Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 07. Februar 2011, 19.30 Uhr Zeig niemals Schwäche! Wenn Politiker krank werden. Von Johannes Nichelmann 01. Musik: SHADOW PLAY (1,31) - darüber: 01. O-Ton: (Schütz) Ich bin ein Krüppel! Deswegen sagen sie mir doch bitte, wenn sie mir die Frage stellen, nicht Behinderter, sondern fragen sie mich, kann ein Krüppel Kanzler werden? 02. O-Ton:(Simonis) Die Krankheit wird benutzt, um sie sozusagen außer Gefecht zu schlagen. Es ist kein Mitleid, gar nichts. Es ist auch nichts Menschliches dran. 03. O-Ton: (Gehrcke) Politiker sind alle Verdränger. Basteln in ihrem Kopf immer an, schon an ihrem Denkmal. Das möchte ja jeder haben. Ohne Denkmal macht ja keiner Politik. Sprecher vom Dienst: Zeig niemals Schwäche! Wenn Politiker krank werden. Ein Feature von Johannes Nichelmann. 01. Musik: Ende/ Blende 02. Musik: Urban Hero B - darüber: Sprecherin : Kapitel 1. Feind, Todfeind, Parteifreund. - der Fall Heide Simonis. 02. Musik: Ende/ Blende 04. O-Ton: (Simonis) Wir haben in vielen Wahlkämpfen für unsere Ideen und Konzepte gekämpft. Ich war immer gerne mit dabei, leidenschaftlich mit dabei und ich finde, es hat sich gelohnt. Der 17. März dieses Jahres war für uns alle, für die SPD Schleswig-Holstein eine ganz harte und einschneidende Zäsur. Die viele von uns bestimmt nicht vergessen werden. Autor: An diesem Märztag 2005 wird ein unbekannter Abgeordneter im Kieler Landtag zum Königinmörder. Heide Simonis ist gescheitert. Ihre Wiederwahl als Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein schlägt fehl. Nur eine Stimme aus den eigenen Reihen fehlt. Eine herbe Niederlage. Es tritt ein, was sie Jahre vorher, in einem Kampf mit sich selbst, verhindern konnte: Der Machtverlust. Damals kennt Heide Simonis ihren Widersacher. In ihrem politischen Umfeld aber weiß niemand, dass die Politikerin mit der Diagnose Brustkrebs konfrontiert ist. Über Jahre hinweg hält sie das geheim. Damals, im Februar 2002, geht alles ganz schnell. 05. O-Ton: Simonis Ich bin ins Büro gegangen, hab gesagt, das muss noch erledigt werden und im Übrigen, morgen bin ich im Krankenhaus. Also es ist halt eine steinharte Krankheit. Über so was redet man nicht. Also packt man seine Sachen, es ist ja nicht so, dass sie es mit der Angst nicht auch hätten, wie andere Leute auch. Also fängt man an zu arbeiten. Aufzuräumen. Zu planen. Was muss ich tun? Woran muss ich denken? Wenn ich A wiederkomme und B nicht wiederkomme. Das hab ich dann alles noch gemacht an dem Tag. 02. Musik: treibend - darüber: Autor Bis hierhin hat Heide Simonis nicht einen Tag gefehlt, auch nicht, wenn sie krank gewesen ist. Die Operation findet an einem Samstag statt. Da sei nicht soviel los im Krankhaus, da könne man den Eingriff unauffällig durchführen, sagen die Ärzte. Danach folgt eine sechswöchige, sehr anstrengende Therapie. Jeden Tag muss sie ins Krankenhaus. Aber: sofort arbeitet sie auch weiter. Bereits drei Tage nach der Operation ihr erster öffentlicher Auftritt. Es geht um die Verleihung einer Ehrenbürgerwürde. Postum. Unter einer weiten Stola verbirgt sie die Katheter, überspielt den Schmerz. Niemand merkt etwas. 