KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : LITERATUR 19.30 Titel der Sendung: My sweet Raskolnikov, Antigone in Ne New York und Lech Walesa, Der polnische Kultautor Janusz Glowacki Autor : : Waclaw Stawny Redaktion: : Sigried Wesener Sendetermin : 12.02.2013 Besetzung : Erzählerin : Übersetzer : Sprecher : Musik/o-Ton Regie : : Waclaw Stawny Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 1. O-TON JANUSZ GLOWACKI, 1:21'10 - 1:22'12 , ÜBERSETZER DARÜBER ÜBERSETZER Ich war von ihm wirklich fasziniert: Ein einfacher Arbeiter mit großem Charisma, der genial die Stimmung unter den Menschen zu fühlen vermochte, der den Kontakt mit ihnen hatte und sie für eine Sache zu begeistern wusste. ERZÄHLERIN Sagt der polnische Schriftsteller Janusz Glowacki über Lech Walesa - den Arbeiter aus der Danziger Werft und Friedensnobelpreisträger. Glowacki hat in Danzig 1980, in den Geburtsstunden von Solidarnosc, Walesas Aufstieg aus nächster Nähe gesehen. 2. O-TON JANUSZ GLOWACKI, 1:17'35 - 1:17'41 , ÜBERSETZER DARÜBER ÜBERSETZER Von seinen Auftritten fühlte ich mich wie vom Blitz getroffen. Plötzlich stand der Mann da, sprach eine einfache Sprache, wirkte wie ein Volkstribun. ERZÄHLERIN Janusz Glowacki hat nach seinem Aufenthalt während des Streiks in der Danziger Werft den Roman "Ich kann nicht klagen" geschrieben. Dreißig Jahre später beschäftigte er sich erneut mit dem Stoff für ein Drehbuch. Lech Walesa als Filmheld. Der Regisseur heißt Andrzej Wajda. 2012 begann Wajda, dessen Verehrung für Walesa bekannt ist, mit den Filmaufnahmen. 3. O-TON JANUSZ GLOWACKI, 1:18'12 - 1:18'43 / 1:19'00 - 1:19'18, ÜBERSETZER DARÜBER ÜBERSETZER Ich war überzeugt, Walesas Größe kommt im Film am besten zum Vorschein vor dem Hintergrund seiner Schwächen. Die Geschichte seines Aufstiegs ist atemberaubend: Ein einfacher Mann wird innerhalb von drei Tagen zum größten Star in Europa, in der Welt, und verändert den Lauf der Geschichte. In einer solchen Biographie muss es Platz für Komik und menschliche Schwächen geben. ERZÄHLERIN 1980-81 war in Polen die Zeit der Solidarnosc, die Zeit der Unruhe und der Hoffnung auf Veränderung. Auch im Leben von Janusz Glowacki markiert diese Zeit einen tiefen Einschnitt. Im Dezember `81 kam am Royal Court Theater in London sein Stück "Aschenkinder" zur Aufführung. The Guardian schrieb: SPRECHER "In Aschenkinder´, ähnlich wie in den meisten seiner Texte, legt Glowacki einen der Schwerpunkte auf die Frage, wie die die Macht ausübenden Menschen die Sprache korrumpieren." ERZÄHLERIN In "Aschenkinder" zeigt Glowacki die Geschichte einer "Aschenputtel"-Aufführung in einer Besserungsanstalt für Mädchen. Eine Filmcrew kommt, um einen Film über die Mädchen zu drehen. Der stellvertretende Direktor sagt zu ihnen: SPRECHER "Die Teilnahme an den Dreharbeiten ist freiwillig. In diesem Zusammenhang frage ich euch rein formell, ob ihr bereit seid, in diesem Film aufzutreten. Ihr könnt meinen Vorschlag aufgreifen und sagen: Wir machen mit. Daraufhin werdet ihr von mir hören: Einverstanden. Sonst kann ich euch ja immer noch per Anweisung zwingen, mitzumachen. Aber ich denke nicht, dass es so weit wird kommen müssen. Also, Mädchen, was werdet ihr tun?" ERZÄHLERIN Die Londoner Premiere von "Aschenkinder" im Dezember 1981 fiel in die Zeit des Kriegsrechts in Polen. General Jaruzelski nutzte den Ausnahmezustand, um gegen Solidarnosc mit militärischen Mitteln vorzugehen. Janusz Glowacki, damals auf Besuch in London, stand unerwartet vor einer für sein Leben und seine weitere künstlerische Arbeit entscheidenden Frage. 