Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 24. Oktober 2015 – 11.05 – 12.00 Der rote Drache im Westen - Die Andersartigkeit der Waliser Mit Reportagen von Martin Alioth Redakteur am Mikrophon: Gerwald Herter Musikauswahl und Regie: Babette Michel ( DLF 2013) Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar – JINGLE/KENNUNG „Gesichter Europas“ MUSIK-1 O-Ton-1 The best way of expressing our identity and letting the world know that we exist would be to do well in the football world cup. Overvoice: Um unserer Identität den besten Ausdruck zu verleihen und auf uns aufmerksam zu machen, müssten wir bei der Fußball-Weltmeisterschaft gut abschneiden. Mod-0: ….doch alles ist Wales und den Walisern auch nicht gegeben. Ja, sie sind anders, nicht unsichtbar- aber doch unscheinbar anders als ihre englischen Nachbarn oder gar die Schotten. Von Groß-Britannien unabhängig zu werden, das wünschen sich in Wales nicht allzu viele Menschen, empfinden sie sich doch als „wahre Briten“. Den Kampf um die eigene Identität fechten sie trotzdem aus - und zwar durchaus erfolgreich. Es ist noch gar nicht lange her, da war es schwierig, jedenfalls viel schwieriger als heute, Waliserin oder Waliser zu sein und zu bleiben: O-Ton-2 (deutsch!) In der Zeit meiner Großmutter, zum Beispiel, wurde man geprügelt, wenn man Walisisch in der Schule sprach. Und die arme Großmutter konnte kein Englisch. Mod-1: Gesichter Europas: „Der rote Drachen im Westen – die Andersartigkeit der Waliser“. Martin Alioth war für uns in Wales, Sie hören seine Reportagen, im Studio ist Gerwald Herter. Atmo Rep.-1, ca. 43 Sek. Geräusche in der Schmitte Mod-Rep1: Schottland, Nordirland und Wales: der Vergleich zwischen den kleineren Teilen Großbritanniens hilft nicht unbedingt weiter, um der Andersartig der Waliser auf die Spur zu kommen – der Blick auf vergangene Jahrhunderte hilft hingegen schon. Denn neben Sprache, Dichtung und Sangeskunst ist es eben diese Geschichte, die den Nationalstolz bis heute nährt. Wiesen, Moore, Küsten und Hügel prägen auch andere Teile des Vereinigten Königreichs, doch hier halten sich viele immer noch für waschechte Kelten. Mit Alphörnern, Dudelsäcken, Lederhosen, Kilts oder seltsam-exotischen Sportarten können Waliser nicht aufwarten. Womöglich liegt es daran, dass man sich hier an althergebrachte Bräuche und nationale Symbole hält. „Der rote Drache rückt vor“, so lautet der walisische Wahlspruch und selbstverständlich muss dieser „rote Drache“ auch die Flagge zieren. David Petersen versucht dieses Flaggen- und Wappentier am Leben zu halten: REPORTAGE 1. Der Schmied des roten Drachen 6.26 Atmo: Zischen, ca. 7 Sekunden Das rotglühende Eisen wird im Wasser gekühlt. Wird hier eine Nation geschmiedet? David Petersen ist Künstler und Schmied. Neben seinem verwitterten Hexenhaus über dem Städtchen St. Clears steht seine Schmitte, wo er unter anderem eine Skulptur des roten Drachen von Wales verfertigte. Vortigern is involved, the great warrior chieftain, and he set about to build the great castle at Dinas Emrys… Vortigern, der römisch-keltische Krieger aus dem 5. Jahrhundert, wollte ein Schloss in Dinas Emrys bauen. Doch die Mauern fielen immer wieder in sich zusammen. Da riet ihm der Druide Merlin, der damals erst 12 Jahre alt war, die Höhle unter der Baustelle zu öffnen. Und siehe da: aus der Höhle entflogen zwei Drachen, ein weißer und ein roter, deren nächtliche Raufereien das Gemäuer immer wieder zum Einsturz gebracht hatten. ...if you believe in dragons, that’s up to you. But the symbolism was that the Welsh dragon defeated the English dragon and was therefore adopted as the emblem of Wales. Da habe der rote walisische Drache den weißen Drachen der Sachsen besiegt und wurde deshalb zum Wappentier. Pikanterweise wird der legendäre Vortigern beschuldigt, die Sachsen unter Hengist und Horsa überhaupt erst ins Land geholt zu haben. Petersen beschreibt seinen Drachen: The Welsh dragon has to have certain things: it has to have the head of an aligator, the mane of a horse, the neck and body of a lion, the claws of a eagle, the wings of a bat, the tail of a serpent, etc etc etc. Er hat den Kopf des Aligators, die Mähne des Pferdes, den Körper des Löwen, die Klauen des Adlers, die Schwingen der Fledermaus und den Schwanz