COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Literatur, 14.7.2009, 19.30 Uhr Keine Liebste mehr... Autoren erzählen vom Altern Von Katharina Wilts Musik: Trio Bravo O-Ton 1: Hörspiel - Ich weiß nicht, warum es mir einfällt. Als kleines Kind habe ich zufällig gesehen, wie der Reichsstatthalter von Österreich den Führer in Wien begrüßt hat. Die Wienerinnen waren außer sich. Das war ein gewaltiges Dröhnen und Jubeln und Donnern -Wir kosten zu viel - Wer will diese Dinge von uns wissen? Manchmal trifft man junge Leute, die Verständnis für uns haben, das ist faszinierend, ganz großartig. - Jung und alt das sind die stärksten Gegensätze. Nur die von Leben und Tod sind noch schlimmer. - Wer kann schon verstehen, was es bedeutet, im hohen Alter seinen einzigen Bruder zu verlieren - Oder sein Pferd Musik (evtl. unterlegen) O-Ton 2: Kronauer Das Alter ist in jeder Hinsicht, auch für die, die sie von außen darstellen, eine große Herausforderung, denn man muss im Grunde genommen gegen den Augenschein arbeiten oder den Augenschein, was noch besser wäre, ganz genau angucken. Ein altes Gesicht, ein alter Körper, was drückt der eigentlich jetzt aus. Und nicht mit den Kategorien unästhetisch, entspricht nicht der Ästhetiknorm des 21. Jahrhunderts. O-Ton 3: Hahn Der Tod und der Verlust und die Lücken, die bleiben, wie geht man damit um, das sind alles Themen, die wahnsinnig wichtig auch sind, in der Literaturgeschichte auch immer wichtig gewesen sind, auch die Angst davor, es ist einfach ein starkes Movens fürs Schreiben, also für mich wars natürlich auch in gewisser Weise so ne Sache, dass ich sage, jetzt sehe ich dem mal ins Gesicht und schaue, was passiert mit mir, wenn ich mich dem jetzt auch aussetze. Musik Zitator 1 Der Körper, in dem sie leben muss, ist ein baufälliges Haus geworden, unansehnlich und verwohnt. Die Oberschenkel, an denen sie Nachthemd und Morgenrock hochgerafft hat, werfen Falten und Fältchen, darunter ein Netz von bläulichen Adern wie Flüsse und Nebenflüsse auf einer Landkarte. Brüste, Bauch und Armfleisch sind nicht der Rede wert. Sie folgen der Erdanziehungskraft. Die Hände sind Klauen, aber Klauen mit Nagellack. Autorin Luise Posselt hat ihr Leben lang großen Wert auf ihr Äußeres gelegt. Jetzt wird die tägliche Körperpflege zur Herausforderung. Die alte Frau ist eine wichtige Figur in Anna Katharina Hahns Romandebüt "Kürzere Tage". Brigitte Kronauer stellt die Kaffeefahrt einer seltsamen und keineswegs harmlosen Seniorengruppe in die Mitte ihres Romans "Errötende Mörder". Obwohl unsere Gesellschaft immer älter wird, sind betagte Helden in der Gegenwartsliteratur dennoch eine Ausnahme. O-Ton 4: Hahn Mich interessiert schon auch, Lebensumstände schreibend zu ergründen, die nicht meiner Situation in irgendeiner Weise entsprechen, also der Jugendliche war mir sehr wichtig und die Luise, diese alte Frau eben auch.. Autorin Die beiden jungen Mütter im Zentrum ihres Romans, sind dem Umfeld von Anna Katharina Hahn sehr nah. Judith und Leonie leben in renovierten, großräumigen Stuttgarter Altbauwohnungen. Aus ihrer Perspektive erleben wir zwei Beispiele eines gut situierten bürgerlichen Familienlebens und die Abgründe dahinter. Die eine ist hin- und hergerissen zwischen Beruf und Familie, äußeren Ansprüchen und eigenen Bedürfnissen. Die andere bekämpft ihre Ängste heimlich mit Tabletten und findet mühsam Halt in den klaren Regeln der Anthroposophie. Die Autorin stellt ihnen zwei Figuren aus einer anderen Welt zur Seite. Marco ist ein vernachlässigter Jugendlicher