4. O-TON JANUSZ GLOWACKI, 41'22 - 42'45, ÜBERSETZER DARÜBER ÜBERSETZER Ich überlegte, was tun, und beschloss, in dieser Situation nicht nach Polen zurück zu kehren. Ich werde in die USA fahren. Amerika, das ist der ewige Traum der Polen. Und eine wilde, blinde, hoffnungslose und nicht erwiderte Liebe. Ich dachte, die hervorragenden Kritiken, die mein Stück in London bekam, würden mir dort helfen. Aber sie haben mir gar nicht geholfen. Im Gegenteil, sie haben sogar spürbares Misstrauen erweckt, nach dem Motto: Wenn etwas in Europa funktioniert, muss es sich nicht zwingend für die USA eignen. ERZÄHLERIN Glowacki wird zum Emigranten in New York. Sein Vorname Janusz verwandelt sich in der amerikanischen Aussprache in Dzanus. SPRECHER "Als Emigrant verlierst du alles, außer deinem fremden Akzent." 5. O-TON JANUSZ GLOWACKI, 42'45 - 43'15, ÜBERSETZER DARÜBER ÜBERSETZER Ich bin sehr lange mit meinen Stücken hausieren gegangen. Eine wirkliche Hilfe kam von Arthur Miller. Er hat mein Stück an Joe Papp geschickt. Papp hat es gelesen und mir ein Treffen vorgeschlagen. Nichts weniger, aber auch nichts mehr. ERZÄHLERIN Drei Jahre nach der Aufführung in London, sorgt Joseph Papp, damals der Spiritus Rektor des amerikanischen Theaters, dafür, dass das Drama "Aschenkinder" auf die Bühne des American Public Theater in New York kommt. Regisseur ist John Madden. Die Hauptrolle übernahm der für seinen Auftritt in dem Film "Die durch die Hölle gehen" Oscar-prämierte Christopher Walken. 6. O-TON JANUSZ GLOWACKI, 45'25 - 46'30, ÜBERSETZER DARÜBER ÜBERSETZER Joseph Papp ließ oft mit den Proben eines Stückes beginnen, besuchte dann eine, und wenn er nicht zufrieden war, gab es keine Aufführung. Dies habe ich die ganze Zeit befürchtet. Aber es kam zur Premiere. Nach der Premiere geht man ins Restaurant Sardi´s auf dem Broadway. Fünf nach elf wird die New York Times mit der aktuellen Kritik ausgetragen. Bis dahin hat niemand sonderlich viel mit mir gesprochen. Man war nicht sicher, wie mein Stück bewertet wird. Zum Glück war die Kritik sehr gut und auf einmal schrien alle: Dzanus, you are great, congratulations. In diesem Augenblick wusste ich, dass ich den ersten Schritt hinter mir habe. ERZÄHLERIN Die New York Times lobte Glowackis "kafkaeske Komödie über Terror und Angst": SPRECHER "Ein tückisches und außergewöhnlich brillant geschriebenes Stück." ERZÄHLERIN Das Schreiben hat Glowacki in Polen gelernt. Nach dem Polonistik-Studium an der Warschauer Universität begann Mitte der 60er Jahre seine Zusammenarbeit mit der Wochenzeitschrift Kultura, für die er Feuilletons schrieb. Es sind tiefsinnige kurze Parabeln mit literarischer Qualität, verfasst in einer ungewöhnlichen Sprache. Glowacki bediente sich nämlich der Partei-, Medien- und Propagandasprache der realexistierenden Utopie und entblößte ihre Hohlheit, indem er sie auf eine skurril- subversive Art und Weise literarisch aufwertete. Begonnen hat es mit der Besprechung des Buches eines Parteidichters. Eine kritische Auseinandersetzung mit seinem Werk war unmöglich. 