KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : Literatur Kostenträger : P31250 Titel : Realitätscheck Der US-amerikanische Autor John Wray über Fiktion und Manipulation AutorIn : Michael Hillebrecht Redakteurin : Dorothea Westphal Sendetermin : 27.1.2017 Regie : Michael Hillebrecht Besetzung : Frank Arnold Karim Chérif Romanus Fuhrmann Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 O-Ton John Wray: Es ist sicherlich ein großer Vorteil, ein bisschen abseits zu stehen von der eigenen Gesellschaft, da sieht man halt mehr, da kriegt man halt mehr mit. Erzähler: Der Autor John Wray wurde 1973 in den USA geboren und lebt in New York. Wray spricht aber auch fließend Deutsch, denn seine Mutter stammt aus Österreich. Seine Zweisprachigkeit und seine starken familiären Verbindungen nach Österreich haben ihm immer eine gewisse Distanz zur US-Gesellschaft verschafft. Atmo: Straßengeräusche, darin: O-Ton John Wray (in Atmo): Hallo Michael! O-Ton Michael Hillebrecht (in Atmo): Hi John! Atmo: läuft weiter, darüber: Erzähler: Bei unserem Treffen in der Nähe der Friedrichstraße in Berlin Mitte begrüßt mich John Wray bereits vor der Eingangstür des großen Altbaugebäudes in der Nähe des Berliner Ensembles. Wir sind uns bereits vor einigen Jahren mehrfach für Interviews begegnet. Atmo: läuft weiter, darin: O-Ton John Wray (in Atmo): Na, wie geht es dir? Wie ist es dir ergangen in den letzten paar Jahren? O-Ton Michael Hillebrecht (in Atmo): Ja, ganz gut. O-Ton John Wray (in Atmo): Schön, das freut mich sehr! Atmo läuft weiter: Türöffnen, Reingehen, darüber: Erzähler: Während einer längeren Lesereise durch Deutschland und Österreich wohnt John Wray zeitweise in der Wohnung von Freunden. Atmo: Reingehen in die Wohnung, darüber: Erzähler: In unserem Gespräch erinnert sich Wray daran, welche besondere Rolle die deutsche Sprache in seiner Kindheit spielte: Atmo: endet O-Ton John Wray: Das war schon ein bisschen seltsam, weil wir zu Hause hauptsächlich Deutsch gesprochen haben, aber natürlich sonst gab es überhaupt keine Gelegenheit, Deutsch zu sprechen. Erzähler: John Wray sieht sich in den USA ein wenig als Außenseiter, und auch in seinen Romanen interessiert sich der Autor für Menschen, die eher am Rande stehen. Die Protagonisten seiner Romane sind etwa ein Deserteur im 1. Weltkrieg, der vor den eigenen Truppen fliehen muss, oder ein junger Mann, der an Schizophrenie leidet und nach seinem Ausbruch aus der Psychiatrie in die Tunnel der New Yorker U-Bahn flüchtet. O-Ton John Wray: Ich würde schon sagen, dass bisher meine vier Bücher das gemeinsam haben, dass die Hauptfiguren, manchmal auf sehr brutale Weise, manchmal eher auf sehr witzige Weise, immer wieder gegen dieses Konzept der Objektivität stoßen, eben die Fiktion, dass wir alle gemeinsam unsere Umwelt gleich sehen und gleich verstehen. Erzähler: In seinem neuen Roman "Das Geheimnis der verlorenen Zeit" widmet sich John Wray einer ganzen Familie von Außenseitern und Exzentrikern. Der jüngste Spross der Familie breitet vor den Lesern die Geschichte der letzten vier Generationen seiner Vorfahren aus. Um genauer über die Einzelheiten seines Romans zu sprechen, zieht Wray es vor, ins Englische zu wechseln. O-Ton John Wray: The novel is narrated by a man named Waldy Tolliver, who believes himself to be sitting and writing a book in a kind of bubble in which time does not pass. Übersetzung: Der Ich-Erzähler des Romans heißt Waldy Tolliver, und er glaubt, sich in einer Blase außerhalb der Zeit zu befinden. Zitat "Das Geheimnis der verlorenen Zeit", S.11: Um 8:47 Uhr E(astern) S(tandard) T(ime) bin ich heute Morgen aufgewacht und fand mich von der