aus den Hochhäusern. Luise wohnt zwar in unmittelbarer Nachbarschaft, hat aber ganz andere Probleme. Zitator 1 Jetzt bin ich ein altes Weib, endgültig. Du hast mich immer noch gewollt, das hat keiner außer mir gewußt. Wer denkt denn das, wenn so ein altes Weib die Straße runterwackelt neben ihrem alten Mann, dass die noch was miteinander anfangen können. Ich war deine Frau, jetzt bin ich das alte Weib, keine Liebste mehr. Autorin Luise muss mit dem Tod ihres Mannes fertig werden. Eines Morgens liegt er reglos im Bett. Sie hilft sich mit einem Ritual, das sie aus ihrer ländlichen Heimat kennt und bereitet sich darauf vor, die Leiche zu waschen. Jeder selbstverständliche Handgriff ist für die alte Frau eine körperliche Herausforderung. Das Erzähltemo passt sich ihrer Langsamkeit an. Ein Bewusstseinsstrom kommt in Gang, der rückwärts fließt. Balladen, religiöse Formeln und Kirchenlieder werden zitiert. Musik Zitator 1 Wenzel trägt seinen hellblauen Pyjama, der steht im gut. Dann reiß ich dir ein Bein heraus, dann wirst du operiert, mit Seife eingeschmiert. Erstmal den Cognaclappen über die Augen. Wie bist du so erbleichet, wer hat dein Augenlicht, dem sonst ein Licht nicht gleichet, so schändlich zugericht. Ich werd dir nicht mehr in die Augen schauen, mein Liebster. Mit Lumpen ausgestopft und kommst ins Grabeloch. Und dein Mund, der halb offen steht, schweigt mich an. O-Ton 5: Hahn Das habe ich sehr oft beobachtet bei alten Menschen. Auch wenn das Kurzzeitgedächtnis nicht mehr sehr gut funktioniert, dass da die ungeheuerlichsten, langen, ausgefeiltesten Erinnerungsstücke hochgeschwemmt wurden. Wirklich unglaubliche Massen von Schulbildung und Auswendiggelerntem und das war frisch, wie am ersten Tag und das hat mich schon immer sehr fasziniert... Autorin Bruchstückhaft erinnert sich Luise an ihr Leben. An den Augusttag im Jahr 1945, als sie ihren späteren Mann zum ersten Mal gesehen haben. Aber auch an den früheren Liebhaber, den Krieg, die Kindheit auf dem Land und die Zeit, als über Stuttgart noch ein fetter Schokoladenduft hing. Durch Luises Rückblick bekommt der Roman eine weitere Dimension. Hinter den sauber renovierten Fassaden des Viertels, in dem das Geschehen abläuft, kommen nicht nur verborgene Ängste der jetzigen Bewohner zum Vorschein. Der Schauplatz bekommt auch eine Vergangenheit, die zu den Anfängen des 20. Jahrhunderts zurückreicht. O-Ton 6: Hahn Es ist nicht möglich, über die Gegenwart zu schreiben, wenn man nicht die Vergangenheit als Grund sozusagen, als Fundament verwendet. Die schießt immer wieder als Querfaden in das Gewebe ein. Musik (evtl. unterlegen) Zitator 2 Seine Hände glitten ein Stück über seinen Körper, den Stoff in den er eingehüllt war. Er spürte seine Hände auf der Kühle des Lakens und ballte sie zu Fäusten. Und er mühte sich. Seine Atemzüge glichen jetzt Klimmzügen. Zu eng, zu hart war dieser Körper, um noch viel in sich hineinzulassen, seine Zeit: fast abgelaufen. Er spürte das. Und er spürte, dass er traurig wurde, inmitten all der Anstrengungen, die er doch nicht aufgab. Autorin Ein sterbender Mann liegt im Bett und ringt mit seinen Erinnerungen. Auch Inka Parei bedient sich in ihrem Roman "Was Dunkelheit war" einer Perspektive, die ihrem eigenen Leben ausgesprochen fern ist. Bilder aus der Vergangenheit ziehen an dem alten Mann vorbei. Die Geräusche in seinem Haus beunruhigen ihn. Im Treppenhaus hat er zuvor einen verdächtigen Fremden gesehen. Er kann das Geschehen nicht einordnen. Schuldbewußtsein macht sich bemerkbar, undeutliche Bilder