7. O-TON JANUSZ GLOWACKI, 50'30 - 51'30, ÜBERSETZER DARÜBER ÜBERSETZER Also wenn keine Kritik, dann Lob, Wahnsinnslob. Deshalb habe ich sein Buch mit dem "Ulysses" von James Joyce verglichen und alles zum Vorteil unseres Dichters interpretiert. Wie mir berichtet wurde, war er von meiner Besprechung entzückt. Die Zensur hat sie auch glatt geschluckt. So hat es bei mir mit dem Lob unerträglicher, grauenhafter Dinge, die es im polnischen Leben gab, begonnen. Aber aus diesem Wahnsinnslob sprudelte die Ironie. ERZÄHLERIN Janusz Glowackis Methode hat ähnlich funktioniert, wie das Lenin-Buch von Michail Sostschenko. Sostschenko war ein satirischer Schriftsteller in der Sowjetunion, in Polen bekannt und geliebt für seine Erzählungen über Lenin. In geradezu märchenhaften Storys, wie: "Manchmal kann man Tintenfässer essen", und: "Wie Lenin die Gendarmen überlistete", und: "Wie Lenin aufhörte zu rauchen", hat er den sowjetischen Berufsrevolutionär als einen ultraheiligen Übergutmenschen dargestellt. So heilig, so gütig, so süß, dass man darüber nur lachen konnte. Und Polen hat darüber gelacht, so schallend, dass das Politbüro der kommunistischen Partei keinen Ausweg mehr sah, als Sostschenkos Lenin-Hagiographie aus den Buchhandlungen entfernen zu lassen. 8. O-TON JANUSZ GLOWACKI, 51'30 - 52'20, ÜBERSETZER DARÜBER ÜBERSETZER In meine Texte habe ich einen kommunistischen Apparatschik als Erzähler eingeführt, der sich des ideologischen Jargons bediente. In dieser Sprache begeisterte er sich für diverse Katastrophen des Lebens, kitschige Bücher und Theateraufführungen. Z.B. über eine Veranstaltung mit osteuropäischen und russischen Frisören berichtet er in Form und Sprache einer Sitzung des Politbüros der Partei. ERZÄHLERIN Wie kein anderer Schriftsteller in Polen hat Glowacki in den 70er Jahren die Sprache seziert. Jene Sprache, die George Orwell Newspeak, Neusprech, genannt hatte, die nicht der Verständigung, sondern der politischen Manipulation, der Verschleierung der Realität und der Verdummung der Menschen diente. 9. O-TON JANUSZ GLOWACKI, 54'06 - 54'32, ÜBERSETZER DARÜBER ÜBERSETZER Meine Texte hat die Zensur so lange geschluckt, bis sie ins Kabarett kamen. Von zwei bekannten Schauspielern ins Szene gesetzt, führten sie im Publikum zu Lacheruptionen. Ab da klingelten bei den Zensoren die Glocken und meine Probleme begannen. ERZÄHLERIN Zu den Feuilletons und Erzählungen kamen Bühnenstücke und Drehbücher für Andrzej Wajda und Janusz Morgenstern. Zusammen mit dem Regisseur Marek Piwowski schrieb er die Vorlage zum Film "Eine Flussfahrt". Generationenübergreifend hat "Eine Flussfahrt" den Status eines Kultfilms erreicht. Auch deshalb war für Janusz Glowacki die Arbeit am Drehbuch zum Lech-Walesa-Film eine Herausforderung der besonderen Art. 10. O-TON JANUSZ GLOWACKI, 1:24'45 - 1:27'03,ÜBERSETZER DARÜBER ÜBERSETZER Walesa ist schon ein unerhört komplizierter Mensch, in dem Größen und Schwächen brodeln, wie in uns allen übrigens auch. Adam Michnik hat ihn als einen "die Wahrheit sagenden Lügner" genannt. Walesa gab zu, irgendetwas beim Staatssicherheitsdienst unterschrieben zu haben. Das war während des Massakers der Werftarbeiter 1970. Er wurde geschnappt, ihm, einem damals jungen Arbeiter, hat man Angst eingejagt. Was er unter diesen Umständen unterschrieben hatte, weiß ich nicht. Von ihm selbst ist dazu keine detaillierte Erklärung vorhanden. Erstaunlich ist aber nicht nur die Tatsache, dass er es schaffte, sich aus den Fängen des Sicherheitsdienstes zu befreien. Erstaunlich ist vor allem, wie er den Weg in die Unabhängigkeit geebnet und auf den Abzug der sowjetischen Truppen aus Polen hingearbeitet hatte. Nach mehreren Jahren meiner Emigration kam ich 1989, während der ersten beinahe freien Wahl, nach Polen. Das damalige Geschehen war beherrscht von der Persönlichkeit Walesas. ERZÄHLERIN Nach zwanzig Jahren im amerikanischen Exil, verschob sich der Mittelpunkt von Glowackis Arbeit nach Europa. Seine New Yorker Wohnung hat er zwar immer noch, aber die meiste Zeit verbringt er in Warschau. 