DEUTSCHLANDFUNK Hintergrund Kultur / Hörspiel Redaktion: Sabine Küchler Feature Versuch's, die verstümmelte Welt zu besingen Der polnische Schriftsteller Adam Zagajewski Von Burkhard Reinartz Autor: Zitator Adam Zagajewski: Polnischer Reisender (voice over): REGIE: Burkhard Reinartz Produktion: Mo 9.12. - Do 12.12.2013 M 1.2 Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Freitag, 7. Februar 2014, 20:10 - 21:00 Uhr Versuch's, die verstümmelte Welt zu besingen Der polnische Schriftsteller Adam Zagajewski __________________________________________________ Musik 1: Noell Akchoté: Mords tr 4 ab 1..15 O-Ton 1 Adam Zagajewski: Die Schwalben von Auschwitz - liest Überschrift deutsch, dann weiter Gedicht auf polnisch - wird abgelöst von Zitator Adam Z.: In der Stille der Baracken, im Schweigen des Julisonntags das durchdringende Kreischen der Schwalben. Sollte nur das geblieben sein von der Sprache der Menschen? Musik 1 verzahnt sich mit Atmo: landendes Flugzeug und aus Autor: Flughafen Krakau. Atmo Flughafenbus tr 63 Im Flughafenbus zum Terminal Johannes Paul II. Kaum Touristen, einige Amerikaner, viele Polen, eine Gruppe chinesischer Geschäftsleute und: meine polnische Reisebekanntschaft: Jakub Rybinski, ein IT-Experte, Mitte vierzig, der im Flugzeug neben mir saß. Als er hört, dass ich den Schriftsteller Adam Zagajewski besuchen werde, sieht er mich überrascht an: "Einer der besten polnischen Dichter". Jetzt bin ich es, der verblüfft dreinschaut. Der Mann scheint alles über den Dichter zu wissen. Ich bitte ihn, mir nach der Landung ein paar Sätze ins Mikrofon zu sprechen. Wir verabreden uns am Gepäckband. Atmo: Durchsage Flughafen Krakau kurz tr 61 Atmo Gepäckband tr 11 evtl. 10 O-Ton 1 Jakub Rybinski 4. Yes of course, I have heard about Adam Zagajewski. I was at the specal event, when Miss Szymborska was in Krakau, we were at this special evening and with Mr. Krynicki, also Mr. Zagajewski and it was fascinating for us, they read their poems. Voice Over: Natürlich habe ich von Adam Zagejewski gehört. Ich war bei dieser Veranstaltung, als Wislawa Szymborska, Ryszard Krynicki und Adam Zagajewski ihre Gedichte gelesen haben. Es war großartig. Autor: Ich frage mich, ob der Dichter erstaunt sein wird, dass ich schon im Flugzeug, jemanden getroffen habe, der sein Werk kennt - und wichtige Stationen seiner Biografie. O-Ton 2 Jakub Rybinski 5 I heard that Mr Zagjewski was born in Lemberg... 6 We are lucky in Krakau, because for years we had Ceslaw Milosz, then MIss Szymborska.... Voice Over Ich habe gehört, dass Herr Zagajewski in Lemberg geboren wurde. Nach dem Studium schrieb er Briefe gegen die Kommunistische Partei, sodass er in Polen nicht mehr publizieren konnte. Er hat in Paris gelebt und nun in Krakau. Wir sind glücklich in Krakau, dass wir Ceslav Milosz und Wislawa Szymborska haben. Der letzte Satz des englischen O-Tons verschwindet in Atmo Gepäckband Ansage Haussprecherin: Versuch's, die verstümmelte Welt zu besingen Der polnische Schriftsteller Adam Zagajewsk ein Feature von Burkhard Reinartz Autor: Mein polnischer Begleiter schlägt vor, mit dem Bus in die Stadt zu fahren. "Eine gute halbe Stunde". O-Ton 3 Jakub Rybinski unter Busatmo tr 13 14 This Bus goes soon through the richest Quaarters of Krakau... Voice Over: Dieser Bus fährt gleich durch die reichsten Viertel Krakaus, so etwas wie Beverly Hills in Los Angeles. Es ist eine grüne Gegend mit Parks und Wäldern. atmo kurz hoch Hier unten ist die Autobahn - In eine Richtung führt sie nach Deutschland, in die andere Richtung in die Ukraine weiter Busatmo 16 oder Anfang 18 O-Ton 4 Jakub Rybinski 21 In this place lives also Mr. Penderecki.... Voice Over: Hier lebt auch Krystof Penderecki. Er ist ein berühmter polnischer Komponist wie vor einigen Jahren Witold Lutoslawski Autor: Nach zwanzig Minuten Fahrt nähern wir uns Krakau. Unmerklich gehen Landschaft und dörfliches Ambiente in Vorstadtgewimmel über. An einer Kreuzung grinst Bruce Willis - an der Front eines Gebäudes zu einer Zehn-Meter-Figur aufgeblasen - in den Feierabend-Verkehr. O-Ton 5 Jakub Rybinski 23 In front of us we can see St. Marys Church .... Voice over: Vor uns sehen wir jetzt die Marienkirche. Diese Kirche befindet sich auf dem zentralen Marktplatz in Krakau. Sie ist eine der berühmtesten Kirchen Krakaus. weiter leise Busatmo und sound - darüber Musik/Sound 2: Noel Akchoté: Gifle tr 1 Zitator Adam Z. Abends, auf dem Marktplatz glühten Gesichter von Menschen, die ich nicht kannte. Gierig betrachtete ich die menschlichen Gesichter: Jedes war anders, jedes sagte etwas, versuchte zu überzeugen, lachte, litt. Ich dachte - nicht die Häuser bilden die Stadt, nicht Plätze, Boulevards, Parks, breite Straßen, sondern die Gesichter, leuchtend wie Lampen, wie die Brenner von Schweißern, die in der Nacht in Wolken von Funken Eisen reparieren. atmo und Musik hoch und aus Autor: Dienstag gegen 18.00 Uhr. Hotel Maksymilian in der Karmelicka-Straße, zehn Minuten von der historischen Altstadt entfernt. Wir sind erst am nächten Tag verabredet, aber der Zagajewski bietet mir am Telefon an, für eine halbe Stunde vorbei zu schauen, um Hallo zu sagen - er wohnt nur wenige Minuten vom Hotel entfernt. Es ist heiß in Krakau am frühen Maiabend. Kurz nach sechs betritt Adam Zagajewski