KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : LITERATUR 19.30 Titel der Sendung: Brücken ins Leere Viertel Der Schriftsteller Michael Roes und sein Blick auf die arabische Welt Autor : : Dirk Fuhrig Redaktion: : Sigried Wesener Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Deutschlandradio Kultur Literatur-Feature Brücken ins Leere Viertel Der Schriftsteller Michael Roes und sein Blick auf die (arabische) Welt Von Dirk Fuhrig Redaktion: Sigried Wesener Sendedatum: 02.04.2013 Besetzung: SPRECHERIN ZITATOR 1 (fiktionale Texte) ZITATOR 2 (essayistische Texte + Rimbaud) MUSIK: Hasan Al Ajami, Chanson de Sanaa (Label: Ocora France, ASIN: B00008OE1C, 2003) MUSIK - Laute ROES 1 Die arabische Laute, die Ud ist ein ganz zentrales Instrument, und die berühmtesten Ud-Spieler kamen auch aus dem Jemen. MUSIK ZITATOR 1 ""Ud" ist abgeleitet vom Verb "ada", zurückkehren, zugehören, zu etwas werden, sich verwandeln, "Ud" heißt also Rückkehr und Verwandlung" (Laute, S. 24) SPRECHERIN ... sagt der alte jemenitische Lautenmeister zum seinem Schüler Asis, dem Helden des Romans "Die Laute". ROES 2 Vom Jemen ist die Laute über den arabischen Halbmond bis nach Spanien gewandert und wurde dann im Mittelalter zu unserer Gitarre. Und wenn man die spanische, andalusische Musik hört, merkt man auch noch die arabische Tradition dahinter. MUSIK kurz frei ROES 3 Am Anfang war wirklich die Idee dieses Musikinstruments, das eine vermittelnde und überbrückende Funktion hat zwischen der arabischen und der abendländischen Welt. ZITATOR 1 "Früher hatte ich immer nur Schüler, die die Saiten zupften wie einen Stacheldrahtzaun. Du weißt zwar nicht einmal, wie man eine Ud richtig stimmt. Aber Du streichelst die Saiten, als seien sie aus Seide gesponnen." (Laute, S. 35) MUSIK unterlegen SPRECHERIN Asis, der Sohn eines einfachen Schuhmachers, entwickelt sich zu einem genialen Lautenspieler. Die Gabe kommt über ihn wie ein Schicksalsschlag. Inmitten eines fürchterlichen Gewitters wird er vom Blitz getroffen. Er fällt zu Boden, scheint minutenlang tot zu sein. Doch Asis überlebt, und als der Kopfschmerz vorüber ist, verspürt der jemenitische Sohn der Wüste plötzlich seine Musikalität erwachen. MUSIK kurz frei SPRECHERIN Das musikalische Genie wird dem ungebildeten Dorf-Jungen durch eine übernatürliche Macht eingepflanzt. Die Begabung ist eine Art Gottesgeschenk. Der Blitzschlag ein Initiations-, ein Erweckungs-Erlebnis. Die Laute verleiht Asis Selbstbewusstsein und Kraft. Er wird zum Künstler, der sich nicht mehr an die traditionellen Regeln der Gemeinschaft hält. Denn die verbieten ihm, sich einem Mädchen aus einer weitaus ranghöheren Familie zu nähern. Zu reich, zu vornehm. Aber sein Spiel ist bezaubernd. Er ist in blinder, jugendlicher Liebe entbrannt und versucht, seine Angebetete wie ein Minnesänger mit seinem Lautenspiel zu betören. ZITATOR 1 An diesem Abend klingt Asis' Spiel noch schwermütiger als an den vorangegangenen. (...) Was soll dieser endlose Strom von Melodien in meinem Kopf, denkt er, wenn er nicht einmal die Kraft hat, wenigstens ein Lächeln, einen Blick nur von dem Mädchen, das man liebt, zu ertrotzen? - Die Töne fallen nun wie Sternschnuppen, und die verschleierten Frauen auf der