2010 kam in Polen der Roman "Good night, Dzerzi" heraus. Die Kritik und die Leser waren gleichermaßen beeindruckt, die Verkaufszahlen außergewöhnlich. Glowacki zeichnet darin ein grandioses Panorama von New York, mit vielen Menschen, Emigranten vor allem, und mit Warschau und Moskau im Hintergrund. Der Roman stellt die fiktive Entstehungsgeschichte eines Drehbuchs zum Film über den Schriftsteller Jerzy Kosinski dar, einen Polen jüdischer Abstammung, der 25 Jahre früher als Glowacki nach New York kam. SPRECHER "Du hast Tränen in den Augen. Weißt du, was ich verloren habe, als ich aus Polen weg ging? Tränen. Die Fähigkeit zu weinen... Diese Fähigkeit ist in Polen geblieben, in Lodsch, mit meinen Eltern, auf den Friedhöfen. Ich schaffe es nicht, auf Englisch zu weinen. Wenn ich hier in New York leide, kann ich mein Leiden nicht in der Sprache der Tränen zum Ausdruck bringen. Wie schön du weinst. Ich beneide dich." ERZÄHLERIN Sagt Jerzy Kosinski alias Dzerzi in New York zu der feenhaften Malerin Mascha aus Moskau. Er wird ihre Ehe zerrütten, ihr Leben zerstören. Janusz Glowacki begegnete Jerzy Kosinski das erste Mal 1975. Dieser war damals in den USA ein gefeierter Literatur-Star, der von Annie Leibovitz fotografierte Autor des Bestsellers "Der bemalte Vogel", der Präsident des amerikanischen PEN, einer von den Reichen und Schönen von New York und Stammgast heißester Sado-Maso- Höllen in Manhattan. 11. O-TON JANUSZ GLOWACKI, 1:10'50 - 1:12'15, ÜBERSETZER DARÜBER ÜBERSETZER Das alles ist sehr kompliziert. Als kleiner Junge hat er in Polen den Holocaust überlebt. Dies fand er aber für die New Yorker Verhältnisse zu wenig attraktiv. Er fing also an, seine Biographie mit bösen, schockierenden Details zu schmucken. Daraufhin tauchten Menschen auf, die das auf den Wahrheitsgehalt zu überprüfen begannen. Eine weitere Frage war, ob ihm jemand beim Schreiben geholfen hätte und woher die gepflegte englische Sprache in seine Bücher kam? Wie kam es dazu, in ihm einen neuen Joseph Conrad zu entdecken? Kurz gesagt, es ist viel Lärm um ihn entstanden und ein Skandal. Am Ende war sein Selbstmord. ERZÄHLERIN Die Journalisten der Village Voice überführten Kosinski der Fälschung mehrerer biografischer Angaben und fanden Schreiber, die glaubhaft machten, einen Teil seiner literarischen Arbeit erledigt zu haben. Es stimmt wenigstens, dass Dzerzi als Literatur- Professor Studenten unterrichtete. SPRECHER "Ein Vorlesungssaal der Yale-Universität. Darin Dzerzi und zwei Dutzend Studenten, meistens junge Frauen. Jeans sind zu sehen und echte Perlen, ausgewaschene T-Shirts und überraschend eine goldene Rolex. - Ihr wollt Schriftsteller werden - sagt Dzerzi. - Tja, das wird eine unangenehme Arbeit, für euch, und öfter noch für diejenigen, die euch lesen werden. Ihr dürft keine Empathie erwarten, auch wenn in euer Werk Herzblut fließt. Ihr werdet ausgelacht. Und wenn es euch zufällig gelingt, Fuß zu fassen, werdet ihr zur käuflichen Ware. Das wird der Anfang vom Ende sein. Ihr bekommt einen Teufelspakt zur Unterschrift. In unserer Zeit arbeitet der Teufel am Schreibtisch. Er kauft Seelen ein, um sie mit Gewinn weiterzuverkaufen. Unsere einzige Waffe ist das Wort. Vergesst nicht, am Anfang stand das Wort. Das Wort ist eine schöne Sache. Es hat Geruch, Farbe und Geschmack. Es lügt nicht, selbst dann nicht, wenn es die Absicht des Schreibers ist, zu lügen. Anders schmeckt das Wort bei Proust, anders bei Tolstoi, anders das eiskalte Wort Kafkas. Ein Schriftsteller behauptete sogar, er wäre fähig das Waschen weißer Wäsche so