der Schlange. – Kein reinrassiges Tier, also. I’m a bit of a bastard, myself, you know. I’m partly Irish, partly Norwegian – but I’m a 100% Welsh. I was born here, but it’s what I feel. Er sei selbst ein Mischling, sagt Petersen, mit irischem und norwegischem Blut. Aber er sei zu hundert Prozent Waliser. – Als solcher mischt er kräftig in der walisischen Kulturszene mit, nicht nur als Künstler sondern auch als Regisseur und Kritiker. So, we have an enormous amount of culture, in Wales, but there is no support, there is no funding, there is no backing for Welsh culture. Zwar gebe es ein riesiges Kulturangebot in Wales, aber keine Förderung der walisischen Kultur. It all stems back from this political necessity to make sure that Wales does not celebrate it’s own identity. Das entspringe der politischen Notwendigkeit, dass Wales um jeden Preis daran gehindert werden müsse, seine eigene Identität zu feiern. – Doch wie begründet er diese angebliche Notwendigkeit? Westminster desperately needs the socialist vote from Wales (Wales is a predominantly socalist nation)... Das britische politische System brauche Labour-Stimmen aus dem sozialistischen Wales. Wenn die wegfielen, wäre die britische Labour-Partei in London für immer in der Opposition. …as soon as you split or take away that Labour vote from Wales, it means the Labour Party, the British Labour Party, will be resigned to be in opposition forever. Deshalb, so Petersen, förderten die walisischen Kulturpäpste, die alle mehr oder weniger von Labours Gnade abhängig seien, mit Vorliebe britische Kultur – und das bedeute englische Kultur. Denn walisische Kultur würde ja die Andersartigkeit unterstreichen und damit womöglich den Separatimus nähren. Er listet Beispiele aus der bildenden Kunst, aber auch aus dem Tanz und der Oper auf. The keepers of art are, and have been, almost exclusively from London. Die Kuratoren der Kunstmuseen kämen fast immer aus London. They come and do their colonial stint in one of the colonies, Wales being one, and then they bugger off, having done, we pray, not too much damage to our indigenous culture. Die kämen vorübergehend in die walisische Kolonie und verdrückten sich wieder. Er könne nur hoffen, dass sie in der einheimischen Kultur keinen allzu großen Schaden angerichtet hätten. – Dabei sei die walisische Kultur in all ihren Ausprägungen überaus vital. Petersen gerät ins Schwärmen über eine alte Tradition, walisische Bibeltexte auswendig in einem Dreiton-Singsang in der Gemeinde zu deklamieren. Das nennt sich Cymanfa Bwnk: And, to be present at a bunk is one of the most hair-raising, electric, emotional, ancient… Das sei eine haarsträubende, gefühlvolle, elektrische Bekräftigung der eigenen Identität. …personal declaration of an identity, and it is beautiful. Now, you don’t need any money for that, so that can happen. Immerhin sei das kostenlos, deshalb finde es immer noch statt. - Petersen ist nicht der einzige Waliser, der die Geringschätzung aus London beklagt. It comes to the fore on the old butcher’s apron, of course, where Wales is not represented. – Just so that people know what I’m talking about: I’m talking about the Union Jack. Das zeige sich ja deutlich an der Metzgerschürze, wie er die britische Flagge nennt, auf der Wales nicht vertreten sei. There was, and there still is, a perception that Wales – and this hurts probably like a dagger through the heart, whenever I hear it – what part of England is Wales? Es schmerze ihn jedesmal wie ein Dolch mitten durchs Herz, wenn Leute fragten: welcher Teil Englands ist Wales? MUSIK-2 Literatur-Musik Mod-Lit-1: Welcher Teil Englands ist Wales? Abseits aller Missverständnisse und Diskriminierungs-Theorien und auch abseits exakter Geographie hat der walisische Schriftsteller Dylan Thomas diese Frage literarisch ziemlich eindeutig beantwortet: der wohl trostloseste Teil, den man sich vorstellen kann! Bis zu seinem Tod 1953 hatte Dylan Thomas einige Jahre lang in einer südwalisischen Kleinstadt gelebt, die zum Vorbild für den fiktiven Ort Llaregub wurde – dem Schauplatz des Stücks „Unter dem Milchwald“, diesem „Spiel für Stimmen“. Eine der Stimmen ist die eines Reiseführers: Literatur 1: „Nicht ganz fünfhundert Seelen bewohnen die drei altmodischen Straßen und wenigen engen