COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Forschung und Gesellschaft 13.6.2013, 19.30 Uhr Verwirrt, unkonzentriert, dement Das Risiko der Narkose von Julia Beißwenger Verwirrtheitszustände nach Operationen sind für Ärzte nichts Neues, jetzt aber zeigen Studien, dass Delirien und Halluzinationen nach einer Narkose häufiger auftreten als bisher angenommen. Zudem scheinen Operationen auch langfristig die Hirnleistung zu beeinträchtigen. Anmoderation: Früher waren operative Eingriffe für Patienten mit fürchterlichen Schmerzen verbunden, denn es gab keine Narkosemittel, während ein Arzt etwa einen Zahn zog, einen Tumor entfernte oder gar ein Körperteil amputierte. In der ersten Hälfte des 19ten Jahrhunderts schließlich experimentierten Ärzte mit der betäubenden Wirkung von Lachgas und Äther. Der US-amerikanische Zahnarzt, William Thomas Green Morton, demonstrierte im Oktober 1846 vor Ärzten und Studenten (am Massachusetts General Hospital in Boston) die Schmerz ausschaltende Wirkung des Schwefeläthers, während er einen jungen Mann einen Tumor am Hals entfernte. Dieses Ereignis gilt als Geburtsstunde der modernen Anästhesie. Sie ist heute aus der Medizin nicht mehr wegzudenken. Allerdings häufen sich alarmierende Studien, die zeigen, dass Operationen unter Vollnarkose das Hirn des Patienten schädigen können. Dabei kann es zu bleibenden Hirnleistungsstörungen kommen, die manchmal sogar eine Demenz auslösen, sagen Ärzte unter anderem am Virchow Klinikum in Berlin. Sie erforschen die Wirkung von Operationen und Narkosemitteln auf das Hirn. Julia Beißwenger hat mit den Wissenschaftlern gesprochen und ihnen bei der Arbeit zugesehen. Beitrag: O-Ton (1) Edith Weiß-Gerlach und Annegret Mayr: (Edith Weiß-Gerlach:) Also Frau Mayr, ganz entspannt, so, Sie kriegen eine Reihe an Wörtern gezeigt und ich würde hinterher nachfragen, an wie viele Wörter Sie sich noch erinnern. Autorin: Annegret Mayr sitzt in einem Zweibettzimmer im Berliner Virchow Klinikum. Die 71jährige ist hier, um an ihrer linken Schulter operiert zu werden. Eigentlich ein Routineeingriff mit Vollnarkose. Doch bevor die Patientin operiert wird, absolviert sie, mit Hilfe der Psychologin Edith Weiß-Gerlach, verschiedene Gedächtnis- und Konzentrationstests. O-Ton (2) Edith Weiß-Gerlach und Annegret Mayr: (Annegret Mayr:) Oh, meine Gedächtnisleistungen sind nicht mehr so gut, finde ich. Deswegen war ich ja auch froh, dass ich aufgehört hab zu arbeiten. (Edith Weiß- Gerlach:) Ähm, Sie können das so gut lesen oder soll ich es ein bisschen näher ran schieben? (Annegret Mayr:) Das kann ich gut lesen. (Edith Weiß-Gerlach:) Dann fangen wir mal an. Autorin: Annegret Mayr konzentriert sich auf die Wortfolgen, die nacheinander auf einem Computerbildschirm erscheinen. Sie soll möglichst schnell Worte erinnern und dreidimensionale Formen oder Farben erkennen. Die Psychologin stoppt die Zeit. Regie: O-Ton unter letzten Satz von Autorin legen und dann aufdrehen O-Ton (3) Annegret Mayr, Edith Weiß-Gerlach, assistierender Arzt: (Annegret Mayr:) .... blau, blau, grün, rot. (Edith Weiß-Gerlach:) Gut hervorragend. (Assistierender Arzt:) 20 Sekunden. Edith Weiß-Gerlach: Na, das ist doch super. So, der nächste Test hat drei Durchgänge und ist ein bisschen anders, .... Regie: O-Ton ausblenden Autorin: Diese Gedächtnis- und Konzentrationstests vor einer Operation sind Teil einer bereits im März 2009 gestarteten Forschungsreihe am Berliner Virchow Klinikum. Psychologen und Anästhesisten wollen herausfinden, inwiefern chirurgische Eingriffe, bei denen eine Vollnarkose nötig ist, die Hirnleistung der Patientinnen und Patienten negativ beeinflussen. Und zwar langfristig. Um einen Vergleich zu haben testen