zu beschreiben, dass es den Klang der Worte Julius Cäsars hätte. Dzerzi unterbricht für eine Weile. Eine schwere Stille hängt in der Luft. Die Studenten schauen unsicher aufeinander, Dzerzi lächelt. - Schluss, das war der Punkt. Isaac Babel, der geniale russische Schriftsteller jüdischer Abstammung, den Stalin ermorden ließ, kannte die Kraft des Punktes. Er schrieb, kein Dolch vermag tiefer und brutaler in den Körper einzudringen, als ein richtig gesetzter Punkt." ERZÄHLERIN Ende 2012 besuchte Janusz Glowacki Moskau. "Good night, Dzerzi" ist auf Russisch erschienen. 12. O-TON JANUSZ GLOWACKI, 15'05 - 16'37, ÜBERSETZER DARÜBER ÜBERSETZER Ich liebe die russische Literatur. Auf dem Wagankowski-Friedhof liegt Jessenin begraben. Ich habe ihn besucht. In Warschau habe ich ein Theaterstück über ihn gemacht mit Olena Leonenko, die ganz wunderbar seine Balladen singt. MUSIK Am Tag meines Friedhofbesuches gab es einen heftigen Schneesturm. Aber auf dem Grab von Jessenin lagen frische Blumen, wie immer. Im Bewusstsein der Russen ist er die ganze Zeit anwesend. Für die jüngere Generation ist er einer wie Jim Morrison, für die ältere ist er der verdammte, von den Kommunisten ermordete, unglückliche, große russische Dichter. Außer auf seinem, lagen frische Blumen nur noch auf dem Grab von Wladimir Wysocki. Also auf den Gräbern zweier Rebellen. Sie sind nicht vergessen, das ist beeindruckend, das ist schön. SPRECHER Renata Gorczynska, eine polnische Schriftstellerin und ehemalige Assistentin von Czeslaw Milosz, hat die Texte von Janusz Glowacki mit einem Palimpsest verglichen. Palimpsest bedeutet einen Vorgang aus dem Altertum: Um das wertvolle Pergament wieder zum Schreiben verwenden zu können, wurde die ursprünglich darauf aufgetragene Schrift entfernt. Dank moderner Technologie lässt sie sich oft rekonstruieren, sie schimmert sozusagen durch die neuere Schrift hindurch. Im übertragenen Sinn verhält es sich mit Glowackis intellektueller Arbeit ähnlich: In "Die vierte Schwester" schimmert Tschechow durch, in "Pilatus Bericht" - das Evangelium, in "Antigone in New York" - Sophokles. ERZÄHLERIN Sechs Jahre lang hat das Theater "Szkola Sowriemiennoj Piesy" in Moskau "Antigone in New York" gespielt. Es war in den 90er Jahren, in der Zeit, als die Sowjetunion mit aller Macht versuchte, sich in Russland zu verwandeln - wie ein kommunistisch-imperialer Doktor Jeckyll in einen russisch-demokratisch angehauchten Mr Hyde. 13. O-TON JANUSZ GLOWACKI, 08'40 - 09'55, ÜBERSETZER DARÜBER ÜBERSETZER In dieser Wendezeit hing an dem Theater eine Ankündigung in riesigen Lettern: "Antigone in New York". Dieser Titel hatte die ganze Geldelite der Russen angelockt, die damals in New York gelebt haben. Ich kam zur Premiere und sah draußen eine nicht endende Reihe von Rolls Royce. Überhaupt: in Moskau gibt es weltweit die größte Zahl von Autos dieser Marke. Im Theatersaal: Männer in Armani-Anzügen, Frauen in schwindelerregend teuren Pelzen. In meinem Kopf düstere Gedanken: Jesusmaria, es wird mit einer Katastrophe enden, sie erwarten Glamour und bekommen von mir obdachlose Penner serviert. Es zeigte sich aber, dass ihnen damals noch das Elend von früher in den Knochen saß - das einerseits, andererseits: in ihnen steckte auch die sie zutiefst beunruhigende Zukunftsangst. Also: keiner hatte vor dem Ende der Vorstellung den Saal verlassen, und sie waren zufrieden. Aber Augenblicke des Schreckens gab es für mich schon. ERZÄHLERIN In der Erzählung "My sweet Raskolnikov" von 1977 zeigt Glowacki ein paar Polen, die das damals seltene