den Innenhof des Hotels. Elegant gekleidet, trotz der Hitze. Von der Karmelicka Straße schallen die Geräusche der Straßenbahn in den Innenhof - und der Lärm von Handwerkern. O-Ton 6 Adam Zagajewski 32 Als ich Kind war, gab es in der Schule kein Deutsch, nur russisch, dann auch Latein, englisch, französisch. Das war Schlesien. Es war die kommunistische Entscheidung wegen der Geschichte des Gebiets. Aber mein Großvater war ein Germanist. Die deutsche Literatur, das war seine Liebe. Un er wollte unbedingt, dass ich deutsch spreche. Er wollte selbst nicht mein Lehrer sein. Er sagt, ich kann entweder ein guter Großvater sein oder ein guter Lehrer. Und er ziehe es vor, ein guter Großvater zu sein. schmunzelt Autor: Adam Zagajewski sitzt mir an einem kleinen Metalltisch vor dem Hotelbistro gegenüber. Sein anthrazitfarbenes Leinenjacket hat er inzwischen abgelegt. O-Ton 7 Adam Zagajewski 33 Was ich an Krakau mag, ist eben, dass diese Stadt nicht städtisch ist, nicht großstädtisch. Wenn ich nach Krakau zurückkomme aus Paris oder New York, aber sogar aus Warschau: Es gibt etwas dörfliches in Krakau. Es gibt so viele Bäume und die Leute sind nicht in der Eile. Das mag ich unglaublich, dass man so langsam ist und das Leben so ruhig ist. 1.20 Die Dörfer kommen nach Krakau. Man kann sie hier bewundern. Atmo Planty tr 29 oder 30 Autor: Mittwoch vormittag, kurz nach elf. Spaziergang im Planty, dem parkähnlichen Grüngürtel, der sich auf vier Kilometern Länge um die Altstadt schmiegt. Ein Refugium für Flaneure. Auf einer schattigen Bank gegenüber der St. Anna Kirche und dem Collegium Maius der Universität. Adam Zagajewski kommt oft hierher. kurz atmo: Glockenschläge St. Anna und Raben Studenten spazieren durch den Planty oder sitzen auf Parkbänken. Ein alte Frau mit Kopftuch zieht einen leeren Kinderwagen hinter sich her. Gerade kommen drei junge Priester vorbei, die heftig gestikulieren. Im Hintergrund der Vormittagsverkehr. weiter Atmo Planty O-Ton 8 Adam Zagajewski 35 Die Kirche, die katholische Kirche, in Polen befindet sich in einer Wandlung. Sie weiß noch nicht, wohin geht sie. 37 Als ich Kind war, die katholische Kirche war für mich sehr wichtig. Das Paradoxe dabei war: das waren die schlimmen Zeiten von Stalinismus. Und die Kirche bildete einen Gegenpol. Das war eine Welt, die ganz anders war. Sonst war die Welt von stalinistischen Losungen beherrscht. Die Kirche war der einzige Raum, wo der totalitäre Geruch nicht herein reichte. Deswegen war das sehr attraktiv für mich, obwohl ich keine politischen Meinungen hatte und wenn, war ich ein kleiner Stalinist. Ich war doch schon ein bisschen beeinflusst von der Propaganda. schmunzelt Autor: Immer wieder tauchen in Zagajewkis Gedichten Priester auf. Manchmal sind sie traurig, manchmal ernst, aber meistens heiter gestimmt. O-Ton 9 Adam Zagajewski 36 Für mich war das immer ein Symbol der Heiligkeit, das Lachen. Die Leute, die einen gewissen Grad des Heiligsten erreicht hatten, die lachten viel, die hatten diese lockere Attitüde: Zitator Adam Z. Ein Bibelwort, das nie geschrieben wurde: "Komm zu mir, denn ich bin widerspruchsvoll wie du selbst". Autor: Nirgendwo auf der Welt gibt es auf engstem Raum so viele Kirchen wie in Krakau. In den alten Gotteshäusern sehe ich viele junge Leute beten. Von christlicher Krisenstimmung wie im Westen keine Spur. Atmo Marienkirche - Stimmen, Musik, Altarflügel-Öffnung Autor: In der Marienkirche auf dem "Rynek", dem zentralen Marktplatz Krakaus. Gegen Mittag strömen Touristen und polnische Gläubige in den Kirchenraum. Der Hochaltar des Nürnberger Bildhauers Veit Stoß ist der Blickfang der Kirche. Sind die Altarflügel geschlossen, sieht man zwölf Szenen aus dem Leben von Maria und Jesus. Werden die Altarflügel um 12 Uhr für einige Stunden rituell geöffnet, sind Szenen aus der christlichen Mythologie zu sehen - dargestellt von über 200 dreidimensionalen Figuren. Einige der Figuren sind über zwei Meter groß und aus dem Stamm einer 500 Jahre alten Linde geschnitzt. Musik 3: Claude Chaloub: Red Desert tr 1 Zitator Adam Z. Antennen Nachts, hoch in den Alpen, schlafen die Antennen nicht, die Antennen wachen, drehen sich aufmerksam und flüstern: Komm endlich, Messias. Unsichtbare Hand S. 30 Autor: Am Nachmittag bin ich mit Zagajewski in seiner Wohnung verabredet. Gehe die Karmelicka Straße stadtauswärts und erinnere mich an Gedichte, in denen der er die Straßen seiner Jugend beschrieben hat. Atmo Straßenbahn Musik 4: Claude Chaloub: Two Angels tr 7 Zitator Adam Z.: Karmelicka-Straße, blaue Straßenbahnen, Sonne, September, erster Tag nach den Ferien, manche sind von weiten Reisen zurück, Panzerdivisionen fallen in Polen ein. Kinder gehen zur Schule in schönen Kleidern, weiß und blau wie Segel und Meer. wie Erinnerung und Inspiration, und wie Trauben. Ich bin zurückgekehrt zu der Stadt, die jetzt ihre Wände verkauft, für die ich eine misstrauische Liebe hege, und der ich nichts schenken kann außer meinem Vergessen und meiner Erinnerung, außer dem Gedicht, außer dem Leben. Autor: Die Karmelicka-Straße, ein seltsames Amalgam aus rußgeschwärzten Altbauten, westlichen Invasoren wie der Rossmann-Drogerie-Kette, kleinen Holz-Buden, in denen alte Frauen Brot oder Gemüse verkaufen. Ein Power-Yoga-Studio neben einem Parkplatz, an