die Forscher die Gedächtnis- und Konzentrationsfähigkeit von Patienten vor und nach dem Eingriff. Und zwar in einem festgelegten Rhythmus. Das erste Mal sieben Tage nach der Operation, dann drei Monate später und noch mal nach einem Jahr. Nur so lässt sich mit Sicherheit sagen, ob und wenn ja, welche Folgen eine Vollnarkose hat. Denn die Hinweise häufen sich, dass eine Vollnarkose gefährlicher ist, als lange angenommen. Abgesehen von den unangenehmen Nachwirkungen wie Übelkeit, Erbrechen und Kopfschmerzen, kann sie nicht nur kurzzeitige Verwirrtheitszustände direkt nach der Operation verursachen, sondern auch längerfristige, anhaltende Schäden: Gedächtnisverlust oder andere geistige Störungen. Finn Radtke. Anästhesist am Berliner Virchow Klinikum. O-Ton (4) Finn Radtke: Es ist nicht nur in Deutschland, sondern eigentlich in allen Ländern, in USA, in Frankreich oder England, dass dieses Thema erst in den letzten Jahren wieder vermehrt Zuwendung gefunden hat. Früher war man froh, wenn man überhaupt die Narkose und die OP gut überstanden hat und heute ist es so, dass natürlich gerade bei diesen vielen Operationen, die durchgeführt werden und da die anderen Faktoren extrem sicher geworden sind, dass man neben dem Überleben noch andere berechtigte Anliegen hat, dass man danach dieselbe Hirnleistung hat, wie man es vorher hatte. Autorin: Weltweit gibt es heute gleich mehrere Forschungszentren, an denen mögliche Hirnleistungsstörungen nach Operationen mit Vollnarkose untersucht werden: im US-amerikanischen Nashville, im kanadischen Montreal, an der Harvard Universität in den USA und in Deutschland am Virchow Klinikum. Erste Ergebnisse liegen schon vor und sie sind alarmierend. Edith Weiß-Gerlach. O-Ton (5) Edith Weiß-Gerlach: Gerade ältere Patienten, da ist es teilweise so, dass bis zu 70 Prozent so eine Woche nach der Operation Schwierigkeiten haben, die gleiche Gedächtnisleistung zu bringen wie vorher. Das verändert sich wieder. Aber wir wissen, nach drei Monaten sind es etwa noch 9 Prozent und auch noch nach einem Jahr ist das geblieben. Atmo Musik Autorin: Neun Prozent aller Patienten haben demnach kognitive Defizite nach einer Vollnarkose. Junge wie alte. Sie leiden unter Vergesslichkeit und Konzentrationsschwächen. Besonders gefährdet sind stark unter- oder übergewichtige Menschen, Diabetiker, Patienten mit Bluthochdruck oder schweren Vorerkrankungen und Raucher. Auch das Alter ist ein Risikofaktor. Bei jüngeren Patienten fällt eine gestörte Hirnleistung im Alltag vor allem dann auf, wenn die Betroffenen an ihre Leistungsgrenzen gehen. O-Ton (6) Finn Radtke: Wenn Sie ausgebildete Pianistin wären und Sie hätten gerade eine kleine Operation gekriegt, nichts Dramatisches aber in Vollnarkose, würden Sie es wahrscheinlich am ehesten beim Klavierspiel merken. Wenn Sie eine Mathematikerin wären, hoch entwickelt und Sie sind gerade absolut an der Spitze der Forschung, dann würden Sie wahrscheinlich auch dezente Defizite sehr viel schneller wahrnehmen als jemand, der sozusagen immer nur bei 60 bis 70 Prozent läuft, weil seine oberen 30 Prozent, die würden ihm in dem Sinne ja gar nicht so fehlen. Autorin: Bei älteren Menschen dagegen haben die kognitiven Fähigkeiten oft schon nachgelassen. Wenn dann noch eine Operation mit Vollnarkose hinzukommt, finden sich manche von ihnen im Alltag nur noch schwer zurecht. Annegret Mayr hat diese Erfahrung mit ihrer Mutter gemacht, nachdem diese an der Hüfte operiert worden war. O-Ton (7) Annegret Mayr: Ich war immer ein bisschen erschrocken, zwischendurch hörte sie einfach mal auf in ihren Gedanken und meine Mutter hatte mal ein unwahrscheinliches Zahlengedächtnis und ich hab gemerkt, dass sie mit Zahlen gar nicht mehr gut umgehen konnte. Ich sag: Mütterlein, bald hab ich Geburtstag und fing sie dann eben an: Ach wie alt wirst du eigentlich? Da sag ich: Das weißt du aber doch! Dann haben wir beide gerechnet und dann sagte sie: ,75 oder so.` Das war aber bitte schön vor 6 Jahren, da wurde ich noch nicht 75! Seitdem habe ich meine Mutti auch nie wieder gefragt, wie alt ich werde. Ich hab dann irgendwann gelernt, sie zu nehmen wie es dann ist. Autorin: Annegret Mayr selber hat ihre Schulteroperation und die dazugehörige Vollnarkose gut überstanden. Ohne langfristige negative Folgen. Anders ihre Mutter. Sie wurde dement. Eine Folge der Vollnarkose? Ja, das zumindest legen neuste Studien nahe. Doch was sind die Ursachen solcher dramatischer Folgen? Bisherige Forschungsergebnisse zeigen, dass eine lokale oder regionale Betäubung das Gehirn kaum belastet. Medikamente dagegen, die das Bewusstsein des Patienten beeinflussen, fördern offenbar den Tod von Hirnzellen. Dies gilt insbesondere für alle bisher üblichen Vollnarkosemittel. Andererseits ist die Vollnarkose oft nicht alleine für kognitive Schäden verantwortlich, erklärt die Anästhesistin Claudia Spies. Die Operationswunde selber bewirkt eine Entzündung im Körper, die zu einer Infektion im Gehirn führen kann. O-Ton (8) Claudia Spies: Wenn ich den Bauch zum Beispiel aufmache, dann habe ich einen Entzündungsschmerz, eine Entzündungsreaktion und die führt dazu, ohne dass Bakterien jetzt eine Rolle spielen, dass das Hirn stärker beansprucht wird und dass man damit automatisch Nervenschäden setzen kann. Autorin: Wie schnell solche Schäden entstehen, hängt vom Immunsystem des Patienten ab. Funktioniert es gut, antwortet der Körper mit einer Gegenreaktion, die verhindert, dass sich eine Entzündung dauerhaft im Hirn festsetzt. Bei kranken und alten Menschen scheint dieser Schutz nicht mehr so gut zu funktionieren. Das zumindest legen Tierversuche nahe: Gehirne alter Tiere zeigten selbst nach einer kleinen Operation Entzündungsanzeichen, die junge Artgenossen nicht hatten. O-Ton (9) Clarissa von Haefen: Wir haben Tiere in Narkose versetzt und haben einen Bauchschnitt durchgeführt. Autorin: Clarissa von Haefen. Die Biotechnologin erforscht, welche Medikamente das Immunsystem während einer Operation unterstützen. O-Ton (9a) Clarissa von Haefen: Und Medikamente, die wir da genommen haben, Acytolcolinesterasehemmer, können diese Entzündung, die man nicht haben möchte, reduzieren. Autorin: Im nächsten Schritt soll jetzt geklärt werden, ob diese Medikamente dann auch bei den Tieren Hirnleistungsstörungen verhindern helfen. Noch aber sind die Ergebnisse nicht auf den Menschen übertragbar. Insofern ist momentan ein anderer Forschungsansatz vielversprechender: Es geht um die Narkosetiefe. Denn je tiefer die Bewusstlosigkeit über einen langen Zeitraum, desto wahrscheinlicher sind kognitive Störungen im Anschluss an den Eingriff. Das Forscherteam am Berliner Virchow Klinikum versucht daher, die Schlaftiefe möglichst gering zu halten. Ein spezielles Messgerät misst während der Operation die Hirnströme des Patienten und zeigt die Messergebnisse auf einem Monitor an. Der Anästhesist weiß damit immer, wie tief die Narkose gerade ist. O-Ton (10) Finn Radtke: Wir konnten in einer sehr großen Studie zeigen, dass eine Narkose, die mit diesem Monitor durchgeführt wurde, dazu geführt hat, dass langfristige Hirnleistungsstörungen herabgesetzt wurden. Als Konsequenz aus unserer Studie haben wir das sofort klinikweit in jedem Operationssaal eingesetzt und das machen wir jetzt seit einem halben Jahr ungefähr. Regie: Atmo (a) von Op-Geräuschen vor Narkose, alleine stehen lassen, dann unter Autorin legen Autorin: 9 Uhr morgens. Auf dem Operationstisch im Virchow Klinikum liegt eine junge Frau. Seit einem Unfall ist ihr linker Arm steif. Mit der Operation wollen die Ärzte den Arm wieder lockern. Claudia Spies bereitet die Vollnarkose vor. O-Ton (11) Claudia Spies, Patientin, Schwester: (Claudia Spies:) Wann haben Sie denn zuletzt was getrunken? (Patientin sehr leise) Um zehn. (Claudia Spies:) Zehn. OK. Und Allergien auf irgendwas, Medikamente, Nahrungsmittel? Gar nichts. Sonst sehe ich auch in den Unterlagen nichts Auffälliges. Gut. Dann würden wir anfangen. (Schwester:) Hier ist schon mal das erste Schmerzmittel. (Claudia Spies:) Genau, kann sein, dass es ein bisschen schummrig wird im Kopf, sonst passiert nicht viel. Regie: Atmo unter Autorin weiterlaufen lassen Autorin: Rund eine Minute später gibt die Ärztin das Narkosemittel. Die Augen der Patientin werden schwer. O-Ton (12) Schwester und Claudia Spies: Denken Sie sich einen schönen Traum aus, ganz wichtig. Regie: Atmo unter Autorin weiterlaufen lassen Autorin: Während die junge Frau das Bewusstsein verliert, sinkt auf dem Monitor der Wert, der ihre Hirnströme angibt. Im Wachzustand liegt dieser Wert um die 100, beim normalen Schlaf um die 80. Menschen im Koma können einen Wert von 40 Punkten erreichen. Bei der Patientin dagegen bleibt der Zähler erst bei 14 stehen. O-Ton (13) Claudia Spies: Sie schläft jetzt ganz tief. Jetzt sind alle Atemreflexe praktisch erloschen. Sie atmet nicht mehr, der Lidreflex ist jetzt erloschen, das ist jetzt eine ganz tiefe Narkose. Atmo Musik Autorin: Zu Beginn einer Operation muss das so sein, damit die Ärzte einen Beatmungsschlauch legen können. Immer wieder prüft Claudia Spies die Anzeigen auf dem Monitor. Ist der Beatmungsschlauch gelegt, sorgt die Anästhesistin dafür, dass die Hirnaktivität der Patientin wieder steigt. Erst bei einem Hirnstromwert zwischen 40 und 60 beginnt die eigentliche Operation. Der künstliche Schlaf ist dann nicht mehr ganz so tief. Damit hofft man, das Gehirn zu schonen. Noch jedoch gehört der Monitor nicht zur Standartausrüstung von Krankenhäusern. O-Ton (14) Claudia Spies: Wenn man dieses Monitoring nicht hat, dann weiß man ja gar nicht, in welchem Bereich man ist. Und bei vielen älteren Patienten, ganz bestimmt, ist der Wert viel zu tief. Also es ist immer eine Frage der Dosis. Wir nehmen die Medikamente ständig weiter runter, im Moment braucht sie fast gar nichts mehr. Regie: Atmo unter Autorin weiterlaufen lassen Autorin: Die junge Frau auf dem Operationstisch bekommt von all dem nichts mit. Ihre Operation verläuft nach Plan. Doch die Anästhesistin kennt auch Notfälle. Bei einem ihrer Patienten versagte während der Operation das Herz. O-Ton (15) Claudia Spies (im OP): Ich hab reanimiert und war dann hinterher bei ihm. Es ging ihm auch gut und alles und er hat aber von diesem Erlebnis berichtet, was alles vorgefallen ist, alles. Der war dann irgendwo im Raum und hat das beobachtet. Und das war nicht falsch, was er berichtet hat, ist so vorgefallen, hat mich tief beeindruckt. Aber ich denke, das sind dann einfach Situationen, wo man es nicht erklären kann. Autorin: Solche Notfälle unter Narkose sind zum Glück selten. Nach rund drei Stunden kommt die Patientin in den Aufwachraum. Eine Schwester kümmert sich. O-Ton (16) Schwester Nadine: Ich bin Schwester Nadine und wenn irgendwas ist, heben Sie die Hand und rufen einmal laut. Können Sie die Augen aufmachen? Blutdruck kontrollieren wir regelmäßig und auch Atmung und Herz, ne? Regie: Atmo ausblenden Autorin: Die Patientin ist wach, doch ist schwer zu erkennen, ob sie begreift, was um sie herum geschieht. Im Aufwachraum entwickeln viele Menschen ein so genanntes Delir. Die meisten verhalten sich dabei ruhig, können sich jedoch nicht orientieren, wissen nicht wo sie sind und welcher Tag ist. Menschen, die unter einem Delir leiden, haben bis zu drei Monate nach dem Eingriff ein erhöhtes Sterberisiko. Bei ihnen ist die Wahrscheinlichkeit, auch später an anhaltenden Gedächtnis- und Konzentrationsschwächen zu leiden, erheblich größer. Das haben Studien gezeigt. Deshalb führen die Anästhesisten am Berliner Virchow Klinikum schon zehn Minuten nach dem Aufwachen einen kurzen Delir-Test durch. Alawi Lütz spricht die Patientin an. O-Ton (17) Alawi Lütz, Patientin: Schönen Guten Tag, mein Name ist Lütz, ich bin auch einer der Narkoseärzte. Wissen Sie, wo Sie hier sind? (Patientin, kaum hörbar:) Virchow. (Alawi Lütz:) Virchow Klinikum. Wissen sie auch, was für ein Tag wir heute haben? (Patientin:) 23.4. (Alawi Lütz:) Richtig genau. Schauen Sie sich diese Skala mal an, ja? Können Sie da rauf gucken? Hier sehen Sie Skalen von null bis zehn. Ja? Wenn Null gar kein Schmerz ist und zehn der schlimmsten vorstellbare Schmerz, wo würden Sie das denn jetzt einsortieren? (Patientin, sehr leise:) Sechs bis sieben. (Alawi Lütz:) Sechs bis sieben. Ok. Das ist noch zu viel. Ja, bekommen Sie jetzt noch ein Schmerzmedikament, damit es Ihnen besser geht. Autorin: Die frisch Operierte hat noch Schwierigkeiten mit dem Sprechen, doch ihre Reaktionen sind unauffällig. Sie zeigt keine Spuren von Verwirrtheit. Manche Patienten dagegen rütteln nach dem Erwachen an ihren Betten oder attackieren das Pflegepersonal. In solchen Fällen spricht man vom hyperaktiven Delir, das häufig mit Halluzinationen einhergeht. Finn Radtke. O-Ton (18) Finn Radtke: Häufig ist es in ein Szenario eingebunden, dass die Patienten dann denken, die Pflegekräfte wollen einem schaden oder es sind irgendwelche Kriminalgeschichten gerade am Laufen und dann gibt es eine ganze Reihe von Berichten, dass eine Patientin sich dann selber wahrgenommen hat, als ob sie in einen Organhandel verstrickt war, dass der Chefarzt ihr sozusagen eine Niere abkaufen wollte und dass sie auch diverse Euro damit verdient hat. Da gibt es meistens sehr beängstigende oder kriminelle Szenarien, die da aufkommen. Autorin: Ein Delir kann Stunden oder sogar Tage andauern. Selten ist es nicht. Zehn Prozent der jüngeren Erwachsenen erleiden solch ein Delir. Bei den über 60jährigen sind es sogar mehr als 30 Prozent. Umso wichtiger ist es, dass Ärzte geistige Verwirrung nach einer Narkose schnell erkennen und sofort reagieren. Manchmal reicht es schon, den Flüssigkeitshaushalt oder Blutzucker der Betroffenen zu regulieren. Hilft das nicht, dann sind Medikamente erforderlich. O-Ton (19) Claudia Spies: Ich hab viele Patienten gesehen, die mit Delir im Aufwachraum waren, wir haben eine Spur von einem Neuroleptikum gegeben und der Patient war wach, kooperativ, wusste, wo er war, konnte sich erinnern. Und umgekehrt, wenn man das belässt und der Patient dauerhaft ein Delir hat, dann weitet sich das so aus im Gehirn und das führt dann letztendlich langfristig schon zu kognitiven Schäden bei den Patienten. Autorin: Doch nur rund zehn Prozent der Kliniken setzen überhaupt einen entsprechenden Delir-Test im Aufwachraum ein, erklärt Claudia Spies. Zahlreiche Ärzte haben die Problematik noch gar nicht erkannt. O-Ton (20) Claudia Spies: Wenn jemand randaliert im Bett, dann dauert es keine 30 Sekunden, dann ist die Pflegekraft da und will letztendlich Unterstützung haben, medikamentöser Art, um das unter Kontrolle zu kriegen, aber wenn ein Patient ruhig im Bett liegt, gibt es ja erst mal kein Grund. Und ich glaube, diese Erkenntnis, dass es eben ein Delir ist, wenn jemand so ruhig im Bett liegt und alle freundlich anlächelt, das ist ganz schwierig für die Kollegen, das zu verstehen und daraus Konsequenzen abzuleiten. Die sagen, ich hab so was nicht. Autorin: Um Kollegen für die Problematik zu sensibilisieren, ist oft viel Überzeugungsarbeit notwendig. O-Ton (21): Das tun wir sukzessive. Ich glaube, die älteren Kollegen sind noch nicht so ganz überzeugt, aber die jüngeren Kollegen sind sehr überzeugt und das freut uns. Atom hoch und unterlegen Autorin: Alawi Lütz ist einer dieser jungen Anästhesisten. Delirien, so erzählt er, können nicht nur im Aufwachraum beginnen, sondern ebenfalls in den Tagen nach der Operation. Besonders häufig trifft es Patienten auf der Intensivstation. Hier begünstigt die beklemmende Atmosphäre Verwirrtheit mit unangenehmen Halluzinationen. O-Ton (22) Alawi Lütz (mit Atom von Intensivzimmer): Sie sehen, dass hier immer sehr viel gearbeitet wird, dass sehr wenig Licht reinkommt, dass sehr viele Geräte um diese Patienten drum rum stehen. Die Patienten, die liegen ja normalerweise in Oberkörperhochlagerung und haben ganz oft die Sicht auf diese Decke und wir wissen von ganz vielen Patienten, dass die eben anfangen, diese Löcher in den Decken zu zählen und dass diese Deckenansicht Halluzinationen triggern. Die sehen Tiere, manche denken auch, es kommt was von der Decke runter. Das ist ganz unterschiedlich. Aber zusammenfassend kann man immer sagen, dass die Dinge einfach Angst machen. Also das Gesamtszenario - inadäquate Lichtverhältnisse, große Unruhe im Zimmer, das medizinische Gerät, das macht Angst und fördert diese Halluzinationen. Regie: Atom stehen lassen, unter O-Ton ausblenden Autorin: Das Personal trägt Mundschutz, auch das trägt zur Verunsicherung bei. Früher dachten Ärzte, man müsse Patienten vor der unangenehmen Atmosphäre schützen, indem man sie durch Medikamente zum Schlafen bringt. Heute setzt man solche Maßnahmen vorsichtiger ein. O-Ton (23) Alawi Lütz: Es ist so, dass in den letzten zehn, fünfzehn Jahren so ein Paradigmenwechsel in der Intensivmedizin stattgefunden hat. Wir versuchen jetzt zunehmend die Patienten wach zu halten über den größten Teil der Zeit. Man weiß, je mehr die Patienten Medikamente bekommen, um zu schlafen, desto höher das Risiko, ein Delir zu entwickeln. Regie: Atom Autorin: Frisch operierte Patienten leiden allerdings besonders unter dem Lärm und der häufig relativen Dunkelheit auf einer Intensivstation. Das sorgt für Stress, stört den natürlichen Schlaf-Wach-Rhythmus und fördert wiederum Desorientierung und Verwirrung. Am Virchow Klinikum setzt man deshalb auf ein neues Raumkonzept für die Intensivstation: Die medizinischen Geräte sind hinter Türen am Kopfende der Patientenbetten versteckt. Die Decke und Wände sind mit einer Leinwand überzogen. O-Ton (24) Alawi Lütz: Diese Leinwand sorgt dafür, dass das Licht im Raum so gesteuert wird, dass es den Erhalt des Schlaf-Wach-Rhythmus erhält und zum anderen können Sie eben über diese Leinwand ganz verschiedene Szenarien projizieren. Sie können Farben und Formen entwickeln, die der Patient als angenehm empfindet. Sie können aber auch Informationen drauf projizieren. Das können zum Beispiel Fotos von Angehörigen sein, das kann die Uhrzeit sein, das kann der Kalender sein. Das kann aber auch so etwas Abstraktes sein, wie dass man einfach einen Sonnenuntergang simuliert, auch das würde ja ne Orientierung bieten. Also das Projekt wird auch durch Studien begleitet, in denen wir schauen werden, welche Szenarien oder welche Elemente führen dazu, dass die Patienten das als angenehm empfinden. Autorin: Auf die Psyche der Patienten achten, ihr Gefühle, ihre Ängste und Sorgen ernst nehmen, das gehört zu einer guten Behandlung dazu. Auch nach der Entlassung. Vor allem für Menschen, die durch eine Vollnarkose langfristig unter Störungen leiden. Da sei sehr belastend, erzählt diese 74jährige Potsdamerin, die nicht mit Namen genannt werden möchte. Sie hat bereits mehrere große Operationen unter anderem am Herzen hinter sich. Und mit jedem Eingriff ließen ihr Gedächtnis und ihr Sprachvermögen immer mehr nach. O-Ton (25) ältere Potsdamerin Das beunruhigt mich sehr. Also, wenn man geistig so flott war. Ich konnte ein Buch noch nach Jahren erzählen, was da so drin war, das kann ich nicht mehr. Ich lese viel, aber das ist dann schneller weg. Und dann kommen ja viele Sachen noch hinzu, dass man nicht mehr so leistungsfähig ist, man ist müde, manchmal sogar ein bisschen depressiv. Aber ich versuche das nicht so in den Vordergrund zu stellen, weil ich finde, man belastet ja dadurch auch die Familie, wenn man jetzt hier so, sagen wir mal so bekloppt wird (lacht.) Ich gebe mir große Mühe, hier immer alles zu machen und zu tun, aber es ist schwierig. Autorin: Die Rentnerin hat bisher vor keiner ihrer zahlreichen Operationen erlebt, dass Ärzte sie ausdrücklich über die möglichen langfristigen Folgeschäden der Vollnarkose aufgeklärt haben. O-Ton (26) ältere Potsdamerin: Noch nie, das ist immer am Rande so, wenn man dann im Krankenhaus liegt, dann kommt mal jemand reingehuscht, Sie brauchen noch ne Unterschrift, lesen Sie sich das durch und dann wird ein bisschen gefragt. Manche fragen gar nicht. Regie: Atom Autorin: Auch Manuela Möller fühlt sich desinformiert. Die 42jährige hatte vor zwei Jahren eine Unterlaibsoperation mit Vollnarkose. Seitdem ist die Unternehmerin weniger leistungsfähig. Sie musste ihre Arbeitszeiten verkürzen, denn ab dem frühen Abend kann sie sich nicht mehr konzentrieren. Immer wieder sprach sie Ärzte auf ihre Gedächtnis- und Konzentrationsprobleme an. O-Ton (27) Manuela Möller: Wo ich hingegangen bin, zu den Ärzten, und gefragt habe, dass ich halt Konzentrationsschwächen habe und dieses matte Gefühl und so, und dass das erst nach der OP ist, da krieg ich zur Antwort: Na ja, der Körper stellt sich ja um mit der Zeit. Also, alles sehr lapidar, wurde auch nicht weiter nachgeforscht, warum, wieso, weshalb. Autorin: Erfahrungen, wie die von Manuela Möller, sind nicht selten. Täglich erreichen die Mediziner am Virchow Klinikum Briefe von Patienten und Angehörigen, die entweder selber über Einschränkungen klagen oder die geistigen Probleme bei ihren Lieben beobachten. Sie alle bitten um Hilfe. O-Ton (28) Edith Weiß-Gerlach: Das Wichtige ist, sich immer wieder aufzuraffen, was zu tun, dass man sich einfach ein Limit setzt. Autorin: Rät die Psychologin Edith Weiß-Gerlach den Betroffenen. O-Ton (28a) Edith Weiß-Gerlach: Ich sag jetzt mal, zehn Minuten Zeitung lesen und sich vornimmt, nächste Woche paar Minuten länger zu machen. Genauso wichtig ist es natürlich, sich zu bewegen. Sport zu machen, raus zu gehen, sich mit Sachen zu beschäftigen, die einem Spaß machen. Da ist wirklich zu sagen, ich kann trainieren, ich kann was machen und sich nicht mit dem abfinden, was gegeben ist, sondern wieder nach vorne gucken. Autorin: Das Berliner Team arbeitet mittlerweile an einer Internetplattform, die wichtige Informationen zum Thema bereitstellen soll. Sie wollen so ein großes öffentliches Bewusstsein für die Problematik schaffen, damit Ärzte und Patienten besser informiert sind und nicht zuletzt auch mehr Forschungsgelder fließen. O-Ton (29) Claudia Spies: Wir müssen ja gucken, wo findet sich für eine Forschung Geld, wenn die Mehrheit noch gar nicht erkannt hat, dass es ein Thema ist. Wir hatten zum Beispiel mal einen Antrag gestellt an eine öffentliche Einrichtung, der war wirklich auch meiner Ansicht nach auch sehr, sehr wichtig und wir hatten einen Zulauf von 170 Krankenhäusern, die mitmachen wollten, aber dann wurde der Antrag abgelehnt, weil die Thematik demjenigen, der es begutachtet hat, wahrscheinlich gar nicht bekannt ist in dem Umfang. Atmo Musik Autorin: Bisher haben Claudia Spies und ihre Kollegen vor allem bei Erwachsenen nach möglichen postoperativen Störungen gesucht. Doch inwieweit sind auch Kinder von dem Phänomen betroffen? In der Forschung gewinnt diese Frage zunehmend an Bedeutung. Selbst der "Wissenschaftliche Arbeitskreis Kinderanästhesie und Neuroanästhesie" gab 2012 eine Stellungnahme heraus. Darin heißt es. Zitat: Auf die Frage besorgter Eltern, "Schadet Narkose meinem Kind?", haben wir Anästhesisten bis vor einigen Jahren mit gutem Gewissen antworten können: "Nein, Narkose schadet Ihrem Kind nicht". Heute muss unsere Antwort differenzierter ausfallen. Autorin: Die Anästhesisten räumten in ihrer Stellungnahme ein, dass es deutliche Hinweise darauf gibt, dass eine Operation unter Vollnarkose vor allem dem Gehirn eines Kleinkindes schaden kann. Sie berufen sich dabei auf eine Erhebung von US- amerikanischen und australischen Forschern. Die hatten die Entwicklung von über 2800 Kindern überprüft, die zwischen 1989 und 1992 in Australien geboren wurden und aus den verschiedensten Gründen operiert worden waren. Die Wissenschaftler wiesen nach, dass bereits eine einzige kurze Narkose in den ersten drei Lebensjahren kognitive Defizite verursachen kann. Das Risiko, mit zehn Jahren bei anspruchsvollen abstrakten Aufgaben nicht mitzuhalten, war bereits bei einfach operierten Kindern 1,7 Mal höher als bei der Vergleichsgruppe. Das Risiko an einem Sprachdefizit zu leiden, stieg nach einer Narkose im Kleinkindalter sogar um das 2,5fache. Jochen Strauß, Chefarzt für Anästhesie am Berliner Helios-Klinikum und Sprecher des "Wissenschaftlichen Arbeitskreises Kinderanästhesie und Neuroanästhesie". O-Ton (30) Jochen Strauß: Das Sprachverständnis vor allem für solche Sachen, wie Nebensätze, doppelte Verneinungen, das fiel den Kindern schwieriger zu verstehen. Ein Sprachtest gilt als nicht so empfindlich, der hat keine Unterschiede erbracht, aber die andere Sprachtests, die sehr viel differenzierter, auf sehr viel höher entwickelte Funktionen eingehen, haben diese Unterschiede zum Tragen gebracht. Man kann auch sagen, dass mit normalen Testmitteln oder im täglichen Gebrauch wahrscheinlich kein Unterschied festzustellen wäre. Autorin: Gerade weil sich das Gehirn in den ersten drei Lebensjahren so schnell entwickelt und die Vollnarkose so starke Auswirkung hat, sollten Eltern wenn möglich mit einer solchen Operation warten. Und auch älteren Menschen sollte sich fragen, ob sie auf den ein- oder anderen Eingriff mit Vollnarkose nicht vielleicht sogar verzichten können. O-Ton (31) Claudia Spies: Das ist eine Sache, die man mit dem Patienten entscheiden muss. Und man kann jetzt immer sagen, die Hüfte hätte er nicht gebraucht oder dies und jenes hätte er nicht gebraucht, aber der Patient hatte Schmerzen. Verstehen sie? Sie haben einen Patienten vor sich, der ist, was weiß ich, 75 Jahre, der hat einfach Schmerzen ohne Ende. Der kann sich nicht mehr richtig bewegen, der sitzt zuhause, geht an der Krücke, und dann sagt der Patient, das kann ich nicht mehr ertragen. Ich muss jetzt was ändern. Und es gibt eben viele, die haben hinterher die Möglichkeit, in ihrem normalen Umfeld zu leben, andere haben dann eben kognitive Störungen. Das ist immer eine Abwägungsfrage mit dem Patienten. Was ich wichtig finde, ist, dass der Patient informiert ist, dass man aufklärt über Delir, über kognitive Störungen. Der Patient muss das Risiko wissen, das ist schon wichtig. ENDE 1