DEUTSCHLANDFUNK Redaktion Hintergrund Kultur / Hörspiel Redaktion: Ulrike Bajohr "Herr Albert Speer, ich leugne nicht, dass es gut ist zu leben" Roman Halters Weg, die Vergangenheit zu bewältigen Ein Feature von Mechthild Müser Erzählerin: Isis Krüger Sprecher Roman Halter: Wolf Aniol Sprecherin Aloma Halter: Ursula Illert Sprecherin Suzanne Bardget - Claudia Mischke Sprecher Speer: Reinhart Firchow Ton und Technik: Eva Pöpplein und Jana Brandt Redaktion: Ulrike Bajohr Regie: Thomas Wolfertz Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Freitag, 22. Januar 2010, 20:10 ? 21:00 Uhr A 01: Gesang im Waltham Abbey Jews Cemetery, London, Beerdigung eines Bekannten von Halter, darüber: 01a OT Halter engl., Übersetzer: Nachdem er aus dem Spandauer Gefängnis entlassen und nach Heidelberg zurück gekehrt war, schrieb ich ihm einen höflichen Brief: ... Brief Halter (Halters erster Brief an Speer, abgedruckt im Speer-Buch): Herr Albert Speer, 1944 arbeitete ich im Lodzer Ghetto in einer Metallfabrik. Als die Liquidation des Ghettos durchgeführt wurde, erhielt die Gruppe von Männern, FRAUEN UND KINDERN, die dort ... beschäftigt waren, einen Brief ... Dieser Brief wurde vom Leiter unserer Gruppe, Mr. Chimowicz, in Empfang genommen. Als wir Auschwitz mit dem Transport erreichten, der für die Vergasung vorgesehen war, näherte er sich dem SS-Selektionsführer, dem er diesen Brief übergab...... 01b weiter OT Halter engl., Übersetzer: Dass wir, 500 Metallarbeiter, nicht vergast und verbrannt, sondern zur Zwangsarbeit weiter geschickt werden sollten. Ich fragte: Waren Sie es, der uns zu Zwangsarbeitern machte? Speer: Heidelberg, 2. Juni 1971 Dear Mr. Roman Halter, entschuldigen Sie, dass ich nicht in Englisch antworte, aber meine Sekretärin beherrscht Ihre Sprache nicht. Es wird sich bei dem Begleitbrief, der Ihnen und Ihren 500 Leidensgenossen das Leben gerettet hat, kaum um einen Originalbrief von mir gehandelt haben. Die Rüstungsinspektion Warschau unter General Schindler hatte wahrscheinlich von mir die Anweisung, sich dafür einzusetzen, dass die ... Arbeitskräfte der Rüstung erhalten bleiben. 02 OT Halter engl., Übersetzer: Es stand in jeder Zeitung, dass er nach Heidelberg zurück gekehrt sei und so hatte ich geschrieben: Albert Speer, Heidelberg, Deutschland. Und mein Brief hat ihn erreicht. Er war ein berühmter Mann. Gesang hoch, darüber: Ansage: "Herr Albert Speer, ich leugne nicht, dass es gut ist zu leben" Roman Halters Weg, die Vergangenheit zu bewältigen Ein Feature von Mechthild Müser 03 OT Halter, engl., Übersetzer: Albert Speer war sehr viel cleverer als ich. Er hat in Nürnberg seinen Hals gerettet... 04 OT Speer (DRA Archiv) Hitler und der Zusammenbruch seines Systems haben eine ungeheure Leidenszeit über das deutsche Volk gebracht. Die nutzlose Fortsetzung des Krieges und die unnötigen Zerstörungen erschwerten den Wiederaufbau. Entbehrungen und Elend sind über das deutsche Volk gekommen. Es wird nach diesem Prozess Hitler als den erwiesenen Urheber seines Unglücks verachten und verdammen 03 weiter OT Halter, engl., Übersetzer ...Er hat in Nürnberg seinen Hals gerettet und in Spandau all diese Bücher geschrieben und Millionen verdient. Aber es hätte ja sein können, dass sein Herz sich geändert hat - ich habe jedes seiner Bücher gelesen. Speer, Buch: Im September 1944 schließlich näherten sich die angreifenden Sowjetarmeen Lodz. Wie aus einem SD-Bericht vom 20. September 1944 hervorgeht, war die industrielle Rückverlegung aus Lodz zu diesem Zeitpunkt abgeschlossen. Bis dahin war also im Lodzer Ghetto weiter für die Rüstung gearbeitet worden, ungeachtet der Himmlerschen Ankündigungen. Auf September 1944 datiert auch der Londoner Architekt Roman Halter seinen Abtransport aus diesem Ghetto. Er teilte mir 27 Jahre später mit: Halter (Halters erster Brief an Speer, abgedruckt im Speer-Buch): Als wir Auschwitz .... erreichten, näherte er sich dem SS-Selektionsführer, dem er diesen Brief übergab. ... Nach einer Stunde wurden wir zum Lager gebracht und nicht zu den Gaskammern und daraufhin durch ein anderes Konzentrationslager, Stutthof, nach Dresden, wo wir in einer Munitionsfabrik arbeiteten, die ein Teil der Reemtsma Zigarettenfabrik war. Von diesem Brief, der fünfhundert von uns das Leben rettete, wurde gesagt, dass er durch Sie geschrieben worden sei. Das Datum war September 44. Ich war zu dieser Zeit 17 Jahre alt. 05 OT Halter, engl. Übersetzer: In seinem Buch "Der Sklavenstaat" hat Speer meinen ersten Brief einfach abgedruckt, weil ich gefragt habe: waren Sie es, der uns gerettet hat? Das gefiel ihm. Ich dachte, er will sich als wunderbaren Menschen darstellen. 06/07 OT Halter englisch: When we came to Auschwitz ... .ohne Übers. darauf: Erzählerin: Roman Halter, geboren im Juli 1927 und trotz seines Alters ein wacher, agiler Mann, geht jeden Morgen schwimmen, ab April draußen, auch wenn das Wasser kalt ist. Das hält ihn fit und verbindet ihn mit seiner Kindheit im polnischen Chodecz, wo er viel Zeit am und im See verbrachte. Eine Kindheit, die abrupt und hart zu Ende ging. Im September 1944 war der Jude Roman Halter einer von 2800 Menschen, die in Viehwaggons aus dem Ghetto Lodz nach Auschwitz gebracht wurden. Zweieinhalb Tage und 3 Nächte ohne Wasser, kaum Luft, einige starben unterwegs. Die Deportierten wären alle vergast worden, hätte nicht der ehemalige Direktor der Metallfabrik des Ghettos, Alfred Chimowicz, trotz massiver Prügel den Mut gehabt, den KZ-Arzt Josef Mengele auf sich aufmerksam zu machen. Chimowicz trug jenes Papier bei sich, das besagte, dass 500 aus dem Transport dafür vorgesehen seien, als Metallarbeiter in der Rüstungsindustrie zu arbeiten. Angefordert vom Rüstungsministerium Albert Speers. Roman Halter gehörte zu den Auserwählten. 