Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 22. Februar 2014, 11.05 - 13.00 Uhr Global Village im Ewigen Eis Spitzbergen: Von der Walfänger-Insel zum Mekka der Arktisforschung Mit Reportagen von Andrea Rehmsmeier Redakteur am Mikrophon: Robert Baag Musikauswahl und Regie: Babette Michel Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Ein Bergarbeiter, den es aus seinem Heimat-Kohlerevier im ostukrainischen Donbass nach Spitzbergen gezogen hat: Hier ist alles anders. Als ich vor zwei Jahren hier ankam, da erschien mir Barentsburg wie ein Stück übrig gebliebene Sowjetunion - wie irgendetwas Altertümliches. Aber heute glaube ich, dass Spitzbergen mit überhaupt nichts zu vergleichen ist. Und: Ein norwegischer Diplom-Ingenieur für Weltraumtechnologie, der dafür sorgen soll, dass Satelliten-Daten zur Arktisüberwachung die Bodenstation auf Spitzbergen jederzeit störungsfrei erreichen: Ich persönlich bin wirklich skeptisch, ob wir hier oben tatsächlich Schiffe fahren lassen sollten. Die Natur in der Arktis ist dermaßen verletzlich - da wird alles, was schief geht, sofort zu einer Riesen-Katastrophe. Global Village im Ewigen Eis - Spitzbergen: Von der Walfänger-Insel zum Mekka der Arktisforschung. - Eine Sendung mit Reportagen von Andrea Rehmsmeier. - Am Mi-krophon begrüßt Sie: Robert Baag. Mindestens dreizehn Millionen, sagen die einen - mehr als zwanzig Millionen Quadratkilometer Eismeer und Permafrost-Boden voller Rohstoffe, behaupten dagegen andere - das ist die Arktis. Auf die einst unberührte Eiswüste setzen nicht nur Energiekonzerne und Reedereien längst große Hoffnungen. Denn als Folge der Erderwärmung schmelzen immer mehr Eisflächen und Gletscher, geben neue Förderfelder sowie zeit- und wegsparende Schiffspassagen frei. - Doch lässt sich das hochsensible Öko-System Arktis wirtschaftlich überhaupt nutzen ohne es gleichzeitig unwiederbringlich zu zerstören? Diese Frage versucht auf Spitzbergen - norwegisch: Svalbard, zu deutsch: Kühle Küste - eine internationale Forschergemeinschaft zu beantworten. Die Fachleute können den rasanten Klimawandel buchstäblich vor ihrer Haustür beobachten - besonders während des dunklen Polarwinters. Für die Inselgruppe in der Barentssee, die heute von Norwegen verwaltet wird, haben sich die Anrainermächte nicht nur aus strategischen Gründen schon seit Jahrhunderten interessiert. Doch der einst profitable Walfang spielt keine Rolle mehr, selbst der Kohleabbau steht nicht mehr im Vordergrund. Heute zieht Spitzbergen Polarforscher aus aller Welt an, als Stütz- und Ausgangspunkt für Expeditionen ins arktische Eis. - Immerhin: Abenteuerlustige zieht Spitzbergen, zieht Svalbard immer noch an, und zwar egal ob alt, ob jung, ob Mann, ob Frau... Hallo Tromsø, geht es euch gut? Ihr seid in einer herrlichen Jahreszeit gekommen: Die klirrende Kälte ist wunderschön, nicht? Vergesst nicht, in den Himmel zu schauen, wenn ihr gleich nach Hause geht - ihr könntet das Nordlicht verpassen! Wir sind "Frost", und laden euch ein zu einer elektronischen Jam-Session. Die Fotografien, die ihr hinter uns an der Leinwand seht, hat meine Großmutter gemacht. Sie hat sie in den 60-er Jahren auf Spitzbergen aufgenommen, in der russischen Bergarbeiterstadt Pyramiden. Aggie Peterson, Sängerin des norwegischen Duos "Frost" aus Tromsø: Während ihr Partner hinter dem Turm aus Boxen und Laptops ins Grooven gerät, steht sie wie eine Sphinx im Licht der Strahler - unbewegt, mit pechschwarz gefärbter Pagenfrisur und dem Bauch einer Hochschwangeren. Hinter ihr, überdimensional und mit künstlerisch überzeichneten Schwarz-Weiß-Konturen, flackert eine Diashow über die Leinwand: Wohnblocks mit rußigen Fassaden inmitten einer grell-weißen Bergwelt; wettergegerbte Männergesichter, breit lachend vor einer Schnörkelmuster-Tapete; ein liegender Bergarbeiter, der so schwarz ist wie der Flöz, den er bearbeitet. Es sind Momentaufnahmen aus der Kamera einer Fotografin, die ihre Leidenschaft für die Insel der Eiswüsten und Kohleminen an ihre Töchter und Enkel weitergegeben hat: Herta Grøndal. Auf Spitzbergen, am südlichen Stadtrand von Longyearbyen hat die "Galerie Svalbard" ihren Sitz. Auch hier, zwischen Aquarellen, Gemälden und historischen Landkarten, sind die Fotografien von Herta Grøndal ausgestellt. Eine Schwarzweiß-Aufnahme aus den 1950-er Jahren zeigt die Fotografin selbst - als junge Frau auf einer Gletschertour: Sonnenverbrannt schaut ihr schmales Gesicht unter einer Fellkapuze hervor. Daneben hängt das Porträt ihres ersten Ehemannes, des Norwegers Leif Archie Grøndal. Das ist meine Mutter, und das mein Vater. Er war Bergarbeiter und Fotograf. Anfangs hat sie als seine Assistentin gearbeitet. Sie hat in der Dunkelkammer seine Fotos entwickelte. Eva Grøndal, die Ältere von Hertas Töchtern, ist die Mutter der Sängerin Aggie Peterson. Im Jahr 2008 ist die Frühpensionärin nach Spitzbergen gezogen, um die Leitung der Galerie