DEUTSCHLANDFUNK Redaktion Hintergrund Kultur / Hörspiel Redaktion: Tina Klopp Feature Die Prosa der Produkte Was die Dinge erzählen, ob man will oder nicht Von Ulf Erdmann Ziegler Produktion: DLF 2015 Regie: Tina Klopp Sprecher: Bruder 1 Bruder 2 Erzähler: Sprecher Overvoice: Produktion: Mo, 02.02.2015 – Do, 05.02.2015 – 09:10-16:20 – M2 Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Freitag, 30. Januar 2015, 20.10 - 21.00 Uhr MS Die Prosa der Produkte ATMO Schulhof Kinder ANSAGE: Die Prosa der Produkte Eine Sendung von Ulf Erdmann Ziegler Bruder eins (In zwei Sprechhaltungen aufgenommen, einmal ganz nah, erinnernd, dann wieder erzählend im Plauderton) (plaudernd) Mein Bruder und ich, wir waren in einer schwäbischen Siedlung bei Onkel und Tante abgegeben worden, um Ferien zu machen. Alles war brandneu, fast eine Stadt für sich, immer schien die Sonne und wir hatten ungeheuer viel Zeit. Also wirklich nichts zu tun. (nah) Da entdeckten wir im Einkaufszentrum den Kaugummiautomaten, nichts anderes als ein metallenes Gehäuse mit Kopfteil und Fußteil, in dem ein transparentes Acrylbehältnis so eingefasst war, das man all diese Dinge, die stoisch darin ruhten, von drei Seiten aus betrachten konnte. (plaudernd) Es waren vor allem bunte Kaugummibälle, die uns nicht interessierten, plus einige Gegenstände: der attraktivste ein winziges Feuerzeug, dessen Behälter gerundet und eingefasst mit Krokodillederimitat. (nah) So eins wollten wir haben. (plaudernd) In einen vertikalen Schlitz über einem horizontalen Griff konnte man einen Groschen werfen, der mit der halben Drehung des Griffs komplett verschwand und nichts anderes als ein gedämpftes Klötern hinterließ, wenn er im Inneren zu den anderen Groschen fiel, willkommen in der Hölle. (nah) Wenn die Bälle Augen waren, die ungezählten Augen eines Monsters, dann war der Griff die Nase, die man ihm herumdrehte, ohne dass es seine Gestalt deshalb veränderte, 180 Grad, und der Mund bestand aus einer hochformatigen Klappe, auf der „THANK YOU“ stand, wir wussten, was das bedeutete. (plaudernd) Hob man die Klappe an, zeigte sich, was man für einen Groschen bekommen hatte, zwei oder drei bunte Kugeln; aus Langeweile fing man an, darauf herumzubeißen, die roten schmeckten anders als die grünen oder die gelben. (nah) Der Bruder hatte bemerkt – oder war ich es? –, dass der Griff sich auf einem Zahnrad bewegte, fünf oder sechs Zacken, und wir verlangsamten die Drehung so, dass man jeden Zacken spürte, die klangen sogar unterschiedlich, und versuchten dann, kurz vor dem jeweils nächsten Einrasten, zurückzudrehen, was bei den ersten drei Zacken nichts brachte, es fiel noch kein Gegenstand in den Schacht. Auf der zweiten Hälfte der Drehung konnte man aber – irgendwie – zeitlich und räumlich zulegen, den Mechanismus, der doch kaum etwas anderes sein konnte als ein sich öffnendes und wieder schließendes Loch am Boden des Schaubehälters, für Bruchteile von Sekunden austricksen, so dass er mit einem Rattern etwas hergab, was nicht vorgesehen war. Jedenfalls schien es in unserer Macht zu stehen, weit mehr zu bekommen als vorgesehen. Oder sogar das ganze Ding zu leeren, natürlich nicht wegen der Kaugummikugeln, sondern wegen der Ringe und der Figuren – und dem Feuerzeug. (plaudernd) Für den möglichen kommenden Sturz der Waren hielt der eine, auch wenn es unbequem war, die Thank-you-Klappe offen, während der andere vor und, soweit eben möglich, auch wieder zurück drehte. Dennoch brauchten wir eine Menge Groschen, die wir gegen Markstücke an der Supermarktkasse tauschten, (nah) wobei wir uns davor fürchteten, gefragt zu werden, wofür wir all die Groschen wohl bräuchten. (plaudernd) Immerhin hatten wir am Ende, all unser Taschengeld verschwunden, beide ein Feuerzeug, er eines mit grünem Krokodillederimitat und ich eines mit braunem, entzückende Miniaturen, aber kein Spielzeug, denn die waren mit Benzin gefüllt und brachten, wenn man das Rädchen mit dem Daumen bewegte, eine Flamme hervor. ATMO aus ZUSPIEL snack mix 9. O-Ton (9) Diebisches Mädchen: Siebziger Jahre, ich war acht Jahre alt. Meine Eltern neigten zu einer gewissen Nachlässigkeit, und so konnte ich ihnen einmal aus einer Schublade eine Mark entwenden. Mit der bin ich losgestiefelt in den Laden an der Ecke, ein Süßigkeitenladen, eigentlich ein Schreibwarengeschäft, aber mit einer Ecke voller Herrlichkeiten für uns Kinder – da konnte man für kleinste Beträge so wundervolle Sachen kaufen wie Salmilollys mit Schokoüberzug, Lakritzschnecken, Erdbeerschaumgummis, Gummibärchen, Dominos, Kirschlollys, Zuckerstangen, all solche Dinge. Ich kaufte also für eine Mark und am Ende war die Tüte natürlich prallvoll, die Sachen guckten oben raus – es war ein Exzess. Ich trat aus dem Laden, und wer läuft mir über den Weg: Ausgerechnet mein Vater. Er blickte sehr streng und fragte: Wo hast du denn das Geld her? Dieser Blick war die Strafe, ich war zutiefst beschämt, und ich weiß es noch, als wär's gestern gewesen. ERZÄHLER Niemand braucht Schokolade, aber gerade das macht sie so begehrenswert. Die Branche hat längst nicht nur die Kinder im Blick hat, auch wenn der Schokokonsum an kindliche Urerfahrungen anschließt. 10. O-Ton (10) Johannes Dorn: Wenn man ganz früh rangeht, der erste orale Eindruck ist ein süßer. Muttermilch ist süß, auch die Muttermilchersatzprodukte, mit denen wir in den sechziger Jahren aufgezogen wurden, hatten durchaus 'ne süße Komponente, und auch der erste Brei, von dem ich esse, der ist von der Konsistenz wie eine Schokoladenbrei. ERZÄHLER Der Psychologe Johannes Dorn vom Kölner Marktforschungsunternehmen Rheingold sagt allerdings, dass gerade die regressive Tendenz im Verschlingen von Süßwaren dessen Radius am Markt begrenzt. 