Zeit ausgeschlossen. Ungebremst dreht sich die Zeit um mich herum, gluckert wie ein Whirlpool, wandelt sich wie ein Quantenfeld, rotiert wie eine Galaxie um ihre zentrale Nabe - in der Mitte ruht aber alles still. Erzähler: Waldemars Situation und sein besonderes Verhältnis zum Phänomen der Zeit haben eine lange familiäre Vorgeschichte. Sie beginnt in der Monarchie Österreich-Ungarn zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Waldemars Urgroßvater. John Wray beschreibt Ottokar Toula bei unserem zweiten Treffen, das Ende Oktober erneut im Apartment von Wrays Freunden stattfindet. O-Ton John Wray: Ottokar Toula is the pater familias of the Tolliver-clan and he is a gherkin-manufacturer in Znojmo or Znaim in Moravia, but he is actually an amateur physicist, someone whose greatest enthusiasm is reserved for scientific work. Übersetzung: Ottokar Toula ist der Ahnherr des Tolliver-Clans. Er ist Gurkenfabrikant in Mähren, aber vor allem ist er ein begeisterter Amateurphysiker. Erzähler: Ottokar Toula hat sich in seiner Firma ein Laboratorium eingerichtet und widmet seine physikalischen Forschungen ausschließlich dem Phänomen der Zeit. O-Ton John Wray: One day he makes a discovery in his laboratory that he believes will revolutionize our understanding of time on a very physical level and may in fact make time travel possible but before he is able to really communicate the substance of his discovery to anyone, before he is able to do more than hastily write it down on a few scraps of loose leaf paper he is run over by a car. Übersetzung: Eines Tages meint er, eine revolutionäre Entdeckung über die physikalische Natur der Zeit gemacht zu haben, die sogar Zeitreisen ermöglichen könnte. Leider kann er nur ein paar hastige Notizen aufschreiben, denn noch bevor er seine Entdeckung jemandem erklären kann, wird er von einem Auto überfahren. Erzähler: Nach dem überraschenden Tod von Ottokar Toula versuchen seine beiden Söhne, Kaspar und Waldemar, Ottokars vermeintlich fundamentale Entdeckung über das Wesen der Zeit aus seinen kryptischen Notizen zu rekonstruieren. Besonders Waldemar macht es zu seiner Mission, dem nur in Bruchstücken überlieferten Text seines Vaters einen Sinn zu entlocken. O-Ton John Wray: I thought it would be interesting to write a novel in which this sense of time as speeding up and slowing down, and sometimes even changing direction is an actual thing not simply something that we imagine but something very real, something with a basis in physics rather than simply psychology. Übersetzung: Ich wollte einen Roman schreiben, der unser subjektives Gefühl, dass sich die Zeit beschleunigen oder verlangsamen und manchmal sogar rückwärts laufen kann, zu etwas werden lässt, das greifbar und real ist, mit einer physikalischen und nicht nur einer psychologischen Grundlage. Erzähler: Bernhard Robben, der deutsche Übersetzer von "Das Geheimnis der verlorenen Zeit", sieht John Wrays Roman in einer vielfältigen Tradition von Zeitreiseromanen: O-Ton Bernhard Robben: Zeitreisen sind noch gar nicht so alt in der Idee, ich glaube H.G. Wells mit seiner Zeitmaschine war wirklich einer der ersten, aber seither hat das Thema nie an Faszination verloren. Und es gibt nichts Spannenderes, als das innerhalb eines Romans zu Ende zu denken, als eine vielleicht reale Möglichkeit. Erzähler: Um dieses alternative Universum glaubwürdiger zu machen, hat John Wray viele Verweise auf die Geschichte der Physik in seinen Roman eingeflochten. Eine Anregung für Ottokar Toulas Forschungen im Roman ist so etwa ein wegweisendes Experiment zur Bestimmung der Lichtgeschwindigkeit, das der amerikanische Physiker Albert