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Und auch wenn das Geschöpf damals noch nicht so hieß: als Mumin sollte es weltberühmt werden, und seine Schöpferin zu einer der bekanntesten Künstlerinnen Finnlands machen. O-Ton (Boel Westin) "She is kind of an icon in Finland nowadays. And I think, that nearly everyone knows her and knows her work, both as an author and nowadays also as a painter. And nearly all children in Finland are aware of the moomintrolls, because they are not only in the books, they are on several things. They are in cartoons, you drink your coffee or tee from moomin mugs etc. so I think everyone knows it." Übersetzerin "Sie ist eine Ikone in Finnland heutzutage. Ich glaube, fast jeder kennt sie und ihre Arbeit. Und jedes Kind weiß, wer die Mumins sind. Sie kommen ja auch längst nicht mehr nur in den Büchern vor, sondern in allen möglichen Zusammenhängen. Es gibt sie als Comics, man kann seinen Kaffee, seinen Tee oder seine Milch aus Muminbechern trinken und vieles mehr. Daher glaube ich, dass sie wirklich jeder kennt." Autorin: Tove Janssons erste Biografin, die schwedische Literaturprofessorin Boel Westin. O-Ton (Torkel Wächter) "Tove Jansson ist ein bisschen im Schatten von Astrid Lindgren. Astrid Lindgren ist erfolgreicher als Massenautorin gewesen. Die Geschichten von Astrid Lindgren sind vielleicht einfacher zu verstehen. Sie haben nicht denselben Tiefgang, würde ich sagen...", Autorin: der schwedische Autor Torkel Wächter, O-Ton (Torkel Wächter) "..in Tove Jansson ist es feiner, mit Nuancen, subtiler." O-Ton (Irma Swahn) "Wenn man bedenkt, das ist Anfang 50er Jahre. Tove Jansson war ein sehr moderner Mensch und sehr radikal und vor ihrer Zeit. Immer. Ich denke, das ist ganz typisch für sie." Autorin: Die finnische Journalistin Irma Swahn, Tove Jansson-Fan seit Kinderzeiten. Modern, und ihrer Zeit voraus. Fein, nuanciert, subtil. Und eine Ikone gar! Wer war die Künstlerin hinter diesen Zuschreibungen? Die Malerin farbintensiver Gemälde? Die Illustratorin und Comiczeichnerin Hunderter Bilder und Strips? Die Romanautorin, deren Bücher heute in Finnland und Schweden als Klassiker gelten? Und - natürlich und insbesondere - die Erfinderin der Mumins und ihrer fantastischen Welt? Musik Tove Jansson wurde am 9. August 1914 in Helsinki geboren. Als Tochter der schwedischen Grafikerin und Illustratorin Signe Hammarsten-Jansson und des finnischen Bildhauers Viktor Jansson. Wie ihre beiden jüngeren Brüder Per Olov und Lars wurde sie zutiefst von ihren Künstlereltern und deren Bohemien-Leben geprägt. Arbeit bestimmte den Alltag im Jansson-Haushalt. Die des Vaters, der Ton knetete und Gips anrührte, und die der Mutter, die mit ihren Buchillustrationen die Familie finanziell über Wasser hielt. Tove Jansson schrieb 1968 in "Die Tochter des Bildhauers", ihrem am meisten an eine Autobiografie erinnernden Buch, aus Kinderperspektive von einem dieser Tage: Zitatorin (Tove Jansson: TdB, S. 96/97) ..., an dem Papa alles fürs Gipsgießen vorbereitet hatte. Und das war eine große schwierige Sache, die in vielen Einzelschritten vor sich gehen musste. Der Gips war schon fertig gemischt, jetzt ging es um Sekunden, da darf man den Gips nicht berühren und kaum atmen. Ich hätte es nicht gewagt, zu diesem Zeitpunkt das Atelier zu betreten." Autorin: Die fast heilige künstlerische Arbeit war jedoch nur ein Teil des Lebens