11. O-Ton (11) Dorn: Bei Kindern spielt das keine Rolle, aber als Erwachsener in einem wichtigen Meeting Schokolade zu lutschen und sich so ganz dem süßen Schmelz hinzugeben: Das geht nicht. ERZÄHLER Zumindest tagsüber nicht, wenn es gilt, erwachsen und vernünftig zu sein. 12. O-Ton (12) Dorn: Gerade nachts, wenn Ihre gesamte Ich-Struktur über den Schlaf, über die Stilllegung im Bett runtergefahren ist, wenn Sie eigentlich kein Blödsinn machen können, wenn Sie im Bett liegen und schlafen – oder sagen wir, relativ wenig Blödsinn -, wenn unbewusste Tendenzen mehr Kontrolle über sie haben als tags, wenn Sie wach sind … Da passt natürlich so'n kindliches, regressives Produkt wie Schokolade hervorragend rein. [Dann ist es, -] dann hat [auch] dieser nächtliche Heißhunger vorm Kühlschrank auch was damit zu tun, dass die Ich- Abwehr, so würden die Psychonalytiker sagen, dass die nicht mehr so stark ist. ERZÄHLER Die Werbung versucht Tunnel zu graben und Brücken zu bauen. Ganze Ketten von Argumentationen haben sich erledigt. Niemand glaubt, dass man in der Schulpause halb verhungert oder zum Sport mal schnell eine milchverwandte Stärkung braucht. Alles Unsinn, wir sind bestens genährt. Also lässt man die Slogans Revue passieren. 13. O-Ton (13) Dorn (Take „ritter“): Und es gab ja auch die "quadratisch-praktisch-gut", die letztendlich ein anderes Problem beantwortete, das für die Süßwaren in den Achtzigern, mit den Neunzigern hundertprozentig aufkam, nämlich, dass ein Rückzug in eigene, sensorische, schokoladige süße Welten auch immer eine Abkehr ist davon, sich konzentriert und fokussiert um den erwachsenen Alltag zu kümmern. (…) Also das Produkt mit seinen kleinen Vierecken, die man auch wirklich überschaubar abbrechen kann – und vermeintlich sehr diszipliniert eins nach dem anderen essen kann. Dieser Claim sagt, Hier bleibt etwas praktisch, etwas Vernünftiges, das bleibt ganz überschaubar. Da ist nichts, was an den Rändern ausfranst oder verträumt wird oder komplett sich in Genusswelten auflöst, sondern das verspricht erst mal – obwohl Schokolade das dann doch tut – eine sehr saubere, überschaubare, erwachsene Sache. ERZÄHLER Die Werber erweisen sich damit als genaue Beobachter der Gesellschaft und des Wettbewerbs der Ideen und deren Historiographen. 14. O-Ton (14) Nadja Mayer: (…) Es gab und es gibt heute noch eine Zeitschrift, die man an Supermarktkassen findet, die heißt: „Meine Familie & Ich“. Und als Magnum mit der Werbung startete, 1989, stand auf diesen Plakaten ganz groß zu lesen: Ich und mein Magnum. Man kann das [so ein bisschen] als den Höhepunkt oder den Gipfel des als hedonistisch geltenden Jahrzehnt, die 80er Jahre werten. Dieser Shift vom sorgenden, zuerst an die Familie Denkenden – hin zu dem: Erst komme ich. ERZÄHLER Auf der Packung des teuren Eises-am-Stiel für Erwachsene, darauf weist die Frankfurter Texterin Nadja Mayer hin, erkennt man ein stilisiertes Herz, das der ursprüngliche Hersteller entwickelt hatte. 15. O-Ton (15) Mayer: In den neunziger Jahren hat Langnese beschlossen, sein Logo zu ändern. Das ursprüngliche Logo war weiß, blau und rot und erinnerte von den Formen und den Streifen an eine Sommermarkise, vielleicht die Markise einer Eisdiele oder eines Kiosk, hier in Frankfurt sagen wir Büdchen dazu, und war eigentlich der Inbegriff - sowohl von den Farben, dieses Blau-weiß-rot als auch von der Form, mit dem leicht geschwungenen Schriftzug in der weißen Aussparung – der Inbegriff von Sommer. Die Änderung hatte zwei Gründe, zum einen wollte man das Logo ein bisschen jahreszeitenunabhängiger machen und zum anderen sollte es besser auch international funktionieren. Man hat sich dann für eine andere Farbgebung entschieden, und zwar ist es so eine Mischung aus Gelb und Rot, und die Form ist ein Symbol, das beinahe überall auf der Welt funktioniert, eine Art spiralenförmiges Herz. ERZÄHLER Während der artige Konsument davo überzeugt ist, dass Werbung ihm unnötige Dinge aufdrängt, überfällt ihn eine wehmütige Stimmung, wenn Logos und Slogans ersatzlos gestrichen werden. Mit der Sommermarkise von Langnese ist eine Orientierungsmarke verschwunden, ein durchaus kollektives Moment der Erinnerung. 16. O-Ton (16) Dorn: Die Vorstellung, dass Werbung jemand überzeugen könnte, etwas zu tun, was er nicht machen will, ist absurd. Das funktioniert nicht. Werbung funktioniert nur dann, wenn sie tatsächlich etwas aufgreift, was Relevanz hat, oder eine relevante Lösung, oder ein Vorbild, oder eine Idee, oder einen Anstoß anbietet, insofern ist es nicht verwunderlich, dass gute Werbung - vielleicht durchaus vergleichbar mit dem gutgemeinten Ratschlag eines Großvaters, oder eines Jugendfreundes oder eines Lehrers - eine hohe Konstanz [hat], und vielleicht auch Nachwirkungen hat. ERZÄHLER Tatsächlich kann ein Slogan sich verselbständigen. Es werden Heiratsanzeigen verschickt: „Aus Müller wird jetzt Schmitz, sonst ändert sich nix“, dabei ist die Umbenennung der Keksriegel mehr als zwanzig Jahre her. 17. O-Ton (17) Mayer: „Aus Raider wird jetzt Twix, sondern ändert sich nix.