aus Kriegszeiten verfolgen ihn. Bilder, die er angesichts des Todes nicht mehr verdrängen kann. O-Ton 7: Parei Es ist natürlich auch eine Geschichte über Wahrnehmung, was nehmen die Sinne wahr und wie ist man dann imstande, das zu Erkenntnissen zusammenzufügen. Das beginnt sich so aufzulösen. Er liegt im Zimmer, er kann nur noch hören, sieht so Lichtreflexe, muss gleichzeitig wissen, wer in seinem Haus 'rumläuft, er muss sich diesen Eindrücken stellen, seiner Kriegsschuld stellen, das kommt alles so gleichzeitig hoch und er beginnt es dann zu verknüpfen. Er beginnt eigentlich über seine Sinneswahrnehmungen, eine Geschichte sich zusammenzubasteln im Kopf. Autorin Inka Parei beschreibt den Kampf eines Mannes um seine eigene Geschichte und mit dem eigenen treulos gewordenen Körper. Die Sprache passt sich seinen physischen Gegebenheiten an. Mit den mühseligen fast unmöglich gewordenen Bewegungsabläufen korrespondiert eine präzise, detailgetreue fast akribische Beschreibung des Geschehens. In der beklemmenden Atmosphäre eines bis zum äußersten reduzierten Tempos kann eine einzige Körperregung Spannung erzeugen. Zitator 2 Er schloß die Wohnungstür, hielt den Schlüssel mit der Faust umklammert und lehnte sich gegen die Wand. Sein Ischiasnerv zuckte. Jetzt einfach nur dastehen, dachte er, die Beine fest in den Teppich drücken. Er hatte das Gefühl, seinem Körper die Reglosigkeit anzubieten wie einen Tausch, bei dem man das Gegenüber scharf und beharrlich musterte und sich vornahm, nichts Falsches zu tun, um den Handel nicht platzen lassen. Aber es war nicht möglich, sich überhaupt nicht zu bewegen, irgendwo regte sich immer ein Muskel. Er unterdrückte ein Gähnen, und der Schmerz schlug zu. Musik O-Ton 8: Lesung Rammstedt China, ausgerechnet China, als ob es die Nordsee nicht gäbe, als ob es den Harz nicht gäbe, nicht Rügen, nicht Frankreich, keinen Gardasee, es musste China sein. China und nichts anderes. Autorin Einen ganz anderen Tonfall trifft Tilmann Rammstedt. Auch er macht einen alten Mann zur Hauptfigur seines Romans "Der Kaiser von China". Erzählt wird die Geschichte von Keith, seinem übermächtigen Großvater und einer nicht stattgefundenen gemeinsamen Reise. O-Ton 9: Lesung Rammstedt Ich will darüber nicht diskutieren hatte mein Großvater gesagt und ich habe gesagt, das trifft sich gut, weil ich darüber auch nicht diskutieren wolle. China komme nicht in Frage. Und ich verschränkte die Arme. Mein Großvater auch, obwohl er nur noch einen Arm hatte. Den Rechten, doch den konnte er so geschickt um seinen linken Hemdsärmel wickeln, so dass es aussah als handele es sich um zwei intakt verschränkte Arme und dann schauten wir uns lange an. Mein Großvater möglichst entschlossen und ich möglichst spöttisch, um ihm zu zeigen, was für eine ganz und gar lächerliche Idee China doch sei, und dann sagte mein Großvater: Ich sterbe. Autorin Der Großvater ist das Oberhaupt einer höchst eigenartigen Familie. Eine große Anzahl von Enkeln, größtenteils über zwanzig, vielleicht auch älter, wohnen mit ihm in einem Haus. Er ist halsstarrig, rechthaberisch und in jeder Hinsicht bestimmend. Sein hoher Frauenverschleiß, die Großmütter werden immer jünger, ist legendär. Der Generationenkonflikt ist vorprogrammiert. Nur findet die Auseinandersetzung hier nicht wie gewöhnlich zwischen Eltern und Kindern statt. Ein Vater, der dem Sohn die Freundin ausspannt, wäre nicht halb so skurril. Schon das Auslassen der mittleren Generation, sorgt für komische Effekte. Führt aber auch zum eigentlichen Thema. O-Ton 10: Rammstedt Das ganze Buch ist eigentlich eine große Hommage an diesen toten Großvater und dadurch gleichzeitig ein Umgehen mit dem Tod. Autorin Der Enkel Keith lässt die nicht stattgefundene gemeinsame Reise nach China in einer Serie von Briefen erstehen, die an den Rest der Familie gerichtet sind. Und er erfindet seinem Großvater darin eine Vergangenheit, eine beeindruckende und zärtliche Liebesgeschichte, die seine Chinasehnsucht und sogar den Verlust seines linken Arms erklärt. Eine offensichtliche Lügengeschichte, aber doch ein Weg, das Leben von seinem Ende her zu erklären. Musik O-Ton 11: Lesung Walser Meine Liebe weiß nicht, dass ich über siebzig bin. Ich weiß es auch nicht. Autorin Ein alter Mann erklärt seine Liebe. Martin Walser legt diese Worte in seinem jüngsten Roman "Ein liebender Mann" dem 73jährigen Goethe in den Mund. 1823 verbringt der berühmte Dichter den Sommer in Marienbad und macht der 19jährigen Ulrike von Levetzow einen Heiratsantrag. 54 Jahre Altersunterschied, eine große, aber letztlich eine unmögliche Liebe. Goethe scheitert, doch die Gefühle von Walsers Hauptfigur sind nicht weniger leidenschaftlich als die eines jungen Werther. O-Ton 12: Walser Ich hatte gemerkt, das ist die Gelegenheit, zu erzählen, was Liebe aus einem Menschen macht. Und das können, hoffe ich, alle, sage ich optimistisch, alle Menschen begreifen, die je Liebe empfunden haben. Daraus besteht der ganze Roman. Autorin Die Liebe eines alten Mannes zu einer jungen Frau ist ein beliebtes Thema in der Literatur, in früheren Jahrhunderten wie heute. Variiert wird diese Konstellation durch die umgekehrte Kombination, eine ältere Frau verbindet sich mit einem jungen Mann, oder der Liebe eines alten zu einem jungen Mann. Durch die unmittelbare Gegenüberstellung der Generationen, werden die Kontraste härter. Das Alter begibt sich mit der Jugend auf eine konkurrierende Ebene. O-Ton 13: Lesung Walser Er stand vor ihr, wäre gern auf die Knie gesunken, wußte aber, dass das Aufstehen mißlingen konnte. Sie reichte ihm ihre Hand zum Handkuß und er zurück im Umgangston "ganz unvorgreiflich möchte ich jetzt sagen, dass ich meine Zeit nur noch mit Ihnen verbringen möchte". Autorin Es sind zunächst körperliche Gebrechen, die den Liebenden immer wieder im Weg stehen. Die Gepflogenheiten eines jungen Liebhabers, kann der alte nicht mehr leisten. Äußerliche Verfallserscheinungen versucht er mühsam zu verbergen. Leidenschaft und hohes Alter widersprechen den gesellschaftlichen Erwartungen. Der liebende Alte macht sich in den Augen anderer leicht lächerlich und läuft schnell Gefahr, zum komischen Alten zu werden. Zitator 1 Er hätte die Damen wirklich fragen müssen, warum ein Älterer, wenn er denn das war, was sie geil nannten, nicht einfach geil, sondern altersgeil war. Die haben da eine Ahndung parat. Du sollst nicht mehr, darfst nicht mehr. Die haben eine Moral, die sie ästhetisch-sittlich drapieren. Es schickt sich nicht nur nicht, es ist ekelhaft, alt und geil zu sein...Und weil das so ist, weiß Gottlieb, dass er, was bei ihm altersgeil genannt werden konnte oder musste, zu verbergen hatte, so wie er als Fünfzehnjähriger seine Jugendgeilheit zu verbergen hatte Autorin In Walsers Roman "Der Augenblick der Liebe" entflammt der 65jähriger Gottlieb Zürn für eine junge Studentin. Er verbringt mit ihr ein paar Tage in den USA und flieht vorzeitig zurück zu seiner langjährigen Ehefrau. Nicht zuletzt wegen des Altersunterschieds. Kaum zu Hause, vermisst er seine junge Geliebte schmerzlich. Sehnsucht und