06. O-Ton: Simonis Das hätte man vielleicht sein lassen können, also als ich wieder im Bett lag. Da war ich so fix und fertig, dass ich mich gefragt habe, ob das sein musste. In dem Moment, wo ich es gemacht habe, habe ich gesagt: ja, es muss sein. 02. Musik: Ende/ Blende Autor: Ihre Ärzte und ihr Ehemann drängen sie, eine Pause einzulegen. Das geht nicht - sagt sie. Und dafür gibt es zwei Gründe. 07. O-Ton: Simonis Also erstens habe ich von meinem Vater gelernt, Krankheiten sind nicht dazu da, dass man mit ihnen rumjammert und Eindruck schindet. Sondern, da muss man sehen, dass man damit zurechtkommt und das ist mir in Fleisch und Blut übergangen - ich jammere, ja, ich jammere mal, wenn was wehtut. Aber das ist ja alles Quatsch. Das ist ja nichts Richtiges. Autor Und zweitens: sie glaubt, sie würde alles verlieren. Ihre Position als Ministerpräsidentin sei in Gefahr. Der Druck kommt aber weder von den Medien, noch von den Wählern. 08. O-Ton: Simonis Wie sagt man? Freund ... Feind ... Parteifreund. Autor Die Spitzenpolitikerin fürchtet sich vor dem Getuschel und dem Gemauschel ihrer Parteifreunde. Das sei beinah schlimmer als die Krankheit selbst. 09. O-Ton: Ob sie das wohl durchhält? Na, das wollen wir doch mal sehen. Die sieht doch heute ganz blass aus, eigentlich müsste die, die müsste doch eigentlich zurücktreten. Und bei jedem Politiker, der eine etwas schlimmere Erkrankung hat oder darunter leidet oder zu bekämpfen hat, ist das bis jetzt so eingetreten. Autor Fast niemandem kann sie vertrauen, nur ihrem engsten Kreis. Heide Simonis ist nicht unumstritten in der SPD. Zeigt sie jetzt Schwäche, glaubt sie, war es das. Kollegen würden auch ihre eigene Wiederwahl als gefährdet ansehen. Sie würden Angst bekommen, dass aus der körperlichen Schwäche eine politische Schwäche wird. Ihr Schicksal hänge an dem der Ministerpräsidentin. 10. O-Ton: Simonis Die Krankheit wird benutzt, um sie sozusagen außer Gefecht zu schlagen. Es ist kein Mitleid, gar nichts. Es ist auch nichts Menschliches dran. Die Frage ist, ob man so reagieren soll, wie wir reagieren oder ob man nicht offen hingehen soll und sagen soll: ich war krank oder ich bin krank. Autor Sie selbst beantwortet die Frage mit "Nein". 11. O-Ton: (Simonis) Ich würde jedem raten, nicht über Krankheiten zu sprechen. Was ist beispielsweise von den Lippenbekenntnissen zum Tode von Enke geworden? Nichts. Es geht genauso bunt weiter, in der Fußballwelt, wie es vorher gewesen ist. Und das sind Selbstbelügungen, die man da macht. Und hätten sie gewusst, dass er so schwer krank ist, dass er sich überlegt das Leben zu nehmen, dann hätten sie ihn, wie einen anderen Fußballspieler übrigens rausgekickt. Die hätten ihn nicht behalten. Autor In Politikerkreisen seien Krebserkrankungen ein Tabuthema. Da sei man lieber still. Erst ein Jahr nach ihrer Abwahl spricht Heide Simonis in einer ARD-Talkshow über ihre Krankheit. 02. Musik: Urban Hero B (1,26) - darüber: Sprecherin Kapitel 2. Macht, Arbeitssucht und Spuren in der Kindheit. 02. Musik: Ende/ Blende 12. O-Ton: Motivation; vom Kopfhörer abgenommen (0,06) (Geräusch: Taste) (Simonis) Also erstens habe ich von meinem Vater gelernt, Krankheiten sind nicht dazu da, dass man mit ihnen rumjammert und Eindruck schindet. 