A. Michelson Ende des 19. Jahrhunderts zum ersten Mal in Potsdam durchgeführt hat. Atmo: Fahrt in der S-Bahn innen, Ansage: "Nächste Station: Potsdam Hauptbahnhof", Atmo läuft weiter, darüber Erzähler: Zusammen mit John Wray fahre ich nach Potsdam. Auf dem Telegrafenberg ist im heutigen Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung eine originalgetreue Rekonstruktion des Michelson-Experiments zu sehen. Atmo: Schritte, Hingehen O-Ton John Wray: Ah, da hinunter Atmo: Treppe hinabsteigen, Tür öffnen, Reingehen, darüber: Erzähler: Begleitet werden wir von Johanna Beckmann, einer Klimaforscherin. O-Ton John Wray: Aber ist das der Ort wo es früher... ? O-Ton Johanna Beckmann: Ja, das ist genau der Ort, hier hat Michelson sein erstes Experiment gemacht 1881. Erzähler: Ziel von Michelsons Experiment war es, die Veränderungen der Lichtgeschwindigkeit zu messen. Nach der damals wissenschaftlich anerkannten Theorie des Lichtäthers hätte das Kreisen der Erde um die Sonne die Geschwindigkeit des Lichts beeinflussen müssen. Je nachdem in welche Richtung das Licht ausgesandt wurde, hätte sich dieser Einfluss unterschiedlich stark bemerkbar machen sollen. Mit einer ausgeklügelten Apparatur aus normalen und halbdurchlässigen Spiegeln konnte Michelson kohärente Lichtstrahlen in unterschiedliche Richtungen ablenken und anschließend wieder zusammenführen. Auch bei der heutigen Rekonstruktion von Michelsons Versuchsaufbau bilden sich durch die Überlagerung der Lichtstrahlen sogenannte Interferenzmuster: Teils verstärken sich die Wellen des Lichts, teils löschen sie sich gegenseitig aus. O-Ton Johanna Beckmann: Also mit diesem Interferometer kann man halt kleine Zeitunterschiede und Längenänderungen sehr gut erfassen, so im Nanometerbereich. O-Ton John Wray: Aber ganz egal, wie er diesen Apparat gedreht hat und in welche unterschiedlichen Richtungen er die Lichtstrahlen geschickt hat, hat er nie auch den geringsten Unterschied feststellen können. Und das war ein Beweis dafür, dass die Geschwindigkeit des Lichts von überhaupt nichts beeinflussbar sei. Atmo: läuft weiter Erzähler: Erst Albert Einstein gelang es mit der Veröffentlichung seiner Relativitätstheorie im Jahr 1905, die überraschenden Messergebnisse des Michelson-Experiments und weiterer Versuche zur Lichtgeschwindigkeit zu erklären. Atmo: läuft weiter O-Ton John Wray: Der Einstein hat eben Newtons Behauptung, dass Raum sowie Zeit konstant sind und dass die Geschwindigkeit des Lichts sich ändern würde, das hat der Einstein dann auf den Kopf gestellt und hat gesagt, nein, die Geschwindigkeit des Lichts ist das Konstante, und wenn das auch stimmt, muss man, um das Universum zu erklären, einfach akzeptieren, dass der Raum sowie die Zeit nicht konstant sind und sich biegen lassen und sich dehnen lassen. Atmo: Rausgehen, Schritte, endet dann Erzähler: In John Wrays Roman kommt es Waldemar Toula im Jahr 1905 kurz vor Albert Einsteins Veröffentlichung nicht in den Sinn, dass es bei seinen Spekulationen über das Wesen der Zeit einen Konkurrenten geben könnte. Im Gegenteil, er glaubt, bei der Weiterführung der Theorien seines Vaters eine weltbewegende Entdeckung gemacht zu haben. Zitat, S.98/99: Es war der entscheidende Moment seines Lebens, und das wusste Waldemar, auch wenn er keine Ahnung hatte, wohin er führte. Das grundlegende Postulat war erstellt, der weite, kühne Sprung aus den Salons der bürgerlichen Vernunft in die urzeitlichen Klüfte getan, aus denen das wahre Genie hervorquillt. Es sengte sein früheres Ich fort, entkleidete sich gnadenlos seines Egos, doch war er zu diesem Opfer mehr als bereit. Die ganze Welt hätte er gegen dieses Körnchen