“ ERZÄHLER Was für ein fundamentales Versprechen. Zuspiel WERBEMIX Versicherungen ATMO Dachboden (Beim rumräumen, sortieren, Sachen packen) Bruder eins Also fangen wir an mit denen, die gar nichts haben, Flüchtlinge, junge Leute, die soeben mit dem Leben davon gekommen sind. Sie sitzen da auf schwarzglänzenden Planen, die eine Hilfsorganisation ausgebreitet hat, ein temporäres Lager; manche sehen in die Kamera. Sie haben keine Koffer, keine Taschen, keine Radios, keine Trinkflaschen, noch nicht, sie haben sich soeben dahingesetzt. Aber sie tragen Kleidung, nicht viel, eine Hose, ein T-Shirt. Das, was sie eben am Leib trugen, als sie davonliefen vor dem Grauen. Nicht irgendwelche Hosen und irgendwelche Hemden, sondern Markenjeans oder deren Imitate, und auf einem der T-Shirts sieht man das Coca-Cola-Logo. Sie sitzen auch nicht irgendwie auf den schwarzglänzenden Planen, sondern so, dass man denken könnte, sie wären für ein zynisches Fashion-shooting dahingesetzt worden. Bruder zwei Es gibt also niemanden, der nichts hat? Bruder eins Die Rede ist hier nicht von den Armen und den Reichen, von der Statistik: Drei Prozent aller Individuen auf dieser Welt gehört 95 Prozent aller Güter und so weiter. Aktien, Spekulation, Staatskassen, viel zu abstrakt. Mich interessieren nur Güter, die jemanden bezeichnen, sagen wir, du kennst den Doktor von gegenüber nicht und ich sage, das ist der mit dem Porsche. Und sagst: …. Bruder zwei Ach, der mit dem Porsche. Bruder eins Eine Menge von Touristen, die wir von oben sehen, und ich sage, siehst du die mit der froschgrünen Bluse? Bruder zwei Na und, das gibt es in der Natur ja auch. Siehst du das Vögelchen mit dem blauen Häubchen? Bruder eins Klar, oder ein Berg, der aussieht wie ein Gesicht, aber darum geht es jetzt nicht. Bruder zwei Worum dann? Ein Gesicht, das aussieht wie ein Berg? Bruder eins Nein, um die froschgrüne Bluse. Bruder zwei Die aber kaum zu finden ist. Ist dir das mal aufgefallen, dass eine Menge Frauen und fast alle Mädchen Klamotten in pink und rosa tragen? Bruder eins O doch. Seit Jahren schon. Ich würde sagen, seit zehn Jahren mindestens. Die haltbarste Mode überhaupt… Bruder zwei … außer Tattoos. Bruder eins Wir sprechen hier nicht von Tattoos. Bruder zwei Warum nicht? Bruder eins Weil sie nicht zur Welt der Waren gehören, zu den Dingen, mit denen wir uns umgeben. Bruder zwei Natürlich gehören Tätowierungen dazu. Man muss sie kaufen. Man wählt sie aus. Sie leisten viel mehr, den einen vom anderen zu unterscheiden, als die froschgrüne Bluse. Bruder eins Ah, ich sehe, das Bild-und-Ding-Problem. Bruder zwei Lassen wir das weg. Bruder eins Schieben wir das auf. Bruder zwei Also, das reine Objekt. Bruder eins Was wäre das reine Objekt? Bruder zwei Ein Barren Gold. Bruder eins Das ist gut! Ein Barren Gold. Form vertraut. Material unzweifelhaft. Transportabel. Kann man haben. Bruder zwei Und zählen. Bruder eins Zählen? Bruder zwei Ja, einer, zwei, drei davon. In der Bank gibt’s noch mehr. Bruder eins Stimmt. Das ist ein Nachteil. Bruder zwei Inwiefern. Bruder eins Es ist ein Standard, wertvoll ja, begehrenswert gewiss, aber es gibt keine Varianz. Falls doch, ist das nur verdächtig. Dein Goldbarren ist mir… zu rein. Zu archaisch. Bruder zwei Dann nimm doch einen Ehering. Mit Datum drin, Namen oder Initialen. Hat einer am Finger, bis er stirbt. Bruder eins Ich sehe schon, ich krieg dich nicht dahin. Du gehst so gut wie nie zu Karstadt. Du kaufst nichts auf Ebay. Bruder zwei Alles kommt jetzt aus China. Bruder eins Fast alles. Dinge verändern sich. Bruder zwei Nicht Dinge ändern sich, sondern die Leute, die sie haben wollen. Bruder eins Manches bleibt auch gleich. Bruder zwei Fast nichts. Bruder eins Einverstanden. An einem Faden aufgereiht, gibt es die Dinge des Lebens. Erst über die Dinge wissen wir, wer wir sind. Bruder zwei Wo hast du das denn her? Aus dem Manufaktum-Katalog? ZUSPIEL WERBEMIX 21. a Thomas Panke: Meinen Lego-Laden „Held der Steine“ habe ich in erster Linie aufgemacht, um einen Facheinzelhandel in Frankfurt-Sachsenhausen anzusiedeln. Lego selbst hat für mich… eine sehr schöne Kindheitserinnerung, hat etwas sehr beruhigendes… was ich neben dem Job spielen oder bauen konnte, und es hat eine sehr, sehr große und stabile Fangemeinde. Erzähler Die Frankfurter Gutzkowstraße, südlich des Mains. Die Gegend ist vor allem zum Wohnen da, aber in den Häusern, bescheidener Gründerhausstil und einige Nachkriegsbauten, gibt es auch einige Geschäfte, vor allem an den Ecken. Zum Beispiel den alteingesessenen Bioladen Grünkern, heutzutage mit komplettem Mittagsbuffet, und eine Boutique mit possierlichen Mädchenkleidern von Nina Hollein. Und seit zwei Jahren gibt es hier das Geschäft von Thomas Panke, das ausschließlich Lego und seinem kindlichen Vergnügungen gewidmet ist. 21. b Und das wichtige ist, dass ein Kind einkaufen kann, dass es tatsächlich vor Ort, im Laden das Einkaufsverhalten lernen kann. Erzähler: Der typische Kinderonkel ist Panke nicht. Die Hälfte des Umsatzes kommt sowieso von erwachsenen Modellbauern, die ihre Kindheit entführt haben in einen Phantasy-Park nach Feierabend. 22. Panke: Nachdem ich dann nach dem Abitur Geschichte studiert habe, was ja auch ganz nah am Elfenbeinturm ist, und dann in die IT-Branche gewechselt bin, und da nur an Prozessen gearbeitet habe, die eigentlich nur virtuell stattfinden – (…) war dann der Schritt in den Einzelhandel, der Direktkontakt mit Menschen und auch mit Kindern und an deren Leben ein wenig teilzuhaben, wenn man dann Nachbarschaftsladen ist, schon ein sehr wichtiger Schritt, und ein sehr schöner. Erzähler: Dieses Ladengeschäft ist mit weniger als hundert Quadratmetern nicht allzu groß, aber es hat zwei Fensterfronten. Da kann man eine Menge zeigen. Die sorgsam aufgestapelt Kartons mit ihren suggestiven szenischen Bildern sind schon imposant genug – das findet man im Kaufhaus nicht! – aber die eigentliche Qualität dieses Geschäfts liegt woanders: 22.a Ich habe auch fast alle Ersatzteile vorrätig, so knapp anderthalb bis zwei Millionen Teile vorrätig, alles andere besorge ich meist aus den Sets selbst, denn das ist die beste Art, Ersatzteile da rauszuholen. Erzähler Ganz im Ernst – man öffnet ein komplettes Set, um ihm eine gesuchte Figur zu entnehmen? Kurz macht man sich ein wenig Sorgen um den Laden und seinen engagierten Besitzer. Thomas Panke ist hier im Frankfurter Süden aufgewachsen. Er hat viele kleine Geschäfte untergehen sehen. 