Nebengassen und verstreuten Gehöfte, aus denen dieses kleine heruntergekommene Seebad besteht. Man kann es in der Tat als einen Nebenarm des dahinströmenden Lebens bezeichnen, ohne dabei den Bewohnern zu nahe treten zu wollen, welche sich bis auf den heutigen Tag ihre eigene gesalzene Art erhalten zu haben. Die Hauptstraße, Krönungsstraße genannt, besteht vorwiegend aus bescheidenen zweistöckigen Häusern, von denen viele versuchen, ein einigermaßen fröhliches Aussehen zu gewinnen, indem sie mit grellen Farben herausgeputzt und verschwenderisch rosa getüncht sind. Andererseits hat der Ort auch einige wenige anspruchsvolle Häuser aus dem 18. Jahrhundert aufzuweisen, die sich aber im großen und ganzen in einem traurigen Zustand des Verfalls befinden“. Mod-Rep-2: Verfall! Die reichen Kohlevorkommen hatten Wales einst einen Platz im Getriebe der industriellen Revolution gesichert. Ende des 19. Jahrhunderts sorgte die Mine von Penrhyn für einen seltsamen Rekord. Sie galt als das größte jemals von Menschenhand ausgehobene Loch weltweit. Hier streikten die Kumpel zu Anfang des 20. Jahrhunderts einige Jahre lang. Gewerkschaften waren in Wales stärker als anderswo und mit ihnen auch die Labour-Party. Oft mischte sich Syndikalismus mit walisischem Patriotismus, doch erst im 20. Jahrhundert erreichte das Phänomen eine größere Bedeutung. 1974 lehnte eine große Mehrheit der walisischen Stimmberechtigten die Einrichtung eines eigenen Regionalparlaments ab, erst 1997 war das dann anders: Zwei Jahre später wurden 60 Abgeordnete in die National Assembly of Wales gewählt. Die walisische Labour-Party dominiert seitdem alle Regierungen, mitunter unterstützt von Koalitionspartnern. Die Unabhängigkeit von England will Labour nicht – im Gegensatz zu anderen: REPORTAGE 2: Zu arm für die Sezession? 5.57 Atmo: Schritte im Schnee Neben einem Museum für den Kohlebergbau im Rhondda-Tal von Südwales stapft Leanne Wood, die neue, junge Vorsitzende der walisischen Nationalistenpartei Plaid Cymru, durch den frischen Schnee: Welsh nationalism for me is civic nationalism, not identity based. Everyone who lives on this land has a stake in the future, that is basically what Plaid Cymru is all about. Der walisische Nationalismus stütze sich nicht auf Identität sondern umfasse alle, die in Wales wohnten. – Sie nennt die walisische Sprache, die noch von einem Fünftel der rund drei Millionen gesprochen wird, und einen politischen Schwerpunkt links von der Mitte als Merkmale der walisischen Andersartigkeit. Another thing that coal brought with it was ideas: socialism was born in South Wales as an idea and the red flag was raised in Merthyr which is another valley… Mit dem Kohlebergbau kamen Ideen, sagt sie: Der Sozalismus sei in Südwales zur Welt gekommen, die rote Fahne sei erstmals im Nachbartal, in Merthyr Tydfil, gehisst worden. - Seit dem Untergang der Kohle indessen ist Wales wirtschaftlich ins Hintertreffen geraten. Deshalb wollen Wood und ihre Partei als erstes den Rückstand zu England eliminieren: We must reverse that decline. I can’t see how we can do that while we depend on a much bigger economy where decisions are made not in our interests. Das könne aber nicht geschehen, solange Wales von einer viel größeren Wirtschaft abhängig sei, und Entscheidungen anderswo gefällt würden. I think, my reading of the situation is that people fear that we can’t afford independence… Es werde befürchtet, man könne sich die Unabhängigkeit nicht leisten. Ihre Partei müsse den Nachweis erbringen, dass erst ein unabhängiges Wales seine Möglichkeiten voll ausschöpfen könne. …but actually, we will prosper and reach our full potential with independence in a way that we can’t without it. Dazu will sie vorerst zum mindestens das Recht, den Einkommenssteuersatz zu variieren. Derzeit erhält das walisische Parlament alle Mittel aus London. Aber Leanne Wood ist auf den langen Marsch eingerichtet. I think that devolution has established Wales as a fact now. We are no longer some sort of imaginary concept, we are a factual nation. Die Selbstverwaltung habe Wales von einem Phantasiegebilde in eine tatsächliche Nation verwandelt. - Darauf will sie aufbauen. Atmo: Warning: Vehicle reversing (und dasselbe auf walisisch) Vor einem Verwaltungsgebäude in Cardiff