Gasse wischen sich die Tränen aus den Augen, während die Jungen aus Verlegenheit blöde Witze reißen. (Die Laute, S. 50f.) SPRECHERIN Die Strafe, die diese archaische Stammesgesellschaft für solche genialen Abweichler vorsieht, ist grausam. Asis wird von den Verwandten der Angebeteten gnadenlos verprügelt. Seine Ohren werden mit Säure verätzt. Er wird taub. Geräusche, Laute bleiben ihm von da an nur noch als Erinnerung. Brutal verstümmelt, ist Asis nun behindert. Als Gehörloser ist er in seiner Gesellschaft ein Ausgestoßener. ATMO 1 arabische Stimmen, kurz frei, dann unterlegen + langsam ausblenden SPRECHERIN Es war während einer seiner zahlreichen Aufenthalte im Jemen, als Michael Roes in der Stadt Aden auf die Vorbilder für seinen Roman-Helden stieß. Der vom Reisen besessene Schriftsteller verbrachte erstmals Anfang der 90er-Jahre viele Monate in dem Land zwischen Rotem und Arabischem Meer. Für ein ethnologisches Forschungsprojekt lebte er in der Hauptstadt Sanaa. Er erkundete die Bräuche der Stammeskrieger, studierte die Regeln des Zusammenlebens - und schrieb danach sein Buch "Rub al-Khali -Leeres Viertel". Das üppige, verschlungene und vielschichtige Mammutwerk sorgte für einiges Aufsehen: Diese Mischung aus prallen Gesellschaftsskizzen, philosophischen Reflexionen und historischen Exkursen galt vielen Kritikern als genialer Wurf des damals - im Jahr 1996 - 36 Jahre jungen Autors. Den sezierenden, ethnologischen Blick für Menschen und Situationen, der "Rub al-Khali" zu einem so faszinierenden Buch machte, hat Roes über die Jahre immer weiter geschult. Daher wirken die Figuren in seinen erzählerischen Werken so plastisch und glaubwürdig. So auch in seinem bislang letzten Roman "Die Laute". ROES 4 Und in diesem Winter habe ich eine Gruppe von jungen Gehörlosen kennengelernt, die immer im selben Café saßen. Ich hab sie einfach beobachtet. Sie saßen jeden Abend dort. Ich habe auch beobachtet, dass sie, obwohl sie alle Jemeniten waren, Fremde an diesem Ort waren. Dass es eine spürbare Verachtung der Umgebung für sie gab. Die anderen Männer, fast nur Männer, die da in den Cafés sitzen - nein, nicht fast, NUR Männer. Die nicht begriffen haben, dass diese Gehörlosigkeit keine geistige Behinderung ist. ATMO 2 arabisches Café, kurz frei, dann unterlegen + ausblenden ROES 5 Es hat mich fasziniert, auch dass ich sehr viel verstanden habe von der Gebärdensprache. Ich habe natürlich nicht alles verstanden, aber schon beim Beobachten darüber nachgedacht, wie das funktioniert. Dass es Gesten gibt, die universal sind. Dass es darüber hinaus Gebärden gibt mit einer eigenen Bedeutung. SPRECHERIN Die Universalität der Gesten. Fällt die Laut-Sprache weg, ergeben sich zwangsläufig andere Formen der Kommunikation. Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten, an die gemeinsame Sprache geknüpften Kultur wird zunächst in Frage gestellt. Zwar ist auch die Verständigung über Gebärdenzeichen jeweils an eine Nationalsprache gebunden. Aber darüber hinaus benutzen Gehörlose Gesten, die dem Menschen an sich vertraut sind: das Deuten, das Zeigen, die Zahlen. Gehörlose stehen außerhalb des lautlichen Sprachraums ihrer Umgebung - womöglich, so jedenfalls erscheint es bei Michael Roes, sind