19. O-Ton (18) Panke: Als Sachsenhäuser habe ich dann durch meine Kindheit auch angefangen, die Läden zu beobachten und meine Lieblingsläden auch im Auge zu behalten, und das konnte ich seit Mitte der 90er, vor allem Ende der 90er den drastischen Niedergang erleben, was den Einzelhandel anging, dass ein kinderspezifisches Geschäft nach dem anderen aufgegeben hat – im ganzen Frankfurter Stadtgebiet; (…) allerdings bringt das dann auch viel Raum für einen guten Laden, dass man sich in dem Vakuum, was geschaffen ist, dann breitmachen kann. Erzähler Das Angebot ist riesig. Das Schmuckstück: ein grauer Eiffelturm, ein Meter Höhe, der auf dem Tresen steht. Aus Lego natürlich. Thomas Pankes Namenswahl – „Held der Steine“ - bezieht sich auf das, was Urs Latus vom Spielzeugmuseum in Nürnberg als „Ur-Lego“ bezeichnet. Denn ursprünglich war Lego ein rein konstruktives Spielzeug, gar nicht so weit entfernt von den pädagogischen Grundformen Friedrich Fröbels, der auch den Kindergarten erfunden hat. 23. O-Ton (21) Urs Latus: Fröbels Idee war ja, dass das Kind anfängt mit Kugel, Walze, Würfel, und im Laufe seines Werdens, seines Jugendlichwerdens, Erwachsenwerdens immer kompliziertere Gebilde zur Verfügung gestellt bekommt – oder Spielmaterialien, Baumaterialien, die die Welt im wahrsten Sinne des Wortes "begreifbar" machten. ERZÄHLER „City“, „Castle“, „Friends“, „Jima“, „Ninjago“... Die häuslichen Szenen, die Thomas Panke "Themen" nennt, wachsen sich aus zu ganzen Häuserzeilen, Burgen und Schlössern, und enden in Szenarios aus "Star Wars", - Krieg der Sterne. Lego ist fast komplett durchlizensiert, ein Miniaturhollywood. Die Phantasywelt von heute hat einen realistischen Vorläufer, dessen Wurzel in der grafischen Illustration liegt. Dann wurden sie dreidimensional, kinderzimmertauglich in Form von Zinnfiguren. 24. O-Ton (22) Latus: Zinnfiguren ermöglichen ja den Aufbau kleiner Welten, die ihre Vorbilder in der realen Welt haben, also den Bauernhof, beispielsweise, den gab es, die Schlachten, die Tierwelt – die exotische oder die heimische -, das ist so das Thema der Zinnfiguren, oder eventuell Göttersagen. Weil es gibt zum Beispiel auch sämtliche antike Götter in der Zinnfigurenwelt. ERZÄHLER Lego ist von einem vorwiegend konstruktiven zu einem Rollenspielzeug geworden. Wie Vampire haben sich die „Themen“ des universalen Spielzeugs bemächtigt und seine Universalität ausgesaugt. In einer Produktnische allerdings, genannt „Creator“, probiert Lego, an die alte Kombinatorik anzuschließen. Ein identisches Set, drei Möglichkeiten. 25. a Und dann kann aus einem Hubschrauber danach ein Flugzeug werden, was noch verwandt ist. Dann baut man ein Auto, was weiter weg ist, und dann baut man einen Dinosaurier mit den gleichen Teilen aus dem gleichen Set auf. Das ist eigentlich das ursprünglichste Lego, was auch am meisten Spaß macht, und man hat bei „Creator“ auch die Möglichkeit, sich selbst hineinzudenken, was eigenes zu erfinden, man ist nicht gefesselt. Das geht dann hoch bis zu großen Sets, die tausend, tausendfünfhundert Teile haben, und dort hat man dann richtig die Möglichkeit, frei zu bauen. 25. O-Ton (23) Urs Latus: Unsere Welt wird immer differenzierter, und das lässt sich eben auch im Spielzeug belegen. ZUSPIEL Werbemix ATMO Haus am Meer (Erde umgraben) Bruder zwei Mein Ideal ist ein fast leerer Raum, ein Lesesessel, muss kein Eames sein, aber so etwas in der Richtung, ein Sessel, der einen hält wie eine große Hand. Daneben eine Leselampe, stehend, muss nicht von Artemide sein, aber eine, die sich leicht schwenken lässt, man lässt sich erst in den Sessel fallen und schwenkt dann den kleinen Lampenschirm direkt über das Buch. Die Wände sind weiß und an einer der langen Seiten ist ein Sideboard aufgebaut, es muss nicht unbedingt eines von USM Haller sein, aber toll wäre das schon, diese Chromeinfassungen und die Stahlelemente vielleicht rot, kaminrot, aber nach vorn offen, so dass man die Bücher sehen kann, die Schallplatten und die CDs, nein die CDs im Sideboard hinter einer Tür, die sich nach oben schwenkt wie ein Garagentor, und dann fährt man die Schublade raus, auf der die CDs sortiert sind, mit den Rücken nach oben. Ich mache immer alles alphabetisch. Über dem coolen Sideboard ein ungegenständliches Bild. Es muss kein Richter sein. So stelle ich mir das vor. Tatsächlich habe ich nie in einem neuen Haus gewohnt. Aber ich habe schon leere Zimmer bezogen und dachte immer, das ist gut, da kann man frei denken, alles ist möglich. Aber nicht lang, jedenfalls nicht bei mir. Nicht nur eine Lampe, ach wo, drei vier fünf, und dazu die Kabel. Ein Tisch, der frei ist, Platz für Manuskripte. Die bleiben dann liegen, und später ist gar nichts mehr frei. Ich stapele auch Sachen auf dem Boden. Wenn ich reich wäre und würde mir ein Haus bestellen bei Herzog und Meuron – sinnlos. Am Anfang wäre es das Haus, in dem alles möglich ist, und bald schon wäre es das Haus, in dem ich wohne, und in dem es dann aussieht wie überall, wo ich gewohnt habe, zuvor. Versteht mich nicht falsch: Ich bin trotzdem glücklich. ATMO Wald O-Ton Collage 2 27. O-Ton (25) Nicolai Siegel: Eigentlich sind wir immer jeden Sommer nach La Boule gefahren in eine kleines Haus, was mein Vater schon zu Studentenzeiten gekauft hat – es war eine ziemlich lange Fahrt, zehn, zwölf oder vierzehn Stunden, die wir eigentlich immer gebraucht haben. Als wir angekommen sind, sind meine Schwester und ich ein paar hundert Meter vorher ausgestiegen, vorm Auto hergelaufen, mussten irgendwelche Steine vom Weg sammeln, bis wir dann beim Haus angekommen sind. Die letzten Meter mussten wir unser Gepäck tragen, weil man wirklich nicht bis zum Haus hinfahren konnte. Ja, dann waren wir da. 28. O-Ton (26) Barbara Häusler: Mir geht es überhaupt nicht darum, gezielt Antiquitäten zu suchen oder so etwas. Dinge, die einen materiellen Wert haben. 