manövriert ein Lieferwagen der Stadtwerke. Pflichtschuldig meldet ein Lautsprecher zweisprachig, dass das Vehikel rückwärtsfahre. Dieses Regierungsviertel ist unübersehbar britische Konfektion. Die Gebäude könnten ebenso gut in Dublin oder Delhi stehen. Selbst der Glockenschlag kopiert Big Ben: Atmo Glocke In einem der Büros erläutert der walisische Ministerpräsident, der Labour-Politiker Carwyn Jones, warum Wales im britischen Staatsverband bleiben sollte: Why be independent? We know that we raise about 85% of what we spend… Warum sollte Wales unabhängig sein? Das Land decke seine eigenen Ausgaben nur zu etwa 85 Prozent. ….so, my view is: we can express our nationality without the need for a political state to envelop that nationality. Wales könne seine Nationalität gut ohne eine staatliche Hülle ausdrücken. – Er weiß die Bevölkerung auf seiner Seite: If you look at the opinion polls: autonomy is backed by about 80% of the population… 80 Prozent befürworteten die Selbstverwaltung, aber nur 15 Prozent die Unabhängigkeit. – Wie erklärt er sich denn den riesigen Unterschied zu Schottland, was den Wunsch nach Eigenstaatlichkeit betrifft? Oil. The fact that Scotland has oil… Öl, sagt er lapidar. Die schottischen Nationalisten könnten behaupten, sie wären allein besser gestellt. …That doesn’t apply to Wales. .. Wales habe zwar einst die reichsten Kohlevorkommen der Welt gehabt, aber diese Zeiten seien längst vorbei. – Und so sucht der Erste Minister, der sich keinerlei Ilusionen über die englische Geringschätzung für alles Walisische macht, andere Formen, um die walisische Andersartigkeit auszudrücken: The best way of expressing our identity and letting the world know that we exist would be to do well in the football world cup. Die beste Art, die walisische Identität auszudrücken, wäre ein Erfolg in der Fußballweltmeisterschaft, sagt er. – Atmo: Straßenmusikanten in Cardiff In der Einkaufsstraße von Cardiff wird musiziert. Der Drang nach Eigenstaatlichkeit scheint nicht so ungestüm zu sein, Wales wird ja auch schon seit über 700 Jahren von England kontrolliert. Deshalb findet die Andersartigkeit andere Ventile in der Sprache, in der Kultur schlechthin und im Sport. Der Erste Minister Jones ist sich allerdings bewusst, dass die Karten neu gemischt werden müssten, falls Schottland das Vereinigte Königreich verlassen sollte. Atmo: Polizeisirene Dann wäre das englische Übergewicht im verbleibenden Rumpfstaat allzu groß. Literatur-Musik: Literatur 2: „Gibt es hier auch wenig, was den Bergsteiger, den Erholungsbeflissenen, den Sportsmann oder den Wochenend-Autofahrer anziehen könnte, so kann doch der besinnliche Gast, falls er sich hinlänglich angezogen fühlt, um einige Mußestunden zu erübrigen, in diesen Kopfsteinpflasterstraßen und im kleinen Fischerhafen, in den verschiedenen örtlichen Sitten und Gebräuchen und in den Gesprächen der Einheimischen einiges von jenem pittoresken Gefühl für die Vergangenheit finden, das in Städtchen und Dörfern, die mehr mit der Zeit gegangen sind, so häufig fehlt. Der Fluß Dewi soll reich an Forellen sein, die aber von den Ortsansässigen auf unsportlicheArt gefangen werden. Das einzige Gotteshaus mit seinem vernachlässigten Friedhof ist baulich nicht von Interesse.“ MUSIK-3 Mod-3: Trostlos war Wales also für Dylan Thomas, das Dorf Llaregub war für ihn womöglich auch Sinnbild seines eigenen Niedergangs - er galt als Säufer und Frauenheld, der zu früh an einer Lungenentzündung verstarb. Und doch hat Dylan Thomas zum Reichtum der walisischen Kultur beigetragen. Von vielen populären Musikern weiß man heute nur selten, dass sie Waliser sind. Gemeinhin gelten sie als Briten und sehen auch keinen Anlass dafür, ständig auf ihre Wurzeln hinzuweisen. Bei anderen ist es unüberhörbar, ja es muss unüberhörbar sein, woher sie stammen: ATMO-Rep.3: „Gelächter in der Probe“, ca. `23 Den Sängern dieses Männerchors würde auch gar nichts anderes einfallen, als auf die walisische Heimat und Herkunft stolz zu sein. Die Geschichte von Wales ist schließlich auch die des Widerstands gegen Normannen und andere Eroberer. Und die Geschichte des traditionellen walisischen Gesangs soll sich in diesen Bild bemerkenswert glatt einfügen: REPORTAGE 3: Singende Non-Konformisten 5.56 Atmo: Tonleiter des Chorleiters