Svalbard zu übernehmen. Doch auch ihre Schwester Nora zieht es häufig nach Longyearbyen. Die 57-Jährige interessiert sich für die verschlungenen Lebenswege, die junge Leute aus ganz Europa in den Wirren der Nachkriegsjahre nach Spitzbergen führten. Ihr Vater, erzählt sie, entsprach nicht gerade dem Menschentypus, den die Kohleminen damals so händeringend suchten. Er begeisterte sich eher für Jazzmusik und Fotografie als für Schwerstarbeit unter Tage. Aber er hatte Steuerschulden, und hier konnte er sich vor dem Finanzamt verstecken. Das war übrigens auch für das Fotografieren wichtig: Er musste vorsichtig sein, wenn er seine Aufnahmen von den Bergarbeitern an die Zeitungen verkaufte: Die Kumpel konnten handgreiflich werden! Unter ihnen gab es immer welche, die etwas zu verbergen hatten. Die wollten nicht, dass man in Norwegen erfuhr, wo man sie finden konnte. Noras Mutter, Herta, war aus purer Abenteuerlust nach Spitzbergen gezogen. Die zierliche Musikstudentin aus Wien kam im Jahr 1952 an, und sie hatte eigentlich nur ein Transitvisum. Doch die arktische Landschaft schlug sie in ihren Bann: Sie blieb. Damals gehörte Longyearbyen mit all seinen Gebäuden und Straßen dem norwegischen Bergbauunternehmen "Skore Norske" - eine Aufenthaltserlaubnis für Betriebsfremde war ausgeschlossen. Erst Hertas Heirat mit dem Minenangestellten Leif Grøndal löste das Problem. Das Ehepaar unternahm Fotoexpeditionen, schnell wurden Zeitschriften in ganz Europa auf die exotischen Aufnahmen aufmerksam. Dann aber wurde Herta schwanger, im Jahr 1954 kam die kleine Eva zur Welt. Prompt verwies das Minen-Unternehmen die junge Mutter samt ihrem Säugling aus der Stadt: In Longyearbyen war für Kinder kein Platz. Nur die Bosse durften mit ihren Familien zusammenleben, darum gab es hier damals nur etwa 30 Kinder. Die Stadt gehörte der Kohlemine, und mehr Kinder hätten die Kohle verteuert. Also verdiente Vater auf Spitzbergen Geld, und meine Mutter lieferte mich bei meinen Großeltern in Norwegen ab, um selbst so schnell wie möglich zu ihrem Mann zurück zu kehren. Und dann haben die beiden Nora gemacht (lacht) - und sie musste die Insel wieder verlassen. Tja, Nora, und so wurdest du in Wien geboren. Herta Grøndals Kampf um einen festen Platz auf der Bergarbeiter-Insel blieb vergeblich. Die Ehe zerbrach. Bald darauf lernte sie einen Ungarn kennen. Dieser war auf der Flucht vor dem sozialistischen Regime in seiner Heimat von einem Kreuzfahrtschiff ins Eiswasser gesprungen, und an der Küste Spitzbergens an Land gekrochen. Doch auch diese Ehe scheiterte, ohne dass es der Fotografin gelungen war, ein eigenes Wohnrecht in einem der Bergarbeiterzimmer zu bekommen. Also schlug sie ihr Lager in Wochenendhütten und Zelten auf. Während der Schulferien bekam sie dort Besuch von ihren Töchtern, die bei den Großeltern aufwuchsen. Die Sommer verbrachte meine Mutter hier, in den Wintern zog sie hinunter in den Süden. Anders ging es nicht. Man konnte damals ja nicht mal Lebensmittel kaufen ohne gute Beziehungen zu haben. Privatwohnungen gab es auch nicht: Die Stadt gehörte ja der Kohlemine. Herta Grøndal war weit über 70 Jahre alt, als sie endlich einsah, dass Spitzbergen kein guter Ort für Hochbetagte ist. Sie kehrte in ihre Geburtsstadt Wien zurück. Longyearbyen aber ist eine Stadt der Rastlosen und der Globetrotter geblieben. Heute sind es die Wissenschaftler, die Studenten und Dienstreisenden, die sich hier für ein paar Jahre, Monate oder auch nur Wochen einmieten. Die Galeristin Eva Grøndal, die hier seit immerhin sechs Jahren ihren festen Wohnsitz hat, gilt in Longyearbyen schon fast als Alteingesessene. Und darauf ist sie sehr stolz. Diese Wildnis: Es gibt keine Straßen. Wenn du irgendwo hinwillst, dann brauchst du ein Boot oder ein kleines Flugzeug. Schon damals hat mir dieses Leben sehr gefallen, das ich mit meiner Mutter geführt habe. Tja, und später irgendwann kam auch meine eigene Scheidung. Da dachte ich mir: Jetzt ziehe ich nach Spitzbergen - das liegt uns wohl im Blut! LACHT Und nun bin ich hier! Meine Tochter war zuerst geschockt darüber. Vor einigen Jahren aber jat sie mit ihrem Duo "Frost" in der ehemaligen russischen Bergarbeiterstadt Pyramiden ein Konzert gegeben. Sie hat sich also wieder gefangen. Inzwischen hat auch sie Spitzbergen zu lieben gelernt. Michael Beard ist, was man gemeinhin einen "schrägen Vogel" nennen würde. Hochqualifizierter Wissenschaftler, doch im privaten Leben unstet, dabei gerne charmant, andererseits maß- und skrupellos in seinem Gewinnstreben. - Halb als Krimi, halb als Satire, die auch polit-ökologische Korrektheit nicht verschont, nicht selten unter Einsatz drastischer Szenen- und Wortwahl, kommt der Roman "Solar" des britischen Autors Ian McEwan daher, bei dem Spitzbergen als Schauplatz eine tragende Rolle spielt in der turbulenten Vita des fiktiven Physik-Nobelpreisträger Michael Beard. Zusammen mit zwanzig anderen Künstlern und