30 Jahre später, als er längst in England etabliert war, begab er sich auf Spurensuche. Neben vielem anderen trieb ihn die Frage um: Verdankte er sein Leben ? an einem Punkt seiner Geschichte ? etwa auch dem Kriegsverbrecher Albert Speer? 07 OT Halter engl. lassen und möglichst an vorherigen O-Ton anhängen Während wir ausgezählt wurden, wurden die anderen schon vergast und verbrannt. (unter folg. Erzählerin weg) Erzählerin: Speers Antwort blieb vage. Er versteckte sich hinter einer Handvoll Kopien über Befehlsabläufe, die er im Sommer 1971 an Halter schickte, und war ansonsten mehr mit sich und seiner medialen Wirkung beschäftigt als mit dem Anliegen eines ehemaligen KZ-Häftlings. Speer (Fortsetzung Brief Speer): Hätte ich mehr tun können und mehr tun müssen? Ich gab auf diese Fragen einige unbeholfene Antworten in dem neuerdings von "Playboy" veröffentlichten Interview. Speer: (Speer mit Deutsch akzentuiertem Englisch, ab kursiv unter folg. Erzählerin) Most of Hitler's government associates, including me, never even knew about it till they were told at the end of the war ... I know, that many people outside Germany think, that everyone in the country knew of the extermination, but that just wasn`t the case. Erzählerin: In diesem Interview wiederholte Speer, er habe von den Grausamkeiten gegenüber Juden nichts gewusst. Gleichzeitig übernahm er verbal ganz allgemein die volle Verantwortung für die Verbrechen der Nationalsozialisten. Speer: (Speer mit Deutsch akzentuiertem Englisch, ab kursiv unter folg. Erzählerin) I took that position at the Nuremberg trial, altought there was a great temptation to try to save my life... But whenever I wavered, I would think of one photograph of a jewish family going to it `s death: ....When you finally comprehend that you have devoted 15 years of your life to building a graveyeard, the only thing left is to accept responsibility...For that moment of recognition I felt for the first time in my life a sense of inner calm... Erzählerin, über voriges Speer-Zitat: Über das Foto einer jüdischen Familie auf dem Weg in den Tod, das er ihn seit dem Nürnberger Prozess verfolge und die innere Ruhe, die ihm die Anerkennung seiner Schuld verschafft habe, sprach Speer in einem Ton, berichtet der Interviewer, "als biete er ein Stück Apfeltorte an". Speer Diese Äußerungen, lieber Herr Halter, wurden übrigens von der Redaktion des "Playboy" in dramatisierender Weise amerikanisiert. Ich hoffe, Ihnen mit meiner Auskunft behilflich gewesen zu sein. Mit herzlichen Grüßen, Ihr Albert Speer - folg.auf Musik- Halter (Ausschnitt aus Halters Buch) Ich versteckte mich in einem Gebüsch und schaute hinunter. Alles dort unten geschah sehr schnell. Irgendjemand gab einen Befehl. Die acht Rekruten rannten los. Jeder von ihnen stellte sich etwa zwanzig Schritt in einer Linie von den Kindern auf. Der Oberst sagte etwas und die beiden SS-Rekruten, die Henryk und Hanka bewachten, gingen zu ihnen, steckten Bajonette auf ihre Gewehre und stellten sich mit gespreizten Beinen über die Körper. Und dann stießen sie immer wieder die Bajonette in Hanka und Henryk. - Musik weg- 08 OT Himmler, 4. Okt. 1943 in Posen Ich will hier vor Ihnen in aller Offenheit, auch ein ganz schweres Kapitel erwähnen. ... . Ich meine jetzt die Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes. Es gehört zu den Dingen, die man leicht ausspricht. ? "Das jüdische Volk wird ausgerottet", sagt ein jeder Parteigenosse, "ganz klar, steht in unserem Programm, Ausschaltung der Juden, Ausrottung, machen wir." Kleinigkeit. ...Dies durchgehalten zu haben, und dabei abgesehen von menschlichen Ausnahmeschwächen anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht und ist ein niemals geschriebenes und niemals zu nennendes Ruhmesblatt.. Erzählerin: Seine berüchtigte "Posener Rede" vor Generälen und Gruppenführern der Waffen-SS vom 4. Oktober 1943 ergänzte SS-Reichsführer Heinrich Himmler zwei Tage später ? ebenfalls in Posen - vor den Reichs- und Gauleitern noch um die Feinheit, dass es nicht ausreiche, nur die Männer umzubringen. Denn dann könnten Frauen und Kinder später als Rächer auftreten. Albert Speer war unter den Zuhörern. Er wurde in der Rede sogar von Himmler direkt angesprochen. 09 OT Halter, engl., Übersetzer: Albert Speer behauptete später, er habe nicht bis zur Rede bleiben können, er hätte vor dem Essen gehen müssen wegen einer anderen Verabredung. Das stimmt nicht. Das war der Versuch, sich rein zu waschen. Er wusste genau, was Himmler sagte und beabsichtigte. Erzählerin: Obwohl er Albert Speer für einen Lügner hielt, erhoffte sich Roman Halter doch einige Informationen von ihm. Denn sein Großvater, der im Ghetto Lodz gestorben war, hatte ihm einen Auftrag mit auf den Lebensweg gegeben: 10 OT Halter, engl., Übersetzer: Bevor mein Großvater starb sagte er: Wenn du überlebst ? er sagte nicht, falls du überlebst, sondern wenn du überlebt hast, dann rede deutlich über die Vergangenheit, weil wir Juden ermordet werden. Werde nicht sentimental, phantasier nicht rum, erfinde nichts, sag einfach wie es war. Schließlich müssen wir eine bessere, eine gesündere Welt aufbauen. Wir alle haben das Recht, auf diesem Planeten zu leben. Er war ein weiser Mann und für mich ein guter Freund. Erzählerin: Nach Kriegsende kam Halter 18jährig über ein jüdisches Hilfsprogramm nach England. Er holte die sechs Jahre auf, die ihm an Schulausbildung fehlten, genoss nachträglich die Pubertät, nahm an Schwimm-Wettbewerben teil und studierte schließlich Architektur. Er arbeitete für seinen Unterhalt. Mal war er mit einem Koffer voll belgischer Würste in italienischen Kolonialwarenläden unterwegs, mal jobbte er als technischer Zeichner in einem Architektenbüro, mal als Hilfskraft bei einem deutschen Verlag in London. A 02 zu Hause, Begrüßung: Auto startet, Tür, Hallo how are you ... . Erzählerin: Beim Schwimmen lernte Roman Halter Susie kennen, eine ungarische Jüdin, die mit falschen Papieren versteckt überlebt hatte. 