Efion Thomas, der Leiter des Männerchors von Llanelli, stimmt seine Schützlinge ein. Es ist Probeabend in einem Gemeinderaum etwas außerhalb der Stadt, etwa 60 Chorsänger meist vorgerückten Alters sitzen dicht beisammen. Sie sind alle hochkonzentriert. Fredy Elias, einer der Sänger, klärt den Besucher auf: Most of us, our age, now, went to church or chapel or Sunday school. And it goes back to the 1800s. And the love of singing came from that. These days: how many children go to Sunday school? … Ihre Generation sei noch regelmäßig in die Kirche oder die Sonntagsschule gegangen. Daher komme die Liebe zum Chorsingen. Das reiche bis ins 19. Jahrhundert zurück. Welche Kinder täten das heute noch, fragt er rhetorisch. Efion präzisiert: It was the con-conformist chapels, the non-conformist movement which developed more of the choral singing within the community. Die Chortradition in Wales sei von den non-konformistischen Kirchen entwickelt worden. – Dann beginnt die Probe, und der Dirigent führt seine Zügel straff. Atmo: Efion korrigiert. Ca. 30 Sek., dann unter Folgendem Gesang. Unter den non-konformistischen Kirchen in Wales, deren Gotteshäuser Chapels heißen, werden jene protestantischen Glaubensrichtungen zusammengefasst, die nicht anglikanisch sind. In der Folge einer methodistisch geprägten Erweckungsbewegung im Verlaufe des 18. Jahrhunderts büßten die Anglikaner ihre vorherrschende Stellung ein. 1920 wurden deshalb Kirche und Staat in Wales getrennt – im Gegensatz zu England. Zu den Non-Konformisten werden ferner die evangelischen Freikirchen, die Baptisten und andere gezählt. Im Gegensatz zu den englischen Methodisten folgten ihre walisischen Glaubensgenossen immer stärker der calvinistischen Doktrin. Atmo: Gelächter und Gerede In der Pause kommen die Chormitglieder wieder zum Thema zurück. Sie erklären geduldig die feinen Unterschiede zwischen den Kirchen. John Jones fügt einen zusätzlichen Mosaikstein ins Bild: When you go to a rugby match: all the songs that the supporters there are singing, are basically come from church, from the chapels, not the church, from the chapels. Auch die Lieder der heutigen Rugby-Anhänger kämen letztendlich aus der Kirche, beziehungsweise aus den non-konformistischen Chapels. - Auf die Ratlosigkeit ihres Zuhörers über das komplizierte Vokabular reagieren sie mit Humor: But it’s the English’s fault! (Gelächter) Das sei alles der Fehler der Engländer. – Der Männerchor von Llanelli, der inzwischen als einer der besten gilt, wurde 1964 gegründet. Die Sänger waren mehrheitlich Arbeiter im örtlichen Stahlwerk: Our choir came from the local steelworks… Die seien dann zur abendlichen Probe gekommen, und von dort direkt in ihre Nachtschicht. …and they would come to a practice, perhaps, when there was shift working, for example in night-shift. And the practice would be from 7. And at half past eight, they had about 20, 30 people leaving the choir to go to work. Anderswo in Wales waren es die Kumpel in den Zechen, die sich zum Chorsingen trafen: You can compare it, I think, to the spirituals of the deep South in America where the coloured people were singing to take their minds away from the harshness of the situation. Was it the same here? I don’t know. Perhaps it was. Efion Thomas vergleicht das mit den Gospelchören des amerikanischen Südens, wo die Schwarzen sangen, um Ablenkung vom alltäglichen Elend zu finden. Atmo: Walisisches Lied im Chor(ca. 20 Sek. frei) Nach diesem walisischen Lied erklärt Mel Harries, der Sekretär des Chors, wie Sprache, Chor und Chapel verknüpft waren: If you go back to the early 1800s, there were places where places and areas where Welsh wasn’t allowed to be spoken. And one of the few places where Welsh could be spoken was in the churches and the chapels. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts sei die walisische Sprache verboten gewesen. Nur in den Kirchen konnten sich die Waliser in ihrer Muttersprache ausdrücken. Fredy Elias geht noch weiter: The English were trying to subjugate the Welsh… Die Engländer hätten die Waliser unterwerfen wollen. Zu diesem Zweck sollte die Sprache erstickt werden. Kinder, die in der Schule Walisisch sprachen, mussten eine hölzerne Marke um den Hals tragen. Die gaben sie dann an den nächsten Missetäter weiter. Wer bei Schulschluss die Marke trug, wurde verprügelt. – Das wäre heute undenkbar, meint Efion. ...can you imagine doing that now to your children? It would never be allowed. Mit jeder neuen Einzelheit werden die Gemeinsamkeiten mit den schwarzen Gospelchören deutlicher. MUSIK-4 Mod-4: Widerstand – der Überlieferung nach haben die Angelsachsen Wales nie erobern können. Weil sich die keltische Bevölkerung wehrte, aber auch wegen der walisischen Hügel, die militärische Manöver erschwerten. Schon viele Jahrhunderte zuvor war es allerdings den Römern gelungen, auf dem keltischen Gebiet Kastelle und ein Legionslager zu errichten und später, im 16. Jahrhundert besiegelte der Act of Union, der Vereinigungsvertrag die Einführung englischen Rechts und der englischen Sprache. Auch wenn sich das Walisische hartnäckig hielt, so ist Englisch jetzt wieder auf dem Vormarsch: ATMO-4: „Demonstration“, Viele in Wales wollen das nicht einfach geschehen lassen. Das hat nicht allein mit der Pflege der sprachlichen Tradition zu tun, sondern auch mit dem Bewahren einer eigenen Mentalität. Womöglich gibt es tatsächlich so etwas wie eine „walisische Lebenseinstellung“: REPORTAGE 4: Die bardische Meisterin 6.29 Atmo: Skandieren und Trommeln Die Liebhaber und die Verteidiger der walisischen Sprache haben sich in Carmarthen zu einer Kundgebung versammelt. Sie sind besorgt, dass die Statistiken einen Rückgang jener Bürgerinnen und Bürger verzeichnen, die des Walisischen mächtig sind. Im Distrikt Carmarthenshire, dem Kernland der Sprache, fiel der Anteil erstmals unter die Hälfte, in Wales insgesamt unter ein Fünftel. In der Zeit meiner Großmutter, zum Beispiel, wurde man geprügelt, wenn man Walisisch in der Schule sprach. Und die arme Großmutter konnte kein Englisch. Die Enkelin, Mererid Hopwood, wird nicht mehr verhauen – im Gegenteil: die Spanisch-Lehrerin ist eine der angesehensten Exponentinnen der alten brythonischen Sprache, die einst in ganz Großbritannien gesprochen wurde. Ich glaube, dass Wales ohne Walisisch – Cymru ohne Cymraeg - nicht eigentlich existieren kann. Die Sprache stiftet gleichzeitig Identität und grenzt ab: Das Problem, das wir hier in Wales haben, ist, dass ohne die Sprache konnten wir uns kaum von unseren Freunden in England unterscheiden. Wir hatten ja keine Selbstregierung, wir hatten keine königliche Familie, wir hatten nichts, kein Geld, eigentlich überhaupt nichts. Nur die Sprache als Zeugnis unserer Andersartigkeit. Diese Andersartigkeit, erklärt die Linguistin, lässt sich in Einzelheiten fassen; die Sprache wird so zur archäologischen Fundstelle für die walisische Mentalität: Zum Beispiel: auf Walisisch können wir nicht sehr gut sagen, dass wir etwas haben. Die Idee von „Besitzen“ haben wir nicht so gut, also das ist mehr als „leihen“. Und auch „wollen“: wir können nicht so einfach sagen, dass wir etwas wollen. Das müssen wir irgendwie umschreiben. Vielleicht da merkt man eine andere Methode, mit einander umzugehen, nicht? In der Tat, eine Gesellschaft, die keinen Wert auf Eigentum und Willen legt, ist anders als die englische. – Diese bildete sich aus den Vorstellungen der wikingischen, sächsischen und normannischen Eroberer heraus und drängte die ursprünglichen Bewohner, die Brythonen, von denen Britannien gar den Namen stahl, auf das schlechtere Land hinter Offa’s Dyke zurück, einen Graben, der bis heute zu besichtigen ist. Natürlich hinterliessen die Waliser ihre Spuren: Eine ganz ganz englische Stadt wie Malvern – das ist ja auch ein walisisches Wort: Mal-vern auf Walisisch heißt moil vryn (?), auf Deutsch „Kahle Hügel“, ja? Von dieser Kultur gibt es eine Literatur, die bis ins 6. Jahrhundert zurück reicht. Aus dem Stegreif zitiert Mererid Hopwood Aneirin, den Barden aus Gododdin, der Gegend des heutigen Edinburg: Etwas wie: (ca. 10 Sekunden Walisisch). Damals waren die Dichter leider Gottes Kriegs-Journalisten und haben über die Heldentaten und so geschrieben, aber die echte Poesie kommt, wenn sie über die Vergeblichkeit der Schlacht schreiben, natürlich: von der Trauer. Die strengen Regeln der Barden, die vor anderthalb Jahrtausenden schrieben, werden bis heute gepflegt, namentlich am Eistedfodd, dem jährlichen Festival für Dichtung, Sprache und Musik, das bis ins 12. Jahrhundert