Wissen eingetauscht: dass nämlich Zeit und Raum selbst im Übergang sind und einer so anpassungsfähigen wie absoluten Bewegung unterliegen, weshalb der Mensch besagte Bewegung durch einen konzentrierten, virtuosen Willensakt beeinflussen kann. Erzähler: Kurze Zeit später trifft die Veröffentlichung von Einsteins Relativitätstheorie Waldemar Toula vollkommen unvorbereitet. Er betrachtet den Erfolg seines Rivalen mit fassungslosem Neid. Waldemar wird von diesem Schlag so schwer getroffen, dass er zeitweise ganz dem Wahnsinn verfällt und seine Theorien über die Zeit anschließend noch kryptischer und esoterischer werden. In den 1920er Jahren entwickelt er sich zu einem frühen Anhänger des Nationalsozialismus und macht in Deutschland im Laufe der Jahre eine steile Karriere in der NSDAP. In "Das Geheimnis der verlorenen Zeit" spielt der Nationalsozialismus ebenso wie in früheren Romanen von John Wray eine große Rolle, denn dieses Thema beschäftigt den Autor auch persönlich sehr intensiv. Bereits als Teenager begann er damit, seine Familiengeschichte und die Bezüge zum Nationalsozialismus zu hinterfragen. O-Ton John Wray: I really idealized Austria and Germany and all the sort of culture of this part of the world when I was a kid. But when I came to understand more about the history of the place that I so idealized in a way that was maybe the beginning of my development as a writer because it certainly gave me something that I could not fully understand and that deeply disturbed me and that I wanted badly to resolve. Übersetzung: Als Kind habe ich Österreich und Deutschland sehr stark idealisiert. Aber als ich dann später die ganze Geschichte dieser Länder kennen lernte, war das vielleicht sogar der Beginn meiner Entwicklung als Schriftsteller. Die dunklen Seiten der Geschichte verstörten mich zutiefst und ließen sich nicht mit meinen idealisierten Vorstellungen verbinden. Erzähler: In John Wrays Roman begehrt Waldemar Toula, obwohl er Nationalsozialist ist, schon lange Sonja, die jüdische Frau seines Bruders Kaspar. Nach dem sogenannten "Anschluss" Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland kehrt Waldemar als hoher SS-Funktionär nach Wien zurück. Mit gezielt inszenierten Auftritten im Haus seines Bruders Kaspar deutet Waldemar an, welche Macht er als SS-Mann gegenüber Sonja als Jüdin ausüben könnte, wenn er wollte. O-Ton John Wray: In the case of my family there were no important national socialists but there were quite a number of cowards. And in a way, creating a character in the family in the novel who is truly villainous, was almost more important as a way of setting up a situation for his brother in which I was then able to investigate the ideas of cowardice and denial which in some sense are the most damaging legacy of that time. Übersetzung: In meiner Familie gab es keine bedeutsamen Nationalsozialisten, aber eine ganze Menge Feiglinge. Als ich im Roman eine wirklich bösartige Figur erschuf, konnte ich gleichzeitig anhand seines Bruders Feigheit und Drückebergerei untersuchen. Hierbei handelt es sich vielleicht um das schädlichste Vermächtnis dieser Zeit. Erzähler: Nachdem Waldemars Drohungen gegenüber Sonja immer konkreter werden, entschließen sich Kaspar und seine Frau in die USA zu fliehen. Waldemar dagegen setzt seine nationalsozialistische Karriere bei der SS fort. Er kann schließlich seine Zeitreise-Theorien durch bestialische Experimente an den Häftlingen eines Konzentrationslagers erproben. Bei Kriegsende verschwindet er spurlos, zu welchen Ergebnissen seine unmenschlichen Experimente an den Gefangenen führten, kann nie wirklich geklärt werden. Obwohl Waldemar Toula