1948 war sie zur Olympiade nach England gekommen und bei Verwandten in London geblieben. 11 OT Susie: Er hat geschwommen und ich hab auch geschwommen Und dann hab ich gehört, da wird eine jüdische Olympiade sein in Israel, und dann hab ich angefangen, einmal die Woche zu dem anderen Club auch zu gehen und dann hab ihn dort getroffen und dann sind wir zusammen mit allen anderen nach Israel gefahren und das war schön und ein Jahr später waren wir schon verheiratet. A 02 zu Hause hoch 12 OT Susie Anfang haben wir niemals gesprochen über Sachen, weil wir waren jung und das Leben war dort, man musste viele Sachen lernen und arbeiten. Man hat so viel Pflichten im Leben und damals hab ich noch gearbeitet im Büro und er hat studiert und dann später, wo das Kind gekommen ist, also eigentlich wir waren verheiratet 51, und Aloma ist geboren 54, 3 Jahre später. Er hat schon gearbeitet auch. Er hat Abendschule, später konnte er fulltime arbeiten. Natürlich haben wir kein Geld gehabt, aber ich hatte eine Tante und einen Onkel, die waren schon lange hier, seit 28, und die haben uns eine Wohnung vermietet. Erzählerin: Susie und Roman Halter sind seit fast 60Jahren verheiratet. Drei Kinder haben sie, zwei Töchter, einen Sohn. Aloma und Ardyn leben seit vielen Jahren in Israel, die jüngste Tochter Aviva blieb in England. Auch Susie schwimmt jeden Tag. 1000 Meter. Die einstige Olympia-Schwimmerin fliegt immer noch zu Senioren-Wettkämpfen in ganz Europa. Meist kommt sie mit einer Medaille zurück in das kleine Backsteinhaus hinter dem riesigen Hortensienbusch im Londoner Norden. Die Wände in Flur und Küche hängen voller Medaillen. In ihrer Kindheit sprach Susie deutsch. Ihre Familie überlebte. Ich habe mein Schwimmen, sagt sie, und Roman hat seinen Holocaust. Leise Musik unterlegen Aloma: Überlebende (von Aloma Halter für ihren Vater) Schwarzweiße Todesanzeigen vor meinem Haus: ein Nachbar starb letzte Nacht. Seine Tochter wartet im abgedunkelten Zimmer. Am Morgen des Neunten Av tastet sich schimmerndes Sonnenlicht wie eine Stimmgabel über den Asphalt. ..... Ein Gitter aus Licht und Schatten fällt vor mir auf die Straße. Draußen tragen die Menschen Sommerkleider, die Straßen sind voll Überlebender. Musik ausblenden 13 Aloma, engl. Übersetzerin: Ich erinnere mich, wie ich eines Tages von der Schule nach Hause kam, ich war traurig, weil meine beste Freundin nicht mit mir redete, und einer hatte dies gesagt, ein anderer jenes, und ich war ganz traurig und mein Vater fragte: was ist los? Ich sagte, die redet nicht mit mir und der auch nicht. Er sagte: ich verstehe dich nicht. In diesem Alter solltest du dich frei fühlen wie ein Vogel. Als ich in deinem Alter war.... Und ich hab mich geschämt für meine dummen Probleme. Erzählerin: Als Kind konnte Aloma Halter ihren Vater nicht begreifen. Nicht ermessen, wie dankbar er war, dass er wieder eine Familie hatte. Eine Familie, der es auf jeden Fall gut gehen sollte. 14 OT Aloma, engl. Übersetzerin: Viele Dinge setzten bei ihm gleich eine Kette von Assoziationen in Gang. Aber es gab auch so viel Schönes: es brauchte nur wenig, um sie glücklich zu machen. Wir fuhren in einem kleinen Auto, einem Mini, runter bis nach Spanien. Wir hatten gar kein Geld, weil mein Vater damals noch Architektur studierte. Meine Mutter unterhielt die Familie und sie waren wie Kinder ? komm wir steigen ins Auto und fahren nach Spanien, Spanien ist billiger als London. Es war in den 60ern. Mein Bruder und ich, wir waren 5 oder 6. Wir hatten ein Zelt und Picknick auf den Felsen und aßen Tomaten, Brot und anderes vom Markt und wir sagten: Wow, ist das Leben nicht wunderbar. Meine Eltern waren so leicht glücklich zu machen. Sie sagten immer, wenn wir gut gegessen hatten: was ein Fest! Haben wir es nicht gut? Sie haben diese Lebensfreude. Das war ein Gegenwicht zu all dem Reden über den Holocaust. Speer: Heidelberg 15.7.1971 Dear Mister Halter, herzlichen Dank für den Brief vom 29. Juni 1971. Es beruhigt mich, dass Sie meine Auskünfte gut aufgenommen haben. Immerhin ist es, wie ich es drehe, eine Belastung, so in das Schicksal von Menschen eingegriffen zu haben, ohne sich höherer humaner Verpflichtungen bewusst zu sein. Ersparen sie es mir, Ihnen über die Genocide meinen Standpunkt auseinanderzusetzen. Sie werden vielleicht verstehen, dass es nachgerade Zeit wird, mich wieder neutraleren Tätigkeiten zuzuwenden. Es ist psychisch fast unerträglich, sich nur in dieser Vergangenheit zu bewegen ? und um welche Vergangenheit handelt es sich! Wenn Sie jedoch gelegentlich in unsere Gegend kommen sollten, würde es mich freuen, wenn wir uns sehen könnten. Dann wäre vielleicht auch die Gelegenheit gegeben, über den einen oder anderen Punkt ausführlicher zu sprechen. - folg.auf Musik- Halter (Ausschnitt aus Buch, erinnernd) Den übrigen sechs SS-Männern wurde etwas zugerufen, sie hoben ihre Gewehre und zielten. Dann kam das kurze Bellen eines Befehls. Sie feuerten. Schreie waren zu hören, und meine Freunde sanken langsam, sehr langsam, fast sanft auf die Knie, sie fielen auf den Rücken oder seitwärts