Glück erleben, ins westliche Ausland reisen zu dürfen - nach Paris. Dort fühlen sie sich schnell als die von kapitalistischer Lebensart überforderten armen Schlucker aus dem Ostblock, die unter einem Wechselbad aus Minderwertigkeits- komplexen und slawischem Größenwahn leiden. Die von ihnen verwendete Sprache hat zwar jeweils eine individuelle Färbung, ist zugleich aber mit vielen oft irrwitzigen Sprachmustern durchsetzt. Glowacki zeigt, wie sich seine Figuren zunächst in ihrer Sprache, dann in ihren Gefühlen und Gedanken verfangen; wie sie in sich und um sich herum tragikomische Realität erzeugen. Und wie schließlich: "die Grenzen meiner Sprache, die Grenzen meiner Welt bedeuten". SPRECHER "Ja, ja - er wurde nachdenklich. - Der Mensch will nur bequem konsumieren, Und deshalb degeneriert er. So war es im alten Rom und so war es früher in Polen. Um unsere Gattung überlebensfähig zu machen, muss man die Menschen an die Kandare nehmen. Alles, mein junger Freund, hat leider seinen Preis. - plötzlich wurde er traurig. - Den größten Spaß hab ich an Berufsgutmenschen. Als ob die Tatsache schwer zu übersehen wäre, dass sich jede Zivilisation auf einem Gemetzel gründet. Und dass die Folter nichts anderes ist als unsere Ultima Ratio. Übrigens schmerzt mich diese bedauernswerte Notwendigkeit sehr. ERZÄHLERIN Beachtenswert ist, dass Glowacki sich schon als junger Schriftsteller in den 60er Jahren und hinter dem Eisernen Vorhang lebend, intellektuell anders positioniert hatte, als viele Intellektuelle im Osten und im Westen: Statt sich ideologisch willig verführen zu lassen, hat er seine Auseinandersetzung mit der Ideologie auf die Sprache und seine literarische und intellektuelle Neugierde auf die Menschen fokussiert, auf ihre Komplexe, Sehnsüchte, Verletzungen, Begierden, Emotionen, ihren Glauben, Liebe, Hoffnung, und die daraus resultierenden, meist schrägen Lebenslagen. Mit seiner Prosa hat sich Glowacki zum Verwandten großer Satiriker der russischen Literatur gemacht. Er ist in der Weltliteratur zuhause und seine Werke sind zuhause in der Welt, Dramen vor allem, auf den Bühnen von Toronto, London, Marseille, Paris, Sydney, Ankara, Tirana, Prag, Kiew, Warschau, Seoul, Moskau, Petersburg, New York, Los Angeles - wobei diese Aufzählung nicht vollständig ist. 14. O-TON JANUSZ GLOWACKI, 37'15 - 38'20 / 39'23 - 40'46, ÜBERSETZER DARÜBER ÜBERSETZER In den USA war das Stück "Jagd auf Kakerlaken" mein größter Erfolg - gespielt an über fünfzig Theatern, für amerikanische Verhältnisse eine hohe Zahl. Glücklicherweise haben hervorragende Regisseure meine Stücke aufgeführt. Bei "Aschenkinder" war es in London Danny Boyl und in New York John Madden, der Regisseur des Films "Shakespeare in love". Und "Jagd auf Kakerlaken" hat Arthur Penn, ein Starregisseur, beeindruckend inszeniert. In der Besetzung war Diane West, damals frisch mit einem Oscar prämiert. Emigration ist in den USA ein großes Thema. Und mein Emigranten- Stück hat einen amerikanischen Nerv getroffen. Ich erzähle über ein Künstlerpaar aus Polen, beide begabt und in ihrem Herkunftsland erfolgreich. Sie kommen nach New York. Nachdem sie die Freiheitsstatue hinter sich gelassen haben, müsste eigentlich ihr Aufstieg beginnen. Stattdessen beginnt ihr Fall; sie sind außerstande, sich in der ungewohnten Situation neu zu erfinden. Das Stück zeigt eine Nacht in ihrer winzig kleinen, ärmlichen Wohnung in Manhattan, eine Nacht voll Angst und Gespenstern aus der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. "Jagd auf Kakerlaken" habe ich schnell