verschwunden oder wahrscheinlich sogar tot ist, übt er nach wie vor großen Einfluss auf die Mitglieder seiner Familie aus. Besonders für den Erzähler des Romans, Waldemar Tolliver, der nach seinem Großonkel benannt wurde, geht von ihm zeitlebens eine sehr zwiespältige Faszination aus. O-Ton John Wray: So among other things our protagonist, Waldy Tolliver is trying to leverage this opportunity he has of existing outside of time to really look at his own past and the past of his family and hopefully put this very ugly ghost to rest or even to death. Übersetzung: Waldy Tolliver möchte seine Existenz außerhalb der Zeit nutzen, um diesen hässlichen Geist zum Schweigen zu bringen. Erzähler: Für Waldemar Tolliver, den Ich-Erzähler, kommt es in seiner Blase außerhalb der Zeit zu einer direkten Konfrontation mit seinem Großonkel. Waldemar Toula taucht mehrmals auf und verschwindet wieder. Er macht dafür seine Fähigkeit, durch die Zeit zu reisen, verantwortlich. Allerdings beschleichen Waldemar Tolliver selbst manchmal leise Zweifel am Realitätsgehalt dieser Begegnungen mit seinem Großonkel. John Wray möchte sowohl für seine Romanfigur als auch für seine Leser in diesem Zusammenhang bestimmte Dinge im Unklaren lassen. O-Ton John Wray: It can be very much fun to play not only with ones character's doubts and questions about what is real and what is imagined in the world around them but also with the reader's doubts and expectations of how a story can be told. It was very important to me that this novel would be enjoyable as a work of science fiction and as work of psychological literature to equal degree. Übersetzung: Ich spiele nicht nur gern mit den Zweifeln der Figuren, ob etwas real oder nur eingebildet ist, sondern auch mit den Erwartungen der Leser, wie eine Geschichte erzählt werden kann. Für mich war es wichtig, dass dieser Roman sowohl als Science Fiction als auch als psychologischer Roman gelesen werden kann. Erzähler: Bernhard Robben hat deshalb sein Augenmerk bei der deutschen Übersetzung besonders auf eine spezifische Wortwahl gerichtet. O-Ton Bernhard Robben: Wichtig ist dabei nur, in der Wortwahl dieses bewusst Unentschiedene beizubehalten. Also wenn es um Waldemar geht, kein Wort zu nehmen, was seinen Geisteszustand eindeutig beschreibt, sondern es bis zuletzt offen lässt, habe ich es hier mit einem Irren zu tun, der phantasiert, oder ist es jemand dem man ... nein, es muss jemand sein, dem man bis zuletzt glaubt, dass die Zeitreise eventuell doch geklappt hat und dass dieser Mann nicht eine Fiktion ist, eine Fantasie ist und erst recht kein Irrer ist. Erzähler: John Wray wiederum sieht im Verhältnis eines Autors zu seinen Lesern eine bewusst oder unbewusst akzeptierte Form von wohlmeinender Manipulation am Werk. O-Ton John Wray: I mean a novel is also a lie that purports to be true in some way. So it is a contract I think you enter with your potential readers: They are going to allow you to manipulate them and you are going to repay their submission with something entertaining and hopefully something thought-provoking also. Übersetzung: Ein Roman ist letztlich auch eine Lüge, die für wahr gehalten werden soll. Es ist wie ein Vertrag mit deinen Lesern: Sie lassen sich von dir manipulieren, und du belohnst diese Unterordnung mit einer unterhaltenden und geistig anregenden Geschichte. Erzähler: Auch jenseits der Literatur besitzen für John Wray diese Fragen nach Fiktion und Realität sowie nach Manipulation und Unterwerfung aktuell eine ganz besondere Dringlichkeit. Er denkt dabei an die Wahl von Donald Trump zum 45. Präsidenten der USA. Nach der Präsidentschaftswahl habe ich erneut mit