der Janssons. Denn Signe und Viktor waren "Parade-Bohemiens" mit einem ausgeprägten Sinn für Exzentrik. Der Vater liebte große Feste. Häufig waren Freunde und Gäste im Haus. Der Kinderfrau sagte man eine ausgeprägte Liebe zur Platon-Lektüre nach, und zu den Haustieren gehörten nicht nur Vögel und Hunde, sondern auch der - vor allem vom Vater - über alles geliebte Affe Jacky. Diese Atmosphäre sollte Tove Jansson für immer inhalieren, und die enge Beziehung zu ihren Eltern bis zu deren Tod halten. O-Ton (Boel Westin) "They had a lot of fun. She had a happy childhood. The ties to the familiy, well, they were for life. Family was so important, to protect the family, to support the family and to keep the family togehter." Übersetzerin "Sie hatten viel Spaß miteinander. Sie hatte eine glückliche Kindheit. Und die Familienbande waren wirklich fürs Leben. Die Familie war so enorm wichtig. Die Familie zu schützen, sie zu unterstützen und sie zusammenzuhalten." Musik / aus Muminhörbuch "Die Mumins. Eine drollige Gesellschaft" oder andere passsende Musik Zitator (Die Mumins. Eine drollige Gesellschaft) "An einem grauen Morgen fiel der erste Schnee im Mumintal. Dicht und lautlos kam er angehuscht, und innerhalb von ein paar Stunden war alles weiß. Mumin stand auf der Treppe und sah zu, wie das Tal sich eine Winterdecke überzog. Heute Abend beginnen wir unseren Winterschlaf, dachte er zufrieden. Mumin schloss die Tür, ging zu seiner Mutter hinein und sagte:>Der Schnee ist da.< >Ich weiß<, sagte die Muminmutter. >Ich habe euch schon die Betten hergerichtet, mit den allerwärmsten Decken. Du schläfst in der westlichen Dachkammer zusammen mit dem kleinen Schnüferl.< So bereitete sich die Muminfamilie und all ihre Freunde und Bekannten umständlich und sorgfältig auf den Winter vor. Anschließend ging der Muminvater durchs Haus, schloss sämtliche Türen und Fensterläden und hüllte den Kronleuchter in ein Mückennetz, damit er nicht einstaubte." Autorin: Eine glückliche Familie. Drei Trolle in einem behaglichen Turmhaus inmitten eines verwunschenen Tals bereiten sich auf den Winterschlaf vor. Doch leben sie nicht allein: O-Ton (Boel Westin) "It is a special society. There are quite a lot of charcters or creatures in this house and they live together like a family, but the thing is, that they are not a family in a biological way. There are muminmama, muminpappa and mumintroll, but then there are some friends and other characters, who have joined them, they have met them and then they live together. In this house. And its said in one book, that, there were coming new people, so we have to make some more beds and we have to make the table, where we eat a little bit bigger. So that is a very relaxed attitude to life." Übersetzerin "Das ist eine recht spezielle Gesellschaft. Es gibt viele Persönlichkeiten und Wesen in diesem Haus. Sie leben zusammen wie eine Familie, aber sie sind keine Familie im herkömmlichen Sinne. Da sind Mumin-Mama, Mumin-Papa und Mumin und dann noch viele Freunde und Geschöpfe, die irgendwann dazu gestoßen sind. Und so leben sie alle zusammen in diesem Haus. In einem Buch zum Beispiel heißt es, als neue Wesen ankommen: >Wir müssen noch weitere Betten beziehen und zusätzliche Teller decken.