairro. Anfang letzten Jahres beschloss die brasilianische Regierung, die favelas in Rio mit 340 Millionen Euro zu sanieren. In den nächsten Jahren sollen besonders die größten illegalen Siedlungen von dem Geldsegen profitieren ? ebenso die berüchtigte Complexo do Alemão. Staatspräsident Lula da Silva möchte durch die Subventionen nicht nur die Gewaltexzesse bekämpfen, die zumeist auf rivalisierende Drogenhändler-Banden zurückgehen. Letztlich will er in Complexo do Alemão und anderen favelas die öffentliche Ordnung einführen, die den Drogenhändlern ein Graus ist. Sprecher: Lula beabsichtigt, sie mit Polizeistationen, medizinischen Einrichtungen und Kulturzentren auszustatten. Aber auch mit asphaltierten Straßen und Regenwasserbehältern für WC-Anlagen. Zudem sieht er vor, die Häuserfassaden anstreichen und für den Energiebedarf Sonnenkollektoren einsetzen zu lassen. Für Eckhart Ribbeck, der sich noch an die gewaltsame Planierung der favelas in den sechziger Jahren erinnert, ist das sozialintegrative Strukturprogramm ein großer Fortschritt: Zitator: "Trotz aller Schwierigkeiten hat das Projekt Favela-Bairro eine neue Phase im Umgang mit den favelas eingeleitet, die Stadtverwaltung ist in den Armutsgebieten wieder präsent und in der Bevölkerung wächst die Einsicht, dass es dabei nicht nur um politische Wahlmanöver, sondern um konkrete Verbesserungen geht." Sprecherin: Selbst Kolumbiens Hauptstadt Bogotá, zermürbt durch jahrzehntelange Kämpfe mit der kriminellen Drogen-Guerilla, sieht einer lichteren Zukunft entgegen. Vor nicht langer Zeit strömten noch 400.000 Landbewohner, die vor dem Bürgerkrieg flüchteten, in den Armutsgürtel Bogotás. Der 1998 zum Bürgermeister gewählte Enrique Peñalosa war von der Vision beseelt, alle Bürger gleichermaßen am Stadtleben partizipieren zu lassen. Das Versprechen einer demokratischen Kultur löste Peñalosa durch eine verkehrstechnische Neuerung ein: Er hob den "TransMilenio" aus der Taufe, ein äußerst effektives, modernes und wirtschaftliches Stadtbussystem, das selbst die entferntesten favelas erreicht. Außerdem ließ er in seiner dreijährigen Amtszeit etwa tausend Grünanlagen pflanzen oder rekultivieren. Peñalosa sprach damals von einer "reconquista" des öffentlichen Raums. Er meinte damit: Es ist an der Zeit, dass sich die Bewohner der Elendsquartiere als normale Stadtbewohner anerkannt fühlen. 10