aufeinander." Ich sah von dem Gebüsch aus zu und vergaß, wer ich war und wo ich war. Ich kann mich nicht mal erinnern, Angst gehabt zu haben. Ich war nicht in dieser Welt ... . Ich begann, langsam auf allen Vieren, rückwärts aus dem Gebüsch wegzuschleichen. . - Musik weg- Erzählerin (über vor. Text ab kursiv) Roman Halter war 12, als er zusah, wie seine Schulfreunde unter Anleitung von SS-Soldaten von volksdeutschen Rekruten ermordet wurden. Kurz danach wurde Halters Familie von Chodecz ins stacheldrahtumzäunte Ghetto Lodz umquartiert, in jene ärmlichen Stadtteile im Norden der Stadt, wo 90 Prozent der Häuser ohne Wasseranschluss waren. Sein Großvater und sein Vater verhungerten dort, seine Mutter und seine Schwester mit 2 Kindern wurden deportiert und umgebracht. Er selbst konnte fliehen. - folg.auf Musik- Halter Übersetzer (für Buchzitat) Mutter sagte: ich bin zu schwach, um mich zu retten, aber du kannst noch rennen. Wenn ich dir sage, los spring! Dann tu es! Zieh deine Schuhe aus und renn. Dein Leben hängt davon ab. Zitat verbinden mit nächstem O-Ton 15 OT Halter, engl., Übersetzer: Die härteste Erfahrung für mich war, meine Familie zu verlieren. Als ich aus dem Ghetto floh und meine Mutter mir "Auf Wiedersehen" sagte, wusste ich, dass dies das letzte Mal war, dass ich sie sehen würde. Und sie hatte die Stärke zu sagen: "Zögere nicht, auch wenn sie 'halt' schreien. Lauf im Zickzack. Halt nicht an, wenn sie schießen. Lauf weiter!" (weiter Halter, nur englisch) Es ist für eine Mutter sehr hart, das zu tun. Sie zog mich an sich und gab mir einen Kuss und sagte: Gott sei mit dir, mein Sohn. Und ich rannte weg. Erzählerin: Halter sah seine Familie nie wieder. Als die Deportationen in seinem Viertel vorbei waren, kehrte Halter ins Ghetto zurück und lebte in der Familie des Leon Chimowicz. Der besorgte ihm Arbeit in der Blechschneiderei. So wurde Halter zum Metallarbeiter. Das rettete ihn, als das Ghetto in Lodz geräumt wurde, vor dem Gas in Auschwitz. Denn 500 Metallarbeiter wurden ins KZ Stutthof verfrachtet. Sie sollten in einer Munitionsfabrik arbeiten. - folg.auf Musik- Halter (Ausschnitt aus Buch, erinnernd) : "Stutthof war nicht wie Auschwitz, das ist wahr, aber es war trotzdem die Hölle. Wir mussten zu zweit in einer engen Koje schlafen. .... Wir waren mit Floh- und Wanzenbissen übersät. Der Morgenappell war um Viertel nach sieben, aber die Blockvorsteher schalteten schon um halb sechs das Licht an und in Sekundenschnelle mussten wir aus den Kojen sein Draußen mussten wir, nur mit den gestreiften Pyjamas bekleidet, anderthalb Stunden im eisigen Nordwind stehen. (Buch- und folg O-Ton ineinander führen) 16 OT Halter, engl., Übersetzer: Wir formten einen Ofen, indem wir ganz eng zusammen standen wie Pinguine es tun. Und wir rotierten, die von außen nach innen und die von innen nach außen und jeder musste kooperieren. Als die SS-Soldaten uns sahen, haben sie uns mit Stöcken auseinander getrieben. Aber sobald sie weg waren, haben wir uns wieder als Ofen hingestellt. Es war so wichtig, keine Lungenentzündung zu bekommen. - Musik weg- Erzählerin: Die russischen Truppen rückten näher, deshalb wurde die Munitionsfabrik, in der die Häftlinge arbeiten sollten, nach Dresden verlegt. 17 OT Halter, engl., Übersetzer: 32 von uns wurden losgeschickt, um die Maschinen aufzuladen und ich gehörte dazu. Wir waren in einem Holzgebäude untergebracht, im Mittelteil schliefen wir, am Ende schliefen die 16 SS-Männer, und beim Eingang schliefen die Leute vom Albert-Speer-Ministerium. Sie achteten darauf, dass alles auseinandergebaut und gut gereinigt wurde. Ich musste die Baracke von vorn nach hinten putzen. Bei den Albert-Speer-Leuten gab es eine Frau, die das Essen kochte. Sie durfte uns nichts geben, aber sie stellte das Öl von den Sardinen in einem Becher vor die Hütte und ich trank es. Ich brauchte das Öl, weil ich so dünn und ausgehungert war. 18 OT Aloma, engl. frei stehen lassen, danach Übersetzerin: Er hat viel über den Holocaust gesprochen, wirklich oft. Er sagte Dinge wie: "Ah, Sardinen. Ohne Sardinen hätte ich den Krieg nicht überlebt." 19 OT Halter engl., Übersetzer: (O-Ton kürzen) Dann fand Speer heraus, dass ich auch Architekt war. Eines Tages bekam ich einen Anruf und eine Stimme sagte: Mr. Halter, Herr Halter? Ich dachte, einer meiner Freunde will mich verulken, aber dann hörte ich lieber zu, was der Mann zu sagen hatte. Er sagte: Hier ist Albert Speer. Ich hatte ihm meine Telefonnummer nicht gegeben, ich dachte immer noch, es sei ein Witz, weil ich einigen Freunden von meinem Kontakt erzählt hatte. Er sagte, ich würde Sie gern treffen und mich mit Ihnen unterhalten. Speer (Auszug aus Speer-Brief vom 15.7.71) Ihr Name kam mir bekannt vor; ich habe eine lange Zeit eine britische Architekturzeitschrift abonniert gehabt. In meinem Beruf betätige ich mich nicht mehr; dafür habe ich die große Freude, dass mein ältester Sohn mit gleichem Vornamen in Deutschland auf dem Gebiet der Stadtplanung sich einige Geltung verschafft hat. Ich versuche, meine organisatorischen und baulichen Erkenntnisse in der Beratung von Industriefirmen zu verwerten, jedoch finde ich wenige Interessenten dafür. Mit vielen herzlichen Grüßen, Ihr Albert Speer 69 Heidelberg 1, Schloß-Wolfsbrunnenweg 50, Tel. 26501 20 OT Halter engl., Übersetzer: Er sagte: wenn Sie nicht in meine Stadt kommen wollen, können wir uns in Straßburg treffen. Er hatte wirklich das Gefühl, dass er bezahlt hatte für die Zeit, die er als Minister in Hitlers Regierung verbracht hatte. Erzählerin: Als Speers Einladung eintraf, betrieb der ehemalige polnische KZ-Häftling Roman Halter zwei Architekturbüros ? eins in London, eins in Cambridge - mit 14 Mitarbeitern. Er arbeitete viel und erfolgreich, doch er hatte noch einen Auftrag offen. Den seines Großvaters: Wenn du überlebst, erzähl allen davon ... . 