Wissenschaftlern soll Beard einige Tage auf einem Schiff verbringen, das in einem Fjord nördlich von Longyearbyen auf Spitzbergen festgefroren ist, um mit dieser Aktion die Weltöffentlichkeit auf den globalen Klimawandel aufmerksam zu machen: (aus:Ian McEwan:"Solar" / S.69): "In nur fünfzehn Kilometer Entfernung, an der Küste des Fjords, befand sich ein dramatisch abschmelzender Gletscher, dessen steile blaue Klippen regelmäßig hausgroße Eisblöcke kalbten. An Bord gab es einen - Zitat: - ‚international renommierten' italienischen Kock; allzu aufdringliche Eisbären würden notfalls von einem Führer mit einem großkalibrigen Gewehr erschossen. Vorträge wurden von Beard nicht erwartet - allein seine Anwesenheit zählte, die Stiftung übernahm sämtliche Kosten, und das Kohlendioxid von zwanzig Hin- und Rückflügen, von Schneemobilfahrten sowie sechzig in polarer Kälte zubereiteten warmen Mahlzeiten pro Tag sollte durch dreitausend neugepflanzte Bäume in Venezuela wettgemacht werden - sobald man geeignetes Gelände gefunden und die zuständigen Behörden bestochen hätte." Entdeckt hat ein Holländer Ende des 16. Jahrhunderts den damals unbewohnten Archipel Spitzbergen. Doch über die internationalen Nutzungsrechte der Inselgruppe kam es schon bald zum Streit und zu immer wieder aufflammenden Konflikten zwischen Holländern, Briten, Dänen und Norweger. Erst der Spitzbergen-Vertrag von 1920 regelte abschließend deren Status. Als einer der Unterzeichnerstaaten des Spitzbergen-Vertrags besaß schon die UdSSR das Recht, auf dem Archipel Rohstoffe abzubauen. Doch der staatlichen Kohleminengesellschaft ging nie nur um die Kohle-Förderung allein. Schon zu Sowjetzeiten waren die beiden russischen Ansiedlungen Pyramiden und Barentsburg von hoher strategischer Bedeutung. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat die russische Regierung beharrlich an den beiden Siedlungen festgehalten - obwohl die Kohleförderung dort längst als unrentabel gilt, und die Versorgung der Siedlungen per Boot oder Helikopter aufwändig ist. In Barentsburg fördert das Unternehmen "Arktikugol" bis heute Kohle. Mit knapp 400 ständigen Einwohnern ist die Siedlung inzwischen aber deutlich kleiner als noch zu Sowjetzeiten, auch wenn das Städtchen in manchem noch ziemlich sowjetisch anmutet. Backsteinerne Gewerbehallen, ein windschiefer Förderturm, dazwischen ein Geflecht aus Transportbändern, Gestängen und Rohren: Wie ein Relikt aus tiefster Sowjetära ragen die Anlagen der Kohlegrube aus dem schwarz-verrußten Schnee. Ausgeleuchtet von starken Strahlern, tritt die Industrielandschaft am Rande der Siedlung Barentsburg aus der Schwärze der Polarnacht hervor - menschenleer und einsam wie die Barentssee, deren nahes Ufer man in der Dunkelheit nur erahnen kann. Doch der Eindruck täuscht: Hinter einer Wellblech-Verkleidung arbeitet das Förderband auf Hochtouren. Unter Tage, in 500 Metern Tiefe, schuften bis heute Bergarbeiter in den Kohleflözen - so wie sie es schon seit über 80Jahren tun. "Arktikugol", das russische Bergbauunternehmen auf Spitzbergen, ist so aktiv wie eh und je. Das Förderband transportiert die Kohle, die in der Grube abgebaut wird, zur Weiterverarbeitung in diese Halle, dort drüben. Das Gebäude, das Sie hier sehen, ist frisch restauriert. Bald soll die gesamte Anlage saniert werden. Alexej Tagirov versteht eigentlich nicht viel vom Bergbau. Der junge Russe mit dem lässigen Outfit aus Baseballkappe und Skijacke ist vor einem Jahr als Zahnarzt in den Dienst von Arktikugol getreten: Die Kohlemine wirbt jetzt in ganz Russland mit passablen Gehältern und moderner Geräteausstattung um junge Mediziner für das unternehmenseigene Krankenhaus. Darum hegt Alexej keinen Zweifel daran, dass auch das marode Erscheinungsbild der Förderanlagen schon bald der Vergangenheit angehören wird. Keine Ahnung, ob das alles hier aus den 60-er oder 70-er Jahren stammt. Ich weiß nur, dass es komplett ausgetauscht werden soll - aber sowas geht natürlich nur Schritt für Schritt. Im Frühjahr soll neue Technik aus Deutschland geliefert werden - die Gleise und die Zugmaschinen für die Loren werden erneuert. Hier wird gerade eine Menge Geld investiert - es geht voran! Barentsburg steht vor einer Zeitenwende. Noch pufft ein Schaufelbagger, der eindeutig aus der Sowjetära stammt, schwarze Qualmwolken in die Polarluft. Seit den 1930-er Jahren lebt das russische Bergarbeiterstädtchen in selbst gewählter Abschottung - als Insel des "real existierenden Sozialismus" inmitten der arktischen Einöde. Die Einwohner sprechen bis heute weder norwegisch noch englisch, und mit der norwegischen Krone kann man nur in dem Hotel und in der Valuta-Bar bezahlen. Auf dem zentralen Platz steht bis heute eine Lenin-Büste, und ein Denkmal verkündet: "Unser Ziel ist der Kommunismus". Alexej nimmt das alles mit Humor. Denn Kuriositäten ziehen Touristen an. Ab März, bei einsetzendem Tageslicht am Ende der Polarnacht, werden