dessen Rand eine ausgediente Kaserne steht. Nach fünf Minuten die ruhige Seitenstraße, in der Adam Zagajewski in einem unspektakulären Mietshaus wohnt und arbeitet. O-Ton 10 Adam Zagajewski 5 Tassengeklingel Das ist schwarzer Tee. Ich trinke selten den grünen Tee, weil der schwarze Tee gibt mir die Inspiration. Nicht jeden Tag, aber manchmal doch. Es passiert manchmal, dass Studenten oder Leute in einer Lesung fragen: "Wie machen Sie das, wie schreiben Sie Gedichte?" Ich sage: "Man braucht zwei Sachen: schwarzen Tee und Musik. Wenn man beides hat, kann man schreiben". Autor: Als er 2002 mit seiner Frau von Paris nach Krakau zurückkehrte, haben sie gleich zwei Wohnungen in dem Haus bezogen. O-Ton 11 Adam Zagajewski 54 Wo wir gerade jetzt sind, das ist die Lebenswohnung, für's Essen, für die Gäste und die zweite Wohnung ist für die Arbeit. Es ist im selben Gebäude, im Erdgeschoß. 55 Ich mag diese Aufteilung. Eine Wohnung hat die Atmosphäre, ein bisschen hedonistische Atmosphäre und die andere ist asketischer. Dort versuche ich zu arbeiten. Autor: Es ist hell in dem geräumigen Wohnzimmer. Der Dichter sitzt mir auf einer weinroten Couch gegenüber. An den Wänden kleinformatige Bilder befreundeter Maler. Vorwiegend Stillleben. Portraits von Dingen, die in manchen seiner Gedichte auftauchen. Auf einem Sideboard gerahmte Fotos, die ihn mit seiner Frau zeigen - und kleine CD-Stapel. Unten, im Arbeitsbereich, wäre seine eigentliche Sammlung. Ob ich Musik hören möchte? "Vielleicht später, lassen Sie uns erst über Musik reden". O-Ton 12 Adam Zagajewski 2 Meine Familie war ganz unmusikalisch. Es gab viele Bücher zuhause, aber keine Musik. Nur das Radio mit Random-Musik. Als ich sehr klein war, da spürte ich auch kein besonderes Interesse für die Musik. Als die Eltern mich aus einem Gefühl der Pflicht in eine Musikstunde gesendet hatten und die Lehrerin mir sagte: Weißt du, du sollst besser Sprachen lernen, war das für mich keine Katastrophe 3 Die Musik kam später für mich. Als ich vierzehn, fünfzehn war, kam Jazz, die klassische Musik und nie die leichte Musik. Musik 5: Jason Beck (Chilly Ganzales): Minor Fantasy tr3 Zitator Adam Z.: Klavierstunde Die wunderbare Akustik in der Wohnung unserer Nachbarn - Die Stille in dieser Wohnung. Im Zimmer steht ein Flügel wie ein träges zahmes Raubtier - und in ihm, direkt in seinem Zentrum, ruht die schwarze Kugel Musik. Frau J. sagt mir gleich nach der ersten oder zweiten Stunde, ich solle lieber Sprachen lernen, weil ich für für die Musik keine Begabung hätte. Die Musik wird immer anderswo sein, unerreichbar, immer in der fremden Wohnung. Die schwarze Kugel wird anderswo versteckt sein, doch vielleicht gibt es andere Begegnungen und Entdeckungen. Mir bleibt nur die Sprache, nur Worte, Bilder, nur die Welt. Unsichtbare Hand S. 74 O-Ton 13 Adam Zagajewski 4 Ich glaube, Poesie und Musik sind Nachbarn. Auch das Schweigen gehört dazu. 5 Zuerst ist Musik ein Moment der Sammlung, aber Musik ist viel aktiver als Poesie und viel aktiver als die Bilder. start Musik 6 Ich habe manchmal schlechte, träge Tage, wo nichts passiert. Und ein Gedicht kann mir damit nicht nicht helfen. Aber die Musik ist wie eine Einladung, etwas dynamisches. die Musik kommt zu uns, diese lebensbejahende Kraft der Musik, die uns attackiert. 56 Es gibt ein chinesisches Zeichen, das zugleich die Musik und die Freude bedeutet. rauskommen bei 1.10 Musik 6: Rachmaninov: Piano Concerto Nr 3 Adagio start 4.46 O-Ton 14 Adam Zagajewski 8 Ich glaube, in jedem Gedicht gibt es so eine besondere Energie, die wartet auf einen Leser. Und in der Musik auch. Aber vielleicht ist Musik aggressiver. Die Poesie ist ein bisschen scheu, die wartet in den Bänden. Sie ist nie auf die Straße. 9 Man kann spazieren gehen und aus einer Wohnung hört man Musik. Eine Minute dieser Musik kann unser Leben fast ändern. Es ist selten, dass man aus den Wohnungen Gedichte hört. Musik kurz hoch O-Ton 15 Adam Zagajewski: 12 Ich weiß nicht, was ein Gedicht ist. Es ist etwas rätselhaftes darin. Es ist kein Aphorismus, es ist keine Weisheit. Ich glaube, es ist eine kleine Bewegung in der Sprache, in der Vorstellungskraft. Musik aus O-Ton 16 Adam Zagajewski: 14 Ich kann nicht sagen, dass ich meine Gedichte gut kenne. Was ich kenne, ist das Gefühl, wenn ich ein neues Gedicht schreibe. Das ist manchmal ein Glücksgefühl, eine Art von Euphorie, als ob man etwas gefunden hätte. Das Paradoxe ist: das Gedicht ist für mich, den Autor nicht, es ist für die anderen. Es ist nicht so altruistisch, es bedeutet nicht, dass ich so großzügig bin. Ich kann diese Gedichte nicht aufnehmen, ich verstehe sie kaum.15 Nun, wenn ich dann in einer Lesung ein Gedicht wieder auflese, dann geschieht ein Wunder und für eine Weile bin ich wieder in diesem Gedicht. Das ist sehr schön, das ist eine Belohnung. Dieser kreative Augenblick kommt zurück. Das bedeutet aber nicht, dass ich das Gedicht verstehe. Ich bin getragen, ich bin von dem Gedicht wieder getragen. Und dann verschwindet es wieder. Zitator Adam Z.: Der Schriftsteller, der ein Tagebuch führt, schreibt darin auf, was er weiß. Im Gedicht oder in der Erzählung schreibt er über das, was er nicht weiß. O-Ton 17 Adam Zagajewski 16 Für mich ein Baustein von dem Gedicht ist ein Bild. Es nicht dasselbe als ein gemaltes Bild. Man will etwas finden. Man findet es fast, aber nicht ganz. Bilder sollen ein bisschen nebelig sein. Die müssen dazu führen, dass der Leser oder ich diesen Hauch spüre. 