sie dadurch Fremden gegenüber offener. Als gesellschaftliche Außenseiter sind die Gehörlosen per se interessant für einen Schriftsteller wie Michael Roes, dessen Werk durchzogen ist von der Frage nach der Verankerung des Individuums in seiner kulturellen Umgebung. ROES 6 Irgendwann saß ich dann mit ihnen zusammen. Die Gehörlosen selbst sind ja auch aufmerksame Beobachter, das ist ja auch Teil ihrer Kommunikation, über das Sehen zu kommunizieren. Und sie hatten mich von Anfang an wahrgenommen, da ich ein ganz offensichtlich Fremder bin, gerade in einer Zeit, in der es kaum noch westliche Besucher gab. SPRECHERIN Die Laute - in der Doppeldeutigkeit des Buch-Titels steckt der Kern des Romans: erst wird das Instrument zum Ausdrucksmittel des jungen Asis. Nachdem er taub ist, muss er um jeden Laut als Lebensäußerung ringen. Der brutale Überfall hat zwar sein Hörvermögen vernichtet. Sein musikalisches Genie ist aber geblieben. Musik spielt sich fortan in seinem Inneren ab. Asis komponiert in seinem Kopf und wird zu einem Meister der Neuen Musik. So wie die Laute ihren Weg aus dem Morgenland ins Abendland gefunden hat, so bringt ein Zufall den jungen Asis nach Europa, nach Krakau. MUSIK kurz frei, dann unterlegen Der Gegensatz zwischen Land und Stadt, zwischen bäuerlicher Tradition so genannter westlicher Hochkultur - er könnte kaum stärker sein. Der einfache Junge aus der jemenitischen Wüste als Nachwuchshoffnung für die europäische Avantgarde-Musik - diese zunächst verblüffende Volte bekommt im Verlauf des Romans eine zwingende Logik. ZITATOR 1 Habe ich dir je erzählt, dass ich in Polen studiert habe? SPRECHERIN sagt sein Förderer Dr. Fuad zu Asis ZITATOR 1 Früher, als ich so jung war wie Du, unterhielt Südjemen noch enge Beziehungen zu Osteuropa... Ein ehemaliger Studienfreund von mir ist, soviel ich gehört habe, ein in Polen recht angesehener Komponist geworden, auch wenn mir seine Stücke ehre wie Fabriklärm vorkommen. Ich werde ihn fragen, ob er bereit wäre, einen gehörlosen Schüler anzunehmen. SPRECHERIN "Die Laute" ist ein hochkomplexes Buch über kulturelle Übergänge. Die Musik wird das Bindeglied, die Brücke zwischen weit entfernten Weltgegenden. Gleichzeitig ist der Roman selbst eine vielstimmige Komposition. Die Erzählhaltungen wechseln, die Handlung wird in Rückblenden und eine Rahmenerzählung aufgesplittet. MUSIK kurz hoch, dann unterlegen + ausblenden SPRECHERIN Das Aufeinanderprallen von Archaik und Moderne fasziniert Michael Roes. In seiner literaturwissenschaftlichen Dissertation beschäftigte er sich mit dem biblischen Urvater Abraham, der Jahwe seinen Sohn Isaak zum Opfer darbringt. Um diese Arbeit schreiben zu können, aus der später der Essay "Jizchak - Versuch über das Sohnesopfer" wurde, vertiefte sich Michael Roes nicht nur in Altes Testament und andere religiöse Schriften. Sondern machte sich auf an den Ort, an dem der Mythos spielt: Er fuhr ins heutige Israel und quartierte sich in einem Reservat für Beduinen ein. Er lebte wie die Nomaden seit Tausenden von Jahren, in Zelten. Und versuchte so, ein Gespür für die körperliche und soziale Umgebung zu bekommen, in denen ein - aus heutiger Sicht - so brutaler Ritus wie eine Menschen-Opferung möglich ist. Im