die Schneemobil-Kolonnen aus dem 55 Kilometer entfernten Longyearbyen kommen, und das Städtchen mit Motorlärm und fremd klingenden Sprachen aus dem Winterschlaf reißen. Dem Bergbauunternehmen Arktikugol, dem die Stadt gehört, können die zusätzlichen Einnahmen nur recht sein. Der Hotelkomplex hat seine Runderneuerung bereits hinter sich, erzählt Alexej. Und auch einige Wohnhäuser ziehen mit ihren nagelneuen, kunterbunten Fassaden die Blicke auf sich. Dieses Gebäude, dieses und das da - die haben gerade neue Fassaden bekommen. Die Bewohner müssen zeitweise ausziehen. Ihnen wird eine andere Wohnung zugewiesen, bis die Häuser von innen renoviert sind. Dafür bekommen sie eine neue Inneneinrichtung und neue Badezimmer. Warum investiert Russland soviel Geld für ein 400-Seelen-Dorf mit einer eigentlich eher unrentablen Kohlegrube, mitten im Niemandsland? Das hohe Engagement hat Tradition. Alexej deutet auf einen wuchtigen Bürokomplex mit frisch erneuerter Backsteinfassade. Es ist das russische Konsulat auf Spitzbergen: Seit Sowjetzeiten leistet sich die Regierung in Moskau für ein paar hundert Staatsbürger eine eigene Auslandsvertretung Das Konsulat haben sie auch gerade frisch renoviert. Früher wollte man damit vor dem Westen das Gesicht der Sowjetunion zeigen. Das ist heute nicht anders. Und es betrifft sämtliche Gebäude. In Longyearbyen stehen zweistöckige Häuschen aus Holz und Kunststoff. In Barentsburg aber ist alles aus Stahlbeton und Ziegel, alle Gebäude sind massiv. In einem der Wohnhäuser, das die Kohlemine für ihre Mitarbeiter renoviert hat, lebt Alexejs Freund Jaroslav. Sein Ein-Zimmer-Appartement ist quadratisch und winzig - aber modern eingerichtet und tipptopp aufgeräumt. Der junge Ukrainer hat müde Augen, doch seine Freude über den überraschenden Besuch ist offensichtlich. Jaroslav Prikolota hat ein junges Gesicht und einen drahtigen Körper. Gerade ist er von seiner Schicht unter Tage heimgekehrt. Da unten ist jetzt vieles automatisiert - trotzdem ist die Arbeit in der Kohlegrube nicht leicht. Das sagt ja schon das Wort: ‚Kohlegrube' - es klingt nach harter körperlicher Arbeit. Aber mir gefällt mein Job - hier auf Spitzbergen - noch besser als zuhause in der Ukra-ine. Ich komme aus dem Donbass, dort habe ich sieben Jahre lang als Elektriker in verschiedenen Kohleminen gearbeitet. Nur hatte ich dort am Ende des Monats nie Geld übrig. Hier, in Barentsburg, kann ich sparen. Für eine Wohnung wie diese müsste ich in meiner Heimatstadt Lugansk an die 10 000 Rubel zahlen, umgerechnet gut zweihundert Euro. Hier kostet die Miete 3500 Rubel im Monat, das sind mal knapp 75 Euro. Ist also deutlich günstiger. Wenn er zu Schichtbeginn durch den Spitzbergener Permafrostboden in die Tiefe fährt, erzählt der 27-Jährige, dann ist es dort unten kühl - und nicht brütend heiß, wie in den Kohleflözen des ostukrainischen Donbass. Die Mine ist deutlich kleiner als jene, die er aus seiner Heimat kennt, allerdings technisch durchaus vergleichbar ausgestattet. Mit dem permanenten Unfallrisiko zu leben hat der junge Kohle-Kumpel längst gelernt. Nein, nicht die Arbeitsbedingungen haben ihn vor zwei Jahren aus seiner Heimat vertrieben, betont Jaroslav, sondern die Perspektivlosigkeit. Solange ich mich erinnern kann, passiert in der Ukraine immer nur Schlechtes. Ich bin das alles so leid - die Politik, die da betrieben wird, und auch das, was der Westen bei uns anstellt. Hier ist alles anders. Als ich vor zwei Jahren hier ankam, da erschien mir Barentsburg wie ein Stück übrig gebliebene Sowjetunion - wie irgendetwas Altertümliches. Aber heute glaube ich, dass Spitzbergen mit überhaupt nichts zu vergleichen ist. Wie soll ich das erklären? Vielleicht gibt es hier eine andere Energie. Diese Fjorde, diese Berge - die ganze Atmosphäre! Das ist so interessant. Das ist etwas Gutes. (aus:Ian McEwan:"Solar" / S.102/103): Der Anblick erinnerte an eine zerstörte Stadt, zwielichtig und lasterhaft: Schutthaufen, eingestürzte Türme, riesige Spalten. Sie hätten minus 28 Grad, erklärte Jan, das sei zu kalt, da könnten sie nicht erwarten, dass zum Beweis für die polare Erwärmung größere Teile aus dem Gletscher herausbrächen. Dann entdeckte jemand einen Abdruck im Schnee. Der Abdruck stammte natürlich von einem Eisbären und war noch ganz frisch. (...) Jan suchte mit seinem Feldstecher den Horizont ab. "Ah", sagte er ruhig, "wir sollten besser verschwinden." Erst als das Tier sich bewegte, war es deutlich zu erkennen. Etwa anderthalb Kilometer von ihnen entfernt. Ein Bär der gemächlich auf sie zu getrottet kam. - "Er hat Hunger", sagte Jan nachsichtig. "Auf die Schlitten, Leute." Seit der Klimawandel den Eispanzer über dem rohstoff-reichen nördlichen Meeresboden dahinschmelzen lässt, zieht die Arktis Wirtschaftsinteressen verstärkt auf sich. Forscher in den USA haben berechnet, dass der Anteil der Arktis an den weltweit vermuteten noch unentdeckten