17 Ich würde sagen, ein Gedicht ist Bilder plus eine Bewegung. Die Bilder können nicht so statisch sein. Wie in der Musik: die stehen nicht, die laufen. Musik 7: Claude Chaloub: Kaa tr 6 oder Silfra: Godot tr 5 Zitator Adam Z.: Augenblick In der romanischen Kirche schwiegen die runden Steine in Demut, sie haben schon so viele Generationen zermahlen, und in der Apsis schliefen die Schatten wie Fledermäuse in Pelzen des Winters. Wir gingen hinaus. Die Sonne schien blaß. Musik summte leise herüber aus einem der Autos, zwei Eichelhäher sahen uns Menschen aufmerksam zu, in der Luft hingen Fäden von Sehnsucht. Wie ist dieser Augenblick so dreist, er leistet sich dicht an der Seite dieses alten, schon sehr milden Tempels sein leichtsinniges Sein. Und in Erwartung der nächsten Millionen von Jahren, der künftigen Kriege, Gesteinsformationen, Waffenstillstände, Kongresse, Klimawechsel - dieser Augenblick - was sonst - doch nur eine Mücke, Eintagsfliege, ein Staubkorn, Bruchteil eines Atemzugs, und dennoch machte er sich überall breit, drang ins Innere der ängstlichen Gräser, lebt in Halmen und Genen und in den Pupillen unserer Augen. Dieser Augenblick, sterblich wie du und ich, war erfüllt von einer unbegreiflichen, rasenden, grenzenlosen Freude, als wüsste er etwas, was wir nicht wissen. Musik aus O-Ton 18 Adam Zagajewski 61 Als Kind war ich ein bisschen unter dem Einfluss der Propaganda. Meine Eltern sagten mir, als Stalin starb, hatte ich geweint in der Schule. Ich war von den Thesen des Kommunismus beeinflusst. Es konnte nicht anders sein und ich brauchte viel Zeit, um mich davon ganz zu befreien. Zum Beispiel für die Leute wie mich, die in diese System geboren wurden, war die Zensur etwas offensichtliches. Man dachte, die Zensur ist ein Teil des Lebens. Es brauchte eine Weile, um mich davon zu emanzipieren. 64 10 S Sehr bald war ich ein Teil dieser Generation, die gegen den Kommunismus kämpfte. ich kann mir nicht viel vorwerfen in dieser Hinsicht. Zitator Adam Z. Wahrheit Steh auf öffne die Tür entknote das Schnürzeug löse dich aus dem Netzwerk der Nerven du bist Jona der den Walfisch verdaut Weigere dich diesem Menschen die Hand zu reichen richte dich auf und trockne den Tampon der Zunge verlass diesen Kokon leg diese Schleimhäute frei atme die tiefsten Schichten der Luft ein und sage langsam nach allen Regeln der Syntax die Wahrheit dazu bist du da in der Linken hältst du die Liebe und in der Rechten den Hass Burgund S. 8 Autor: Adam Zagajewski, 1945 in Lemberg geboren, gilt heute als einer der wichtigsten lebenden Lyriker Polens. Er begründete die literarische Strömung "Neue Welle", die sich gegen den "sozialistischen Realismus" und die Vortäuschung falscher Tatsachen in Presse und Propaganda wandte. Seine Bücher wurden verboten, kursierten aber unter der Hand. Zagajewski unterstützte das "Komitee zur Verteidigung der Arbeit", KOR, eine Bürgerrechtsbewegung, aus der später die Gewerkschaft Solidarnosc hervorging. Nach seiner Emigration lebte er in Berlin, Amerika, Paris und seit einigen Jahren wieder in Krakau. Seit 2007 lehrt er als Gastprofessor In Chicago. Zitator Adam Z.: Ich will politische Eindrücke in meiner Lyrik vertiefen, aber ich will keine Partei ergreifen. Umgekehrt will ich nicht zu einem reinen Ästhetizisten werden, der Politik verachtet. Lyrik transzendiert Politik. O-Ton 19 Adam Zagajewski 71 Vor vielen Jahren, als ich eine Lesung in Deutschland hatte, hat mich jemand vorgestellt und gesagt, ich sei ein politischer Immigrant und ich sagte, nein, nein ich bin ein erotischer Emigrant. Denn als ich nach Paris ging, das war eine Zeit, wo viele Leute aus Polen immigrierten, wegen den politischen Verhältnissen. Das war der Kriegszustand, eine sehr deprimierende Epoche für Polen. Und ich war ein Dissident. Ich sollte eigentlich zu denen gehören, die aus diesen Gründen in den Westen gingen. Aber eigentlich ging ich aus Liebe zu einer Frau. Und die Liebe dauerte und dauert immer noch und ich blieb zwanzig Jahre in Paris. Zu lange. Denn es gefällt mir besser in Krakau als in Paris. Autor: Maja Wodecka arbeitete in den 70er Jahren in Frankreich als Filmschauspielerin, später als Übersetzerin. Sie übertrug unter anderem die Gedichte ihres Mannes ins Französische und arbeitet heute als Psychoanalytikerin. Musik 8: Eivind Aarset: Active tr 5 Zitator Adam Z.: Versuch`s, die verstümmelte Welt zu besingen. Erinnere dich an die langen Junitage, und an die Erdbeeren, die Tropfen des Weins rosé. An die Brennesseln, die methodisch die verlassenen Behausungen der Vertriebenen überwucherten. Du musst die verstümmelte Welt besingen. Du hattest die eleganten Jachten und Schiffe betrachtet; eins davon hatte eine lange Reise vor sich, ein anderes erwartete nur das salzige Nichts. Du hast die Flüchtlinge gesehen, die nirgendwohin gingen, Du hast die Henker gehört, die fröhlich sangen. Du solltest die verstümmelte Welt besingen. Denke an die Augenblicke, als ihr beisammen ward in dem weißen Zimmer, und die Gardine sich bewegte. Erinnere dich an das Konzert, als die Musik explodierte. Im Herbst