< Das ist eine sehr entspannte Haltung dem Leben gegenüber." Autorin: Diese entspannte Haltung kannte Tove Jansson seit Kinderzeiten. In ihre Muminfamilie und deren Freundeskreis schrieb sie zwar keinen Affen Jacky und keine Platon lesende Kinderfrau hinein. Dennoch ist unübersehbar, dass diese geliebten, eigensinnigen und schrulligen - in Anführungsstrichen - "Familienmitglieder" des Haushalts der Janssons den Kosmos der Mumins inspirierten. Seite an Seite mit den drei Trollen leben etwa der freiheitsliebende Schnupferich, die schlagfertige Kleine Mü oder das nach Ruhm und Geld strebende Schnüferl. Torkel Wächter, der die Geschichten als Kind mit seiner Mutter las und sie heute seinen Kindern vorliest, mag sie alle: O-Ton (Torkel Wächter) "Sie existieren da und leben zusammen, manchmal haben sie Probleme, aber sie leben zusammen, sie existieren zusammen. In Mumintal, alle gehören zum Tal. Wie in der Natur. Auch die Mücken gehören dazu. Auch, wenn man sie nicht mag, aber sie gehören." Autorin: Tove Jansson hat die Trolle und ihre Freunde als warmherzige und freundliche Gemeinschaft angelegt, allein sind die Wesen nicht denkbar. Über 60 Geschöpfe bevölkern das Mumintal. Doch bei allem Gemeinsinn: Sie sind starke Individuen. Geräusch: Wind und Wellen, langsam runterziehen... Autorin: Unabhängigkeit und Freiheit in einer Familie, in einer Gemeinschaft: das war für Tove Jansson ein Lebensthema. Sie selbst war oft hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch nach Verbundenheit, nach Trubel und Geselligkeit und dem Bedürfnis nach Einsamkeit und Ruhe. Ein Ort, der dafür geradezu sinnbildlich steht, ist eine winzige finnische Insel. Klovharu, Tove Janssons Rückzugsort über Jahrzehnte. Von 1965 bis 1992 verbrachte sie dort jeden Sommer. Geräusch: Wind und Wellen wieder hochziehen, kurz stehenlassen, runterziehen Autorin: Der Liebe zum Meer und zur finnischen Inselwelt begegnete Tove Jansson bereits als Kind: im Sommerhaus der Eltern im finnischen Schärengarten Pellinge. Dort hatte das Leben seinen eigenen Takt. Man lebte in den Tag hinein. Sammelte Muscheln und Strandgut. Bekam haufenweise Besuch. Ging Segeln, angeln und schwimmen. Und, natürlich: zwischendrin wurde gearbeitet. Viktor Jansson hämmerte im zum Bildhauer-Atelier umfunktionierten Bootsschuppen, Signe Hammarsten-Jansson saß mit Zeichenstift und Tuschekasten auf der Veranda. Eine Szene, die Tove Jansson in "Die Tochter des Bildhauers" rückblickend so beschreibt: Zitatorin (Jansson, TdB) "Es war ein sehr heißer Sommer ohne eine Andeutung von Wind. Mama zeichnete und zeichnete und durfte jedes Mal, wenn eine Illustration sauber radiert war, ins Wasser springen. Ich stand neben dem Verandatisch und wartete, bis sie mit der Zeichnung wedelte, damit die Tusche schneller trocknete, und dann lachten wir alle beide. Dann liefen wir an den Strand hinunter und hüpften ins Wasser... Mama saß jeden Tag auf der Veranda und illustrierte und schickte die Illustrationen mit dem Heringsboot nach Borgå." Autorin: Signe Hammarsten-Jansson illustrierte Bücher und Zeitschriften, unter anderem arbeitete sie für das Satire-Magazin Garm. Nicht nur im Sommerhaus, wenn die Illustrationen per Heringsboot zum Verlag fanden, leistete ihr die junge Tove dabei Gesellschaft. Auch zu Hause in Helsinki schaute sie der arbeitenden Mutter oft über die Schulter. Eines Tages griff sie selbst zum Zeichenstift: 1920, da war Tove sechs Jahre alt, begann sie ihre eigenen kleinen illustrierten Bücher zu produzieren, und mit 15 veröffentlichte sie