Jemen hat er die alten Stammestraditionen noch ursprünglicher vorgefunden. Auch deshalb ist er immer wieder auf die arabische Halbinsel zurückgekehrt. ROES 7 Ich war oft im Jemen und immer wieder seit 1993, habe aber den Süden immer ein bisschen gemieden. Weil das Land war ja geteilt. Der Süden, und besonders Aden, die hatten ihre ganz eigene Geschichte. Aden war britisches Protektorat, Südjemen war sozialistische Republik. Für die ersten Arbeiten im Jemen hat mich der traditionelle Norden mehr interessiert. ATMO 3 arabische Stimmen, lange unterlegen SPRECHERIN Michael Roes' Bücher sind Tiefen-Erkundungen der Welt. Von Regionen, die uns überwiegend fremd und unbekannt sind. Mitunter auch ein bisschen unheimlich. Philosophische Entdeckerromane, moderne Abenteurergeschichten. Nicht zufällig zitiert Roes in der "Laute" immer wieder James Fennimor Coopers "Lederstrumpf". Und mitunter hat man das Gefühl, jeden Augenblick könnte Karl Mays Wüstenheld Kara ben Nemsi um die Ecke biegen. Der 1960 in Rehde an der Ems geborene Romancier, Essayist, Ethnologe und Filmregisseur hat längere Zeit in New York verbracht und wohnt heute in Berlin. Roes lebte in Ungarn und versuchte, in Afghanistan ein Theaterstück zu inszenieren. Zuletzt ist er nach China gereist, wo sein historischer Roman "Fünf Farben Schwarz" spielt. Ein weiteres Buch über China ist in Vorbereitung. Die arabische Welt hat Michael Roes aber immer besonders angezogen: "Der Weg nach Timimoun" - Roman und Spielfilm - sowie "Geschichte der Freundschaft" sind in Algerien angesiedelt. Im Jemen spielt sein Debütroman "Rub al-Khali - Leeres Viertel", den er nach der unendlich erscheinende Sandwüste benannt hat, die Teile Saudi-Arabiens, des Oman und des Jemen bedeckt. Und eben in seinem aktuellen Buch "Die Laute". ROES 8 Diese Einladung nach Aden, da hatte das Deutsche Haus eine Filiale. Bezeichnenderweise in der ehemaligen DDR-Botschaft, die ja gute Verbindungen hatten zur sozialistischen Republik Jemen. Und ich hatte das Privileg, in der alten DDR-Botschafter-Wohnung zu wohnen. Und dieses alte Botschaftsgebäude ist jetzt deutsches und französisches Kulturinstitut. Sofort hat mich diese Stadt fasziniert (...) . Die Schroffheit der Geografie, Topografie spiegelt sich auch in der Architektur wider. Es ist eine Stadt ohne Grün, alles so Grau-Schwarz-Töne. Gleichzeitig durch die Meerlage und die verschiedenen Kulturen, die dort zusammengekommen sind, ein ganz eigener Menschenschlag. Sie sind viel sanfter und weltoffener als die Stammeskrieger im Norden. Liebenswürdige Menschen und eine einmalige Architektur - mir war klar, ich muss hier was machen. ATMO 3 arabische Stimmen, kurz frei, unterlegen + ausblenden SPRECHERIN Aden, die Stadt ganz im Süden der arabischen Halbinsel. Sie kontrolliert den Bab-al-Mandab, die strategisch so bedeutende Meeresenge am Übergang vom Indischen Ozean zum Roten Meer. Jenseits des Golfs von Aden liegen Äthiopien und Somalia. Länder, die wir überwiegend mit Krieg, Hunger, Piraterie, Terrorismus in Verbindung bringen. 