geschrieben. Dieser Arbeit sind mehrere lange Jahre meiner Emigration vorausgegangen. Sie zogen sich unendlich, erfüllt von Armut, Schlaflosigkeit, Angst, Belügen anderer und sich selbst, und dem Gefühl, sich zu verlieren - das alles ist Stoff genug für ein düsteres Drama. Also schrieb ich eine Komödie. Vielleicht hatte Beckett recht, als er sagte: Nichts sei so komisch, wie ein Unglück. ERZÄHLERIN "Jagd auf Kakerlaken" - Glowacki nennt sie eine "traurige Komödie", "Antigone in New York" - eine "Komödie der Verzweiflung". SPRECHER Potter's Field auf Hart Island vor New York ist der größte Friedhof in den USA - und der sonderbarste. Es ist ein zu der städtischen Gefängnisbehörde gehörendes Gelände mit striktem Zutrittsverbot. Etwa 800 000 Tote liegen dort in Massengräbern verscharrt: Obdachlose, Drogensüchtige, Verbrechensopfer, Menschen, die nicht identifiziert werden konnten, totgeborene Babys, Touristen, die in New York starben und deren Rückführung in ihre Heimat für die Angehörigen zu teuer war. Etwa 1500 Särge kommen jährlich auf die Insel. Sie werden von Strafgefangenen in der Erde gestapelt - fünf Särge hoch, zwanzig Särge breit - und ebenerdig, ohne jegliche Zeremonie, zugeschüttet. Die "Insel der Toten" - kein Ort der Trauer, der Würde, des Respekts. ERZÄHLERIN Bevor der Tompkins Square Park auf der unteren Ost-Seite Manhattans mit einem hohen Zaun abgesperrt und nachts geschlossen wurde, war er ein Zufluchtsort für Obdachlose, ihr Territorium. Janusz Glowacki hat sie kennen gelernt, mit ihnen Zeit verbracht. Und "Antigone in New York" geschrieben. In seinem Stück ist die obdachlose Puertoricanerin Anita die Antigone. Als ein von ihr geliebter Mensch stirbt, will sie nicht zulassen, dass er auf der "Insel der Toten" beerdigt wird, ohne Zeremonie, in einem unzugänglichen Massengrab, ohne Leichenschmaus danach. Sie stiftet zwei Obdachlose an, die schon vom städtischen Dienst zum Transport nach Hart Island abgeholte Leiche zu entführen, um sie im Tompkins Square Park zu bestatten. Janusz Glowacki übersetzt mit eigenen Figuren und Situationen den ethischen und emotionalen Inhalt der griechischen Tragödie in die Gegenwart. 15. O-TON JANUSZ GLOWACKI, 05'39 - 07'12 / 07'32 - 07'53 / 1:02'05 - 1:02'43 / 1:07'17 - 1:07'52, ÜBERSETZER DARÜBER ÜBERSETZER Bei der Moskauer Aufführung von "Antigone in New York" war der Bühnenbildner ein Tschetschene. Er sagte, nach einem Massaker in Tschetschenien haben die Menschen nach ihren Angehörigen in riesigen Gräbern gesucht, wo hunderte von Leichen lagen, also worum geht es eigentlich mit dem einen Toten in meinem Stück? Mir fällt dazu die berühmte Aussage von Stalin ein: ein ermordeter Mensch, das ist ein Verbrechen. Hundert tausend Ermordete - das ist Statistik. New York stellt eine gelungene und adäquate Imitation von Himmel und Hölle dar: der Himmel ganz oben auf der Penthouse-Ebene und unten die real vorhandene Hölle. Ich habe über die Hölle geschrieben, mit einem Park Mitten in Manhattan, der eine Bleibe für aus aller Welt stammende Obdachlose war; ein Mikrokosmos aus menschlicher Niederlage, Demütigung, Hoffnung. "Antigone in New York" endet mit dem Monolog des Polizisten. Zum Publikum sagt er: die Zahl der Obdachlosen in New York wächst stetig. Im Saal sind jetzt drei hundert Personen. Mit statistischer Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, dass zwei bis drei Zuschauer innerhalb der nächsten Monate auf der Straße landen werden. Und Sie, meine Damen und Herren, wissen Bescheid, von wem ich spreche. Ich wünsche Ihnen einen guten Abend. 1 1