Enttäuschung wechseln sich ab. Es ist der Wunsch, den vorgegebenen Weg zu verlassen. Nicht auf ein unvermeidliches Ende hinzuleben, sich jung und lebendig fühlen zu dürfen. Zitator 1 Wenn du aufwachst, und es tut dir überhaupt nichts weh, wie sollst du dich dann damit abfinden, dass du nicht dreißig, nicht vierzig, nicht fünfzig, sondern mehr, mehr, mehr als sechzig bist! Da muss man sich doch falsch benehmen. Das heißt, du wirst mit siebzig so ungern sterben, als wärst du dreißig Musik O-Ton 14: Kronauer Ich vermute, dass wenn ein Mann sich einer jüngeren Frau mit sehr großem Abstand zuwendet, dann kann sie für ihn, eigentlich fast unpersönlich, das Idealbild der Jugend darstellen. Fast in einem mythologischen Licht erscheinen lassen. Und dass sie viel weniger Lebenserfahrung hat und dass sie keine gemeinsamen Erinnerungen haben, das kann er, wenn er sie einfach als die Figur, in der sich Jugend verkörpert, darstellt, vielleicht für eine Weile als etwas ganz Wunderbares erfinden. Dafür gibt es ja Beispiele. Autorin Auch in Brigitte Kronauers Roman "Errötende Mörder" steht ein Mann zwischen seiner fast geschiedenen Ehefrau und seiner jungen Geliebten, noch nicht Ehefrau. Während eines langen Urlaubswochenendes im Gebirge liest er drei Geschichten. Geschichten über das Altern, über Schuld und Angst, über Liebe und den Tod. Geschichten, die ihn von Grund auf verändern und ihm seine Frau und ihren abgespreizten kleinen Finger nicht mehr ganz so abstoßend vorkommen lassen. Die mittlere und titelgebende Geschichte beginnt wie ein Alptraum. O-Ton 15: Hörspiel -Ich will ja niemandem zu Nahe treten, aber ich passe einfach nicht hierher. -Soso, Will nicht zu Nahe treten, nicht hierher passen. Warum so wehrig gegen die honette Gesellschaft, neben, vor und hinter ihm. Was sträubt er sich beleidigend gegen die mustergültig aufgereihte und verstaute Truppe. -Ich bin jung hergottnochmal, ziemlich jung. -Jung, ein Flegel sind Sie und obendrein schwer von Begriff. Wie er da sitzt im nagelneuen Lederzeug, diesen Spezialhosen, mit verwegenem Sturzhelm auf den Knien. Autorin Um seine neue Honda abzuholen, steigt der junge Sven Strör in voller Motorradkleidung in einen Bus. Die Insassen scheinen sich merkwürdigerweise alle zu kennen. Langsam kommt er dahinter, dass es sich hier um keinen gewöhnlichen Linienbus handelt. Es ist der Ausflug eines Alten- und Pflegeheims. Und die Alten, bemüht ihn in ihre Gesellschaft zu integrieren, missachten seine doch offensichtliche Jugend, behandeln ihn ganz selbstverständlich wie ihresgleichen. Ob ehemalige Toilettenfrau, Neurologe, Konzertpianist oder Nachrichtensprecherin - für Sven Strör sind sie eine einzige bedrohliche Masse. O-Ton 16: Hörspiel Ich respektiere das Alter, wenns sein muss jede Runzel von Euch, aber lasst mich in Ruhe. Ihr seid so viele und ich nur einer O-Ton 17: Kronauer Er spürt, dass da ihn die Zukunft anguckt und das macht ihn panisch. Gleichzeitig, deshalb heißt es eben "errötende Mörder", haben natürlich die Alten diese Neigung, sie können gar nicht anders, es ist wie das Schwergewicht der Erde, jüngere in diesen Sog zu ziehen. Nämlich des Älterwerdens. Man sieht das, was auf einen zukommt. Und sie suggerieren es natürlich auch oft, indem sie sagen, warten Sie nur ab, das kommt auch, und so ist hier, also in einer etwas phantastischen Weise, wird dieser Mann, der Ende dreißig ist, schließlich ein Greis während der Busfahrt. Autorin Das verschämte Erröten der Mörder ist eine Anspielung auf die Romane Dashiell Hammetts O-Ton 18: Hörspiel