13. O-Ton: Dr. Maaz Ja, das ist ein gutes Beispiel, ne. 14. O-Ton: Dr. Maaz Ich bin Dr. Hans-Joachim Maaz, ich bin Psychiater und Psychotherapeut, auch Psychoanalytiker. Autor Am Choriner Institut für Tiefenpsychologie und psychosoziale Prävention in Halle, beschäftigt sich Hans-Joachim Maaz mit Persönlichkeitsentwicklungen. Der ausgeprägte Unwille die Macht in Extremsituationen abzugeben, kann viele Ursachen haben, die durchaus schon in der Kindheit liegen können. Macht wird getrieben durch Narzissmus, der übersteigerten Liebe zu sich selbst. So lebt, wer durch die Erziehung im Kindesalter kein gesundes Selbstwertgefühl aufbauen kann, mit einem ewigen Mangelzustand. Der muss kompensiert werden, durch Geld, Besitz oder Macht. Ersatzdroge für etwas nie Erreichtes: Anerkennung. 15. O-Ton: Maaz Und in diesem Sinne steht dann eben auch Machtfunktion mit der Gefahr, dass man darin einen Ersatz sucht, um einen primären Mangel zu befriedigen. 01. Atmo: Plenarsaal - darüber: Autor Im Deutschen Bundestag, in Berlin. Es ist Sitzungswoche. Fast alle Abgeordneten sind heute da. Auch Wolfgang Gehrcke von der Partei "Die Linke". Der 67-Jährige hat in seiner gesamten politischen Karriere Vollgas gegeben und wenig auf sich geachtet. Dann kommt plötzlich, im Frühsommer 2010, ein Herzinfarkt. 16. O-Ton: Gehrcke Ich hatte immer das Gefühl, dass ich unbegrenzt leistungsfähig bin und das mir nie was passieren kann. Allen anderen kann was passieren. Mir nie ... also völliger Unsinn, natürlich. Das bricht auf und man kriegt stückweise, wenn man selber auch erkrankt war auch ein anderes Menschenbild. Das ist eine heilsame und vielleicht sogar notwendige Konsequenz. Besser man hätte es vorher gehabt. Autor Der Abgeordnete muss aus dem Berliner Politikbetrieb aussteigen. Der Beruf aber ist seine Droge. Die Außenpolitik seine Leidenschaft. Und er ist Mitglied im Vorstand seiner Partei. Gehrcke hält die quälend lange Zeit kaum aus. Seine Kollegen und Parteifreunde hätten ihm den Rücken gestärkt, sagt er. Das berühmte "am Stuhl Sägen" hätte es nicht gegeben. Hunderte Briefe seien ihm ans Krankenbett gebracht worden. Nach drei Monaten kann er endlich wieder zurück in den Bundestag. Und er arbeitet wie vor dem Herzinfarkt. Nur das Rauchen lässt er jetzt sein. 17. O-Ton: Gehrcke Manchmal lebt man auch ganz gut mit der Verdrängung. Man weiß, man ist krank, aber man will es nicht jeden Tag wahr haben. Man musste die Frage an sich heranlassen, ist man gesund genug und wenn man Außenpolitik macht, muss man gesund sein, muss man im Ausland sein, muss man in Konfliktregionen gehen. Ich bin jetzt gerade zurück gekommen aus dem Nahen Osten. Also ich hab mir selbst bewiesen, ich kann es, das gehört auch dazu. 18. O-Ton: Es geht weiter; vom Kopfhörer abgenommen (Geräusch: Taste) (Gehrcke) Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, Politik zu machen. Ich schreibe im Moment an drei verschiedenen Büchern, nebenbei. Das möchte ich natürlich noch fortsetzen. 