1977 stand auf dem Flughafen von Aden kurzzeitig die von Palästinensern entführte Lufthansa-Maschine "Landshut". Im Jahr 2000 wurde vor der Küste das US-amerikanische Kriegsschiff USS-Cole beschossen. Seither gilt Aden und der gesamte Jemen als Stützpunkt des Al-Kaida-Terrorismus. ROES 9 Und dann habe ich auch das Klima gescheut. Aden gilt ja als Hölle auf Erden. Rimbaud hat ja da einige Jahre seines Lebens verbracht. ZITATOR 2 (Rimbaud) Aden ist ein grauenhafter Felsen, ohne einen Grashalm, ohne einen Tropfen guten Wassers. Die Hitze ist entsetzlich, besonders im Juni und September, das sind die beiden Monate der Hundstagezeit. Die ständige Temperatur in einem frischen, gelüfteten Büro ist 35 Grad". SPRECHERIN ... so schrieb Arthur Rimbaud, der rastlose Dichter und Abenteurer, am 25. August 1880 an seine Familie in Frankreich. ROES 10 Wenn man seine Briefe liest, ist Aden kein Ort, wo man gerne sein möchte. Obwohl Aden von Eden kommt und da mal der Garten Eden gelegen haben soll, aber davon ist da eben nichts mehr zu spüren. ZITATOR 2 (Rimbaud) Hier gibt es keinen Baum, auch keinen vertrockneten, keine Erdkrume, keinen Tropfen Süßwasser. (...) Man sieht und berührt nur Sand und Lava, die nicht einmal den spärlichsten Wuchs hervorbringen können. Die Umgebung ist dürre Einöde. Die Wände des Kraters halten die Luft von der Stadt ab. Wir braten auf dem Grunde dieses Loches wie in einem Kalkofen (Briefe, S. 258, 28.09.1885) SPRECHERIN Für Rimbaud war das von ihm verabscheute Aden eine der letzten Stationen in seinem kurzen Leben voller emotionaler, künstlerischer, beruflicher Irrungen und Wirrungen. Als er in Aden ankam, hatte er seine Phase als genialischer, rebellischer junger Dichter lange hinter sich gelassen - er war als Söldner und Matrose um die Welt gezogen und versuchte sich an der Südspitze der arabischen Halbinsel nun im Kaffee-Export. Bereits in der Antike und wieder seit der Eröffnung des Suez-Kanals 1869 war Aden einer der wichtigsten Handelsplätze, über den der Schiffsverkehr zwischen Europa und Indien abgewickelt wurde. Rimbauds Schilderungen der Hitze und Ödnis dieses Fleckens Erde am Rande der großen Wüste haben Michael Roes fasziniert. Ihn verbindet sehr viel mit Rimbauds Ruhelosigkeit, seiner Suche nach extremen Zuständen und Orten. Abenteuerlust, das Angezogensein vom Unbekannten, vielleicht auch Feindseligen. ZITATOR 2 Ich suche nicht das Vertraute, auch wenn es mir im Fremden begegnet. Meine Grunderfahrung ist, dass es zwischen den Menschen ohnehin mehr Gemeinsames als Trennendes gibt, dass Unterschiede relativ oberflächlich sind. SPRECHERIN ... schreibt Roes in seinem Essay-Band "Krieg und Tanz". Der Schriftsteller ist ein Reisender mit literarischem, historischem, mythischem und philosophischem Gepäck - Foucault, Baudrillard oder eben Rimbaud hat er gedanklich ebenso mit dabei wie die antike und christliche Überlieferung. Der Aufbruch in ferne Welten ist für Roes dabei auch ein Erkunden der eigenen Gefühls- und Erlebenswelt. Reisen als existenzielle Erfahrung - ein Grundmotiv in seinem Werk: ZITATOR 2 Was trennt, das sind die Sprachen, die Mythen. Was wir gemeinsam haben, sind elementare körperliche Erfahrungen: Geburt, Hunger, Schmerz, Glück. Das sind die tieferen Erfahrungen. (...) Ich suche beim Reisen die Erfahrung des sich Verirrens, des Schmerzes, der Krankheit. Das Lebendigsein als bewusste Erfahrung mit geschärften Sinnen. ((Krieg und