zurück belegt ist. Mererid Hopwood selbst ist einer der Meisterinnen dieses Fachs. Sie erklärt die Regeln: Man kann eigentlich jede Zeile teilen. Und zwischen dem ersten Teil und dem zweiten gibt es eine Symmetrie, Assonanz, Konsonanz und Stabreim, glaube ich, heißt das. Was ganz schön ist, ist dass es überhaupt nicht monoton ist, weil der Rhythmus sich immer ändert. Bescheiden sagt sie, dass man die Regeln natürlich sofort wieder vergessen könne, sobald man sie beherrsche. Was sie vderscheigt, ist, dass sie jahrlang mit Gleichgesinnten jede Woche übte, so wie andere Leute Radfahren gehen. Das Wort, das dieses System beschreibt, auf Walisisch, ist cynghanedd, und das bedeutet Harmonie, Einklang; also, das ist ein musikalisches Wort. Wenn man diese Regeln kennt, dann kann man singen. Und genau das hat sie getan: 2001 gewann Mererid Hopwood als erste Frau seit 800 Jahren am Eistedfodd den begehrten Dichterstuhl, der heute in ihrem Wohnzimmer steht, mit einem 200-zeiligen Gedicht über Wiedergeburt, anlässlich der Ankunft ihrer ersten Tochter. !!45 Sekunden auf Walisisch aus diesem Gedicht!! MUSIK-5 Literatur Musik: Literatur 3: „Nun dämmert die Stadt. Jeder Pflasterstein, jeder Esel, jede Gänse- und Gänseblümchengasse ist ein Torweg der Dämmerung. Und das Abendgrau und der feierliche Staub und der erste dunkelnde Schnee der Nacht und der Schlaf der Vögel wehen tief durch die lebende Dämmerung dieser Ortschaft der Liebe. Llareggub ist die Hauptstadt der Dämmerung. Mrs. Ogmore-Pritchard verrammelt beim ersten Niederrieseln des Dämmern alle Türen ihres Hauses Seeblick, zieht die keimfreien Vorhänge vor, setzt sich steif wie ein trockener Traum auf einen gesundheitsfördernden Stuhl mit hoher Lehne und stellt sich energisch darauf ein, kühl und schnell einzuschlafen.“ Mod-5: In seiner Andersartigkeit scheint Wales allergrößte Gegensätze zu vereinen: Gäbe es Llareggub tatsächlich, so wäre dort abends nicht mehr zu tun, als die Bürgersteige hoch zu klappen. ATMO-5: „Rugby-Fans“, ca. `30 In Llanelli erwacht hingegen die walisische Seele an manchen Abenden zu neuem Leben. Wie überall im Land ist Rugby dort mehr als ein klassenloser Sport, mehr als eine Weltanschauung. Etwas, das es so wohl tatsächlich nur in Wales gibt – ob Sieg oder Niederlage, nicht einmal das scheint hier eine Rolle zu spielen. Ganz wie in der langen, wachen Geschichte der Schlachten und des Widerstands gegen die fremden Eroberer: BEITRAG 5: Rugby-Legenden 6.50 Atmo: Zuschauer skandieren „Scarlets“ An einem bitterkalten Abend messen die scharlachroten Spieler von Llanelli ihre Kräfte mit den Mannen von Clermont-Auvergne. Die „Scarlets“, die einheimische Rugby-Mannschaft, hatte schon vor Spielbeginn keine Chancen mehr im internationalen Heineken-Cup, deshalb wohl sind die Tribünen etwas dünn besetzt. Die Schlachtenbummler aus Frankreich sind ausgelassen: Atmo: Allez, allez Überall auf den britisch-irischen Inseln wird Rugby leidenschaftlich gespielt und geschaut. Aber nirgendwo inbrünstiger als in Wales. John Williams ist der Sprecher des walisischen Dachverbandes, der Welsh Rugby Union: Rugby has something else. It has that element which goes beyond sport… Rugby sei mehr als Sport, Rugby sei ein Anliegen der ganzen Nation – im Gegensatz zum Fußball. …as an issue which involves the whole nation. Rugby has that, soccer doesn’t. Das ist nicht parteiliche Propaganda, das lässt sich messen: When we have a major rugby international on BBC television here in Wales, we have something in excess of 75% of the available audience watching that game. Wenn die walisische Nationalmannschaft antrete, säßen 75 Prozent aller möglichen Fernsehzuschauer vor ihren Geräten. – Da können England, Schottland und Irland nicht mithalten. Wie so oft in Wales: die Ursprünge der Sportart liegen in den kohlereichen Tälern des Südens: During the Industrial Revolution, it was a sport which captured the community spirit… Während der industriellen Revolution habe diese Sportart die Wünsche der neuartigen Bergarbeiterschaft erfüllt. Inzwischen gebe es über 300 Rugby-Clubs im kleinen Wales. …which pretty much means that every major community in Wales has representation through rugby. Mit anderen Worten: jedes Dorf habe seine eigene Mannschaft. Und so wird Rugby – vergleichbar