ihre erste Zeichnung, einen Cartoon, in eben jener Garm, in deren Diensten ihre Mutter stand. O-Ton (Boel Westin) "Very much from the start is was some sort of predestination for her to be at work as a painter or as an illustrator." Übersetzerin "Es war vom allerersten Moment an eine Art Vorbestimmung für sie, Malerin oder Illustratorin zu werden." Autorin: Tove Janssons zeichnerisches Talent war überdeutlich, und ihr Cartoon für Garm öffnete der erst Fünfzehnjährigen auch Türen zu anderen Magazinen. Etwa zu der Kinderzeitung Lunkentus. Hier lieferte die Jugendliche nicht nur Comics ab, hier schrieb sie auch kleine märchenartige Geschichten, die sie illustrierte. Im Rückblick erscheinen sie wie erste Fingerübungen für die Mumins. Anfangs half noch die Mutter, doch bald erledigte Tove ihre Aufträge allein. Sie verdiente damit ihr erstes Geld, und fragte sich - im Tagebuch nachzulesen -, ob Illustrieren ihr Beruf werden sollte. Zitatorin (Tove Jansson) "Ich weiß nicht, ob ich nicht vielleicht noch weiter gehen, noch höher hinaus streben sollte?" Autorin: Dieses Höhere, das sie lockte und zu dem sie sich berufen fühlte, war die Kunst. Genauer: die Malerei. So gab Tove Jansson das Illustrieren zwar nicht auf, doch wurde es nicht ihr Beruf. Sie betrieb es vielmehr zum Geldverdienen nebenbei. Anfangs noch neben der Schule, dann neben dem Kunststudium und schließlich neben der Malerei, die sie seit Ende der 1930er Jahre professionell betrieb. Musik / Jazz Anfang der 1940er Jahre verstand sich Tove Jansson durch und durch als Malerin. Sie hatte ihre Berufung und bald auch ein Publikum gefunden. Stillleben, Landschaftsansichten und Porträts entstanden in dieser Zeit - in kräftigen Farben mit kühnem Pinselstrich auf die Leinwand geworfen. Und auch wenn ihr Erfolg zunächst nicht wichtig war: er stellte sich ein. Davon zeugen Ausstellungsbeteiligungen, wohlwollende Kunstkritiken und erste Verkäufe. So hätte es weiter gehen können. Geräusch: Flugzeuge, Bombeneinschläge - Krieg Zitatorin (Tove Jansson) "Krieg überall, die ganze Welt ist im Krieg... Manchmal habe ich das Gefühl, dass die aufgestauten Ängste des ganzen Landes auf mir lasten und mich zu zersprengen drohen. Nie war Mitgefühl so vermischt mit Bitterkeit, Liebe mit Hass und der Lebenswille - also der Wunsch, trotz allem richtig und würdevoll zu leben - mit dem Bestreben, sich einfach zu verkriechen und loszulassen." Autorin: Als Tove Jansson Ende 1941 einer Freundin diese Zeilen schrieb, war Finnland bereits seit mehr als zwei Jahren im Krieg. Zunächst auf sich allein gestellt und danach an der Seite des nationalsozialistischen Deutschlands gegen die Sowjetunion und schließlich, nach einem separaten Waffenstillstand mit den Sowjets, gegen die Wehrmacht. Der Krieg war überall zu spüren, auch in Helsinki, wo Tove Jansson 1944 ihr erstes eigenes Atelier bezog. Zitatorin (Tove Jansson) "Als ich das erste Mal in mein neues Atelier kam, gab es Alarm, und die Artillerie begrüßte mich. Ich stand reglos da... Der Wind blies durch die kaputten Fenster." Autorin: Das kirchraumhohe Atelier in Helsinki mit beeindruckenden Bogenfenstern und einem über 65 Quadratmeter großen Hauptraum wurde Tove Janssons Zuflucht. Zum ersten Mal lebte sie allein. Ohne die Eltern, frei und mit einmaligen Arbeitsmöglichkeiten. Sie richtete den kriegsversehrten Ort wieder her und gab ihn zeitlebens nie wieder