29. O-Ton (27) Siegel: Im Vergleich zu unserem richtigen Zuhause fehlte natürlich viel, es war kein fließend Wasser da. Es gab eine Wasserleitung, wo auch irgendwie Wasser rauskam, aber die musste immer erst mal in Stand gesetzt werden, nachdem wir angekommen sind, Strom gab’s keinen, kein Licht – es gab viele Kerzen, Gaslampen, die man auch gut benutzen konnte, aber es war wirklich bemerkenswert, wie man sich darauf einstellen musste. Ich kann mich erinnern, wenn man nachts wachwurde und es dunkel war, wie man immer nach links oder rechts neben die Tür gegriffen hat, um das Licht anzumachen – und es gab einfach keinen Lichtschalter. Das war nichts, was ich wirklich vermisst hätte. 30. O-Ton (28) Häusler: Der Wert ist nur für mich existent, und zwar auch genau in der Zusammenstellung, wie die Dinge zusammengehören, wie sie zusammen wirken. Man könnte sich vorstellen, dass ich in einem großen Haufen zusammengestückelten Unrats lebte, - finde ich überhaupt nicht. Es ist ganz ulkig, wie das Krankenhausnachttischchen neben die Werkbank – von Apparatewerke Treptow – passt. 31. O-Ton (29) Siegel: Ich kann mich erinnern: Das, was ich da vermisst habe, als wir da früher angekommen sind, dass das am ehesten warmes Wasser war. Als Kind immer kalt duschen zu müssen oder sich zu waschen, dass das einfach nichts war, was man wirklich gerne gemacht hat. 32. O-Ton (30) Häusler: Also so ganz richtig erklären, wie die Dinge jetzt zu mir kommen, kann ich auch nicht. Ich kann einfach nur sagen, die sind da. Und ich sehe sie. Ist mir manchmal selbst ein bisschen rätselhaft. Ich kann mit fünf Leuten irgendwo langgehen – keiner sieht’s. Ich seh’s! 33. O-Ton (31) Siegel: Was sonst noch fehlte, war Telefon: Man war ganz abgeschieden, und trotzdem hatte man häufig das Gefühl, dass das Telefon irgendwie geklingelt hat. Was natürlich gar nicht sein konnte. Dass es ein Geräusch gab und man dachte, jetzt klingelt das Telefon – wir haben uns auch häufig gegenseitig verarscht, einen gerufen und gesagt, „Komm mal her, das Telefon klingelt“, aber das konnte natürlich gar nicht sein. 34. O-Ton (32) Häusler: Ich habe einen wunderbaren, alten Esstisch, eine wunderbare, alte Holzplatte, abgenutzt, war vielleicht mal ein Schneider, weil viele Nadellöcher in der Oberfläche sind. Die lag auf der Straße! Die lag genauso auf der Straße wie die Badewanne, die ich mal dringend brauchte, weil wir unser Bad renoviert haben. Die stand eines Morgens direkt vor der Tür. Man musste sie nur noch hochtragen. WERBEMIX ATMO Einkaufsladen ERZÄHLER Wer ins strahlend saubere, suggestiv illuminierte Geschäft von Hermès in der Frankfurter Goethestraße eintritt, findet gleich links die Schauvitrine mit den penibel unter Glas gefalteten Tüchern, die sich erst in Carrés, also Vierecke, verwandeln, wenn sie für den Kunden aufgefaltet werden. 35. O-Ton (33) Henning Kopf: Unsere berühmten Hermès Carrés werden traditionellerweise in unseren Ateliers in Lyon in einem sehr aufwendigen Verfahren hergestellt. Es handelt sich um ein Siebdruckverfahren, mit dem es möglich ist, bis zu 48 verschiedene Farbnuancen auf einem Motiv zu platzieren. ERZÄHLER Aufgefaltet, misst es immerhin neunzig mal neunzig Zentimeter, ein veritables Bild. Gefaltet wiederum, traditionellerweise als Halstuch, gibt es nur noch Fragmente seines Motivs preis, ein zur Schau getragenes Geheimnis. Wim Mertens vom Modemuseum in Antwerpen sieht darin weit mehr als nur einen Damenschal: Wim Mertens: Das Carré von Hermès ist über die Jahrzehnte und seitdem man es zum ersten Mal gesehen hat, zu einem Objekt geworden. Das man nicht nur um den Hals trägt, ein Halstuch, ein Schal, nein, es gibt heute diverse Möglichkeiten, das Carré als Objekt zu nutzen. Sprecher Overvoice: Mertens: Und darüber habe ich noch nie nachgedacht, warum Männer Hermès Carrés sammeln sollten – oder nicht. ERZÄHLER Das Seidentuch trägt man, sagt der Kurator des Museums, bei Tag und auf der Straße, eine Unterscheidung in Graden von Nacktheit, die – für Frauen – bis zum Französischen Hof, dem ancien regime zurückreicht: 37. O-Ton (36) (englisch 44 Sekunden) Mertens: Die Kleider waren ziemlich weit geöffnet, so dass man etwas vom Busen sehen konnte - tagsüber aber war das ein bißchen bedeckt, mit Schals aus, zum Beispiel, Spitze oder Musselin. Was heute ein Schal genannt wird, war damals ein „fichu“ [Aussprache: Fi-schü´]. Bei Tag, so dachte man, sollte man sich etwas verhüllen, und abends dann, wenn Kerzen angesteckt wurden, nahm man die Schals ab, denn nun durfte man mehr vom Körper zeigen. Das Abendkleid ist immer offener, hat mehr von Nacktheit, und der Schal gehört zum Tag … ERZÄHLER Hugo Grygkar, 1907 in München geboren, tschechische Eltern, weitergewandert nach Frankreich, zeichnete seit 1943 für Hermès, und zeigte sich von vornherein als Meister des Zitats mit entlegener Quelle. Nicht zufällig heißt eines seiner Tücher mit delikaten Kutschendesigns „Ex libris“. Er plünderte ganze Bibliotheken. Die klassischen Designs eines Seidentuchs von Hermès zeigen Pferdeprofile, Einspänner im Trab, Sättel, Zaumzeug und dann, in immer plastischer werdenden Details, Gürtel, Schnallen, kupferne und goldene Ketten. 