John Wray gesprochen, der nach seiner Rückkehr in die USA aus dem ARD-Studio in New York zugeschaltet war. O-Ton John Wray: I do think it is a very interesting time for fiction writers and for storytellers of any kind to observe the way a country in fact the entire world responds to a politician who in many ways is a storyteller himself, someone who plays very loose with the truth, has a transparent contempt for the truth in a way in fact that I would say very few fiction writers do. Fiction even if it is largely invented has a certain relationship to truth or a least to plausibility which Trump himself seems to lack. Übersetzung: Als Schriftsteller bin ich gespannt, wie die USA und die ganze Welt auf jemanden reagieren werden, der selbst ein Geschichtenerzähler ist und sehr lax mit der Wahrheit umgeht. Obwohl fiktionale Literatur weitgehend erfunden ist, spielt Plausibilität doch eine erhebliche Rolle, Trump scheint sich darum aber überhaupt nicht zu kümmern. Erzähler: Ein vollmundiger Redner, der sich aber, anders als ein Romanautor, ständig selbst widersprechen kann, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden: John Wray sieht Parallelen zu seinem Roman "Canaan's Tongue", den er bereits 2005 veröffentlicht hat. O-Ton John Wray: I have thought about my second novel "Canaan's Tongue" in connection with the rise of Trump and now with the swearing in of his cabinet and it is a very melancholy thing to me that this novel that I wrote to describe the abuses of influence and power and corporate interest's prominence in the national politics during the administration of George W. Bush should once again prove to be so relevant to contemporary American politics. I never would have expected that, I really thought we were making progress. Übersetzung: Im Zusammenhang mit Trumps Aufstieg musste ich oft an meinen zweiten Roman "Canaan's Tongue" denken. Es gibt mir sehr zu denken, dass dieser Roman, in dem ich den Machtmissbrauch und den Einfluss von Unternehmensinteressen auf die Politik unter George W. Bush kritisieren wollte, wieder so aktuell wirkt. Ich dachte wirklich, wir wären weiter. Erzähler: In "Canaan's Tongue" hat John Wray seine Kritik an der Politik von George W. Bush in die Form eines historischen Romans gefasst. Im Zentrum des Romans steht Thaddeus Morelle, der Anführer einer Bande von Kriminellen, die in den 1850er Jahren, also noch vor dem amerikanischen Bürgerkrieg, den Süden der USA unsicher macht. Der kleinwüchsige Morelle, der auch "The Redeemer", "Der Erlöser", genannt wird, zieht als vermeintlicher christlicher Prediger mit großen Verheißungen und dreisten Lügen seine Zuhörer in den Bann. Während Morelle predigt, können seine Bandenmitglieder unbemerkt die Pferde des Publikums stehlen. Morelle weitet seine Geschäfte schließlich mit der finanziellen Unterstützung potenter Investoren erheblich aus, und seine Bande verlegt sich auf den Sklavenhandel. O-Ton John Wray: Even more surprisingly there are far more similarities between the so-called "Redeemer"in "Canaan's Tongue" and Donald Trump than there were to George W. Bush, who in many ways was almost an innocent compared to Donlad Trump's involvement in many, many Things. Übersetzung: Der sogenannte "Redeemer" ähnelt viel stärker Donald Trump als George W. Bush. Im Vergleich zu Trump erscheint Bush fast harmlos. Erzähler: Die Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der USA war für John Wray ein so einschneidendes Ereignis, dass er sogar über weitreichende persönliche Konsequenzen nachdachte. O-Ton John Wray: Immediately after it became clear that Hillary Clinton was going to loose the election I thought a