konventionellen Ressourcen dreizehn Prozent für die Sparte Erdöl beträgt und ca. dreißig Prozent für die Sparte Erdgas. Die logische Folge: Rohstoffkonzerne investieren inzwischen Milliardensummen in die geologische Forschung und neue Fördertechnologien auch rund um Spitzbergen. Das Experten-Team dort ist längst international zusammengesetzt, kommt aus vielen Ländern: Steil erheben sich die schneebedeckten Bergkuppen über dem Isfjord. Ein schneidender Wind peitscht die Wasseroberfläche zu Gischt, und lässt die Wellen an der felsigen Küste zerschellen. Es gibt wohl nur wenige Plätze auf der Welt, wo man Naturgewalt so unmittelbar erleben kann wie hier an der Westseite Spitzbergens - wo der mächtige Meeresarm der Barentssee tief ins Innere der Insel vorgedrungen ist. Reglos mustert der Geologe Karsten Piepjohn den Fjord, und lässt dabei sein graues, halblanges Haar vom eisigen Wind zausen. Spitzbergen ist für Geologen eigentlich wie so ein Lehrbuch. Vor allen Dingen über die letzten 500 Millionen Jahre. Dort ist also ein lückenloses Archiv von Sedimenten, die hier abgelagert worden sind - als Spitzbergen noch gar nicht hier gelegen hat. Als Spitzbergen noch in der Nähe vom Südpol gelegen hat. Normalerweise unternimmt der 56-Jährige seine Expeditionen im Auftrag der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe. Doch Spitzbergen hat den Geologen aus Hannover so in seinen Bann geschlagen, dass er - wie jetzt - sogar in seinem Urlaub hierhinfährt. Denn Spitzbergen ist also so eine kleine Inselgruppe, die aber sehr interessant ist. Man kann also ablesen, dass in den letzten 600 Millionen Jahren Spitzbergen etwa zwölftausend Kilometer vom Südpolbereich in seine jetzige Position am Nordpol gedriftet ist. Das kann man beispielsweise sehen an Fossilien. Wir haben aus dem Karbon vor 350 Millionen Jahren, haben wir Korallen. Das ist spannend, wenn man hier Fossilien findet, Korallen, und daneben ist ein Gletscher. Da fragt man sich auch: "Oh, was ist hier passiert? Korallen kommen eigentlich nur in den Tropen vor!". Als Festlandgeologe interessiert sich Piepjohn für die Erdkruste und für das, was ihr Aufbau über die Entstehung von Weltmeeren und Kontinenten verrät. Heute allerdings darf er sich bei seinen Erkundungen nicht allzu weit von dem Wochenendhaus entfernen, wo er bei Freunden zu Gast ist. Denn im Gegensatz zu den Einheimischen besitzt der Deutsche kein Gewehr - und die Gefahr, dass sich Eisbären auch in bewohnte Gegenden vorwagen, ist auf Spitzbergen allgegenwärtig. Dennoch wird der Geologe schnell fündig. Wenn man jetzt mal so einen Stein aufschlägt, wenn der aufplatzt, dann sind auf den Schichtflächen, wenn der Stein auseinandergebrochen ist, sieht man hier schon die Abdrücke von Blättern. Und das Erstaunliche ist: Das sind alles Bäume gewesen, Laubwälder - es gab Ulmen, es gab Haselnuss, es gab ‚Matasequoia', den Mammutbaum - das sind alles Wälder, oder Bäume, die wir heutzutage auch kennen - etwa wie bei uns in Deutschland. Auf der Arktisinsel Spitzbergen müssen einmal dichte Wälder gestanden haben. Vor 60 Millionen Jahren sind die Kohleflöze entstanden, die heute zu Spitzbergens wichtigsten Wirtschaftszweigen zählen. Solche Erkenntnisse stehen mehr denn je im Zentrum des internationalen Interesses. Denn das organische Material, das die dichte Vegetation von damals hinterlassen hat, hat sich im Laufe von Jahrmillionen in heute begehrte Rohstoffe verwandelt: in Kohle, Erdöl und Erdgas. Doch wo genau haben sich die wertvollen Energieträger abgelagert, und in welcher Menge? Die Rohstoffindustrie investiert Milliardensummen, um mehr darüber zu erfahren. Das öffentliche Interesse an der Arktis-Geologie wächst immens, seit das Abschmelzen des Eispanzers eine großflächig angelegte Erkundung der Sedimente überhaupt erst möglich macht. Bislang, glaubt der Geologe Piepjohn, ist die Faktenlage eher dünn. Man weiß noch nicht viel über die Arktis. Was die Energie-Rohstoffe angeht, also vor allen Dingen Erdgas und Erdöl, wird geschätzt vom United States Geological Survey, dass hier oben noch 25 Prozent der nicht entdeckten Reserven liegen. Aber das ist eine mehr statistische Rechnung. Man hat ähnliche Gebiete, die in der Arktis vorkommen mit anderen Gebieten weltweit verglichen, und hat dort gesehen, wie dort die Situation ist. Und hat indirekte Rückschlüsse gemacht. Also ich bezweifle diese Zahl. Man kann erst wirkliche Abschätzungen machen, wenn man weiß, wie die Geologie dort aussieht. (aus:Ian McEwan:"Solar" / S.104/105): "Er zog den Choke, obwohl er wusste, dass das bei warmem Motor ein Fehler war. Er versuchtes noch einmal. Nichts. Er roch Benzin. Der Motor war abgesoffen, er hatte den Tod verdient. Mittlerweile waren alle anderen weg, auch der Führer; Beard nahm sich vor, dieses Pflichtversäumnis Pickett zu melden, oder dem König von Norwegen. Die Aufregung schlug sich wie üblich als gefrierender Nebel auf seiner Schutzbrille nieder. (...)Vernünftigerweise musste er davon ausgehen, dass der Bär immer noch auf ihn zukam, doch offenbar hatte er dessen Schnelligkeit unterschätzt, denn in diesem Augenblick traf ihn ein heftiger Schlag auf die Schulter. Statt sich umzudrehen und sich das Gesicht zerfetzen zu lassen, zog er in Erwartung des Schlimmsten die Schultern hoch.