sammeltest du Eicheln im Park und die Blätter wirbelten über den Narben der Erde. Besinge die verstümmelte Welt und die graue Feder, die die Drossel verlor, und das sanfte Licht, das umherschweift und verschwindet und wiederkehrt Burgund 157 Musik aus Autor: Nach den Nine-Eleven-Anschlägen macht der "New Yorker" mit Zagajewskis Gedicht "Versuch's, die verstümmelte Welt zu besingen" auf. Geschichte und individuelles Schicksal bilden im Werk des Dichters eine untrennbare Schnittmenge. Alles ist in nur einem Augenblick möglich: "Die toten Juden fahren um die Wette Schlitten und werfen Schneebälle ans Fenster", während "die Welt in meinen Mantel ein- und auskriecht wie in einen Ameisenhaufen". Zagajewski sitzt mir konzentriert gegenüber. Er lässt sich Zeit, wenn er Fragen beantwortet, die sich kaum beantworten lassen: Was ist ein Gedicht? Wie entstehen Gedichte? Sind Gedichte Musik oder ähneln sie eher Filmen oder Fotosequenzen? O-Ton 20 Adam Zagajewski 18 Ich glaube, in einem Gedicht, es ist wie ein Treffen von Bildern, die manchmal ganz fotografisch sind, ganz realistisch und dann erreicht man eine Grenze von Unwissen, von Nicht-Wissen. Und dieser Kontrast zwischen den Bildern, die man nicht materialisieren kann, die man empirisch fassen kann. Aber sogar in einem kurzen Gedicht kommt man schnell zu der Grenze, wo wir nicht mehr wissen. Und dieses nicht mehr wissen macht aus diesen Bildern etwas Unerhörtes, etwas Rares. Die müssen darauf beruhen, was wir wissen, was wir gesehen haben, was wir empfunden haben. Aber dann kommt diese Grenze. Aber wir können im Gedicht nicht sagen: ich weiß nicht. Es muss etwas positives sein: Der Stoff der Bilder. O-Ton 21 Adam Zagajewski wie atmo- behandeln -leise und angezerrt Das gewöhnliche Leben tr 14 rezitiert das Gedicht auf polnisch - bricht bei der Hälfte ab. Es geht weiter mit Musik 9: Christian Wallumrod: She passes through the house of her grandmother tr 1 easter Zitator Adam Z. Das gewöhnliche Leben Unser Leben ist gewöhnlich, las ich in einer zerknüllten Zeitung, die jemand auf der Bank hatte liegen lassen. Unser Leben ist gewöhnlich, las ich bei den Philosophen. Das gewöhnliche Leben, Tage, Sorgen, bisweilen ein Konzert, ein Gespräch, ein Spaziergang am Stadtrand, eine gute Nachricht, eine schlechte - aber Gegenstände und Gedanken waren gleichsam unvollendet, nur skizziert. Häuser und Bäume dürsteten nach etwas anderem, und im Sommer lagen die grünen Wiesen auf dem vulkanischen Planeten wie ein Mantel auf dem Ozean. Die schwarzen Kinos dürsten nach Licht. Die Wälder atmen fieberhaft, die Wolken singen leise, der Pirol fleht um Regen. Das gewöhnliche Leben dürstet. Musik aus Unsichtbare Hand, S. 32 O-Ton 22 Adam Zagajewski 19 Wie ein Gedicht entsteht bei mir? Es ist manchmal ein Vers, eine Linie oder ein Gefühl oder ein kleines Erlebnis. 20 Ich war vor kurzem in Berlin und nicht zum ersten Mal ich ging zu dem Dorotheenfriedhof im Zentrum. Er ist unglaublich, sehr snobistisch, mit allen großen Namen und ich weilte bei Bertolt Brechts Grab. Und erlebte etwas, aber ich wußte nicht, was es war. Ich wußte, das war ein Gedicht, aber ich wußte noch nicht, was darin steckte. Zehn Tage später zuhause: Es ist wie ein Film, der entwickelt sein muss. Was ich empfunden habe, war so konzentriert. Ich brauchte eine lange Weile, das zu entwickeln und dann kam das Gedicht plötzlich. Der Moment des Schreibens ist wunderbar, weil man überhaupt nicht weiß, wohin man geht. Der letzte Vers, die letzte Linie, das ist immer eine Überraschung. Als ob jemand uns das schenkte im letzten Moment. Zitator Adam Z. Jedes Gedicht braucht, was Bergson einmal als élan vital beschrieben hat. Élan bedeutet Energie. Und ich glaube, jedes Gedicht kommt aus einem élan - einem Hauch von etwas mehr. Ich würde nicht sagen, der Hauch des Göttlichen, aber ein Hauch. O-Ton 23 Adam Zagajewski 24 Es gibt viele Dichter heute, die in einer künstlichen Welt leben, wo man das Gedicht bewertet als ob jeder ein Poet ist. Das führt dazu, dass die Gedichte eher sprachbezogen sind als erfahrungsbezogen. Ich glaube, in einem Gedicht muss man beides haben. die Erfahrung und die Sprache. Zitator Adam Z. Wenn ich schreibe, sind das Wort und die Syntax sehr wichtig. Aber ich denke darüber nicht nach. Das ist rein intuitiv. Ich suche nach Worten, die mir geeignet scheinen. Aber das geschieht auf einer Stufe, die vortheoretisch ist. Es gibt andere, die daraus Theorien machen. Mich interessiert das nicht. Musik/Sound 10: Noel Akchoté: Zitator Adam Z.: Sprache Eingesperrt im weißen Käfig versucht sie bei kleinster Luftbewegung zu fliehen nach einigen Buchstaben wird sie angehalten Am sanftesten werden die Fluchten auf polnisch behandelt Aber auch so ist die Grausamkeit der Lippen Unbeschreiblich Die Zunge ist im Reservat des Gesichts das letzte Tier. Musik aus Burgund S. 7 O-Ton 24 Adam Zagajewski 26 Für mich gibt es etwas gemeinsames zwischen Philosophie, so wie die Griechen die Philosophie verstanden und der Poesie. Es ist das Staunen, dieses kindliche Staunen, dass die Welt so ist wie sie ist. Es ist Monat Mai jetzt und jeder Monat Mai ist anders. Wir stauen, dass die Welt so verjüngt ist und ich denke, dass die Poesie, aber auch die Musik, sie entsprechen diesem Bedarf nach dem Wunder. Das