great deal about the fact that I had an Austrian passport in my bedside table at home and I thought a lot about leaving the country. But interestingly I feel less inclined to leave the United States now perhaps than I did before the Trump victory. In part because I feel that I can't escape the consequences of a Trump victory regardless of whether or not I immigrated to Europe for example. Unfortunately the president of the United States is an inescapable presence almost anywhere in the world. Übersetzung: Direkt nach der Wahl habe ich oft daran gedacht, mit meinem österreichischen Pass einfach das Land zu verlassen. Aber ich denke mittlerweile vielleicht sogar seltener daran, die USA zu verlassen als vor Trumps Sieg. Denn selbst mit einer Auswanderung könnte ich ja den Folgen dieses Sieges nicht entgehen. Leider besitzt der amerikanische Präsident fast überall auf der Welt einen Einfluss, dem man sich nicht entziehen kann. Erzähler: Aktuell arbeitet John Wray bereits an seinem nächsten Roman. Auch hier thematisiert er die weitreichenden Möglichkeiten, welche die moderne Militärtechnologie dem amerikanischen Präsidenten selbst in den entlegensten Winkeln der Erde zur Verfügung stellt - und das nicht erst seit Donald Trump. Die Arbeit an diesem Roman hat deshalb lange vor der letzten Präsidentschaftswahl begonnen, und er ist bereits weitgehend fertiggestellt. O-Ton John Wray: The idea for the novel really began with my concern about the American drone- program and about the implications and dangers inherent in the ability to kill human beings from a tremendous distance by remote control. And I wanted to write an account of a drone strike on a village from the point of view of the people who lived in that village and not from the point of view of the American perpetrators of the attack. Übersetzung: Zu diesem Roman haben mich meine Sorgen über das amerikanische Drohnenprogramm angeregt, weil es damit möglich ist, Menschen aus erheblicher Distanz per Fernsteuerung zu töten. Ich wollte einen Drohnenangriff auf ein Dorf aus der Sicht der Angegriffenen beschreiben und nicht aus der Perspektive der amerikanischen Angreifer. Erzähler: In dem Roman mit dem geplanten Titel "Godsend" folgt Wray erneut einem extremen Außenseiter der amerikanischen Gesellschaft: Hauptfigur des Romans ist ein junger Mann, der zum Islam konvertiert und sich zu Beginn des Jahres 2001 den Taliban in Afghanistan anschließt. Wray hat sich dabei von der realen Geschichte des sogenannten 'amerikanischen Taliban', John Walker Lindh, inspirieren lassen. Lindh wurde nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in Afghanistan als Mitglied der Taliban gefangen genommen und sitzt noch heute im Gefängnis. O-Ton John Wray: In some ways this is the most clearly political novel that I have written. Übersetzung: In gewisser Hinsicht ist das mein bisher politischster Roman. Erzähler: John Wray hat sich bereits vielfach von politischen Ereignissen zu seinen Romanen anregen lassen. Einerseits reflektiert er in seinem Werk auf vielschichtige Weise etwa die Zeit des Nationalsozialismus, andererseits nimmt er immer wieder die aktuelle amerikanische Politik unter die Lupe, um das Verhältnis von Macht und Manipulation zu untersuchen. Es wird deshalb interessant zu beobachten sein, wie Wray auf die von ihm sehr kritisch betrachtete Präsidentschaft von Donald Trump literarisch reagieren wird. Wrays Ansatz, die Gesellschaft mit Hilfe von Außenseiterpositionen zu untersuchen, lässt jedenfalls weiterhin spannende Perspektiven erhoffen. O-Ton John Wray: Ich bin halt ein Zwischending und ich kann nur aus dieser Position denken und schreiben. 1