(...) Aber dann drang die Stimme des Führers zu ihm durch. - "Lass mich mal." - Beard hatte den Schalter für die Scheinwerfer erwischt. Der Motor sprang bei der leisesten Berührung an." Wo früher einst blanke, starre Eiswüste war, soll schon bald ein Verkehrsnetz neuer Schifffahrtsrouten für eine reibungslose Versorgung künftiger Förderplattformen und zügigen Warenverkehr sorgen - so zumindest sind die hochfliegende Hoffnungen der der in diesen Wirtschaftssektoren engagierten Unternehmen. Doch Eingeweihte wissen: Die Arktis ist ein tückischer Industriestandort. Wer hier tätig sein will, ist für die Navigation seiner Schiffe auf sekundenaktuelle Daten angewiesen, die auch in der winterlichen Polarnacht verlässlich Auskunft geben müssen über Wetterverhältnisse, driftende Eisberge und bevorstehende Notfälle. Auf Spitzbergen, nahe Longyearbyen, steht dazu die - nach eigenen Angaben - weltgrößte Satellitenstation für die maritime Navigation. Nichts als weiß. Der Blick aus der Windschutzscheibe zeigt Schneetreiben und dichten Nebel, die Straßenführung ist unter einem milchigen Strudel verschwunden. Schon melden sich die Kollegen von der Station. Doch noch geht es voran: Meter um Meter quält sich der Minivan von Torgeir Prytz durch die Neuschnee-Verwehungen. Es geht die Serpentinen herauf, zu einem Bergplateau nahe Longyearbyen. Dort hat die Satellitenstation SvalSat ihr weitläufiges Betriebsgelände. Nichts zu sehen! Und Lawinengefahr herrscht auch noch! Das muss jetzt nur noch eine Stunde so weiterschneien, dann liegt der Schnee zwei Meter hoch - das alles kann auf die Straße rutschen! Und dazu dieser Wind - wow, das könnte noch eine echte Herausforderung werden. Dieses Schneetreiben! Wenn das so weitergeht, müssen wir den Hubschrauber der Station benutzen. Das machen wir immer, wenn die Straße wegen Lawinengefahr geschlossen ist. Die Unebenheiten des Schneepfades lassen den schlanken Norweger mit dem halblangen Haar in seinem Fahrersitz auf- und abhüpfen. Vor acht Jahren ist der 37-Jährige mit seiner Familie nach Spitzbergen gezogen. Seitdem arbeitet er als Ingenieur bei der norwegischen Hightech-Holding "Kongsberg", die die Öl- und Gasindustrie zu ihren Kunden zählt, und auch für die Marine und die Rüstung arbeitet. Plötzlich schimmern vor der Windschutzscheibe rötliche Lichter durch den Nebel. Unter jeder dieser Warnleuchten sieht man, weiß in weiß, die schemenhaften Konturen von riesigen, kreisrunden Konstruktionen, die wie überdimensionale Fußbälle auf einem verschneiten Feld liegen. Das sind die Schutzhüllen, mit denen wir unsere Antennen vor der arktischen Witterung schützen, wir nennen sie "Radom". Auf diese Weise können wir das ganze Jahr über die Satellitendaten aufnehmen. Ohne Radom könnten wir mit unseren Antennen vielleicht nur, sagen wir, 70 Prozent der Zeit arbeiten. Hier, auf Spitzbergen, geht es im Wesentlichen immer nur um das eine: Die Technik und sich selbst vor dem Wetter zu schützen. In den Großraumbüros sitzen die Mitarbeiter konzentriert vor ihren Monitoren. SvalSat ist eine der größten Empfangsstationen für Satellitendaten weltweit. Sie liefert Informationen an die Weltraumbehörde NASA und an große internationale Wetterdienste. Doch warum hat SvalSat die Antennen ausgerechnet an einem so unwirtlichen Ort wie dem Nordpol aufgebaut? Der Satellit ‚Apollo' umfliegt die Erde in einer Höhe zwischen sechshundert und eintausend Kilometern, immer auf der Route Nordpol - Südpol, und das etwa vierzehn Mal am Tag. Wenn wir unsere Station am Äquator hätten, dann würden wir den Satelliten nur zweimal am Tag sehen. Aber weil wir unsere Stationen in der Arktis und in der Antarktis eingerichtet haben, halten wir die ganze Zeit Kontakt zu dem Satelliten, während er unseren Planeten umrundet. Und eben deswegen arbeiten wir so hoch im Norden. Umwelt-Monitoring, Unfallverhütung und jede Art von Überwachung: Im Server-Raum laufen die Informationen über Wetter, Seewind und Eisbewegung zusammen, die für Rohstoffförderung und Schifffahrt unverzichtbar sind. Sollte sich je eine Öl-Havarie anbahnen, dann so hofft der Ingenieur Prytz, dass die satellitengestützten Warnsysteme das Schlimmste verhindern helfen. Sollte es tatsächlich zu einer Ölkatastrophe in der Arktis kommen - die Havarie eines Öltankers oder ein Rohr-Leck - dann kann unsere Satellitenstation genaue Daten darüber liefern, wohin das Öl sich verteilt. Wir können auch die Bewegung von Eisbergen messen, und stellen den Schiffen diese Informationen zur Verfügung. Aber ehrlich gesagt: Ich persönlich bin wirklich skeptisch, ob wir hier