auf. Doch malen konnte sie dort zunächst nicht. O-Ton (Boel Westin) "It was the worst time of her life. She had said that several times. And she has also described ... that for her as a painter, the colours they just vanished. During this ime. And she could just paint in grey or in white or in black, and she loved colors and to paint with colors. So this is a picture that speaks for itself." Übersetzerin "Es war die schlimmste Zeit ihres Lebens. Das hat sie immer wieder gesagt. Und sie hat auch beschrieben, dass ihr als Malerin die Farben gleichsam verloren gingen. Während dieser Zeit. Dass sie nur noch in grau oder weiß oder schwarz malen konnte. Und dass, wo sie doch Farben so liebte. Das ist ein Bild, das für sich spricht, denke ich." Autorin: Während ihre Farben verblassten, griff Tove Jansson zu Stift und Papier. 1944, umtost von Krieg, Chaos und Hoffnungslosigkeit floh sie in eine andere Welt. In eine fantastische, in der Trolle zu Hause sind. Die Wesen mit der Nilpferdnase schlummerten schon lange in ihrer Fantasie. In den 1930er Jahren erstmals auf eine Toilettenwand gezeichnet und später als Signatur für manche Illustration genutzt, entwickelten die Mumins jetzt ein eigenes Leben. Musik / aus Muminhörbuch "Die Mumins. Eine drollige Gesellschaft" oder andere Musik - langsam runterziehen O-Ton (Boel Westin) "You could see the first book like some sort of vision of an other society. A society where there is a garden, summer, a happy family. And what she describes in her first book is the way to moomin valley. It is a simple tale. But it is beautiful, it has some sort of faith, and hope." Übersetzerin "Das erste Buch ist wie die Vision einer anderen Gesellschaft. Es gibt einen Garten, eine glückliche Familie, es ist Sommer. Und sie beschreibt in diesem ersten Buch den Weg ins Mumintal. Das ist eine ganz einfache, märchenhafte Geschichte. Aber sie ist schön, und sie vermittelt so etwas wie Vertrauen und Hoffnung." Autorin: "Die Mumins und die große Flut" wurde 1945 veröffentlicht. 1946 folgte "Komet im Mumintal". Beide Bücher waren reich und liebevoll illustriert, doch das Besondere waren die Geschichten. Sie waren - und sie sind noch heute - keine leichte Kost; entstanden unter dem Eindruck des Krieges. Die Welt der Mumins ist immer in Gefahr. Es drohen Kometeneinschläge, Überschwemmungen, Stürme, Vulkanausbrüche. O-Ton (Gasser) "Es hat mich fasziniert, weil es war eine Welt, die so ganz anders war als die üblichen Kinderbuchwelten, die ich kannte: Sie war fantastischer, sie war etwas unberechenbarer, es geschahen auch Dinge, die ich mir nicht ganz erklären konnte. Und ich muss auch sagen, dass ich diese Muminbücher, auch immer mit einem gewissen Schaudern gelesen habe, mit einem wohligen Gruseln, weil da immer so Sachen passierten, die mir doch ein bisschen unheimlich waren. Aber ich fand das ganz toll." Autorin: Christian Gasser, Autor, Journalist und mit den Büchern Tove Janssons seit seinen Kindertagen in den späten 60er, frühen 70er Jahren vertraut. Tatsächlich verlangen die Muminbücher ihren jungen Lesern etwas ab. Genau das, meint Irma Swahn, die in den 50er Jahren mit den Mumins aufgewachsen ist, habe sie überzeugt: O-Ton (Irma Swahn) "Ich denke, mit diesen Figuren hat Tove Jansson vielleicht gezeigt uns Kindern, wie die Welt aussieht. Sie sagt gerade, wie es ist. Eben in einer Fantasie. Nichts ist verschönt und mehr