38. O-Ton (37) Mertens: Das Halstuch gehört auch zum Reiten. Und Hermès hatte doch da seine Wurzeln, im Herstellen von Sätteln, Kutschen, dem Reitzeug eben... Folglich bleibt der Bezug auf das Reiten und die luxuriöse Verfeinerung des Lebensstils Teil der Tradition bei Hermès, und derjenigen, die Carrés tragen. ERZÄHLER Mädchen und Pferde, ein Pubertätsmotiv, überführt in die Welt des Luxus und der Moden? 39. O-Ton 38 Mertens: Ich denke eigentlich nicht, dass die Anspielungen auf die Ledersachen, auf das Reiten, sexueller Natur sind, aber gewiss bleibt das Pferd ein kraftvolles, attraktives Tier. ERZÄHLER Das quadratische Tuch ist so etwas wie die Erinnerungsbox eines Herstellers, in der sich Generationen von Frauen, die keineswegs alle Reiterinnen sind, wiederfinden. Sie müssen sich eben nur die gut dreihundert Euro pro Tuch leisten können. In den siebziger Jahren war es Mode, aus Carrés Blusen und Kleider zu nähen, und tatsächlich gibt es im Modemuseum in Antwerpen, im MOMU, [gesprochen: Momü] einige Beispiele im Depot. Bei einem Kleid sieht man viel mehr vom ursprünglichen Motiv eines Stoffs, als wenn das Carré gefaltet ist, und das Motiv hier, ein spiegelnd und glänzend ausgearbeitete Reiteraccessoires auf farbigem Grund, wirkt plötzlich extrem statusbewusst, ja geradezu steif. Wim Mertens erinnert sich, wie das Motiv sich vom Hals löste und Mainstream wurde, was mit dem Umnähen von Tüchern in komplette Kleidungsstücke zu tun hat: 40. O-Ton (39) Mertens: Ich war Teenager, und ich weiß noch, wie die Idee, aus einem Carré ein Top zu schneidern oder ein ungewöhnliches T-Shirt, sehr lebendig war. Ich habe mich gefragt – wenn man an die Hemden denkt, die Gianni Versace in den 80er entworfen hat, sehr farbige, kühne Designs … ERZÄHLER Das war das französische trompe-l'oeil, das Spiel mit visuellen Details bis zur Schmerzgrenze, überführt in italienischen Protz zu Zeiten Ronald Reagans. Dennoch, das Carré scheint unsterblich, weil immer wieder mit Motiven, Formen und Farben experimentiert wird. So erinnert sich Kurator Wim Mertens an eine Serie über Josephine Baker, die in St. Louis geborene Tänzerin und Sängerin, später engagiert in der französischen Resistance: 42. O-Ton (41) Mertens: Gerade die Josephine-Baker-Serie war sehr grafisch. So wie ein Print auf groß gezogen, mit all den Pixeln, eben, so dass man erst mit etwas Abstand erkennen konnte, dass Josephines Portrait auf das Carré gedruckt war. WERBEMIX ATMO Haus am Meer, Wind heult Bruder zwei Es ist also kein klassischer Bungalow mit großen Fenstern geworden, sondern ein Bauernhaus mit Scheunen. In dieser Gegend wurde im 18. und 19. Jahrhundert mit massiven Felssteinen gebaut, und die Dächer ruhen auf schweren Balken. Das hat mich anfangs sehr beeindruckt und tut es noch. Anfangs dachte ich, okay, man nimmt erst einmal das kleine Wohnhaus in Besitz, weil es sich gut heizen lässt, und später baut man dann die Scheune aus, und zwar dort, wo sie zum Hof hin völlig offen ist, was also heißen würde: großes Fenster, und dahinter das neue Zimmer, sehr hoch unter dem alten Dach. Das wäre also wieder der große Raum, fast leer, von dem ich immer geträumt habe. Dazu ist eine andere Phantasie gekommen, nämlich sich eine richtige Bibliothek einzurichten. Die müsste dann ebenerdig stehen, wegen des Gewichts. Unten also die Bibliothek, und oben der große Raum, mit der hölzernen Dachkonstruktion über sich. Die Bibliothek würde nicht einfach ein Raum sein, in dem eine Menge Regale stehen. Die Regale würden fahrbar sein, ein System auf Schienen, so wie manche akademischen Bibliotheken es haben, wo nicht allzu viel Platz ist. Die Regale sind also Bücherwände, die sich seitlich fahren lassen, so dass man die Bücherwände nahtlos aneinanderstellen kann, und wenn man an ein Regal ran will, bewegt man ganze Wände voller Bücher quer durch den Raum. Dadurch passt in einen Raum sehr viel mehr rein, als das bei unbeweglichen Regalen der Fall wäre. Tatsächlich aber ist nach zehn Jahren überhaupt nichts geschehen. Die Scheunen stehen da in ihrer Felssteinpracht und riechen jetzt noch nach dem Leben von Tieren, die vor langer Zeit geschlachtet wurden. Wahrscheinlich werden die Gebäude da genauso stehen, wenn mein irdisches Leben einmal endet. WERBEMIX 80er 90er ATMO Kinderzimmer/Spielplatz Bruder eins (plaudernd) Als Jungen hatten wir Autos von Corgitoys, von Matchbox und von Wiking. Corgitoys waren ziemlich groß, in etwa so groß wie die Hand eines Jungen von acht Jahren. Ich hatte einen hellblauen Rover mit einem grellroten, runden Griff auf dem Dach. Damit konnte man das Auto schieben und gleichzeitig lenken. Die Vorderachse war beweglich. In der nächsten Phase kamen die Matchboxautos, die sehr gut gemacht waren, (nah) „echt“ haben wir das damals genannt, was meinte: sehr gute Imitate. Wenn man mal drauf trat, waren die nicht gleich kaputt, denn sie waren ja aus Stahl gemacht, und auch die Radaufhängung – über Federn, so dass man eine Kurvenlage darstellen konnte – war sehr haltbar. (plaudernd) Einmal bekamen wir gleichzeitig ein Matchboxauto geschenkt, mein Bruder und ich, das muss also an Weihnachten gewesen sein. Das war in der Post, also die schenkende Person war nicht anwesend. Meins war ein goldener Jaguar, und der meines Bruders ein weißes Mercedescabrio, glaube