vielleicht mit den gälischen Sportarten in Irland – zum Kitt, der die Nation verbindet, zum Geflecht, das die Gesellschaft verknüpft. Im Gegensatz zum irischen Rugby, wo sich – mit Ausnahme des Südwestens – das Bürgertum balgt, spiegle der Sport in Wales das gesamte soziale Spektrum, sagt Williams: You will find, in the same team, a labourer packing down in a scrum next to a dentist or a lawyer. But the labourers will outnumber the dentists. Der Hilfsarbeiter spiele einträchtig neben dem Zahnarzt – aber die Hilfsarbeiter bildeten die Mehrheit. Diese Bodenständigkeit hat die Waliser indessen nicht daran gehindert, längst vor der Erfindung des Begriffs eine Celebrity-Kultur für Rugbyspieler zu entwickeln: We have a long list of what could be described as legends of the game… Williams spricht von legendären Spielern. Atmo: Come on! Eine dieser Legenden ist der inzwischen 70-jährige, hühnenhafte Delme Thomas: Every boy when he grows up wants to play for Wales. Rugby is like a religion in Wales, you know. It’s very important for a boy that you play for country. Rugby sei wie eine Religion in Wales. Jeder Junge wolle für sein Land spielen. – Sein einstiger Kollege, der drahtige, kleine Phil Bennet, wird emotional: But perhaps, to stand on your first game, at the then Cardiff Arms Park, with 65000 singing the Welsh National anthem – it’s got to be the greatest day of your life. Wer zum ersten Mal auf dem Rasen des National-Stadions in Cardiff stehe und die walisische Nationalhymne aus 65000 Kehlen höre – das müsse bestimmt der schönste Tag im Leben sein. – Diese Tradition wird bis heute gepflegt; niemand singt gefühlvoller als die walisischen Rugby-Fans: Atmo: Nationalhymne im Millenum-Stadium 2013 So wurde diese Sportart zum Ventil für einen walisischen Patriotismus, lange bevor es die institutionelle Selbstverwaltung gab: There wasn’t a crowd and a team, the crowd and the team were together. We were a nation together, and when we were successful, it was great to be Welsh at that time. Die Zuschauer und die Mannschaft hätten gemeinsam die Nation verkörpert, erinnert sich Bennet. Und wenn sie siegten, waren alle stolz, Waliser zu sein. – Sport, Chorgesang und Sprache gehören zusammen: sie alle verkörpern die walisische Andersartigkeit. Noch einmal der legendäre Delme Thomas: When I was brought up in the village, I couldn’t speak English until I was about ten years of age… Er habe in seinem Heimatdorf erst mit etwa zehn Jahren überhaupt Englisch gelernt und freue sich immer noch über die Sprache. …I think it’s something special for the country that we can speak Welsh. Das Spiel in Llanelli ist zu Ende. Atmo: Resultat Mit 29 zu Null Punkten haben die französischen Gäste gesiegt. Atmo: Enttäuschung der Fans. Auf der nationalen Ebene allerdings bietet der Sport auch eine Spielwiese für historische Abrechnungen. John Wiliams, der Verbandssprecher, wird nachdenklich. There has been a sense that what’s been created, manufactured and mined from the land in Wales has not stayed in Wales… Die Früchte walisischer Arbeit seien nicht immer in Wales geblieben. …we want to beat England. When Wales play England, we want to beat them every time. Luckily, we do, more often than we lose. … Deshalb wollten sie England immer schlagen, was ihnen auch meist gelinge. Bei diesen Gelegenheiten heißen die Nachbarn abschätzig “Saisnag” (?), die Sachsen, so wie sie in Schottland und Irland als Sassenach tituliert werden. Der Wettbewerb mit diesen keltischen Vettern sei eher kameradschaftlich, meint Williams, während bei englischen Spielen noch dieser historische Schauer dazukomme. …Perhaps there is more of a sense of camaraderie with those opponents than with our English opponents because there is this frisson of history. MUSIK-6 Mod-6/Schluss: Das waren die Gesichter Europas „Der rote Drachen im Westen – die Andersartigkeit der Waliser“. Eine Produktion aus dem April 2013 mit Reportagen von Martin Alioth. Regie und Musikauswahl Babette Michel. Die Literaturauszüge stammen von Dylan Thomas aus dem Stück „Unter dem Milchwald“, erschienen im Reclam-Verlag. Sie wurden vorgetragen von Bernt Hahn. Die Endproduktion übernahmen Angelika Brochhaus und Ernst Hartmann. Am Mikrofon war Gerwald Herter. Wir wünschen Ihnen einen schönen Tag! 2