idyllisch gemacht. So ich denke, wir hatten von Anfang an ein Vertrauen, was wir in den Muminbüchern lesen." Autorin: Echt sind die Mumins, weil Tove Jansson ihre Lebenserfahrung in die Geschichten einbringt. Tatsächlich ist der Muminkosmos eine Fantasiewelt mit realem Hintergrund. Für viele Figuren lassen sich Vorbilder finden. Familienmitglieder. Freunde Tove Janssons. Und Lieben. Im dritten Muminbuch "Die Mumins. Eine drollige Gesellschaft" ist es Vivica Bandler, die Theaterregisseurin und erste große Liebe von Tove Jansson, die sich hinter der Figur Vifsla verbirgt. Und "Winter im Mumintal" führt Tooticki ein, das Alter Ego von Tuulikki Pietilä. Boel Westin hat die Lebensgefährtin Tove Janssons kennengelernt: O-Ton (Boel Westin) "When I met Tuulikki Pietilä for the first time, I could see: this is Tooticki! Well she portraited her, she put her - one oft he most important persons in her live - in a book. It was a real passion. So it influenced her both in her work and in her personal live of course. She has transformed it into her own fiction and made a story of it, a beautiful story." Übersetzerin "Als ich Tuulikki Pietilä das erste Mal traf, sah ich sofort: das ist Tooticki! Ja, Tove Jansson hat sie porträtiert und sie - eine der wichtigsten Personen ihres Lebens - in das Buch hineingeschrieben. Das war eine wirklich große Leidenschaft. Sie hat sie beeinflusst in ihrer Arbeit und vor allem natürlich in ihrem Leben. Und das hat sie dann in Literatur verwandelt. Sie hat eine Geschichte daraus gemacht, eine wunderschöne Geschichte." Musik / Jazz Autorin: Tove Jansson hatte die Illustratorin Tuulikki Pietilä 1955 auf einem Künstlerfest kennengelernt. Sie wurde ihre große Liebe. Janssons Bedürfnis nach Freiheit und Unabhängigkeit wurde von Pietilä nicht eingeschränkt, im Gegenteil: die Freundin teilte es. Über 45 Jahre, bis zum Tod Tove Janssons, blieben die beiden ein Paar. Ganz unproblematisch war die lesbische Beziehung jedoch nicht. O-Ton (Irma Swahn) "Es war verboten in Gesetz in Finnland noch bis in 70er Jahre. So, man kam nicht aus von Schrank. Das machte man nicht. Aber über diese Beziehung wusste - aber man hat nicht darüber geredet." Autorin: Man kam nicht aus dem Schrank: Homosexualität wurde diskret behandelt. Selbst mit ihrer Familie, sogar mit der sonst in alles eingeweihten Mutter, sprach Tove Jansson nicht darüber. Doch ließ sie das Thema in den Mumins vorkommen. Nicht in den Büchern, sondern in einer Erzähl-Form, die ihr die perfekte Gelegenheit gab, erwachsene Geschichten mit der Gesellschaft der Trolle zu transportieren: im Comic. Musik Mumins Autorin: 1953 - da hatte Tove Jansson bereits das vierte Muminbuch publiziert - klopfte eine englische Tageszeitung bei ihr an. Die Evening News, eines der auflagenstärksten Blätter weltweit überhaupt, fragte nach einer Comic-Version der Mumins. Drei Bilder pro Tag waren gewünscht. Es winkte ein fester Arbeitsvertrag mit geregeltem Einkommen. Tove Jansson sagte zu. O-Ton (Gasser) "Sie hat extrem liebevoll gearbeitet meiner Ansicht nach. Also jede, auch noch so unwichtige Nebenfigur ist wirklich mit großer Liebe zum Detail ausgearbeitet. Dass man genau weiß, was das für eine Figur ist. Und dieser Stil hat auch eine wunderbare Leichtigkeit, einen wunderbaren Humor und ist dann aber auch reduziert genug, um eine gewisse Zeitlosigkeit zu haben." Autorin: Der Mumincomic