21 OT Halter, engl., im IWM. 1974 befand ich die Zeit für reif, aus der Architektur auszusteigen und mit dem Schreiben und Malen zu beginnen. Ich rief meine Kollegen zu mir und sagte: Ich werde meine Büros nicht verkaufen, denn ich fühle mich euch gegenüber verpflichtet. Darum seid Ihr jetzt die Chefs. Sie dachten erst, ich scherze, sie konnten es nicht glauben. Ich wusste, wenn ich malen und schreiben will, brauche ich eine Umgebung, in der ich nicht von Telefonen belästigt werde. 22 OT Susie: Er wollte nach Israel gehen und dort schreiben und malen... Ich bin nicht da, um zuzusprechen oder widersprechen. Ich denke, jeder soll machen, was er will, nicht. Erzählerin: Mit der Ungewissheit zu leben, das kannten sie. Irgendwie würden sie sich schon durchschlagen. Seit Mitte der 60er-Jahre bekam Halter monatliche Wiedergutmachungszahlungen aus Deutschland. Das reichte nicht zum Leben. Susie gab Schwimmunterricht für Kinder, während Roman für ein paar Monate nach Israel ging. 23 OT Halter, engl., Übersetzer:(im Museum) Meine Leinwände brachte ich nach Israel, ich mietete zwei Zimmer in Nahariya, nördlich von Akko. Dort schrieb und malte ich jeden Tag. Genau der richtige Ort. Und als ich fertig war, bin ich nach Yad Vashem gefahren und hab gefragt: ich bin Architekt, kann ich euch helfen? Ich würde gern drei Monate bleiben und mitarbeiten. Ich habe viel für Yad Vashem gemacht, auch das Haupteingangstor. Und ich mache Glasfenster. In Israel erhielt ich den Auftrag für Buntglasfenster für das Leo Baeck College in Haifa. Ich weiß eine Menge über Gusstechniken und habe die Fenster wie eine feine Brosche gestaltet. Sie wirken alt, prophetisch und bedeutsam. Sie sollen daran erinnern, dass das Wesen unserer Welt auf vier Prinzipien beruht: dem Beobachten, dem Lernen, der Tradition und der Gerechtigkeit. Die Fenster gibt es immer noch in Haifa. Musik unterlegen wie oben Aloma: Zeuge (für meinen Vater) Wenn er erzählt was er sah, verlieren die blauen Augen meines Vaters ihre Farbe. Ein blinder Blick. Hoffnungslos wie ein offener Mund. Kind wird Zeuge starrt, versunken, der Welt verloren. Das Blau des Himmels jeder überlebenden Wolke beraubt und in einen Strudel von Blindheit gestürzt hat mehr Farbe Erzählerin: In Nahariya schuf Halter den Zyklus, mit dem er als Maler bekannt wurde: sieben großformatige Ölgemälde, fein ziseliert, von kräftigen Strichen durchzogen, als sollten auch sie einmal in Glasfenster umgesetzt werden. 2005 waren die Bilder in der Tate Britain zu sehen, dann kaufte sie das Londoner Imperial War Museum. A 04 Im Imperial War Museum Erzählerin: Im Sommer 2009 füllten sie einen Raum in der Ausstellung "The Unspeakable", das Unaussprechliche: Für Kinder unter 14 nicht empfohlen. 24 OT Susie Die Bilder von Roman sind alle Erinnerungen von sehr schweres Leben und auch das schönste Bild von seiner Mutter. Mir gefällt das am besten. Das ist wie ein schlechtes Traum, aber das ist die Wahrheit. Er spricht die Wahrheit und darum ist es so gut, dass es im Imperial War Museum ist. Das ist ein sehr, sehr schönes Bild. Er hat sich erinnert als kleiner Bub wie die Mutter war. 25 OT Halter, engl., Übersetzer: Wenn die Menschen zur Synagoge gingen, machten sie sich zurecht, und die Frauen schminkten sich. Ich saß unten zwischen meinem Vater und meinem Großvater, und oben auf der Empore konnte ich meine Mutter sehen. Erzählerin: Eine junge Frau hat Roman Halter gemalt, mit sinnlichen roten Lippen, die ein Baby an die Wange drückt, Stirn und Augen mit einem durchsichtigen Spitzenschleier verhüllt. Ein Schleier, gewebt aus Gesichtern. Ein anderes Gemälde zeigt den zornigen Moses, der die Gesetzestafeln zerschmettert, als er seine Gefolgschaft um das goldene Kalb tanzen sieht, ein weiteres einen Gekreuzigten: Halters Halbbruder Schlomo, der 1940 gehängt wurde. 26 OT Halter, engl., Übersetzer: (Ende vor. Text überlagert Anf. O-Ton) Das Bild dort zeigt das KZ Stutthof, Mütter, die mit ihren neun- oder zehnjährigen Kindern wegtransportiert wurden. Ihre Männer verloren darüber jeden Lebensmut, und warfen sich in den Stacheldraht, der unter Strom stand. Ich sah, wie sie starben. Es gab drei Phasen: Zuerst weiteten sich ihre Augen, dann zuckten und wanden sie sich, schließlich brachen sie zusammen und starben. Erzählerin: Während Roman Halter im Imperial War Museum seine Bilder kommentiert, kommt plötzlich ein Junge, vielleicht 16 Jahre alt, und drückt ihm schweigend die Hand. Dann dreht er sich um und geht weg. Er hatte die ganze Zeit zugehört. Atmo Imperial War Museum Erzählerin: In einem weiteren Raum hängen Linolschnitte. Halters jüngste Tochter Aviva hat sie nach seinen Bildern gefertigt. Albtraumszenen. Jetzt, wo er alt ist, hat Halter viele schlechte Träume. Dann steht er nachts auf und malt. Aquarelle. Träume müssen schnell aufs Papier sonst sind sie weg. 27 OT Bardget, engl, Übersetzerin 2: Heute gibt es viel Interesse, aber in den 50er-Jahren war wenig Sympathie da für Ausländer mit diesen dunklen, schwierigen Erfahrungen. Heute ist es anders. Wir haben etwa 800 Besucher täglich in der Holocaust-Ausstellung. Erzählerin: Auf Video-Monitoren erzählen Überlebende ihre Geschichten, auch Roman Halter. Und dann besitzt das Museum einen Stummfilm, ein ganz besonderes Dokument, sagt die Ausstellungsmacherin Suzanne Bardget. Ein Film vom 14. August 1945, gedreht im Prager Flughafen. 