Staunen gibt uns etwas frisches wie ein Neubeginn. Zitator Adam Z.: Verteidigung der Poesie bedeutet, etwas verteidigen, was im Menschen steckt, nämlich die fundamentale Fähigkeit, das Wunderbare der Welt zu erleben, das Göttliche im Kosmos und in anderen Menschen, in der Eidechse und in den Kastanienblättern. Ich verstehe Dichtung als die dauernde Frage nach dem Sinn der Welt aus der Perspektive des Schreibenden, als unaufhörliches Abwägen. Ich habe ein Bewusstsein davon, dass wir immer in einer zweiten Wirklichkeit leben; sie ist für mich die eigentliche Wirklichkeit. Atmo Treppenhaus tr Autor: Wir verlassen die Wohnung und gehen vom dritten Stock die Treppe zum Arbeitsbereich der Zagajewskis hinunter. In der Parterrewohnung hat Maja Wocecka ihre psychoanalytische Praxis. Ich folge dem Dichter in die Bibliothek. Die Regale sind bis zur Decke mit Büchern gefüllt. Etliche liegen noch in Umzugskisten. Auf drei Tischen übereinander gestapelt Bücher und CDs. Schwierig, einen freien Platz für unser Gespräch zu finden. Atmo Arbeitszimmer kurz, bis 0.13 O-Ton 25 Adam Zagajewski: 27 Ich suche nach Arvo Pärt. Ich kann ihn nicht finden. Sagen Sie ihm das nicht, dem Komponisten. Das ist jetzt keine Arvo Pärt Epoche für mich. Ich habe ihn früher viel gehört und jetzt muss er eine Weile warten, weil man kann nicht alle Komponisten zugleich hören.28 Im Moment, ich schäme mich fast, als ich jung war, einer der ersten Musiken, die ich hörte war Rachmaninov, das dritte Concerto und jetzt habe ich vor einem Jahr die Aufnahme mit Martha Argerich gekauft. Und die ist wunderbar. Es ist so einfache Musik - ich habe schon viel kompliziertere Musik gehört - aber ich bin jetzt zurück mit Rachmaninov, diese schlichte sentimentale Musik, die hilft mir in der Arbeit. Musik 11: Billy Holiday: The man I love - verschrammt und leise wie atmo Autor: In einem Musikregal und in kleinen Stapeln vor den einsortierten Büchern etliche Musik-CDs: Klassik und jede Menge Jazz. O-Ton 26 Adam Zagajewski: 29 Ja, Sarah Vaughn, aber besonders Billy Holliday ist meine beliebte Sängerin. Das ist wie eine Person, die man kennt, die so individuell ist, die sich so einprägt. Musik/atmo kurz frei - Bily Holliday verzahnt sich mit Musik 12 Musik 12: Christian Wallumrod: Royal Garden, MItte tr 1 easter Zitator Adam Z.: Sie steht auf der Bühne einsam und hat kein Instrument. Sie legt die Hände auf die Brust, dort, wo der Atem geboren wird und wo er erlischt. Nicht die Hände und nicht die Brust singt. Es singt, was schweigt. Musik aus O-Ton 27 Adam Zagajewski: 21 Diese Bibliothek, das ist nur ein Teil meiner Bibliothek. Einige sind immer noch in Houston, einige sind noch nicht ausgepackt aus Paris. Es sind verschiedene Epochen hier. Aber ich bin kein Pedant. Ich muss keine gesammelten Werke haben. Ein Band von Goethe, das ist genug. Die Methonomie, also ein pars pro toto, das ist genug für mich. 33 Viel Essays, ein bisschen Philosophie, nicht zuviel, damit das Zimmer nicht zu schwierig wird. Fast alle meine Dichter, die ich liebe: Hölderlin, Kafafis und Mandelstamm und Zbigniew Herbert und Milosz - auch einige Biographien. 34 Ich finde, gute Biografien sind fantastisch. Die bilden eine Brücke zwischen einem Individuum und der Epoche. Da ist diese alte Biografie von Proust by George Painter. Das ist eine fantastische Biografie von John Keats by Walter Jackson Bate: Der arme Keats lebte nur 25 Jahre und es gibt diese dicke Biografie über ihn. Es ist so angelsächsisch. Man kennt jeden Tag im Leben von John Keats. Autor: Ich frage den Schriftsteller, ob er schon auf seine Biografie gespannt ist. O-Ton 28 Adam Zagajewski: 34 1.28 Nein, Nein, ich habe kein Leben gehabt. Ich lese nur und höre Musik zu. 56 Die Welt behüten: ein bisschen lesen, ein bisschen Musik hören. Atmo Ausklang tr 35 Autor: Adam Zagajewski sucht einen geeigneten Platz, an dem wir unser Gespräch fortsetzen können. Aus dem Kühlschrank in seinem Arbeitszimmer kommt ein penetrantes Brummen. Hier können wir keine Tonaufnahmen machen. Verschwörerisch hebt der Dichter den Blick und führt mich ins Allerheiligste seiner Frau: ihre psychoanalytische Praxis. "Verraten Sie es ihr nicht..." Atmo des neuen Raums - Lachen plus kurz 15 Sek atmo O-Ton 30 Adam Zagajewski 38 Ich hasse jede Ideologie. Als ich Kind war, habe ich in einer ideologischen Welt gelebt. Ich kannte Leute, die boshaft die kommunistische Ideologie aussprachen. 39 Aber dann kam die Epoche der Ironie und zwar gleichzeitig im Osten und Westen. Ich bin sehr glücklich, dass die Ideologie in Europa nicht mehr da ist. Aber was kam, ist diese postmoderne, lockere, ironische Haltung, wo man denkt, dass alles Seriöse schon tot ist. Man zitiert viel, aber man zitiert mit einer ironischen Geste. Und das will ich nicht akzeptieren 40 Ich will etwas sagen, ich weiß nicht genau was. Ich glaube, wenn man schreibt, man hat etwas zu sagen, aber man weiß nicht, was das ist. Das ist das Schöne daran: Wir haben dieses Feuer, aber wir kennen die Natur, den Namen dieses Feuers nicht. Und wenn ich die Leidenschaft verteidige: ich bin nicht gegen Ironie in jeder Gestalt. Man muss ironisch sein, um alles, was uns töten will, auf Distanz zu halten. Aber Ironie als allgemeine Philosophie, das mag ich nicht. Autor: Adam Zagajewski hat seine