19. O-Ton: Dr. Maaz Das ist wie bei einer anderen Sucht. Das ist wie bei einem Alkoholkranken. Autor: Der Psychologe Hans Joachim Maaz. 20. O-Ton: Ein Arbeitssüchtiger und ein Alkoholkranker unterscheiden sich nicht wirklich. Also, sie übernehmen sich. Sie haben kürzere Überlebenschancen. Dadurch, weil sie im chronischen Stress sind. Und auch bei einem Alkoholkranken verlangt man im Grunde, er muss erstmal aufhören, die Droge zu nehmen, also Alkohol zu nehmen und wenn er das tut, dann kommt er in aller Regel zunächst mal richtig in die Krise. Er nimmt sich den Stoff, mit dem er sich irgendwie abgelenkt hat, beruhigt hat, besoffen gemacht hat, sozusagen. Und wenn er das lässt, dann brechen Ängste, Depressionen durch. Über solche inneren Unsicherheiten. Ja, Mangelbestätigung. Musik: ruhig, treibend - darüber: Autor Die eigene Schwäche wird sich selbst nicht eingestanden. Die Angst vor dem Machtverlust dominiert. Ob in der parlamentarischen Demokratie oder in der Monarchie. Der deutsche Historiker Ernst Hartwig Kantorowicz schrieb über die Könige im Mittelalter: Sprecherin Die Macht ist ein Phänomen des Kontinuums. Sie verschafft dem Machthaber einen weiten Raum des Selbst. Diese Logik der Macht erklärt, warum der totale Machtverlust als ein absoluter Raumverlust verstanden wird. Der Leib des Machthabers, der gleichsam eine ganze Welt ausfüllte, schrumpft auf ein erbärmliches Stück Fleisch zusammen. Der König hat nicht nur einen natürlichen Körper, der sterblich ist, sondern auch einen politisch-theologischen Körper, der seinem Reich gleichsam koextensiv ist. Beim Machtverlust wird er auf diesen kleinen, sterblichen Körper zurückgeworfen. So wird der Machtverlust als eine Art Tod erlebt. 02. Musik: Urban Hero B (1,26) - darüber: Sprecherin Kapitel 3. Die starken Männer von Bonn - Ein Blick in die Geschichte. 02. Musik: Ende/ Blende 03. Musik: THE QUESTION (1,51) - darüber: Autor Bonn, in den 70er-Jahren. Bundeskanzler Helmut Schmidts Gesundheitszustand ist kritisch. Mehrmals wird er bewusstlos in seinem Büro gefunden. Das Einsetzen eines Herzschrittmachers im Koblenzer Bundeswehrkrankenhaus unterliegt strengster Geheimhaltung. Der Kanzler ist stark, nach außen. Er fährt eben nur mal in den Urlaub. Auch Willy Brandt kämpft mit sich selbst. Depressionen zwingen ihn zu vielen Pausen. Offiziell heißen die "Erkältung". Holger Schmale, Chefkorrespondent in der Hauptstadt für Berliner Zeitung und Frankfurter Rundschau. 03. Musik: Ende/ Blende 21. O-Ton: Schmale Das andere berühmte Beispiel ist Helmut Kohl, auf dem Parteitag 1989, glaube ich, wo der mit einem schweren Unterleibsleiden den ganzen Tag auf dem Podium gesessen hat. Da in der Tat aus Sorge, dass wenn er Schwäche zeigen würde und weggehen würde, ein ohnehin geplanter Putsch wohl tatsächlich stattfinden würde. Von Biedenkopf und solchen Leuten. Autor Kohl quält sich auf dem Podium. Verzieht sein Gesicht vor Schmerzen. Doch er hält durch, ist die ganze Zeit über anwesend. 22. O-Ton: Schmale Wenn er da Schwäche gezeigt hätte, sozusagen, hätte das den entscheidenden Punkt geben können für seine Kritiker und Gegner zu sagen, also seht mal der ist ja sogar krank, also tun wir ihm sogar was Gutes, wenn wir ihn hier ablösen. 04. Musik: HIDDEN DEPTHS (3,53) - darüber: Autor Der geplante Putsch von Kurt Biedenkopf, Heiner Geißler und Lothar Späth findet nicht statt. