DEUTSCHLANDFUNK Redaktion Hintergrund Kultur / Hörspiel Redaktion: Ulrike Bajohr Tel. (0221) 345 1503 Stadt in zwei Ländern Guben/Gubin - Geschichten von Annäherung und Distanz von Gislinde Schwarz und Rosemarie Mieder Produktion 18./19. März , 16.20, 8/1 Sendung: 21.03.2014 URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig.  DeutschlandRadio Atmo Dorf Einbl. 1 Anna Dziadek: (gehen) Aber es gibt ja das: Das Vaterland wird eure Taten nicht vergessen. - Ich erinnere mich an den Tag, als ich das verstanden habe (lacht leise). Ich war so stolz auf mich: Das Vaterland - ich war ein Kind und mein Deutsch war nicht so gut und ich war so glücklich, dass ich diesen Satz verstanden habe, verstehen Sie? Das Vaterland wird eure Taten nicht vergessen. Ansage: Guben/Gubin. Stadt in zwei Ländern Geschichten von Annäherung und Distanz Von Rosemarie Mieder und Gislinde Schwarz Atmo Sprecherin: Das Denkmal steht in einem kleinen Dorf an der Westgrenze Polens. Es erinnert an die Gefallenen des 1. Weltkrieges. Deutsche Gefallene. Damals haben in dieser Gegend nur Deutsche gelebt. Einbl. 2 Anna Dziadek : Es war sehr kalt, als die Deutschen hier vertrieben waren. Das war Februar 1945. Einbl. 2 weiter: die Leute sind zu Fuß von hier gegangen Richtung Forst, diese 15 Kilometer, im Winter mit Kindern und sie konnte nur das nehmen was sie mitnehmen konnten. Sie haben vier Stunden, vier Stunden, sie müssen verschwinden. Ich glaube, sie haben nie daran geglaubt, dass sie nicht mehr hierher zurückkommen. Das war nicht möglich, daran zu glauben. Sprecherin: Die 40-Jährige Anna Dziadek ist hier geboren und aufgewachsen. Bis zur Neiße ist es nicht weit; für Anna war sie immer die Staatsgrenze. Ein Fluss, der seit 1945 nicht nur Polen von Deutschland trennt, sondern auch Städte geteilt hat: Bad Muskau, Görlitz, Forst - und Guben. Einbl. 3 Andreas Peter: Wir sind schon Stadt gewesen, da war Berlin noch nicht mal erwähnt, wir sind älter als Frankfurt (Oder). Von Guben aus wurde die Stadt Posen - Poznan - gegründet. Ich versuche hier die Erinnerung an die Corinna Schröter wachzuhalten, die ja mit Goethe auf der Bühne stand in Weimar und die er mit einem wunderbaren Gedicht verehrt hat. Atmo Fluss Sprecher: Andreas Peter, Verlagsleiter und Stadtführer Einbl. 3 weiter: Von Guben aus begann die Wollfilzhut-Industrie einen Siegeszug; hier wurden Ende der 20er Jahre zehn Millionen Hüte hergestellt, also die wurden in die ganze Welt exportiert. Sprecher: Gubener Hüte - weltbekannt für ihre Güte! Einbl. 3 weiter: Karl Gottlob Wilke war da der Erfinder dieses wetterfesten Wollfilzhutes und sein Sohn, der Friedrich Wilke hat viel Gutes für Guben getan (ausblenden) Atmo Stadt Einbl. 4 Andreas Peter: In Guben gab es so bis 1860-70 tatsächlich Wein, Reben, roten und weißen. Und in den Gubener Bergen, da sind die Leute eben spazieren gegangen, in den Berggaststätten gabs Kaffee oder Gubener Plinze oder den Obstwein und das war ne ganz idyllische Sache. Industrie, die war damals sehr floriant, also die Hutindustrie. Und in den Tuchfabriken - ich hab es von 1988/89 noch im Ohr, also diese Maschinen, die ratterten einfach, die machten ein lautes Geräusch, die Schornsteine rauchten, es war schon eine sehr florierende Stadt. Einbl. 5 ( Atmo im Haus) Janina Franczak polnisch, Anna Dziadek übersetzt) : polnisch... Oma fragt, ob sie wissen, dass sie aus der Ukraine stammt. Sprecher: Janina Franczak, Rentnerin Einbl 5 weiter: (polnisch/deutsch) In 1945 war ich neun ...... Es war sehr wenig Zeit ... Die Eltern haben nur eine Kuh genommen, das Pferd konnten sie nicht mitnehmen ... Keine Geräte, nichts ... Die Reise hat vier Wochen gedauert. ... Meine Mutter ist zusammen mit Kuh gefahren im gleichen Abteil... Und sie hat vier Wochen die Schuhe nicht ausgezogen...und dieser Waggon war ohne Decke. Sprecher: 2. August 1945: Das Potsdamer Abkommen legt die Oder-Neiße-Linie als Grenze zwischen Polen Deutschland fest. Sprecherin: Eine Entscheidung, die der Sowjetunion ein Drittel des polnischen Territoriums sicherte. Als Entschädigung wurden Polen ehemals preußische Gebiete im Nordosten und Westen zugeteilt. Die Grenze des polnischen Staates verschob sich um Hunderte Kilometer nach Westen. Aus Ostpolen, Weißrussland und der Ukraine wurden 1,5 Millionen Polen vertrieben, 7,5 Millionen Deutsche mussten jene Heimat verlassen, die nun plötzlich polnisch war. Sprecher/polnisch Wyprowadzenie 1945 Jakiz to mog byc dzien - sobota czy poniedzialek, kiedy przyszedl rozkaz, aby mieszkancy narodowosci niemieckiej opuscili Gubin? W rozkazie bylo zapewne, ze moga zabrac ze soba tyle, ile uniosa. ... W domach zostaja koty i niektore wolno chodzace pieski - bo nie rozumieja rozkazu "wyjscia".... Noc- opustoszale miasto, jakby przeszla morowa zaraza. Na Nysie slychac tylko plusk. Sprecher/deutsch Welcher Tag mag es gewesen sein- ein Samstag, ein Montag, als der Befehl an alle Deutschen kam, die Stadt zu verlassen? Der Befehl bestimmte, dass sie soviel mitnehmen dürften, wie sie tragen können. .... In den Häusern zurück blieben Katzen und ein paar herrenlose Hunde - die verstehen nicht den Befehl: "Raus mit euch! Nacht - und eine Stadt, geleert, als hätte die Pest gewütet. Nur das Plätschern der Neiße ist zu hören. Einbl. 6 Anna Dziadek: Der Besitzer wollte nicht weggehen und hat sich aufgehängt oder die russischen Soldaten haben ihn geschossen, das wissen wir nicht. Sein Grab ist in unserem Garten. Sein Grab ist in unserem Garten und immer als wir Kinder waren, hat uns meine Oma geschickt, eine Kerze dorthin zu geben. Wir feiern Allerheiligen sehr groß in Polen und für dieses Grab, für diesen Großvater der nicht von seinem Bauernhof wollte, haben wir immer eine Kerze geschenkt. Sprecherin: Die 79-Jährige Janina Franczak spricht polnisch und noch immer auch russisch. Wenn sie deutschen Besuch hat, übersetzt Enkelin Anna Dziadek. Aber die Großmutter lässt es sich nicht nehmen, für ihre Gäste polnische Krautwickel auf den Tisch zu stellen. Und sie holt Fotoalben aus dem Schrank, blättert, erklärt und stellt stolz ihre Kinder, die acht Enkel und vier Urenkel vor. Einbl. 7 Anna Dziadek: Meine Urgroßeltern sind in eine fremde Umgebung gekommen - sie haben ein Haus bekommen, wo die deutsche Familie alles gelassen hat! Es gab alles: Gläser, Sachen, Kleidungen, Zeitungen, Bücher, Möbel, Schlüssel. In jeder Tür gab es Schlüssel und ich kann mir vorstellen, dass die Großeltern haben nicht gewusst, ob sie das eigentlich benutzen können. Ist nicht normal. Die Erfahrung war sehr schwer. Nicht nur für Deutsche, die mussten auch das alles lassen, aber auch für die Polen, die in eine fremde Umgebung gekommen sind. Atmo 4 Fotoalbum Sprecherin: In den Alben gibt es auch Fotos von Familie Domke; der Sohn des einstigen Besitzers ist bis zu seinem Tod immer wieder zu Besuch gekommen. Obwohl er doch kein Polnisch sprach und Janina Franzcak und ihr Mann kein Deutsch verstanden. Aber sie sind zusammen spazieren gegangen, haben miteinander gegessen, gefeiert. Für die Reparatur der Regenrinne legte der Deutsche 50 Mark auf den Tisch. Einbl. 8 Anna Dziadek: Und eine Frage: Hat das meinen Großeltern geholfen, in dieses Bauernhaus zu investieren, wenn die deutsche Besitzer ab und zu gekommen ist? Meine Oma war sehr lange überzeugt, dass die Deutschen irgendwann kommen wieder. Deswegen hat sie erst 1995 gesagt: Ich glaube, wir bleiben hier. Sie hat 50 Jahre gebraucht, um überzeugt zu sein, dass die Grenze bleibt so wie sie ist. Sprecherin: Heute leben drei Generationen in dem Bauernhaus: Großmutter Janina Franczak, Anna Dziadek mit ihrem Mann und den beiden Kindern. Sie haben der alten Frau das Haus abgekauft und begonnen, es Stück für Stück zu modernisieren. Ein neues rotes Dach aufgesetzt, neue Fenster eingebaut, die Fassade in einem freundlichen Gelb verputzt. Atmo Stadt Einbl. 9 Fred Mahro: Das Zentrum der alten Stadt Guben war in Gubin. Das alte Rathaus steht in Gubin, die Stadt- und Hauptkirche steht in Gubin, alles im polnischen Teil. Sprecher: Fred Mahro, amtierender Bürgermeister der Stadt Guben Einbl. 9 weiter: Man kann generell sagen, dass das heutige Guben auf deutscher Seite die industrielle Vorstadt war und das heutige Gubin die Wohnstadt. Hier gabs also ne Straßenbahnverbindung, die hin- und hergependelt ist, die Arbeitskräfte von Ost nach West geschafft hat. Sprecherin: Der Osten - das heutige Gubin - war die Sonnenseite der Stadt. Mit ihren Villen und Gründerzeithäusern, den Ausflugslokalen in den Gubener Bergen, der Theaterinsel mitten in der Neiße, dem Markt und der alles überragenden gewaltigen Stadtkirche. Die Perle der Niederlausitz. Bis zu ihrer Zerstörung. Sprecher/polnisch Na plac obok hotelu zjechaly mlyny stalowe... .. Kazdego dnia znikal, uchodzil w zaswiaty jakis kawal zycia czyjes pracy. Ulice bez domow- puste place - zasiana trawa. Moze ktos z daleka przyjedzie pod numer 5 Daremnie bedzie szukal miejsca swego urodzenia. Wojna dlugie ma zniwa Sprecher/deutsch Auf den Platz neben dem Hotel erschienen stählerne Steinmühlen. ... Jeden Tag verschwand, starb, ein Stück eines Lebens ... Straßen ohne Häuser - leere Plätze - grasüberwachsen Und wenn jemand kommt, von weit her, zur Nummer 5 - vergeblich wird er den Ort seiner Geburt suchen Der Krieg hat eine lange Erntezeit Sprecherin: Tadeusz Firlej, Amateurfotograf und Dichter, hat das Verschwinden des Gubener Zentrums über Jahre hinweg dokumentiert. Seine Schwarz-Weiß-Fotos zeigen gewaltige Trümmerberge, Ruinen und verödende Plätze. Heute lassen sich die Straßen der einst eng bebauten Stadt nur noch erahnen. Mit seiner Kamera hielt Firlej auch fest, wie neue Bewohner in die wenigen noch erhaltenen Häuser einziehen, und wie fünfgeschossige Plattenbauten errichtet werden. Einbl. 11 Anna Dziadek: Und dazu, dieses Gebiet hat noch dieses Pech gehabt, das war eine Militärzone. Wir nennen das in Polen (nennt es polnisch) als Bermudadreieck. In diesem Gebiet gab es die größte Konzentration von Armee, um mit Deutschland zu kämpfen. Für andere polnische Familien hierher zu kommen, war immer innere Grenze noch. Man musste immer Ausweis haben. Es gab Schilder: Grenzgebiet. Atmo Glocke an der Tür zum Stadtwächterstübchen Einbl. 12 Andreas Peter: Hier im westlichen Teil der Stadt gab es relativ wenig Zerstörungen. Und diese Betriebe, Hut- und Tuchindustrie, Maschinenfabriken, die sind relativ schnell wieder in Gang gesetzt worden und haben an die alte Tradition angeknüpft, auch wenn das meiste als Reparation in die Sowjetunion ging. Aber die Betriebe kamen wieder in Gang und für viele Leute gab es Brot und Arbeit. Sprecherin: Andreas Peter sitzt in den Räumen seines Niederlausitzer Verlages, dem "Stadtwächterstübchen" wie er es nennt. In den Regalen bis an die Decke stapeln sich Faksimiles historischer Schriften und Stadtpläne, aber auch Bücher, die er selbst geschrieben hat. Der 50jährige hält die Erinnerung an Geschichte und Geschichten wach. Er ist hier geboren; Wilhelm-Pieck-Stadt-Guben steht in seinem Ausweis. Fast 30 Jahre trug die Stadt den Namen des gelernten Tischlers und ersten Präsident der DDR, einer der bekanntesten Söhne der Stadt. Einbl. 13 Andreas Peter: 1961, am 3. Januar, zu seinem Geburtstag, den er nicht mehr erlebte, wurde die Stadt nach ihm benannt. Wies eben damals so war: Vom Zentralkomitee wurde eine Empfehlung ausgesprochen und der konnte man natürlich schlecht widersprechen hier, ähnlich wie vielleicht in Stalinstadt nebenan, das jetzige Eisenhüttenstadt. Man muss dazu sagen, dass vorgesehen war, dass der alte Name Guben mit der Umbenennung ganz verschwinden sollte, dass es Wilhelm-Pieck-Stadt einfach heißen sollte. In letzter Sekunde ist das dann noch mal geändert worden. Sprecherin: Die Stadt bekam einen programmatischen Namen - die Grenze trug ihn schon längst: Seit dem Görlitzer Abkommen zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen vom 6. Juli 1950 hieß sie "Oder-Neiße-Friedensgrenze". Einbl. 14 Günter Quiel: Der Staat DDR hatte genau erkannt, wenn ich an dieser Friedensgrenze nischt mache, rennen die Leute alle weg. Es gibt keene Arbeit, was sollen die? Bei uns war das ein Problem, die Mädels - sie haben sich kündigen lassen, weil sie hier keinen Partner gefunden haben. Deswegen hat dieser Staat gesagt: Wir müssen an dieser Friedensgrenze was tun und ham ein Programm aufgelegt. Und da hat man angefangen: Schwedt, PCK, Halbleiterwerk Frankfurt, EKO Eisenhüttenstadt, Chemiefaserwerk Guben, Textilkombinat Cottbus, Hagenwerder, die Kraftwerke Jänschwalde, Boxberg, bis Zittau das Textilkombinat. So hat man das aufgezogen. Und hat aus der gesamten DDR die Menschen hergezogen. Sprecher: Günther Quiel, Diplom-Chemiker Einbl. 15 Günter Quiel: Nu bin ich 1967 mehr oder weniger unfreiwillig nach Guben gekommen. Sprecherin: Wegen einer staatskritischen Äußerung wurde der Student in die Produktion versetzt. Den Ort Guben hatte er nie zuvor gesehen. Einbl. 15 weiter: Und da hab ich gesagt: Mein Gott, hier sieht es ja aus, als wenn der Krieg noch gar nicht richtig zu Ende ist. Hier bleibst du keine 14 Tage! Und dann bin ich den ersten Tag in den Betrieb, der war ja völlig neu, war neu aufgebaut, und da musste ich in einem Labor arbeiten, naja und da war das dann schon derart schön, fing ich dann an ganz anders nachzudenken. Mensch hier sind ja wirklich ganz tolle Bedingungen und Verhältnisse, ja? Sprecherin: Für die wachsende Industrie wurden schon bald sogenannte Vertragsarbeiter aus "befreundeten Bruderstaaten" angeworben: aus Kuba, aus Mosambik, aus Vietnam - vor allem jedoch aus Polen. Einbl. 17 Günter Quiel: Im Radius von 60 Kilometern hat man hier die Frauen aus Orten wie Krossen, Jasin, Lubsko, hat man die Leute hierhergebracht, mit Bussen, rüber wie nüber und wir haben gemeinsam gearbeitet. Und weil das Anlernberufe waren, konnte man die sehr schnell erlernen. Innerhalb von 10 Tagen, 14 Tagen, waren die meisten perfekt und konnten das. Da war dann gleich ein Laden am Chemiefaserwerk gebaut worden, vordergründig für die polnischen Mitarbeiter. Und da gab es nicht diese Begegnungen, wie man das heute kennt, sondern das war nicht gewünscht, ja? Die ham jearbeitet und ab in den Bus und wieder weg. Sprecherin: Bei ihren deutschen Kollegen war das kaum anders. Sie wohnten in umliegenden Dörfern, oder fuhren mit den Schichtbussen nach Altsprucke, Neusprucke oder dem ab 1963 entstehenden Obersprucke, eine Plattenbausiedlung auf der grünen Wiese. Dort gab es, was zum Leben notwendig war: Schulen und Kindergärten, Kaufhallen und Polikliniken. Atmo Stadt Einbl. 18 Andreas Peter: Wenn man also nach Guben kommt und das Stadtzentrum sucht, wird man keines finden weil es einfach keines gibt. Atmo hoch Einbl. 18 weiter: Peter: Wir sind in der Frankfurter Straße, zu DDR-Zeiten hieß sie eben Straße der Freundschaft und davor wars die Adolf-Hitler-Straße. Die Wehrmacht hat hier Ende April, als sie die Stadt geräumt hat, die Brücke gesprengt, das ist dann ne Weile so geblieben, dann wurde sie wieder aufgebaut, rüber konnte man dann erst in den 70er Jahren, als die Grenze offen war. Sprecher: 1972: Einführung des visafreien Grenzverkehrs zwischen der Volksrepublik Polen und der Deutschen Demokratischen Republik. Sprecherin: Für die Öffnung der "Freundschaftsgrenze" gab es handfeste Gründe. Zum einen sollten den Ostdeutschen neue Reiseperspektiven geboten werden. Zum anderen aber erhoffte man sich von der Vereinbarung auf beiden Seiten "eine Festigung des Bruderbundes". 27 Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkrieges kam es erstmals zu massenhaften Kontakten zwischen Deutschen und Polen. Atmo Dorf/Kirche Einbl. 19 Günter Quiel: Ich kann mich noch gut erinnern, an die Eröffnung des kleinen Grenzverkehrs, am 1.1.1972. Genau am Neujahrstag bin ich mit meiner Familie, das waren damals meine Schwiegermutter und meine Frau und mein Sohn, sind wir nach Gubin gegangen und natürlich habe ich den Wunsch meiner Schwiegermutter erfüllt und gesagt: Wir gehen mal auf den Ostfriedhof. Und da war ich das erste Mal sichtlich erstaunt, wie meine Schwiegermutter noch genau gewusst hat, wo das Grab war. Und sie hat mir vorgemacht, hat sie mit den Füßen, hat gesagt: Du musst 180 Füße so lang gehen, dann nach rechts, 46, dann nach links, 84 und dann 36. Und dann haben wir davorgestanden und dann sagt sie: Heb mal den Stein hoch. Und da war der Mann, also der Vater von meiner Frau. Atmo weg Einbl. 20 Quiel weiter: Und wie Menschen so sind, die eine bestimmte Kultur haben, fing die an, sofort an dem Grab rumzuwerkeln. Und dann ging das los und es entwickelte sich kurzfristig so eine Art Friedhofstourismus. Und das ham die polnischen Menschen natürlich auch beobachtet und der polnische Staat insbesondere und hat gesagt: Das können wir nicht zulassen. Und dann wurde binnen kürzester Zeit, ein Beschluss in Polen durchgeführt, dass man also alles was deutsch ist, rausnimmt, dem Erdboden gleich macht. Einbl. 21 Anna Dziadek: Als Kind habe ich viel Glück gehabt, weil in unserem Dorf hat eine Frau gewohnt, die war Deutsche und ihr Ehemann war Pole. Deshalb ist sie nach dem 2. Weltkrieg geblieben. Sie hat polnisch gelernt und sie hat uns immer alte Geschichten erzählt. Und sie hat uns gezeigt, was in meinem Dorf interessant war. Warum gibt es ein Kreuz auf einem Baum? Oder wer hat früher in einem Schloss gewohnt? Was für Sitten haben Leute vor dem Krieg dort gehabt? Was für Feiern haben die gefeiert? Das war für uns natürlich wie ein Märchen immer. Aber sie hat uns gezeigt, dass dieses Gebiet Geschichte hat. In der Schule haben wir keine Geschichte von diesem Gebiet gehört. Ich habe die Schule in Brody besucht, wo es ein riesiges Schloss von Familie Brühl gibt. Wir haben nie in der Schule während kommunistischer Entwicklung (lacht) Nie haben wir über Denkmäler, die in diesem Gebiet sind, gelernt. Wir haben sogar mit dem Flugzeug nach Warschau geflogen, um zu sehen unsere Hauptstadt und was für eine Entwicklung haben wir nach dem Krieg. Das hat jemand bezahlt, um uns Polen zu zeigen. Gab keine Rede über Denkmäler in diesem Gebiet. Sprecherin: Gleich im ersten Jahr erlebte die offene Grenze den größten Ansturm: Fast sieben Millionen Menschen, 40 Prozent der DDR-Bevölkerung, fuhren nach Polen. Einbl. 23 Günter Quiel: Ja und die ham jetauscht und jehandelt und das ging so weit, dass meine Schwiegermutter was genäht hat und die haben dafür mit Waren bezahlt. ... Eier und Sahne und weiß ich was alles. Und die haben sich richtig angefreundet, die sind dann zum Kaffeetrinken gekommen und haben sich richtig unterhalten. Die lernten ganz schnell deutsch, wir kriegen das nie hin. Und dann sind die zum Kaffee gekommen, haben was mitgebracht, haben geredet, solche Tausch- und Warengeschäfte geregelt - das war ganz normal. Man kannte sich, man grüßte sich, man kam hin, so wie zu Bekannten. Meine Schwiegermutter war Schneiderin und die hat dann für eine polnische Familie das Hochzeitskleid der Tochter genäht, dann sind wir zur Hochzeit eingeladen. Atmo Stadt Einbl. 24 Andreas Peter: In dem 80er Jahren war es hier ein bisschen anders, da bin ich hier zur Schule gegangen, habe ich hier mein Abitur gemacht, das war 1978 bis 82. Sprecher: 30. Oktober 1980: Die Staatsführung der DDR beschließt "zeitweilige Veränderungen im privaten Reiseverkehr". Sprecherin: In Polen war die oppositionelle Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc erstarkt. Daraufhin legte die DDR-Führung fest, dass für ihre Bürger eine Reise ins Nachbarland ab sofort nur noch auf persönliche Einladung und mit polizeilicher Bestätigung möglich sein sollte. Einbl. 24 weiter: Als ich dann hier als Lehrer anfing, 1989 im September, da wars so, dass hier die Grenze zusätzlich gesichert wurde. Es warn Grenzsoldaten da, die Strippen gespannt haben, entlang der Neiße, falls jemand die Neiße überwinden will und sich in die Botschaft nach Warschau begeben, dann gingen Leuchtraketen hoch. Soldaten konnten dann kommen und den möglichst auch wegfangen. Selbst wenn man nach Gubin wollte, musste man über Frankfurt (Oder) fahren, das war der internationale Grenzübergang, man konnte also nicht hier über diese Brücke gehen. Kurioserweise hieß die Straße hier damals Straße der Freundschaft. Und weil man eben nicht über die Brücke gehen konnte, hatte jemand die Idee, da einen Zettel ranzumachen: Hier hört die Freundschaft auf. Einbl. 25 Günter Quiel: Und ich behaupte, wäre nicht dieses Kriegsrecht gekommen, wären wir in der deutsch-polnischen Zusammenarbeit, also in Guben und Gubin viel, viel, viel weiter. Da wurde ja dann alles abgegrenzt, da durfte man dann gar nichts mehr, keine Verbindung. War absolut Pumpe. Schluss. Die wurden nur noch zur Arbeit - und dann wurde aufgepasst, ob se Gespräche führen oder nicht. Also im Betrieb aber auch in der Stadt - es war absolute Ruhe. Und dann kam die Wende und dann hatten wir Deutschen mit uns zu tun. Sprecher: 16. Januar 1992: Der deutsch-polnische Grenzvertrag tritt in Kraft. Sprecherin: Die Bundesrepublik Deutschland gibt darin alle Ansprüche auf die Ostgebiete des einstigen Deutschen Reiches auf und erkennt die Oder-Neiße-Grenze als Staatsgrenze an. Vielen Menschen in Polen nahm sie damit die Sorge vor revanchistische Forderungen, die Angst, noch einmal von Haus und Hof vertrieben zu werden. Atmo Fußball Einbl. 26 Bartlomiej Bartczak: Das war alles durch Fußball. Sprecherin: Bartłomiej Bartczak, Bürgermeister im polnischen Gubin Einbl. 26 weiter: Es gab damals Freundschaftsspiel zwischen Lyzeum und Europaschule und mein Sportlehrer im Lyzeum hat mich nicht in die Lyzeumsauswahl aufgenommen. Da hab ich gesagt auf dem Fußballplatz, daneben, stand ich als Fan, hab ich gesagt: Ich spiele nächstes Jahr! Egal auf welcher Seite! Und hab ich so gesagt und hab ich so gemacht. Und nächstes Jahr spielten wir tatsächlich wieder Europaschule gegen Lyzeum. Wir haben 5:4 gewonnen und ich hab 5 Tore gemacht für die deutsche Seite damals. (lacht) Sprecherin: Auch Bartczaks Familie stammt nicht aus Gubin. Die Eltern waren Anfang der 80er Jahre mit dem Vierjährigen hierher gezogen. Der Vater - ein Offizier - spielte im Gubiner Soldatenorchester. Für den Sohn war die Grenzöffnung eine riesengroße Chance - für den Vater erst einmal ein Verlust. Einbl. 27 Bartlomiej Bartczak: Die Kasernen gibt es nicht mehr seit 90er Jahren, Ende der 90er Jahren und da war tatsächlich sehr schwierige Zeit für die Stadt. Und die Stadt Gubin musste sich danach neu orientieren. Das heißt, der größte Arbeitgeber war plötzlich weg. Die Armee, , also ich schätze mal, ein paar 1000 Arbeitsplätze gingen plötzlich verloren. Einbl. 28 Fred Mahro: Es gibt eine Studie, eines Schweizer Wirtschaftsberatungsunternehmens, die der Landrat damals 1992/92 in Auftrag gegeben hat. Und diese Studie hat diese Entwicklung in weiten Teilen vorausgesagt. Sie hat erklärt, diese Monokultur wird zu einem massiven Verlust von Arbeitsplätzen führen, auch zu einem Rückgang der Einwohnerschaft. Und dann ist damals festgelegt worden: Diese Studie wird nicht öffentlich gemacht. Einbl. 29 Günther Quiel: Ich konnte es ganz herrlich sehen - in einer Halle, ich musste jeden Morgen durch, da waren 56 Maschinen. Dann waren es 28. Dann waren es 14, dann waren es 7, dann waren es 5, dann waren es 3 - und ich bin gegangen, als es 1 war. Konnten se selber sehen, wie das systematisch stirbt. Und da ich ja in so ner Funktion war, die das besonders gut beurteilen konnte, ich war für die Weltstandsvergleiche zuständig, wusste ich, was da auf uns zu rollt. Dass man alles das, was hier im Chemiefaserwerk produziert wird natürlich in Südostasien - mindestens in der gleichen Qualität gemacht wird. Aber viel, viel billiger. Sprecherin: Über 10 000 Industriearbeitsplätze hatte es in Guben bis zur Wende gegeben. Ein Zehntel der Arbeitsplätze blieb übrig. Sprecher: 31.12. 1990: Einwohner der Stadt Guben - 30 791 31.12. 2012: 17 971 Einwohner Einbl. 30 Fred Mahro: Mittlerweile ist es so, dass wir, was Zu- und Wegzüge betrifft, seit zirka einem Jahr einen Ausgleich haben. Dass aber die demografische Entwicklung hinsichtlich der Geburten - auch da will ich zwei Zahlen nennen: 100 Geburten, 300 Sterbefälle, dass das nach wir vor Einwohnerverlust für uns bedeutet. Die Kurve ist zwar deutlich flacher geworden, aber wir haben nach wie vor einen Einwohnerschwund durch diese demografische Entwicklung. 50,8 - ist unser Durchschnittsalter hier in Guben, das ist im Umfeld ähnlich; die Zahl aus Gubin kenne ich nicht, aber sie wird deutlich geringer sein, weil die haben dort noch ungefähr fast 300 Geburten. Obwohl sie 2000 Einwohner weniger haben wie wir, haben sie dreimal soviel Geburten. Einbl. 31 Bartlomiej Bartczak: Ich liebte Fußball. Die Deutschen, die haben mir vorgeschlagen - da gab es einen Verein, Lok Guben, vielleicht kann ich da zum Probetraining kommen? Das habe ich tatsächlich gemacht. Danach haben sie mir vorgeschlagen, dass ich da spiele. Ich war damals der einzige Pole in der Mannschaft; ich spielte bei den Junioren bei Lok Guben und wir haben sogar Aufstieg geschafft. Danach spielte ich die zweite Männermannschaft und im 3. Jahr spielte ich schon die erste Männermannschaft in Guben. Also ich - dadurch habe ich mich auch verbessert in der Sprache. Sprecherin: Der Zug geht Richtung Westen: Für Deutsche wie für Polen. Nur - für die Gubener ist der Weg glatter. Auf Gubiner Seite beträgt das Arbeitslosengeld bis heute im Höchstfall 200 Euro und wird maximal ein Jahr gezahlt. Aber auch hier wurde die Schuhfabrik "Carina", in der einmal zweitausendfünfhundert Menschen beschäftigt waren, geschlossen - so wie die Bekleidungsfabrik "Goflan" und der Gerätehersteller "Kromit". Ihre Beschäftigten mussten eigene Wege finden. Einbl. 32 Bartlomiej Bartczak: Als ich in der Euroregion gearbeitet habe, war ich Dolmetscher und ich habe mich mit großen EU-Projekten beschäftigt. Deswegen hatte ich gute Kontakte, gute Übersicht habe ich gehabt. Ich wusste, wo was passierte und in der Stadt Gubin passierte überhaupt nichts. Sprecherin: Bartlomiej Bartczak bahnte sich seinen Weg anders: Er legte ein deutsches Abitur am Gubener Gymnasium ab und ging von dort zum Jurastudium an die Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Nach einer kurzen Arbeitszeit in Göttingen kehrte er zurück in seine Heimatstadt. Einbl. 33 Bartlomiej Bartczak: Und danach - das war Jahr 2006 - habe ich mich entschlossen, hier zu kandidieren und ich habe dann die Wahl gewonnen. Und meine Kollegen haben die Mehrheit im Stadtrat erreicht. Das war relativ großer Erfolg, weil keiner hat mit uns gerechnet. Wir haben alle Parteien besiegt. Wir kandidierten als Wählergemeinschaft, also im Stadtparlament gab es nur Stadtverordnete von meiner Wählergemeinschaft und die von der kommunistischen Partei. Also ich glaube, es ist nicht normal, dass die Leute einem 28-Jährigen die Macht übergeben. Sprecherin: Vielleicht war Bartłomiej Bartczak der jüngste Bürgermeister Polens. Er brachte nicht nur frischen Wind mit - er repräsentiert jene, die heute im polnischen Gubin in der Mehrheit sind: Schüler, Studenten, junge Familien. Einbl. 34 Bartlomiej Bartczak: In den ersten vier Jahren haben wir insgesamt 7 Fußballplätze mit Kunstrasen gebaut, Theaterinsel renoviert, über 30 EU Mittel bekommen, 60 Wohnungen gekauft - also das waren sehr gute Jahre und die Leute haben das gesehen, und im Jahr 2010 war wieder Wahl und gegen mich trat der Ex-Bürgermeister an. Und diesmal hatte ich 80 Prozent bekommen, der hat 20 Prozent bekommen. Sprecherin: Und wer seine Stadtverwaltung mit der in Guben vergleicht, der kommt ins Grübeln. 70 Angestellte managen die kommunalen Belange der polnischen Stadt - in der deutschen sind es 150. Dabei ist die Bevölkerungszahl auf beiden Seiten ähnlich. - Und auch die Probleme dürften es sein. Das polnische Gubin wirbt mit einer Sonderwirtschaftszone um Investoren. Das deutsche Guben tut alles, um sich mit mehr Arbeitsplätzen gegen Abwanderung und Überalterung zu stemmen. Dabei schreckt es auch nicht vor ungewöhnlichen Entscheidungen zurück. Atmo Plastinarium Gabriele Schakowski: (Schritte) Wir gehen jetzt in das Herzstück unserer Ausstellung, die Lernwerkstatt. Hier haben wir einzelne Stationen, wo die unterschiedlichen Körpersysteme des Menschen dargestellt sind. Sprecher: Gabriele Schakowski, Verwaltungsleiterin des Plastinariums und Gubenerin weiter: Das baut sich auf nach Skelett, Muskelsystem, Nervensystem, Herz-Kreislaufsystem, Verdauungssystem, dann haben wir das Urogenitalsystem und ganz hinten auch noch die vorgeburtliche Entwicklung zu sehen. Einbl. 35 Fred Mahro: Also das Plastinarium ist ja so in der Form einzigartig auf der Welt, weil wir hier sowohl die Plastination als Herstellungsprozess haben und zugleich ne Ausstellung. Gunter von Hagens - ich war beim ersten Gespräch damals mit dabei. Hat gesagt: Ich verspreche euch 50 Arbeitsplätze, 1 Million Investment und keine öffentliche Förderung. Er hat bis heute keine öffentliche Förderung erhalten, er hat über 4 Millionen in Guben investiert und hat jetzt über 70 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigt. Und insofern ist dieses Plastinarium, was ja sehr umstritten in Guben damals begonnen hat, mittlerweile ein Stück Guben geworden. Atmo auf der Holzbrücke Sprecherin: Der gewaltige Backsteinbau - einst Hutfabrik, nun Plastinarium - steht nicht weit von der Stelle entfernt, an der eine neue geschwungene Holzbrücke Fußgänger über die Neiße führt. Von Guben aus endet sie erst einmal auf der Insel mitten im Fluss. Atmo Holzbrücke Einbl. 36 Andreas Peter: Also diese Insel hat eigentlich zwei Namen: Ursprünglich hieß sie Schützeninsel, weil die Gubener Schützengilde hier ihr Schützenhaus hatte. Dann im Jahre 1870/72 ist das abgerissen worden, es haben sich einige Gubener Fabrikanten zusammengetan, um eine Aktiengesellschaft zu gründen, mit dem Ziel, ein Theater zu bauen. Sie haben also Geld eingesammelt und mit dem Geld ist das Theater hier ins Leben berufen worden, 1874 eröffnet und seitdem hat sich dieser Begriff Theaterinsel auch eingebürgert. Von dem Theater ist leider nichts mehr übriggeblieben, zwar hat es die Kämpfe gut überstanden, ist aber 1945 noch ein Opfer einer Brandstiftung geworden. Die Insel war viele Jahrzehnte nach dem Krieg Grenzgebiet, alles verwildert, man konnte nicht rauf. Und erst 1997 gab es die Möglichkeit, die Insel wieder offiziell zu betreten. Sprecher: 1. 5. 2004 - Polen wird Mitglied der Europäischen Union. 21. 12. 2007 - Polen tritt dem Schengener Abkommen bei.. Personenkontrollen an den Ländergrenzen finden nicht mehr statt. Sprecherin: Dass die Insel heute wieder wie ein schöner Park zwischen beiden Teilen der Stadt liegt und wie kaum ein anderer Ort verbindend und versöhnend wirkt, ist der jahrelangen guten Kooperation beider Kommunen zu verdanken. Die bauten schon 1998 zusammen ein Klärwerk - das größte deutsch-polnische Umweltprojekt in der Wasserwirtschaft. Und errichteten gemeinsam Schutzwände gegen die immer wieder auftretenden Hochwasser an der Neiße. Einbl. 38 Andreas Peter: Da an der Stelle kann man der großen Politik wirklich dankbar sein, dass sie also den Finger darauf legen: Also wenn ihr nicht zusammenarbeitet, dann gibt es die Fördermittel nicht. Also arbeiten wir zusammen, kriegen wir die Fördermittel. Es werden viele Dinge begonnen, die sonst finanziell gar nicht machbar wären. Atmo leise Glocke Sprecherin: Das größte gemeinsame Projekt liegt nur wenige hundert Meter von der Insel entfernt, auf der Gubiner Seite. Es thront buchstäblich über beiden Teilen der Stadt: Fara Gubinska, die einstige Stadt- und Hauptkirche Gubens. Einbl. 39 Günter Quiel: Das ist das Herz dieser Stadt, das ist das Zentrum, ein ein krankes Herz. Wir sind dabei, Deutsche und Polen, dieses kranke Herz wieder zu gesunden. Atmo Glocke Einbl. 39 weiter: Sie können Bilder, egal aus welcher Epoche, nehmen. Wenn sie die von Guben nehmen, sehen sie ein dominierendes - ab 16. Jahrhundert - ein dominierendes Objekt, und das ist die Stadt- und Hauptkirche. Der Mittelpunkt der ehemaligen Stadt Guben. Also die Kirche hatte für 1650 Gläubige Platz. Es war also die größte Hallenschiffkirche der Niederlausitz und ein bedeutendes Bauwerk aus dem 16. Jahrhundert. Einbl. 40 Anna Dziadek: Eine Ruine mit Unkraut überall auf der Mauer und Wald drin. Es gab wirklich einen Wald drin. Riesige Bäume, 20 Meter hoch. Natürlich in 60er und 70er Jahren war diese Kirche benutzt als Garage. Es gab einen Witz in Gubin: Das ist die älteste Garage in Polen! Sprecherin: Längst sind die vielen Tonnen Schutt aus der Ruine geräumt, ist das Bauwerk gesichert; mit zwei bis drei Millionen Zloty und 1,4 Millionen EU-Mittel wurde auch der Turm saniert. Nun hat er ein Dach und kann in den Sommermonaten bestiegen werden. Architekten sollten ein Konzept erarbeiten, wie aus der Ruine ein Deutsch-Polnisches Begegnungszentrum entstehen kann. Die Teilnehmer kamen aus unterschiedlichsten Ländern. Gewonnen hat ein deutsch-polnisches Architekturbüro. Die Idee zu dem Projekt, das noch lange nach dem Mauerfall für viele undenkbar war, entstand in Gubin. Einbl. 41 Quiel: Pfarrer Samociak - eindeutig, der polnische Pfarrer Samociak aus Gubin. Und das ist ein sehr kluger Mann, der hat zeitig gesagt: Das können wir alleine gar nicht stemmen. Und dann haben wir uns ganz ganz langsam genähert und ich habe dem Pfarrer erklären müssen: es wird nie wieder ne Kirche. Nie. So, machen se das mal. Erklärn se mal nem Pfarrer, das wird nie wieder ne Kirche, wofür er sich eigentlich eingesetzt hat. Dann sind wir gemeinsam zu dem Bischof gefahren, der Region, der hat uns dann gesagt: so nun erklärt ihr uns mal, was ihr wollt, als Deutsche? Dann hab ich das erklärt und dann hat er gesagt: Ich akzeptiere das, was sie vorhaben als Projekt, und würde nach Guben kommen, nach Gubin, und das war genau am 7. Oktober 2006, und dann haben wir ne große Veranstaltung gemacht vor der Kirche, und da hat dann der Bischoff gesprochen und ich hatte die Aufgabe, die deutsche Geistlichkeit dazuzubringen, ja? Die evangelische und katholische. Und beide Kirchen erklärten: Wir brauchen in Guben und in Gubin keine weitere Kirche. Punkt, aus. Sprecherin: Auf den ersten Blick sind sie ein ungleiches Paar: der Vorsitzendes des Fördervereins zum Wiederaufbau der Kirche, Günter Quiel, der bis zu seiner Pensionierung Vizekanzler der Europauniversität war. Und Anna Dziadek, die Projektleiterin des gewaltigen Unterfanges . Einbl. 42 Günter Quiel: Zum Beispiel müssen wir aufpassen als Deutsche, nicht immer uns in den Vordergrund zu schieben. Wir haben eine Eigenart, wenn wir einmal dran sind, übernehmen wir die Führung und dann lehnen die Polen, ist meine Erfahrung, sich zurück und dann sagen die: Lasst doch die Deutschen machen, so und dann fühlen sie sich nicht mehr angesprochen. Und deswegen haben wir dann also auch solche Strukturen geschaffen: Der Chef von diesen Dingen ist immer n Pole. Einb. 43 Anna Dziadek: Ich sehe, dass der polnische Teil ist jünger als der deutsche Teil. Aber ohne diese erfahrenen Menschen aus Deutschland könnten wir auch nicht erreichen, wie wir bei diesem Projekt gewonnen haben. Und ich sehe sehr großen Unterschied zwischen deutscher Organisation und polnischer Organisation. Einbl. 45 Anna Dziadek: Plan B läuft in Polen immer. Wenn wir was vergessen haben zu planen, dann hat uns unsere Kreativität gerettet. Weil: die deutsche Seite hat mehr Erfahrungen und wir sind noch jung genug, um verrückte Idee zu haben. Atmo Glocke Einbl. 46 Anna Dziadek: Wir haben erste Hochzeit nach dem 2. Weltkrieg in dieser Ruine organisiert, als diese Ruine noch Baustelle war. Ich weiß nicht, ob sie Ahnung haben, wie viel Institutionen, wie viele Personen müssen da zustimmen, um eine erste Hochzeit in einer Kirche, die noch teilweise Baustelle ist, zu organisieren für ein deutsches Ehepaar, die eigentlich auf das polnische Gebiet ist. Die Behörden, die Gemeinde, der Bürgermeister von polnischer Seite, die Institutionen von deutscher Seite, Denkmalschutzamt musste Erlaubnis geben, die Baufirma musste uns auch Erlaubnis geben. Dieses Hochzeit wollte dieses deutsche Ehepaar, weil die Großeltern auch in dieser Kirche vor dem 2. Weltkrieg geheiratet haben. Atmo Straße Einbl. 47 Silvia Meyer: Als Gubenerin muss sagen, ich fühle mich nicht mehr sicher in meiner Stadt. Sprecher: Silvia Meyer: Inhaberin eines Goldschmiedegeschäftes Einbl. 47 weiter: Ob das im Geschäft jeden Tag ist, mir haben sie jetzt in den letzten 10 Monaten zweimal die Scheibe eingeschlagen, ob das privat ist, wenn man hier abends über die Straßen geht zum Einkaufen oder Bummeln, man muss Angst haben, dass man überfallen wird. Das ist an der Tagesordnung eigentlich. Wenn ne Geschäftsfrau aus dem Laden geht und zuschließt - hier drüben, unsere Kollegin - dann wird sie überfallen, wird ihr die Handtasche weggenommen. Einbl. 48 Dirk Konstantin: Also ganz speziell haben wir ja jetzt an der Neiße eine große Baustelle, da werden die Spundwände erneuert, da stehen LKWs, da wird Diesel abgezapft. In weiß ich wie viel Hunderten Litern. Sprecher: Dirk Konstantin, Inhaber eines Sportgeschäfts in Guben Einbl. 48 weiter: Ist dreimal passiert. Und wenn denn unser einer Polizeiwagen, der in Guben noch ist, einmal vorbeigefahren ist, dann ist eine Stunde Zeit für die Diebe. Einbl. 49 Fred Mahro: Das sind nicht nur Polen. Wir haben mit Sicherheit polnische Straftäter, wir haben aber auch organisierte Kriminalität aus dem osteuropäischen Raum. Ob das Rumänen sind, ob das Ukrainer sind, ob das Russen sind, die werden hier definitiv organisiert tätig und haben dann durch den Rückzug auf die polnische Seite ein ideales Fenster. Fred Mahro: Gegenwärtig wird statistisch jeden Tag ein Fahrrad gestohlen, und wir hatten im Jahr 2013 nach Angaben des Innenministeriums hier 2000 registrierte Straftaten, das heißt über fünf Straftaten pro Tag. Fakt ist, dass die Aufklärungsquote sich verbessert hat 2012 und wahrscheinlich auch 2013 . Aber wenn sich Menschen bei uns abends unsicher fühlen und sagen: Im Dunkeln gehe ich nicht mehr in die Altstadt, dann ist das einfach ein subjektives Gefühl was in objektive Veränderungen münden muss. Atmo Straße Einbl. 51 Bartolomij Bartcak: Am Anfang der 90er Jahre gab es Zettel "Nicht klauen!" auf polnisch. Und später wurde man auf polnisch angesprochen, wenn man in die Geschäfte kam. Bitte, welche Schuhe? Welche Größe, was wollen Sie? Was wünschen Sie? So die Betrachtungsweise hat sich auch geändert, es gibt in Gubin immer mehr Leute, die auch Geld haben und das hat die deutsche Seite schnell erkannt. Einbl. 52 Dirk Konstantin: Zu Anfangs waren es vielleicht so 20 Prozent, mittlerweile beträgt der Umsatz der polnischen Kunden fast 50 Prozent. Atmo: Sophia Kalet: Verkäuferin begrüßt auf polnisch Sprecher: Sophia Kalet, Verkäuferin im Sportgeschäft Guben Einbl. 53 Sophia Kalet: Viele Polen kommen zu uns einkaufen, viele Deutsche gehen rüber einkaufen. Ich finde, das haut alles hin. Die Polen freuen sich ooch, wenn deutsche Kunden kommen, andere kommen hier, wir gehen da - es wechselt sich einfach. Einbl. 54 Fred Mahro: Also wenn ich mit nicht gubenkundigen Gästen kleinen Stadtrundgang mache, dann gehe ich die Frankfurter Straße lang, wir gehen dann über die Grenzbrücke und wenn wir drüben sind, dann sage ich: Hoffentlich haben Sie alle Ihre Ausweise mit, denn wir sind jetzt in Polen. Es wird von den Allerwenigsten wahrgenommen; da steht zwar noch das Ortseingangsschild, aber man stellt gar nicht fest, dass man jetzt urplötzlich in Polen ist. Atmo polnischer Gesang Sprecherin: Paulina Morawska und Klaus Pocher leben mit ihren Kindern auf der deutschen Seite der Stadt. Klaus Pocher, studierter Philosoph und Musikwissenschaftler, gehört zu den wenigen Gubenern, die die Sprache des Nachbarlandes sprechen. Auch er war lange Zeit von seinem Heimatort fort. Zum Studium, an unterschiedlichen Arbeitsstellen. Mit seiner polnischen Frau aber zog es ihn zurück - an diesen Ort der von beiden Kulturen geprägt ist. Einbl. 55 Paulina Morawska: Bei mir im Kindergarten gibt es auch schon in jeder Gruppe drei, vier polnische Kinder, die ganz gut deutsch sprechen. Zu Hause polnisch und in der Kita deutsch - haben deutsche Freunde. Klaus Pocher: Aber das ist in meinen Augen ja keine Zusammenarbeit, sondern ein wirtschaftliches Zusammenwachsen. Sie finden kein deutsches Kind in einer polnischen Schule, kein deutsches Kind in einem polnischen Kindergarten, weil es gibt nicht diese Richtung, in die man wirtschaftlich drängt. Die geht eben in Richtung Westen. Sprecherin: 2006 hat Klaus Pocher einen deutsch-polnischen Verein gegründet. Der lief am Anfang auch gut, aber das Interesse ebbte immer mehr ab. Einbl. 55 weiter: Die Interessenlage ist eindeutig. Das ist keine Romantik, die dahinter steckt und das sollte man auch nicht verklären, sondern einfach ne bestimmte Absicht, die den Bildungs- und Berufsweg vorzeichnet. Und die hält eben die polnischen Eltern dazu an, ihre Kinder eben in deutsche Schulen und Kindergärten zu schicken und nicht andersherum. Sprecherin: Paulina Morawska wechselt die beiden Seiten der Stadt nahezu täglich. Im polnischen Gubin unterrichtet sie in einer Musikschule, in Guben arbeitet sie halbtags als Kindergärtnerin. Ihre Kinder wachsen zweisprachig auf. Einbl. 56 Paulina Morawska: Wir haben vor einige Wochen für Oma- Opa-Tag ein Lied Bruder Jakob gesungen, in zwei Stimmen, ich mit polnischen Kindern, die in meiner Gruppe waren und den Rest deutsch. Und zwei deutsche Kinder wollten mit mir singen und mit diesen polnischen Kindern zusammen. Sie haben schon versucht (singt Lied polnisch an) und sogar zum Auftritt gekommen mit uns gesungen. Atmo 21 Gesang von Kindern und Mutter .... Bis Gute Nacht (auf polnisch) Absage Stadt in zwei Ländern Guben/Gubin - Sie hörten Geschichten von Annäherung und Distanz von Rosemarie Mieder und Gislinde Schwarz Es sprachen: Kerstin Fischer, Hendrik Stickan und Adalbert Siniawski Ton und Technik: Ernst Hartmann und Anne Bartel Redaktion und Regie: Ulrike Bajohr Eine Produktion des Deutschlandfunks 2014 2