330 jüdische Waisen vor dem Abflug nach England. 28 OT Bardget, engl., Übersetzerin 2: Eine Szene zeigt Roman Halter, der auf einem Gepäckwagen über den Flugplatz geschoben wird, er genießt das sehr. Und dann sieht man wie die Kinder ins Flugzeug einsteigen, es gab keine Sitze wie in einem normalen Passagierflugzeug, es war ein Bomber, und ich denke, sie saßen einfach auf den Treibstoff-Leitungen. 29 OT Roman Halter, engl., Übersetzer: Ja. Wir lagen alle auf dem Fussboden dieses Lancaster-Bombers. Wir hatten keine Angst. Nein. Wir lachten und machten Witze. Wir fragten uns, wo England wohl sein möge, wir hatten keine Ahnung. Wir wussten, dass es irgendwo existierte, aber über die geographische Lage wussten wir nichts. Erzählerin: Insgesamt wurden 732 Kinder und Jugendliche in ein neues Leben ausgeflogen. In ein Land, dessen Sprache sie nicht kannten, das aber bereit war, sie aufzunehmen und zu versorgen. A 05 vor der Beerdigung, Stimmen Erzählerin: Die meisten blieben in England; sie nennen sich bis heute "The Boys", obwohl auch Mädchen dabei waren.1965 gründeten sie eine eigene Hilfsorganisation, die "45 Aid Society", um den Bedürftigen in ihren Reihen zu helfen. Roman Halter gehört zu den Gründern. Die Gruppe veranstaltet einmal im Jahr ein großes Treffen. Inzwischen begegnen sich die 'Boys' immer häufiger bei Beerdigungen - wie im Sommer 2009 zur Totenfeier von Arthur Poznanski. A 06 hebräischer Gesang von Beerdigung, schon etwas eher unterlegen Erzählerin: Manche der Boys nennen die Gruppe ihre 'neue Familie', Halter tut das nicht. Er geht seine eigenen Wege, hört auf seine innere Stimme. Schrieb "Romans Reise durch die Nacht ? Bericht eines Überlebenden", 20 Jahre lang. Dass das Buch 2007 erscheinen konnte, verdankt er seiner Tochter Aloma. Sie ordnete seine Erinnerungen. - folg.auf Musik- Halter (Auszug aus Buch, erinnernd, weit weg): Als die Nacht hereinbrach, setzte sich der Zug wieder in Bewegung. Aufrecht gegen die Bretterwand gepresst, nickte ich immer wieder ein und schreckte auf. Das Astloch war mein Lebensspender. Mit jedem Atemzug tankte ich frische Luft. Wir rollten weiter bis zum Morgengrauen, bis der Zug wieder hielt, zurück setzte, rangierte und stoppte. Ich spähte durch die Bretter. Zuerst sahen wir draußen nur Nebel. Dann erkannten wir hohe Stacheldrahtzäune und jenseits davon lange Baracken, als plötzlich die Waggontüren aufgeschoben wurden. Niemand rührte sich. Wir blieben, wo wir waren, zusammen gepresst zu einer Masse entkräfteter, ausgehungerter und durstiger Leiber. Dann kamen SS-Männer mit ihren Hunden und brüllten: Raus! Los runter! Schneller ? schneller! 30 OT Aloma, engl., Übersetzerin (schon über den vorherigen Buch-Ausschnitt legen): Mein Vater kann nicht anders, es ist diese große Flut an Erinnerungen. Sie verschlingt ihn, das Wasser steigt immer höher und er tut sein bestes. Er schrieb und schrieb und schrieb viele Jahre lang, durch die 70er und die 80er. Ich dachte, wenn ich dieses Projekt nicht bald in Angriff nehme, wird mein Vater es nicht mehr erleben. Ich sah, dass es viel zu viel Material war und sagte: Stopp! Schick mir nichts Neues mehr. Ich arbeite mit dem, was ich habe. Keiner will 800 Seiten lesen. Es muss eine normale Länge bekommen. Ich sagte ihm, dass ich es kürzen würde. Er war so froh, dass ich es übernahm. Und es war schön, er vertraute mir einfach. - folg.auf Musik- Halter (Auszug aus Buch): Sie suchten etwa 30 Männer für die Demontage von Maschinen, die sich irgendwo in der Nähe von Posen befanden. Wir mussten im Gänsemarsch an ihnen vorbei laufen. Ich wusste, wenn ich nicht genommen werden würde, hätte ich keine Chance zu überleben. Also nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und sagte in meinem besten Deutsch: "Ich bin fingerfertig" und zeigte meine Hände. Ein SS-Mann wollte schon sein Gewehr heben, als Czarnulla sagte: Nein, nicht schlagen. Er lächelte mich gequält an und schaute hinüber zu Alfred Chimowicz. Chimowicz nickte. - Musik weg- Erzählerin: Halter erzählt aus der Perspektive des Jugendlichen, der er war, als die Deutschen in Polen einmarschierten. Seine persönlichen Erlebnisse versucht er abzugleichen mit Informationen von anderen. So kam Albert Speer ins Spiel. Als Halter im November 1944 nach Dresden gebracht wurde, um dort in einem Gebäudeteil der Zigarettenfabrik Reemtsma Munition herzustellen, war Speer nicht nur Reichsminister für Bewaffnung und Munition, sondern für die Organisation der gesamten Kriegswirtschaft zuständig. 31 OT Halter engl., Übersetzer: Wir kamen sehr früh am Morgen an. Ich erinnere mich nicht mehr, an welchem Bahnhof, aber sie ließen uns vom Bahnhof zur Fabrik marschieren, Schandauer Straße 68. Dresden war wunderschön. Ich schaute nach rechts und links und dachte: Wenn ich überlebe, werde ich Architekt. Es ist schon erstaunlich, dass der Hunger meinen Sinn für das Schöne nicht zerstört hat. - folg.auf Musik- Halter (Auszug Buch), läuft weiter unter nächstem O-Ton: Als in unsere Fabrik eine Bombe einschlug, schickte die SS zwei Männer aufs Dach. 32 OT Halter engl., Übersetzer, über den Buch-Auszug: Normalerweise sagten die Lautsprecher: "Achtung, Achtung Luftwaffenmeldung" und die Flugzeuge flogen vorbei nach Chemnitz oder Leipzig. Aber diesmal fielen plötzlich die Bomben. Sehr schwere Bomben. Das Ganze Gebiet wurde durchgeschüttelt. Halter (Auszug Buch): Die Sanitätsbaracke stand in Flammen und die Kranken, die nicht flüchten konnten, verbrannten bei lebendigem Leibe. ... kurze Zeit später waren wir auf der Straße. Wir mussten uns gleich zu Boden werfen, als meterhohe Feuerbälle auf uns zu rollten. 32 OT weiter Halter engl., Übersetzer Und wir wurden nachts an die Elbe gebracht, an den Fluss. Die jungen SS-Leute wussten nicht, was sie tun sollten, aber unser Anführer aus Lodz sagte zu ihnen: "Wenn wir hierbleiben, sterben wir an Rauchvergiftung", denn die Fabrik brannte. Er sagte, jeder von uns solle sich eine Decke nehmen, sie nass machen und zwei Löcher rein schneiden. Wir marschierten durch die Straßen und das Feuer kam auf uns zu. 31 Erzählerin: Nach der Feuersbrunst wurden die Zwangsarbeiter zurück in die Fabrik getrieben: Aufräumen, Maschinen säubern, Leichen wegschaffen... Knapp entging Halter der Exekution durch wütende SS-Männer und schließlich hieß es: Antreten, zum Marsch weiter nach Westen. Zum Todesmarsch. Ein Büroangestellter der Fabrik, Herr Braun, versprach Halter Hilfe zu für den Fall, dass er fliehen und zurück kehren könne. Das gab ihm Kraft. Er floh in der dritten Nacht, versteckte sich in der Zigarettenfabrik, wo Hunde ihn wegen des Tabakgeruchs nicht orten konnten, und tauchte schließlich bei einem deutschen Ehepaar, Kurt und Hertha Fuchs, in Oberpoyritz, einem Dorf am Stadtrand von Dresden, unter. Die Hilfe währte ein paar Wochen. Der Krieg war vorbei, als Roman Halter eines Nachts von seinem Großvater träumte. - folg.auf Musik- Halter (Ausschnitt aus Buch): "Steh auf und geh sofort zurück nach Chodecz", drängte er. Ich hörte seine Stimme so deutlich, dass ich aus dem Bett sprang und begann, mich anzuziehen. Erst dann wurde mir bewusst, dass ich nur geträumt hatte. Ich sehnte mich nach meiner Familie und meinem Zuhause Und so sagte ich dem Ehepaar Fuchs, dass ich beschlossen hatte, so bald wie möglich in meine Stadt in Polen zurück zu gehen. 33 OT Aloma, engl., Übersetzerin: Sie verstehen das nicht und sagen: Bleib, bleib, bleib, aber er geht gerade rechtzeitig, bevor SS-Leute kommen und den anderen, der auch versteckt war, erschießen. Das war seine innere Stimme, die sagte: geh jetzt nach Hause. Sofort. Gleich nach der Befreiung. Erzählerin: In Polen war Halter nicht willkommen. Längst wohnte eine andere Familie in seinem Elternhaus und all seine Verwandten waren tot. Er wusste nichts Besseres, als zu den freundlichen Deutschen nach Oberpoyritz zurück zu kehren. Dort erwartete ihn eine böse Überraschung: Hertha Fuchs war außer sich vor Schmerz und schickte ihn weg. Versprengte SS-Leute hatten - am 12. Mai 1945 - nicht nur einen der Juden erschossen, die sie noch versteckt hielt, sondern auch ihren Mann. 1996 wurden Hertha und ? posthum - Kurt Fuchs als "Gerechte unter den Völkern" in Yad Vashem geehrt. Zu diesem Anlass sehen sich Roman Halter und Hertha Fuchs wieder. 2002 treffen sich die beiden zum letzten Mal. Ein Journalist filmt die Begegnung. 34 OT Halter engl., Übersetzer: Der Reporter sagte: Frau Fuchs, Sie und Ihr Mann haben drei Juden aufgenommen. Wenn das heraus gekommen wäre, hätte man Sie erschossen. Zusammen mit den drei Juden. Warum haben Sie es trotzdem gemacht? Frau Fuchs hatte noch einen klaren Verstand und ein reizendes Gesicht, blaue Augen, graues Haar im Nacken zusammen gebunden, schaute in die Kamera und sagte: mein Mann und ich fühlten das gleiche, wir mussten es einfach tun. Dann drehte sie sich zu mir und sagte: Roman, du hättest das auch getan, nicht wahr? Ich sagte: Frau Fuchs, Sie sind so ein wundervolles Beispiel. Ich würde so gern sagen: Ja. Aber ich weiß, das ist leichter gesagt als getan. Aloma Gedicht) Buntglas (für meinen Vater) Die Blautöne im bunten Glas meines Vaters sind beständiger als das seiner Augen die ihre Farbe verloren am Tag als er sah. Azur, Kobald, Aquamarin: Das Rot, das unvergessliche Rot. .. Durch die Fragmente seines Lebens sickert das Licht einer Welt, die ich nicht kenne. Ich kann nicht durchschauen. Musik hoch und raus Erzählerin: 1971 hatte Roman Halter Albert Speers Einladung ausgeschlagen. 1980 schrieb er erneut nach Heidelberg. Mit zwei Freunden aus der Gruppe der Boys wollte er Speer nun doch treffen. 35 OT Halter, engl., Übersetzer: Nein, nein, nicht um mich zu versöhnen. Ich wollte die Wahrheit über die Vergangenheit wissen. Was bleibt, soll weder eine Lüge noch ein Phantasiegebilde sein, es soll die Wahrheit sein. Und ich fühlte, dass er einiges zur Wahrheitsfindung beitragen konnte. Man weiß ja nicht, Menschen ändern sich und vielleicht hatte er in der Zeit in Spandau ja darüber nachgedacht, wie sein Fanatismus ihn weggetragen hat, und die Macht, die er hatte. Speer: 16. November 1980 Lieber Herr Halter, ....Ich war in den Bergen, um ... mein Manuskript in Ruhe zu beenden. Als ich zurück kam, fand ich Ihren Brief. Jetzt ist es zu spät für den von Ihnen vorgeschlagenen Besuch in Heidelberg. Und ich stehe weiter unter Druck bis Mitte Dezember. Wie wäre es mit dem 15. Dezember um 19.30 Uhr? Es wäre für uns eine Ehre, wenn Sie eine Einladung zum Abendessen annehmen würden. Lassen Sie uns in jedem Fall telefonieren. Geben Sie mir Ihre Telefonnummer. Natürlich würden wir Ihre Freunde an diesem Abend gern mit einladen. Ich freue mich auf das Treffen Mit besten Wünschen, Albert Speer 36 OT Halter, engl., Übersetzer: Als er uns einlud, bin ich in meiner Vorstellung die Begegnung durchgegangen. Wir würden ankommen, Albert Speer würde mir die Hand schütteln, mich ins Haus bitten und sagen: "Wollen Sie mit uns zu Abend essen? Dies ist meine Frau, dies sind meine Kinder. Erzählen Sie mir von Ihrer Vergangenheit." Ich konnte das nicht tun. Ich habe meine Familie sterben sehen, meine Freunde. Meine ganze Gemeinde war tot, von 800 Menschen überlebten nur 4. Die ganze Zeit über wurde gemordet. Halter, Brief 27. November 