Das erstaunlichste bei Hammett ist eine Eigenschaft der Mörder, untypisch für Kapitalverbrecher. Sie werden rot. Sie lügen und morden ohne die geringsten Skrupel, aber erröten wie nach freiem Willensentschluss. Hält man Leute, die verschämt rot werden, nicht automatisch für halbwegs unschuldig? Autorin Wenn der zu Beginn kraftstrotzende Sven Strör den Bus verlässt, ist er alt und müde. Wie im Zeitraffer erlebt er während der Busfahrt ein halbes Leben. Er lernt seine Mitreisenden kennen, läßt sich auf Gespräche ein. Unschuldig sind die ihn umgebenden Senioren nicht. Sie haben alle ihre Eigenheiten, unterschiedliche Vergangenheiten und verschiedene, auch böswillige Formen des Verhaltens. Sie erleben glückliche und traurige Momente, sind empfindsam, verletzbar und wütend. Die kaum ununterscheidbare Einheit der Alten beginnt zu bröckeln und für den jungen Mann entstehen allmählich Individuen. O-Ton 19: Kronauer Das, was ich am meisten kritisiere... wie das Alter behandelt wird. Dass man einfach so tut als wäre der Mensch ein Bindfaden, man schneidet ab, Kindheit, Jugend, Erwachsenenzeit, Alter, und man vergisst völlig, dass das eine Person ist, die sich bis zu ihrem Tod hin bewegt und entwickelt. Es ist eine Identität, die Erfahrungen macht, die sich verändert. Aber es ist doch eine Person. Und wenn wir sagen, die Menschenwürde ist unantastbar, das Individuum ist kostbar, dann müssen wir sagen, es ist das, wenn es den ersten Schrei tut und wenn es den letzten Atemzug tut und zwar durchgehend. Musik Autorin Über die Haltung der Gesellschaft gegenüber den alten Menschen wird im Roman kein Zweifel gelassen. Sie weiß mit alten Menschen nicht umzugehen, sie fürchtet nichts so sehr wie den Tod. Frau Fingerhut, Herr Eibisch und Frau Bärlapp - sie alle haben Namen von einzelnen Pflanzen, und sie werden in einen Bus gesperrt und zur Rapsblüte gekarrt, einer Monokultur, die als Touristenattraktion angekündigt wird. Ebenso trist wie die an ihnen vorbeirauschende Landschaft aus Getränke-, Erotik und Möbelmärkten. Was ihnen bleibt, ist das Warten auf das Ende. O-Ton 20: Hörspiel Sie sind totenstill geworden. Warten, schläfriges lauern. Das ist es, was uns verändert, Herr Strör, dass wir das Verschwinden von Haus, Tier und Mensch jederzeit mitansehen. Den leeren Platz nämlich. Genauso den leeren Fleck, den wir selbst hinterlassen. Man kann nichts behalten. Nicht die Gedanken in ihrer Schärfe, nicht die Gefühle. Wir sind entwaffnet. Die Politiker haben berechnet, die Wissenschaftler haben erforscht, dass wir nicht länger tragbar sind. Wir sind alte Alte, es ist aus mit uns. Autorin Scharf, zugespitzt und mit schwarzem Humor zeichnet Brigitte Kronauer eine auf Profit und Erneuerung ausgerichtete Gesellschaft, die einen Teil ihrer Mitglieder als nutzlos empfindet. Sie kühl und berechnend auf ihre Probleme reduziert. Weisheit und Lebenserfahrung - Attribute, die das Alter traditionell für sich reklamiert, gelten hier nicht mehr. Jeder lebt mit dem Widerspruch, lange leben zu wollen, ohne dabei alt zu werden. Mit den negativen Seiten, der Hinfälligkeit und Gebrechlichkeit verdrängen wir auch alle anderen Aspekte, wie den Gewinn an Erfahrung, Wissen und Überblick. O-Ton 21: Kronauer Das ist eine merkwürdige Paradoxie, die natürlich auch in mir drin steckt. Ich finde sie aufreizend genug, um viel darüber nachzudenken und komme zu dem Schluss, dass man in irgendeiner Weise dieses Älterwerden als eine Lebensvollendung zu begreifen hat und nicht als einen Zusammenbruch oder als ein reines Schwachwerden. Musik