Haltung in dem Essayband "Verteidigung der Leidenschaft" zusammengefasst. Darin plädiert er gegen den nüchternen Zeitgeist für "das Recht auf Unendlichkeit",. Er fordert "Wildheit" und den "Mut, tiefgehende persönliche Erfahrungen" auszusprechen. O-Ton 31 Adam Zagajewski 43 Nicht nur das spirituelle Negieren, wir wollen keine großen Worte, aber ohne diese Suche ist man verloren. Zitator Adam Z: Das Wort Gott, das noch vor 20 Jahren fast verboten war, kommt zurück. Die Menschen haben durch den Nihilismus auch keine bessere Antwort gefunden O-Ton 32 Adam Zagajewski 44 Die Ästhetik des Ironischen besteht darin, dass man fast nicht wagt, zu sagen, ich habe etwas wichtiges erlebt, etwas größeres erfahren. Ich mag das Konkrete in der Poesie. Aber es gibt eine Schere. Man will nicht über die großen Sachen berichten. Aber das ist eine Herausforderung. Ich sehe in der Poesie, aber in jeder Kunst die Suche nach dem Konkreten. Ein Victor Hugo, der spricht nicht mehr zu uns, der sprach zu groß. 45 Wir sind viel vorsichtiger geworden. 46 Das ist eine ganz besondere Kunst, im Konkreten etwas Großes zu sehen. Obwohl das ist, wo das Große lebt: im Kleinen. Musik 13: Bugge Wesseltoft: giant steps tr 9 O-Ton 29 Adam Zagajewski 32 Ich habe einmal ein Gedicht geschrieben, das war in Frankreich, über große Sachen, die sich im Kleinen zeigen. Es war in einem Wagen. Mit meiner Frau. Wir waren in Beauvais. In Beauvais gibt es diese Kathedrale, die nicht beendet war. Ein Tier, ein großes Tier. Und als wir nach Hause zu fahren begonnen, plötzlich sah ich die Kathedrale im Spiegel vom Auto. Und das war für mich unerhört. Diese große Kathedrale im kleinen Autospiegel. Sie sprach zu mir fast stärker so im Spiegel als ich sie zehn Minuten früher gesehen habe. Musik zwischen den folgenden O-Tönen kurz hoch O-Ton 33 Adam Zagajewski 49 In einem Gedicht hab ich irgendwo geschrieben: die Poesie ist der Königsweg und dann irgendwo hab ich gesagt, die Dichtung kann nichts bewirken. Das geht aber zusammen. schmunzelt Die Könige können nicht viel heutzutage, ich meine, auf der praktischen Ebene, auf der politischen Ebene. Mit der Dichtung kann man nichts erreichen, aber es gibt eine andere Dimension, es gibt vielleicht Momente, wo die andere Dimension zu Wort kommt. Es ist nicht ganz verloren, bedeutungslos. O-Ton 34 Adam Zagajewski 50 Im Laufe der Jahre kann ich nicht sagen, dass ich resignativ geworden bin. Ich spreche leiser, aber ich habe den Glauben, an was ich sage, nicht verloren und die Hoffnung auch nicht. Obwohl - es ist wieder schwer zu sagen, worum es geht in dieser Hoffnung. 51 Es geht um ein Licht und dieses Licht hab ich nicht verloren. Ich könnte nicht leben ohne dieses Licht. O-Ton 35 Adam Zagajewski 53 Was öfter vorkommt, ist diese Zusammensetzung von etwas, das hoffnungslos ist und schwierig und dem Licht. Nur über das Licht zu sprechen, wäre für mich rhetorisch. Ich muss immer daran mich erinnern, dass das Licht in der Nacht ist. Die hellen Sachen bewegen sich nicht frei. Die werden immer von schwarzen Sachen, Objekten begleitet. Und in der Hoffnung auf etwas helles muss man nüchtern sein und die andere Seite immer sehen. Musik14 : Eivind Aarset: Close- Variation 1 tr 6 Zitator Adam Z.: Improvisation Man muss die ganze Last der Welt auf sich nehmen. und sie leicht machen, erträglich. Sie über die Schulter werfen wie den Rucksack und losziehen. am besten abends, im Frühjahr, wenn die Bäume ruhig atmen und die Nacht schön zu werden verspricht, im Garten Ulmenzweige knistern. Die ganze Last? Blut und Häßlichkeit? Unmöglich. Immer wird ein bitterer Geschmack im Mund bleiben und die ansteckende Verzweiflung der alten Frau, die du gestern in der Tram gesehen hast. Warum sollen wir lügen? Freudige Erregung existiert nur in der Phantasie und vergeht schnell. Improvisation - immer nur Improvisation, anderes kennen wir nicht, klein oder groß, in der Musik, wenn die Jazztrompete fröhlich weint, oder wenn du auf das weiße Papier schaust, oder wenn du vor der Trostlosigkeit fliehst und deine Lieblingsgedichte aufschlägst. In diesem Augenblick klingelt gewöhnlich das Telefon und jemand fragt: "Sind sie an unseren neuesten Produkten interessiert?" Nein Danke. Es bleibt das Grau, die Eintönigkeit; eine Trauer, die von der herrlichsten Elegie nicht geheilt wird. Doch viellicht gibt es vor uns verborgene Dinge, in denen sich Melancholie und Begeisterung mischen. Immer, täglich, wie die Geburt des Morgens am Ufer des Meeres, oder nein warte, wie das freudige Lachen der beiden kleinen Ministranten in weißen Chorhemden, an der Ecke Johannes- und Markusstraße, weißt du noch? Unsichtbare Hand S. 113 Musik verzahnt sich mit Atmo Taxi ins Judenviertel Kazimierz tr 58 später mit Radio Autor: Wir gehen durch das ehemalige Judenviertel Kazimierz. Vor dem zweiten Weltkrieg lebten hier fast 70.000 Juden, ein Viertel der Bevölkerung Krakaus. Nach dem Einmarsch der Deutschen begann ihre systematische Ausrottung. Die jüdischen Einwohner wurden im gegenüberliegenden Stadtteil Podgórze in ein Ghetto gesperrt. Wer hier überlebte, kam in Arbeits- oder Konzentrationslagern um. kurz atmo Atmo jüdischer Friedhof 43 O-Ton 36 Adam Zagajewski 42 Das ist der alte jüdische Friedhof. Ich war an diesem Friedhof zuerst, als ich Student war. Es