Tanz, S. 127f.)) ATMO 3 arabische Stimmen, kurz, als Trenner ZITATOR 1 Nun bin ich also unterwegs, weil mein Körper krank, mein Geist bedürftig, meine Seele leidend ist; weil widrige Umstände mich zwingen und weil ich, der das Reisen über alle Maßen hasst, nicht einsehe, dass es alleyn aus diesen Gründen geschehen solle . - So reise ich vor allem aus Trotz" (Leeres Viertel, S.11) SPRECHERIN Aus diesen Sätzen, die Michael Roes im "Rub-al-Khali"-Roman seinen Reisenden des 19. Jahrhunderts sagen lässt, ist die hassliebende Leidenschaft des Autors für das Unterwegssein herauszuhören. Das Getriebensein des Schriftstellers Michael Roes - der unstillbare Drang, in Ferne und Gefahr aufzubrechen. Was das Unterwegssein für ihn bedeutet, warum diese Faszination für andere Welten von ihm Besitz ergriffen hat - darüber denkt Michael Roes in Form eines neuen Buchprojekts nach, Arbeitstitel: "Melancholie des Reisens". ATMO 4 Ausschnitt aus Film "Macbeth" (Kampfszene), kurz frei + unterlegen SPRECHERIN Michael Roes ist durch die Länder, die er besucht hat, auch immer mit einer gehörigen Portion Kühnheit gereist - und Verrücktheit. Dazu zählt der nahezu wahnsinnig zu nennende Versuch, im Jemen Shakespeares Königs-Drama Macbeth als Film zu inszenieren. Und das in einem Land, in dem Theateraufführungen verpönt, wenn nicht verboten sind. ATMO 4 ("Macbeth"), wieder kurz hoch, dann unterlegen + ausblenden SPRECHERIN Das Film-Projekt, das Roes in literarischer Form in dem Roman "Nah Inverness" dokumentiert hat, trägt fast schon Züge von "Fitzcarraldo" - der Spielfilm Werner Herzogs, in dem Klaus Kinski von der fixen Idee getrieben wird, im brasilianischen Regenwald ein Opernhaus zu erreichten. Wenn man den großen, hageren Michael Roes in seiner gediegenen Altbau-Wohnung in Berlin-Charlottenburg in Pantoffeln über die glänzenden, abgeschliffenen Dielen gleiten sieht, fällt es schwer, sich ihn im Wüstensand unter gleißender Sonne als Egomanen vorzustellen, der von einer manischen Idee getriebenen einen Film vollenden will. Aber: Ein Gutteil Besessenheit steckt mit Sicherheit drin in dem literarischen Abenteurer Michael Roes. ROES 11 Es gibt wahrscheinlich nur zwei Grundimpulse für das Reisen: Flucht und Neugier. Wenn es sich die Balance hält oder die Neugier überwiegt , muss man garnicht über die Flucht nachdenken. Es war immer strapaziös, die Aufbrüche waren immer mit gemischten Gefühlen. Manchmal sogar aus einer tiefen Depression heraus. Warum gebe ich das jetzt auf, diese Sicherheit, Behaglichkeit, die ich hier habe, für eine Unsicherheit, ... von der ich schon wusste, dass man sich in eine Situation begibt, die mich möglicherweise überfordert. SPRECHERIN Bedrohung der körperlichen Existenz - Michael Roes nahm das häufig in Kauf für seine Buch- und Filmprojekte. Ganz so wie sein Held, der Lautenspieler Asis, der nicht aufhören kann, die Angebetete zu besingen, obwohl er nur zu gut weiß, welche Rache ihm droht. Auch in anderen Büchern, etwa dem Algerien-Roman "Weg nach Timimoun", bringen sich die Protagonisten, zwei junge Männer, aus Freundschaft und Liebe in ständige Lebensgefahr. MUSIK, etwas länger, als Trenner ZITATOR 2 Man kann andere Kulturen nur zu gegnerischen erklären, wenn man nichts