Autorin Den jungen Autoren, die sich mit Alter und Tod beschäftigen, stehen viele Alterswerke gegenüber, die auf die Kindheit zurückblicken. Kinder und alte Menschen können in gewisser Weise von außen auf eine Welt sehen, die sie nur am Rande aktiv gestalten. Während das Kind noch nicht von der Gesellschaft geprägt ist, kann sich der Mensch im Alter wieder von ihren allgemeinen Vorgaben und Maßregelungen befreien. O-Ton 22: Kronauer Ich glaube, dass man ohnehin im Alter überhaupt die Kindheit fast erst richtig erlebt. Als Kind ist sie einem ja nicht bewusst. Man nimmt ja alles selbstverständlich und in diesem Horizont, dahinter hört die Welt auf. Aber, wenn man in die Kindheit zurückblickt, dann erst wird einem richtig bewusst, welche ungeheure Bedeutung einfache Dinge gehabt haben. Die Leute sehnen sich ja eigentlich nicht nach der Kindheit zurück, sondern nach der Intensität, mit der sie die Welt erlebt haben. Und das kann man unter Umständen im Alter auch wieder. Vielleicht weil man viele Illusionen aufgegeben hat und das ist nicht unbedingt schlecht. Denn die Illusionen sind auch oft gesellschaftliche Träume und gar nicht die wirklich eigenen. Autorin Vielleicht ist es eine sentimentale Tendenz der Moderne, die Autorität des Alters in die Vergangenheit zu projizieren und in der Gegenwart zu vermissen, aber die Literatur früherer Jahrhunderte war mit der Figur des weisen Alten sehr vertraut. Milde, Humor, Erfahrung und Distanz zum Geschehen der Gegenwart sind Eigenschaften, die Fontane, Stifter, Storm und viele andere ihren bejahrten Figuren zugeschrieben haben. Der alternde Held ist nicht interessant, weil er hinfällig geworden ist, sondern weil er den Überblick hat oder zumindest ihn zu haben glaubt. Die Beschäftigung mit den verschiedenen Generationen in ihren Erzählungen und Romanen ist für Brigitte Kronauer schon lange ein Anliegen. Das hat auch einen literarischen Grund. O-Ton 23: Kronauer Der hängt mit den Geschichten und dem Geschichtenerzählen zusammen. Alte Leute haben ein Leben mit sehr viel Erfahrungen hinter sich und wenn man ihnen zuhört hat man das Gefühl, dass sie versuchen, diese Einzelerfahrungen zu einer großen Erfahrung zu machen, zu einer Lebenserfahrung oder man könnte auch sagen zu einem Lebenslauf. Und dieses Zusammenschmieden oder Zusammenreimen, dieser eigentlich natürliche aber auch künstlicher Vorgang, der hat mich immer interessiert. Musik Autorin Nur das erzählende göttergleiche und allwissende Wir in Brigitte Kronauers "Errötende Mörder" scheint über den Dingen zu stehen, auch über Tod und Vergehen. Amüsiert unbeteiligt und zuweilen zynisch berichten sie von der Reise zum Raps und in den Tod. Doch Sven Strör findet für sich eine andere Lösung. Er sieht ein Segelboot und kann vielleicht ein neues Leben beginnen, von dem auch die Götter nichts wissen. O-Ton 24: Hörspiel Auf dem dunstigen Wasser, unglaubwürdig bei der Windstille, schaukelt das Segelboot, ganz nah, herbeigeflogen aus eigener Kraft. - Das Schiff also, nicht die Honda, war von Anfang an gemeint und vorgesehen. Deshalb ist mehr Mut gefragt als heute morgen beim fröhlichen Aufbruch zum Motorradhändler. - Das heißt, falls Du Deinem sehr morschen Körper das Waten durchs Wasser zumuten willst, hin zu dem lockenden Boot ...Im Segelboot, phantastisch gezeichnet vor dem untergegangenen Horizont, ist es möglich?, neigt man sich über Bord, Dir entgegen, um Dir beizustehen. Adieu Sven Strör, alter Kerl. - Wir übergeben Dich in neue, auch uns ehrlich gesagt unbekannte Obhut. Musik 1 1