ich. (nah) Was war ich enttäuscht: ein goldener Jaguar, wo gab es denn so etwas! Überhaupt nicht echt! (plaudernd) Mein Bruder war eher nachgiebig, so dass ich es einmal probiert habe, ob er nicht tauschen würde, den Mercedes gegen den Jaguar, und zu meiner Überraschung sagte er sofort ja. Wir haben dann eine Weile gespielt, und plötzlich kam mir der goldene Jaguar außerordentlich attraktiv vor. (nah) Mir fiel es wie Schuppen von den Augen, dass er gar nicht „echt“ sein sollte, sondern eine glänzende, glitzernde Ausnahme, und empfand es plötzlich als riesige Ehre, dass ich den goldenen Jaguar hatte bekommen sollen. (plaudernd) Ich musste mich schon überwinden, dem Bruder meine Zweifel mitzuteilen, aber am Ende meines kleinen Vortrags stand die Bitte zurückzutauschen. (nah) Und das machte er ohne eine Geste der Überlegenheit. Das hat mich ungeheuer beeindruckt, und geblieben ist das Gefühl einer gewissen Ambivalenz, oder die Relativierung der Dringlichkeit, etwas Bestimmtes haben zu müssen. ATMO Straße Erzähler In den älteren Straßen einer großen Stadt, wo es noch keine Tiefgaragen gibt, sind zweihundert Meter geparkte Automobile eine veritable Auskunft, wer im Stadtteil lebt und arbeitet. Wie um die Fassaden der Häuser nicht zu stören, haben die Autos fast ausnahmslos Minimalfarben angenommen, ein schwarzer Mercedes, ein weißer Audi, ein silberner BMW, ein grauschimmernder Peugeot und so weiter. Der zinnoberrote Polo als wunderliche Ausnahme, nur noch übertroffen, oder geheimnisvoll unterboten, von einem mattschwarzen Mercedes. Wie von Geisterhand gesteuert wird dieses Auto, dessen Vorderpartie fast den Boden berührt und dessen Hinterteil provokativ hochsteht, in der Straße abgestellt und wieder weggezaubert. Eine Nachfrage beim Autolackierer bringt ungeahnte Dinge ans Licht, indem er nämlich behauptet, dass fast alle Autos mit stumpfen Oberflächen in Folien eingekleidet seien. Aber die genauere Besichtigung des forschen, flach geschnittenen Mercedes Benz ergibt ganz klar, dass das nicht sein kann. Dies ist keine Folie, dies ist ein Lack, original, und er ist gewollt. Oder nicht? Nach monatelanger Beobachtung taucht wie aus dem Nichts die Fahrerin auf. 48. O-Ton (42) Die Nachbarin: Also, wir sind ins Autohaus gegangen, und wollten uns ein Auto anschauen (…), aber das war erst nach vier bis sechs Monaten frei, oder lieferbar, und dann haben wir uns andere Autos angeschaut – der Händler hat uns zwei, drei weitere gezeigt und hat uns auf dieses Auto hingewiesen mit... aber mit der Bemerkung schon: Es polarisiert – man muss es mögen. ERZÄHLER Martin Bremer ist Leiter einer Abteilung, die bei Mercedes Benz Farben und Oberflächen entwickelt, für das Äußere, aber auch für sämtliche Interieurs. 49. O-Ton (43) Martin Bremer: Wir haben damals eine limitierte Edition zusammen mit Giorgio Armani gemacht. Wir haben in Como in Italien ein Designstudio, und zwar war es für uns natürlich auch sehr interessant mit einem international renommierten Modedesigner das Thema Auto anzugehen. ERZÄHLER Como, eine Seidenweberstadt, gehört wirtschaftlich zur Peripherie der Modestadt Mailand. Insofern war Armani nicht weit. Als Meister gedeckter Stoffe begriff Armani schnell: Nimmt man den Glanz des Lacks weg, und damit die Reflexe, erscheint die Form des Autos mit einer gewissen Dringlichkeit. Der Armani-CLK-Cabrio wurde ein matt-sandfarbenes Schwerenöterautomobil; der mattschwarze in der Straße gehört zur zweiten Serie dieses Modells, rundgeknetet wie ein Frisbee. Es konfrontierte seine Besitzerin mit einer neuen Fragestellung: 50. O-Ton (44) Nachbarin: Was halten die Leute davon, wenn ich in einer Tigerhose oder Leo-Print-Hose aus dem Auto aussteige, oder in das Auto einsteige, oder mit rotem Lippenstift in diesem Auto sitze. Also man kommt sich dann schon ein bisschen... seltsam vor; oder man sieht die Leute, die einen anschauen … ERZÄHLER Bremer macht einen Schnelldurchmarsch durch das Erscheinungsbild einer Mercedes Limousine seit den fünfziger Jahren, um klar zu machen, mit welchem Raffinesse sich Automobildesigner im Jahr 2014 positionieren müssen. So waren fünfziger-Jahre-Mercedesse zumeist ausladend und pastellfarben, gefolgt von einer entschiedenen Wendung zum "Sachlichen" in den Sechzigern, während die 70er sogar Mercedesfahrer auf ganz neue Ideen brachten: 51. O-Ton (45) Bremer: Mein eigener Vater fuhr eine limettengrüne S-Klasse mit olivfarbenem Interior... Das Spannende war damals, dass die Farbwelt und die Modewelt übermächtig war. Heute sind diese Autos sehr, sehr gefragt in dieser ganzen Youngtimer-Szene, man spricht auch von „Fehlfarben“ heute, ERZÄHLER .. während dann in den 1980er Jahren die meisten Autos schwarz waren. Nicht mehr friedhofsschwarz wie die Limousinen der Bosse im Film „Das Mädchen Rosemarie“, sondern glänzend schwarz mit ungewisser Tiefe... 52. O-Ton (46) Bremer: … statusdominant, wir sind wieder wer; war sehr interessant, auch zu sehen, was die Mode gemacht hat: und Status ist natürlich ein Thema, das sehr stark mit schwarz verbunden ist. Noch heute ziehen wir abends das kleine Schwarze oder den schwarzen Anzug an, ja, also da gibt es durchaus Zusammenhänge,... ERZÄHLER In den 90er Jahren stehen Fortschritt und Technik im Fokus. Die Hälfte aller verkauften Autos war nun silber. 