über sie weiß oder nichts von ihnen wissen will. (Krieg und Tanz, S. 99) SPRECHERIN Nur wer den Anderen nicht kennt, kann sich über ihn erheben. "Der Wahn der Superiorität" heißt eine Überschrift in dem Essay- und Interview-Band "Krieg und Tanz". ZITATOR 2 Niemand zwingt uns Europäer oder Amerikaner, in die Fremde zu gehen. Wir leben relativ privilegiert und wohlbehütet in unserer eigenen Welt. Wenn ich mich aber in die Fremde aufmache, muss ich mich zurücknehmen. Bestenfalls bin ich Gast, schlimmstenfalls ein Eindringling (Krieg und Tanz, S. 102) SPRECHERIN Gerade weil Michael Roes die arabische Welt so gut kennt wie wenige andere Schriftsteller hierzulande, ist er auch ein unerbittlicher Kritiker archaischer Traditionen: ZITATOR 2 Wie oft habe ich auch in der muslimischen Welt über die Ungleichbehandlung der Frauen oder, noch drastischer, die Ächtung von Schwulen diskutiert! Für dieses Dilemma gibt es keine grundsätzliche Lösung, sondern letztlich nur: die Diskussion, das Gespräch, die Offenlegung des Dilemmas, die Hoffnung auf Einsicht oder Verständnis. SPRECHERIN Michael Roes will die Stereotype von den unversöhnlichen oder unüberwindbaren Gegensätzen zwischen Kulturen brechen. Das Denken in Schablonen überwinden. Die Kluft zwischen den geschlossenen, von Tradition, Religion, Männlichkeitswahn geprägten Kulturen der islamischen Hemisphäre und den offenen Gesellschaften Westeuropas hat er schon im "Leeren Viertel"- Roman literarisch und reflektierend anklingen lassen. Also bereits Mitte der 90er-Jahre und lange vor den durch die Anschläge des 11. September 2001 spektakulär zu Tage getretenen west- östlichen Konflikten. Etwa in diesem Dialog zweier Flugreisenden zwischen Okzident und Orient im "Leeren Viertel": ZITATOR 1 Ich werfe einen letzten Blick auf das flache Land, dessen Grün im Salzwasser zu ertrinken droht. Mein Sitznachbar, ein Arzt aus Aden, kehrt von einem Fachkongress zur "Lage der Psychiatrie in den Entwicklungsländern" in seine Heimat zurück. Er habe in Budapest Medizin studiert; er kenne den Westen sehr genau. - Ich erwidere, für mich liege Budapest bereits im Osten - Wir geraten in ein heftiges, sehr "westliches" Streitgespräch: Wie könnten wir wissen, was wahr und was falsch, was normal und was anormal, was gesund und was krank sei"(Leeres Viertel, S. 10). SPRECHERIN Was ist überlegen? Kann eine Kultur Anspruch auf Vorrang haben? Machen so genannte "kulturelle Unterschiede" ein Verständnis zwischen Menschen unmöglich? - Oder kann man sich einfach als Mensch, als Freund begegnen? ROES 12 Wenn ich schaue, wen ich im Haus hier in meiner eigenen Straße hier in Berlin kenne. Also ich kenne die Leute vom Sehen, vom Namen her, aber hier bin ich mit niemandem befreundet. Das heißt, die Unterschiede, trotz der kulturellen Gleichheit, die wirklich zählenden Unterschiede sind viel, viel größer als zu den Freunden, die verstreut sind von den USA bis nach China, wo Bildung eine Rolle spielt, natürlich Sympathie, Empathie ist das Allerwichtigste, aber auch sehr viele irrationale Dinge, sich riechen können, sich mögen, das lässt sich nicht so einfach in Kategorien fassen. SPRECHER "Geschichte der Freundschaft" heißt ein Buch von Michael Roes aus dem Jahr 2010. Es