war zerrissen. Es war die Ruine eines Friedhofs. Nach der Wende gab es Leute, die hier viel gearbeitet hatten und alles in Ordnung gebracht hatten. Es gab überall Steine, Fragmente, eine unglaubliche Arbeit, was hier getan war. Atmo Friedhof 30 Sekunden tr 44 O-Ton 37 Adam Zagajewski 43 15 S. Kazimierz dieses alte jüdische Viertel, war in der alten Zeit katholisch und jüdisch. Da sieht man sogar von Friedhof eine katholische Kirche. Es war nicht so rein jüdisch. Autor: Direkt an den Friedhof grenzt eine kleine Synagoge. Wir müssen die Kippa aufsetzen, die rituelle Kopfbedeckung der Juden, bevor wir das Gebetshaus betreten dürfen. Gegenüber Synagoge und Friedhof ein kleiner Platz mit einigen Cafés und Restaurants. Belebt, aber angenehm ruhig im Vergleich zum Markplatz der historischen Altstadt, den rund um die Uhr die Massen bevölkern. Wir setzen uns in ein Cafe. Zagejewski bestellt Tee - schwarzen natürlich - plaudert mit dem Kellner und erzählt eine Geschichte, O-Ton 37 a Adam Zagajewski: eine unglaubliche Geschichte, 49 30 S Autor: die seine Eltern während des Krieges in Lemberg erlebt hatten. Deren Haus lag hinter der Straßenfront im Garten, und um in das Haus zu kommen, musste man durch einen langen Korridor gehen. Einen Korridor, der von zwei gegenüber liegenden Häusern einsehbar war. O-Ton 38 Adam Zagajewski 49 Eines Tages eine jüdische Freundin kam zu ihnen, ob sie sie schützen könnten, ob sie mit ihrem Kind einige Zeit bei ihnen verbringen könnten. Und sie sagten, das wäre sehr riskant wegen den Nachbarn. Die sehen alles und sind nicht sehr sympathisch. Und diese jüdische Freundin ist gegangen und am Morgen des nächsten Tages gab es eine Hausdurchsuchung durch die Gestapo. Atmo Kazimierz/Josephstraße tr 51 ab 1.20 Autor Wir verlassen den Marktplatz und schlendern durch die Straßen des Kazimierz. Nach dem Krieg ein heruntergekommenes Armenviertel, seit der Wende ein boomender Szene-Stadtteil. Auffällig die vielen kleinen Restaurants, in denen am Abend die Touristen einfallen werden, um sich an jüdischen Spezialitäten und Klezmermusik zu erfreuen. Jetzt, am späten Nachmittag, sind nur wenige Besucher unterwegs. atmo kurz hoch O-Ton 39 Adam Zagajewski 51 Das ist die Josephstraße. Wir sind in Kazimierz, immer noch im jüdischen Viertel. Diese Straße ist für mich ein bisschen magisch. Nicht, weil sie schön ist, sie ist überhaupt nicht schön. Es gibt auch keine Bäume. Das ist für mich eine schweigende Straße. Es gibt nichts hier. Das ist ein Straße, die ganz von der Geschichte schweigsam gemacht wurde. Sie ist geblieben wie sie war. Ich kann das nicht definieren. Es ist der Eindruck, dass diese Straße nicht geändert ist. Sie ist wie sie war. ab 1.20 25 Sek atmo Musik 15: Noel Akchoté: Cesse tr 6 plus Straßenatmo bis zum Gedichtanfang Zitator Adam Z. Ungeschriebene Elegie für die Krakauer Juden atmo aus Aber die traurigste ist die Josephstraße, eng wie der Neumond, ohne Baum und dennoch nicht ohne einen gewissen Reiz, den dunklen Reiz der Provinz, des Abschieds, des stillen Begräbnisses; hier sammeln sich am Abend die Schatten, die aus allen Vierteln kommen, ja sogar mit Zügen aus nahen Ortschaften gebracht werden. Joseph war Gottes Liebling, aber seiner Straße wurde kein Glück zuteil, kein Pharao zeichnete sie aus, die Träume waren schwermütig, die Jahre mager. In der Fronleichnamskirche zünde ich eine Kerze an für meine Toten, die fern von hier wohnen, ich weiß nicht wo, - und ich spüre, dass in dem roten Flämmchen auch sie sich wärmen, wie Obdachlose am Feuer, wenn der erste Schnee fällt. Ich gehe durch die Straßen von Kazimierz und denke an Abwesende. Ich weiß, die Augen der Abwesenden sind wie Wasser und man kann sie nicht sehen - man kann nur ertrinken in ihnen. Am Abend hört man Schritte - aber niemand ist in Sicht. Lange gehen sie, obwohl niemand da ist, Schritte einer Frau in Schuhen, beschlagen mit Eisen, daneben der weiche, fast sanfte Tritt des Henkers. Was ist das? Es scheint, das schwarze Gedächtnis zieht über die Stadt, entfernt sich wie ein Komet langsam von der Stratosphäre. Musik aus bei 2.09 Unsichtbare Hand S. 111 O-Ton 40 Adam Zagajewski 36 Ich habe einige Gedichte geschrieben, wo der Holocaust vorkommt, die Judenverfolgung. Und ich frage mich auch, warum? Es könnte sein, dass das nur eine Pflicht ist, dass ich ein guter Bürger sein will. Aber ich glaube nicht, es ist etwas mehr. Ich habe diese Neugier - Ich bin im Jahr 1945 geboren, in dem Moment, wo das Böse aufgehalten war, natürlich nicht ganz, überall, aber eine bestimmte Gestalt des Bösen wurde damals aufgehalten. Und für mich ist das fast als ob meine Leben teilweise dazu dienen soll, dass ich etwas davon erzähle, dass ich eben diese Neugier nicht verliere. Ich war schon irgendwie da, noch nicht bewusst, ich war im Bauch meiner Mutter. Ich bin kein Zeuge, ich bin ein posthumer Zeuge. Ich versuche zu verstehen, aber das ist für mich ein Teil der Gegenwart. Atmo Planty plus Musik 15: Wallumroad: Easter Haussprecherin: Versuch's, die verstümmelte Welt zu besingen- der polnische Schriftsteller Adam Zagajewski ein Feature von Burkhard Reinartz es sprachen: Ton und Technik: Regie: Burkhard Reinartz Redaktion: Sabine Küchler Produktion: Deutschlandfunk 2013 _________________________________________ 1