oben tatsächlich Schiffe fahren lassen sollten. Die Natur in der Arktis ist dermaßen verletzlich - da wird alles, was schief geht, sofort zu einer Riesen-Katastrophe. Draußen hat das Schneegestöber nachgelassen. Jetzt kündigt milchiges Dämmerlicht das Ende des Polarwinters an. Ein weißes Wetterschutz-Radom ragt mit der Höhe eines zweistöckigen Gebäudes in den grauen Himmel, und lässt den Ingenieur an seinem Fuße winzig erscheinen. Im Inneren der Kuppel ragt eine riesige Antenne auf, deren Empfangsschüssel sich leicht nach Westen in den Himmel neigt. Durch den massiven Antennen-Mast, erzählt Prytz, verlaufen Glasfaserkabel, die die Satellitendaten an den SvalSat-Serverraum weiterleiten. Es dauert nur Minuten, bis die Informationen aus dem Weltraum empfangen, verarbeitet, und an die Großkunden in allen Teilen der Welt weitergeleitet sind. Unsere Antennen sind vermutlich ein bisschen größer als diejenigen, die Sie auf Ihrem Hausdach haben: Diese hier hat einen Durchmesser von 13 Metern. Sehen Sie, wie sie sich langsam bewegt? Sie zielt immer direkt auf den Satelliten, der über uns im Weltraum fliegt. Die Antenne verfolgt ihn. Jetzt gerade kommuniziert sie mit einem Satelliten, der Daten über Wind, Seegang und Wasseroberflächen-Temperatur übermittelt, als Teil des Umwelt-Monitoring. Genau das sind die Daten, die wir hier erheben. Plötzlich gerät die riesige Konstruktion in Bewegung. Gemächlich dreht sich die Antenne, und kippt ihre Schüssel nach oben. Das ist die Leerlauf-Position: Die Antenne zeigt direkt nach oben. So bleibt sie erstmal stehen. Ab jetzt wird es etwa zwei Minuten dauern, schätze ich, bis der nächste Satellit Kontakt mit uns aufnimmt. Dann richtet sich die Antenne für den Datenempfang neu aus. Die Daten, die SvalSat liefert, sind Weg weisend für die Zukunft der Arktis. Ist die industrielle Erschließung technisch möglich? Ist sie wirtschaftlich sinnvoll und ökologisch vertretbar? Das sind große Fragen, für deren Risikoabwägung Prytz und seinen Kollegen die Informationen bereitstellen. Und doch passiert es dem Ingenieur immer wieder, dass er sich hier, auf dieser Inselgruppe inmitten des Eismeeres, sehr klein vorkommt. Arbeiten auf einer Station wie dieser hier, in einer Umgebung wie dieser - das ist der helle Wahnsinn! Drinnen beherrschst du die modernste Hightech, die unsere Zivilisation zu bieten hat. Und dann machst du die Tür auf, trittst einen einzigen Schritt nach draußen, und stehst mitten im Niemandsland. In völliger Wildnis. Jedes Mal von neuem ist es ein seltsames Gefühl, diesen Schritt zu tun. (aus:Ian McEwan:"Solar" / S.110/111): "Ansonsten hörte Beard zu und trank. Nach zwei oder drei Gläsern Weißwein ging der Rote problemlos runter wie Wasser, zumindest am Anfang. Es waren wiederkehrende Gesprächsthemen - manche wurde wie im Kanon vorgetragen, wobei ein Einsatz den anderen jagt; der Golfstrom werde versiegen, die Europäer in ihren Betten erfrieren, das Amazonasgebiet werde zur Wüste, (...) im Jahr 2085 sei die Arktis im Sommer eisfrei und der Eisbär ausgestorben. Beard hatte all dies Prophezeiungen schon oft gehört und glaubte kein Wort. Und wenn er daran geglaubt hätte, hätte es ihm keine Angst gemacht. Ein kinderloser Mann, vor dem Scherbenhaufen seiner fünften Ehe, konnte sich ein Quentchen Nihilismus leisten. Die Erde käme auch ohne Patrice und Michael Beard zurecht." Rund 40.000 Touristen besuchten im vergangenen Jahr die Inselgruppe, die selbst insgesamt nicht einmal 3000 ständig ansässige Einwohner zählt. Und die Tendenz zeigt nach oben, ein Tourismus der besonderen Art scheint sich dauerhaft etablieren zu können. Denn: Das Straßennetz von Longyearbyen umfasst kaum 40 Kilometer, und sonstige Verkehrsanschlüsse gibt es nicht - weder zur russischen Bergarbeitersiedlung Barentsburg noch zur Geisterstadt Pyramiden, auch nicht zur norwegischen Kohlegrube in Svea oder zur wissenschaftlichen Forschungsstation in NyAlesund. Genau das aber macht den Motorschlitten zu einem alltäglichen Verkehrsmittel der Wahl - oder: zu einem exotischen Urlaubsvehikel: Schwere Schneestiefel, doppelte Handschuhe und ein astronautenähnlicher Kälteanzug, dazu ein Motorradhelm mit wärmender Gesichtsmaske: All das ist unverzichtbar für eine Fahrt mit dem Motorschlitten. In Spitzbergens Verwaltungszentrum Longyearbyen stehen sie zu Hunderten als Leihgeräte: Geschosse mit motorradähnlichen Karossen und Tachos, die auf bis zu 150 Stundenkilometer klettern können. Schlitten-Führer Christian Bruttel greift nach der Schreckschusspistole, und schultert sein Gewehr: Denn draußen, in der Eiswüste, herrscht Eisbärengefahr. Es gibt mehr Eisbären als Einwohner - gute 3000, schätzt man. Und das bedeutet für uns, dass die einfach immer und überall irgendwo durchspazieren können. Auf Schneemobilen ist man, sage ich mal, relativ sicher, weil erstens die Dinger Lärm machen, und die Eisbären haben überhaupt kein Interesse daran. Im Dunklen