ist die Liebesgeschichte zwischen einem Deutschen und einem Algerier. In der schließlich scheiternden Beziehung der beiden Männer werden die Konflikte deutlich zwischen archaischem und modernem Leben, zwischen paternalistischen, repressiven Strukturen - und dem Leben in freiheitlichen Gesellschaften. Die Stellung der Frau, Homosexualität, die Selbstbestimmung über den eigenen Körper - mit vielen Phänomenen, die die Aktualität nach oben schwemmt, hat er sich schon vor langer Zeit auseinandergesetzt. Aus seinen Werken spricht immer die Stimme des Individuums als entscheidender Instanz. ROES 13 Ich versuche ja ein bisschen, den Kulturbegriff aufzulösen. Ich glaube nicht, dass es kulturelle Unterschiede sind. Sondern diese Fremdheiten gibt es ja auch schon innerhalb der einzelnen Kulturen. (19'20) SPRECHERIN Sein Roman "Die Laute" tastet Möglichkeiten ab, wie sich Menschen unabhängig von ihrer geografischen und familiären Herkunft annähern. Das Buch kann man durchaus lesen als literarisch-philosophischen Gegenentwurf zum viel beschworenen "Kampf der Kulturen". ROES 14 Ich glaube generell, dass es nicht die Sprache oder Kultur sind, die einen trennt, sondern dass es viel entscheidendere Dinge gibt: Klasse, Reichtum, Armut, (...). Bildung ist sicher das, was uns sehr viel mehr trennt oder verbindet als Sprache. MUSIK unterlegen SPRECHERIN In dem Roman werden gleich mehrere kulturelle Brücken geschlagen. Zwischen Europa und Arabien. Zwischen Vergangenheit und Moderne. Zwischen der "Normal"-Kultur der Hörenden und der Außenseiter-Kultur der Gehörlosen. Zwischen volkstümlicher Lauten-Musik und intellektuell hochkomplexer abendländischer Musik. Zwischen der Wüste des "Leeren Viertels" und Europas Bildungstradition. In Krakau begegnet der Schuhmacher-Sohn aus dem Jemen einem jungen Polen aus dem Bürgertum, auch er Komponist. So unterschiedlich die beiden sind, sie fühlen sich zu einander hingezogen, über die gemeinsame Sprache der Musik entwickeln sie eine große Nähe - eine Freundschaft. Und das ist einer der wesentlichen Begriffe bei Michael Roes: frei gewählte Freundschaft zwischen Individuen - im Gegensatz zu Abhängigkeit von Familien- oder Stammesstrukturen. Das Abwerfen von kultureller Einschränkungen, das Niederreißen kultureller Schranken: ROES 15 Asis, der Held, ist ja schon in seiner eigenen Kultur mehrfach Fremder. Einmal wenn er vom Norden in den Süden kommt, also von einer sehr traditionellen Kultur in eine vom Kolonialismus überformte Kultur. Dann als Gehörloser in die Hörende-Kultur. Und in Krakau ... gibt es wieder parallele Kulturen. Also diese reiche Stadtkultur, die Rafal repräsentiert, der Freund dort ... Das heißt letztlich, Nähe und Distanz, Vertrautheit und Fremdheit sind relative Begriffe. Sie vor allem, was wir heute machen, sie über kulturelle Unterschiede zu definieren, das ist glaube ich falsch. (19'30) MUSIK ZITATOR 1 "Ud", die Laute, heißt Rückkehr und Verwandlung MUSIK ROES 16 Vom Jemen ist die Laute über den arabischen Halbmond bis nach Spanien gewandert und wurde dann im Mittelalter zu unserer Gitarre. MUSIK ZITATOR 1 Die Töne fallen nun wie Sternschnuppen, und die verschleierten Frauen auf der Gasse wischen sich die Tränen aus den Augen. MUSIK ENDE 1