wurde ein Riesenerfolg. Er erschloss Tove Jansson ein neues und großes Publikum. Und zwar weltweit, denn der englische Verlag verkaufte die Rechte rund um den Globus. In ihrer Höchstphase erschienen die Strips gleichzeitig in 40 verschiedenen Ländern und erreichten über 20 Millionen Leser. O-Ton (Boel Westin) "It was a new medium for her and she loved crossing borders. She wanted to do new things, she was searching for new aestetics all her live. So this was a new aesteical media for her. She really liked it in the beginning, but then after some years it became more and more some kind of not duty but something she had to do." Übersetzerin "Sie liebte es, Grenzen zu überschreiten. Sie hat gerne neue Sachen ausprobiert, nach neuen ästhetischen Ausdrucksmöglichkeiten gesucht. Ihr ganzes Leben lang. Und das war wirklich ein neues Medium für sie. Am Anfang hat sie das sehr gemocht, aber mit den Jahren wurde der Comic mehr und mehr vielleicht nicht zur lästigen Pflicht, aber doch zu etwas, das sie tun musste." Autorin: Der Comic wurde zur Bürde. Und weil er so außerordentlich erfolgreich war, zog er weiteres nach sich. Tove Jansson erhielt von nun an jährlich Tausende Leserbriefe. Sie beantwortete sie fast alle persönlich. Dazu kamen Dutzende Anfragen für Theaterstücke, Opern und Fernsehserien mit den Mumins - aus aller Welt. 1959 etwa gab es einen Gastauftritt der Trolle in der Augsburger Puppenkiste, kurz danach erschien die erste japanische Zeichentrickserie. Und auch als Illustratorin war Tove Jansson weiterhin gefragt. Ende der 1950er Jahre bebilderte sie "Die Jagd nach dem Schnark" von Lewis Carol, 1962 Tolkiens "kleinen Hobbit" und 1969 "Alice im Wunderland". Ihr Erfolg war gigantisch - gigantisch groß und gigantisch beengend. Zitator (Mumin) "Ich will nur in Frieden leben, Kartoffeln pflanzen und träumen." Autorin: ... ließ Tove Jansson Mumin im Comic sagen und drückte damit eine eigene Sehnsucht aus. Musik Höstvista/Herbstlied Zitatorin: (Liedtext) "Beeil dich Liebste, beeil dich zu lieben, die Tage dunkeln ein, Minute für Minute. Zünde unsere Lichter an, die Nacht naht, bald ist der blühende Sommer zu Ende." Autorin: "Höstvista", das "Herbstlied", ist heute einer der populärsten Songs Finnlands. Die Musikerin Erna Tauro, die Gedichte Janssons vertonte und viele Lieder zu den Mumins schrieb, hat "Höstvista" 1965 komponiert, Tove Jansson schrieb den Text. Das Lied handelt nicht nur von der Liebe, es handelt auch vom Leben und davon, dass man tun muss, was man möchte, solange man es kann. Und lassen, was man nicht mehr möchte. Tove Jansson hat nach dieser Devise gehandelt. 1960 legte sie den Mumincomic in die Hände ihres Bruders Lars. Auch er war ein herausragender Zeichner und führte die Bildergeschichten 15 Jahre lang im Sinne seiner Schwester fort. Und 1970, nach 26 Jahren und neun Büchern, erschien mit "Herbst im Mumintal" das letzte Muminbuch. Geräusch: Wind und Wellen Autorin: Tove Jansson hatte einen radikalen Schnitt gemacht, um sich ihre Freiheit zurückzuerobern. Abstand vom Mumintrubel fand sie 1971 auf einer achtmonatigen Weltreise gemeinsam mit ihrer Lebensgefährtin Tuulikki Pietilä und anschließend auf ihrer Insel in der finnischen Ostsee. Jetzt, so schien es, hatte sie endlich Zeit, sich wieder auf das Malen zu besinnen, doch im Brief an eine Freundin bekannte sie: Zitatorin (Tove Jansson) "Die Pause war recht lang