werden die uns von weitem kommen sehen und hören und sehen, mit unserem Licht und unserem Lärm. Und das Weite suchen. Der junge Deutsche kommt eigentlich aus dem Schwarzwald. Hier, in Longyearbyen, hat der blonde Endzwanziger mit der hünenhaften Gestalt einen einjährigen Studiengang zum "Arctic Nature Guide" absolviert, seitdem verdient er sein Geld mit Motorschlitten-Führungen: Eine umsatzstarke Touristenattraktion, erzählt Christian - sei es als Sportgerät für waghalsige Parcours-Rennen, sei es als Transport-Vehikel für Naturerlebnisse in abgelegenen Regionen. Geschichten, Erzählungen abschmelzende Gletscher, abbrechende Gletscher, Klimawandel - wie lange auch immer diese Natur noch anzusehen ist, wie sie jetzt noch vorhanden ist - ich glaube, das bewegt viele Menschen, hierhochzukommen, und sich das anzuschauen. Solange sie es noch können. Schon leichter Druck auf den handbetriebenen Gashebel läßt den Motorschlitten nach vorn schießen. Wo das grell erleuchtete Stadtgebiet endet, verschwindet die arktische Landschaft im Dunkel der Polarnacht. Für die Strecke zwischen Longyearbyen und Barentsburg - per Luftlinie gute 55 Kilometer - plant Christian zweieinhalb Stunden. Es ist eine wilde Jagd durch die Finsternis. Der Motor dröhnt, der Lenker vibriert. Das Rücklicht des Schlittenführers gibt die Richtung vor, ansonsten ist nur das zu sehen, was gerade im Lichtkegel des eigenen Frontscheinwerfers liegt. Mal tritt neben der Fahrspur die Silhouette einer Eiswand aus der Dunkelheit hervor, dann zeichnen sich die schroffen Abhänge eines Canyons ab. Die Weite der Ebene kann man nur erahnen. Jetzt stoppt Christian den Schlitten, und richtet sein Frontlicht auf einen riesigen, glitzernden Eishügel. Eine Art Eisvulkan, oder auch Quelle, die selbst im tiefsten Winter frisches Wasser an die Oberfläche bringt. Ein Phänomen, das man nur aus der Hocharktis kennt. Man braucht Permafrostboden, und relativ hohe Berge, die dieses Tal hier eingrenzen, und dann ... - ich mach mal den Motor aus ... und dann hat man das Phänomen, dass das Wasser, das aus den Bergen runter ins Tal kommt, in den Permafrostboden einsinkt, und dort drinnen ganze Seen bildet, unterirdisch, und aufgrund der hohen Druckverhältnisses nicht friert. Und da immer neues Wasser fließt, sich Wege sucht, um diesem Druck auszuweichen. Und an die Oberfläche zurückkommt. Und dadurch entstehen diese Berge. Dann schweigt der Schlittenführer. Jetzt gibt es nichts mehr, das die tiefe Ruhe der Arktis stören könnte, außer einem leichten Wind. Bei jedem Schritt bringt der Schnee ein Knirschen hervor, das sich weit in die Ebene fortzupflanzen scheint. Am Himmel hat sich ein milchiger Streifen gebildet, der auseinanderrinnt, und erneut zusammenfließt zu einem grünlich schimmernden Licht. ... und über uns Nordlichter - was soll man da sagen... Also, schöner geht es eigentlich nicht. Die auf Spitzbergen verbrachten Jahre haben Christian zum Arktis-Fan gemacht. Doch die klirrend kalten Winter sind seltener geworden. Wenn die Temperaturen, wie so oft in den vergangenen Jahren, nur noch bis knapp unter den Nullpunkt sinken, dann herrscht Lawinengefahr. Manch schöne Strecke durch die raue arktische Landschaft droht unbefahrbar zu werden, weil die Eisdecke die Motorschlitten auf den Fjorden nicht mehr trägt, erzählt Christian. Und zur Hauptsaison um die Osterzeit werden Autobahn-ähnliche Hochgeschwindigkeitsstrecken dort verlaufen, wo jetzt noch wilde Naturpfade sind. Das ist immer dieser Zwiespalt zwischen Arbeit und Umweltschutz. Und zwischen Belästigung durch Massentourismus und finanzieller Sicherheit, die einem dadurch doch gewährleistet wird. Ja, was soll man da sagen. Man hört es ja schon im Hintergrund - wenn da ein Scooter vorbeifährt, dann ist es laut. Und hinter uns war mal die Nordlicht-Beobachtungstation, die hier dann irgendwann geschlossen werden musste, weil zu viele Schneemobile durchfahren, die mit ihren Lichtern sozusagen die feinen Instrumente kaputt machen. Doch Reisezeit ist knapp: Die Fahrt muss weitergehen. Noch einmal greift Christian nach der Schreckschusspistole, die er zum Eisbärenschutz dabei hat. Dabei ist klar: Wenn hier tatsächlich - irgendwo in der Schwärze der Polarnacht - ein Bär unterwegs sein sollte: In dem Höllenlärm der Dieselmotoren würde sein Gebrüll nicht einmal zu hören sein. Global Village im Ewigen Eis - Spitzbergen: Von der Walfänger-Insel zum Mekka der Arktisforschung - Das waren die "Gesichter Europas" an diesem Samstag. Eine Sendung mit Reportagen von Andrea Rehmsmeier. - Die Literaturauszüge stammen aus dem 2010 im Zürcher Diogenes-Verlag erschie-nenen satirischen Roman "Solar" von Ian McEwan, aus dem Englischen ins Deutsche übertragen von Werner Schmitz. Gelesen wurden sie von Hendrick Stickahn. Musik und Regie: Babette Michel. Ton und Technik: Christoph Rieseberg und Anna D'hein - Und am Mikrophon verabschiedet sich Robert Baag. ************ 2