53. O-Ton (53) Bremer: Also alles wurde wieder sehr, sehr technisch und kühl. ERZÄHLER Eine eigene Forschungsabteilung bei Mercedes Benz befasst sich mit der gesellschaftlichen Entwicklung. Im silberglitzernden Jahrzehnt sah man einen entgegengesetzten Trend aufkommen: 54. O-Ton (48) Bremer: Ende der 90er war dieses Thema „cocooning“: my home is my castle. Diese Sehnsucht nach Wärme und Geborgenheit (...) ERZÄHLER Dem unübersehbaren Hang zur Heimeligkeit verdanken wir das allgegenwärtige espressotassenbraune Auto, bei Mercedes ein Erfolg und inzwischen in allen möglichen geglückten und weniger geglückten Varianten von den meisten Marken imitiert. Gleichzeitig wechselte die Farbe der Fortschrittsgläubigen, ausgehend vom Silicon Valley, zum Weiß. Und so sieht es ja auch in dieser Straße aus: schwarz, silber und weiß. Wenn man also Autos formen kann, wie man will - niedriglegen, aufbocken, Schultern einziehen, grimmige Gesichter stanzen - die Konsumenten aber rote, grüne, sand- und pastellfarbene nicht mehr wollen, dann ist ein Experiment mit Gänsehaut für eine Farbabteilung eine willkommene Abwechslung. 55. O-Ton (49) Nachbarin: Uns ist eigentlich erst bewusst geworden, dass das Auto anders ist als die anderen Autos, als unsere Freunde uns drauf angesprochen haben; aber auch lachend, eher, und das Auto hat intern jetzt den Namen „Bat Mobile“, weil es wirklich ausschaut wie das Auto von Batman, so schwarzmatt. (…) ERZÄHLER Drei Jahre Zeit hat man bei einem geleasten Auto, um sich dran zu gewöhnen. Kurz vor Weihnachten musste das Bat Mobile zurückgegeben werden. 56. O-Ton (50) Nachbarin: Lara ist unsere fünfzehnjährige Tochter – sie wollte, dass ich sie zur Schule fahre, weil es in ihrer Schule einen bestimmten Jungen gibt, der auch jedes Mal, wenn wir da waren, uns angeschaut hat, - und der dann auch immer an unser Auto rangetreten ist und sie dann ganz stolz aus dem Auto aussteigen konnte. (…) Und dann stand der Junge an unserem Auto und hat seine Fragen gestellt, hat eben die Innenausstattung angeschaut, und da hat Lara sich ihren Mut zusammengefasst und konnte ihn dann fragen: Du, wie heißt du denn eigentlich? - Und seitdem weiß sie, wie ihr Schwarm heißt (hä, hä). MIX Bruder eins Und was hältst du von Luxus? Bruder zwei Das ist nur ein Wort. Bruder eins Wieso das? Champagner, Seide, Platin – ist das kein Luxus? Bruder zwei Ich glaube, das Wort ist ein Portal, ein Tor, und wie bei Kafka stehen da Wächter und halten dich draußen. Bruder eins Wenn du es aus der Perspektive der Ausgeschlossenen beschreibst. Man könnte es ja auch von der anderen Seite aus betrachten: du bist ein Paul Morand, ein Elton John, eine Imelda Marcos, ein Aldi… Bruder zwei Völlig falsch. Die Albrechts sind extrem vermögend, aber können mit Luxus überhaupt nichts anfangen. Bruder eins Aber du weißt, was ich meine. Bruder zwei Ja, Leute, die es für undenkbar halten, nicht rahmengenähte Schuhe zu tragen. Bruder eins Und da gibt es eine Frage, die mich seit vielen Jahren umtreibt: Ob das nun sein muss oder nicht. Stell dir mal das Gegenteil vor: eine Welt, die nur noch aus Produkten von Aldi, Walmart oder Hennes und Mauritz besteht. Bruder zwei Es geht noch weit drunter. Denk mal an das Leben in den Favelas. Bruder eins Gut. Aber meine Frage ist nicht die, ob es Reichtum geben muss, sondern, ob es Luxus geben muss, und zwar wegen des Handwerks, oder meinetwegen der Technologien. Weil sonst all das Wissen verschwinden würde. Gar nicht zu reden von der Haltbarkeit. Stell dir vor, es gäbe nur noch Dinge, die nach einem halben Jahr wie Müll aussehen. Bruder zwei Jetzt komm mir bitte nicht mit „Nachhaltigkeit“. Bruder eins Warum nicht? Die rahmengenähten Schuhe. Ein Koffer von Louis Vuitton. Leica. Ein Lamborghini. Bruder zwei Und du glaubst, es gäbe da eine große Manufaktur bei Paris, vierzig todernste Koffermachern mit blauen Schürzen, und die repräsentieren das gute, alte Handwerk? Bruder eins Es ist schon wunderlich, wie Dinge hergestellt werden. Ich habe mal eine indische Seidenspinnerei besichtigt. Oder war das in Thailand? Es ist schlicht unglaublich, wie sich dort kaum sichtbare Fäden durch meterlange Maschinen bewegen, vorwärts bewegen, und in die Gegenrichtung, um schließlich aufgespult werden, und das ist nur die Fabrikation des Fadens. Bruder zwei Du denkst an so etwas wie den Wissensschatz der Menschheit. Wenn der König kein Zaumzeug mehr bestellt, wird es niemanden mehr geben, der es zu nähen weiß. Bruder eins Ja, so, aber es wäre natürlich absurd, das Ende des Feudalismus zu bedauern, weil es schlecht für das Handwerk gewesen sei. Bruder zwei Für dich ist das Luxus, was in europäischen Werkstätten gegossen, gebrannt und geklöppelt wird. Aber vergiss nicht, wie Gold und Diamanten gewonnen werden, von Arbeitern, die gar nichts kennen außer Arbeit, und manche von ihnen müssen dafür in den Minen ihr Leben lassen. Bruder eins Das ist die soziale Theorie unserer Zeit, die Vorstellung, dass die einen sich etwas nehmen und die anderen es verlieren. So hängt dem Luxus immer das Böse an. Aber vielleicht muss das so sein. Absage Die Prosa der Produkte Ein Feature von Ulf Erdmann Ziegler. Sprecher: Mit: Martin Bremer, Designer, Leiter der Abteilung Ausstattung und Farben bei Mercedes Benz in Stuttgart; Johannes Dorn vom Marktforschungsunternehmen Rheingold in Köln; Henning Kopf, Directeur de magasin bei Hermès, Frankfurt am Main; Urs Latus, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Spielzeugmuseum Nürnberg; Wim Mertens, Kurator am Modemuseum in Antwerpen, Belgien; Nadja Mayer, Konzeptionerin und Texterin in Frankfurt; Thomas Panke, Inhaber des Legoladens "Held der Steine" in Frankfurt-Sachsenhausen, sowie: Florian Balke, Barbara Häusler, Nicolai Siegel, Maja Söchting, der Nachbarin mit dem mattschwarzen Automobil und dem diebischen Mädchen aus Hamburg. Eine Produktion des Deutschlandfunk 2015 Redaktion: Tina Klopp 6