1980 Herr Albert Speer, Ich bestätige den Empfang Ihres Briefes vom 16. November 1980 und Ihre freundliche Einladung zum Abendessen am 15. Dezember 1980. Ich habe viel darüber nachgedacht, und obwohl ich mich bei niemandem entschuldigen muss, möchte ich Ihnen darlegen, warum ich nicht kommen werde. Erzählerin: Halter schreibt Speer in seinem Antwortbrief von dem, was er erlebte, und er zitiert die Worte seines Großvaters: "Wenn du überlebst, bezeuge alles." Brief Halter Obwohl meine Neugier und sogar eine seltsame Faszination bei dem Gedanken, Sie zu treffen und einige Fragen über die Vergangenheit zu stellen, Teil meines Wunsches war, Sie zu sehen, fühle ich doch jetzt, dass ich die Erinnerung an meine Familie, meine Freunde und mein Volk, das auf verschiedene brutale Weise ermordet wurde, verraten und entehren würde, sollte ich kommen und mit Ihnen Brot brechen. Speer: Heidelberg, 16. Januar 1981 Lieber Herr Halter, Mit großem Bedauern und voll Trauer habe ich Ihren Brief vom 28. November gelesen. Ich verstehe und akzeptiere Ihre Entscheidung völlig, meine Einladung abzulehnen. Sicher wissen Sie selbst, dass Ihr erster und Ihr zweiter Brief sich sehr unterscheiden. Ohne die Herzlichkeit Ihres ersten Briefes hätte ich diese Einladung an Sie und Ihre Freunde nicht ausgesprochen, die ? wie ich nun sehe ? wohl ihre Gefühle verletzt und Sie sogar beleidigt hat. Das war niemals meine Absicht. Brief Halter-Übersetzer: Sie waren einflussreicher Minister in einer Regierung, deren ...Politik darin bestand, uns zu hassen und zu ermorden. Das ist ein Fakt. Es ist auch Fakt, dass diese Gruppe von 500 aus dem Ghetto Lodz nicht in die Gaskammern geschickt wurde wegen eines Stücks Papier von Ihnen. Als Überlebender leugne ich nicht, dass es gut ist zu leben. Aber in meinem Hinterkopf nistet der Gedanke: Hat Herr Speer diese Notiz, die uns in Auschwitz rettete, deshalb geschickt, weil er im Herbst 44 einige Juden retten wollte oder nur deshalb, weil wir geschickte Metall- und Munitionsarbeiter waren? Geschah es aus Menschlichkeit und Mitleid für uns oder zählte nur die Tonnage an Munition? Speer-Brief: Lieber Herr Halter, Es mag angesichts der Leiden, die Sie durchgemacht haben, wahrscheinlich wenig bedeuten, dass ich in den Nürnberger Prozessen ohne Verbitterung die volle Verantwortung für die Verbrechen übernommen habe, die unter Hitler gegen ihr Volk verübt wurden, und dass ich ? als Konsequenz ? 21 Jahre im Gefängnis war. Noch weniger mag es Ihnen bedeuten, dass ich versucht habe und immer noch versuche, in meinen Büchern und Vorträgen davor zu warnen, dass solche Dinge jemals wieder geschehen. Diese Haltung werde ich auch in Zukunft einnehmen. Ihr ergebener Albert Speer Brief Halter-Übersetzer: Ich verschwende meine Zeit nicht mit Hass, aber es tut weh, dass die, die ich liebte, leiden mussten und ermordet wurden. Ich fühle Verachtung für Anführer, die ? nur um Macht zu erlangen und sie zu behalten ? bereitwillig einem politischen System dienten, dessen erklärtes Ziel es war, Millionen von Kindern, Müttern und unschuldigen Menschen zu ermorden. Ursprünglich wollte ich kommen und Ihnen dies von Angesicht zu Angesicht sagen, aber dann habe ich beschlossen zu schreiben. Roman Halter Erzählerin: Einige Monate nach diesem Brief, am 1. September 1981, starb Albert Speer in London an einem Schlaganfall. Atmo IWM 37 OT Halter, engl., Übersetzer: In der Glasmalerei ist das französische Blau bei Weitem die schönste Farbe. Man sieht es hier, es ist wundervoll. Das Beste Glas kommt aus Frankreich und Deutschland. Ich fertige meine Entwürfe auf Papier und brauche lange für die Motive und die Farbauswahl. Dann erst wähle ich das Glas aus. Das hier ist ein Kidduschbecher, aus dem der Wein getrunken wird. Dies ist eine Thora, für Pessach. Das Schofar. Für die Holocaust-Darstellung habe ich sie teilweise in Rot gestaltet, weil wir in Auschwitz alle einen roten Winkel tragen mussten. Juden wurden als Politische klassifiziert. Erzählerin: Roman Halter bessert seine magere Rente damit auf, dass er königliche Wappen in Bronze herstellt, die an britischen Botschaften in aller Welt angebracht werden. Und er gestaltet bunte Glasfenster für Synagogen. Fenster, die Räume zum Leuchten bringen, wie in der North Western Reform Synagoge in Hampstedt Garden oder im Lady-Sarah-Cohen-Haus. In den Flächen jüdische Symbole, Früchte, Lebensbäume, Vögel. Und immer wieder findet er neue Worte und Bilder für den Holocaust. Absage "Herr Albert Speer, ich leugne nicht, dass es gut ist zu leben" Roman Halters Weg, die Vergangenheit zu bewältigen Sie hörten ein Feature von Mechthild Müser Es sprachen: Isis Krüger, Wolf Aniol, Ursula Illert, Reinhart Firchow und Claudia Mischke Ton und Technik: Eva Pöpplein und Jana Brandt Redaktion: Ulrike Bajohr Regie: Thomas Wolfertz Eine Produktion des Deutschlandfunks 2009 Literatur: Roman Halter, Romans Reise durch die Nacht. Bericht eines Überlebenden, Übersetzer: Norbert Hofmann, Edition Tiamat (54 Zeilen Zitat) Martin Gilbert, Sie waren die Boys. Die Geschichte von 732 jungen Holocaust-Überlebenden, Übersetzer: Reinhard Brennecke, Verlag für Berlin-Brandenburg Heinrich Breloer, Breloer, Heinrich: Speer und Er. Hitlers Architekt und Rüstungsminister. Berlin: Propyläen Verlag Aloma Halter, Gedichte für meinen Vater, unveröffentlicht, aus dem Englischen übersetzt von Almuth Lessing (und Mechthild Müser) Albert Speer, Der Sklavenstaat. Meine Auseinandersetzung mit der SS, Ullstein Verlag 1981 (23 Zeilen Zitat) OT Speer (DRA Archivnummer 00 2844 049, 31.8.1946 Nürnberg, 08 OT Himmler, 4. Okt. 1943 in Posen, (DRA) 46