und der Neuanfang fiel mir ungeheuer schwer. Ich hatte das Gefühl dafür verloren, auf meine alte Art zu arbeiten, und auch noch keine neue Richtung gefunden. Außerdem akzeptierte mich keiner mehr als Malerin. Ich war nur noch die berühmte Mumin-Mamma und nichts anderes mehr. Es war eine schwierige Zeit - wie wohl jeder Neuanfang, vermute ich." Autorin: Trotz anfänglicher Schwierigkeiten fand Tove Jansson in ihren Malrhythmus. Doch zur künstlerischen Avantgarde gehörte sie, die von Mitte der 1970er Jahre an wieder regelmäßig ausstellte, nicht. Obwohl sie sich selbst zeitlebens als Malerin und Autorin verstand - und zwar in genau der Reihenfolge - kamen ihre großen Innovationen, ihr schier unerschöpflicher Erfindungsreichtum und ihre Menschlichkeit in Bildergeschichten und Büchern zum Ausdruck. Nicht nur in denen, die von den Mumins handeln. Zitator (Sommerbuch) ">Dürfen die Engel in die Hölle hinunterfliegen?< >Bestimmt. Da unten haben sie ja vielleicht eine Menge Freunde und Bekannte.< >Jetzt habe ich dich erwischt!<, rief Sophia. >Gestern hast du gesagt, es gibt keine Hölle!> Ihre Großmutter ärgerte sich, setzte sich auf und sagte:>Heute denke ich genauso. Aber das hier ist ja bloß ein Spiel.< >Das ist kein Spiel. Wenn man über Gott spricht, ist das Ernst... Und was machst Du dann mit dem Teufel! Der wohnt ja in der Hölle!<... Autorin: Das "Sommerbuch", 1972 veröffentlicht, ist Tove Janssons berühmtestes Buch für Erwachsene. Die wunderbar leichte und lebensweise Geschichte spielt auf einer Schäre in Pellinge und handelt von Liebe und Nähe zwischen Großmutter und Enkelin. Doch wenn man genau hinhört, könnte hier auch die Mumin-Mutter mit Mumin oder der Kleinen Mü sprechen. Zitator (Sommerbuch) >Liebes Kind, ich kann mit dem allerbesten Willen nicht anfangen, in meinem Alter noch an den Teufel zu glauben. Du darfst glauben, was du willst, aber du musst Toleranz lernen.> >Und was soll das sein?<, fragte das Kind mürrisch. >Das bedeutet, die Ansichten anderer zu respektieren... Dass man andere glauben lässt, was sie wollen!< rief ihre Großmutter. >Ich lasse dich an deinen verdammten Teufel glauben, und du gestattest mir, es bleiben zu lassen.< >Du hast geflucht<, flüsterte Sophia." Autorin: Tove Jansson blieb künstlerisch tätig bis zu ihrem Tod im Jahr 2001. Sie hatte Weltruhm mit ihren Mumins erlangt, Klassikerstatus mit ihrer Erwachsenenliteratur und war in der männerdominierten Comicwelt ein wahrer Solitär. Sie wurde mit allen wichtigen Ehrungen bedacht. Und ein Ende der Erfolgsgeschichte ist nicht abzusehen. Im Gegenteil: Ihre Comics werden gerade erst wieder entdeckt und in den höchsten Tönen gelobt, in ganz Europa, in Kanada und in den USA. Sich das auszumalen, als sie in den 1930er Jahren den Mumin auf die Toilettenwand des elterlichen Sommerhauses kritzelte: dafür hätte selbst Janssons blühende Fantasie wohl kaum gereicht. Eigentlich hatte sie doch nur so leben wollen wie Mumins Freund Schnupferich: Musik unter das Zitat Zitator (Schnupferich) "Ich wandere, wohin das Leben mich führt, in meinem alten grünen Hut. Ich spiele meine Lieder bei Tag, und ich spiele sie bei Nacht. Und besitzen will ich nichts, denn ich muss frei sein, neue Lieder zu finden und sie in meiner eigenen Melodie zu singen." Literaturhinweise: Die Mumins: Arena Verlag Mumincomics: Reprodukt Verlag Romane und Novellen: Verlag Urachhaus, Bastei Lübbe 1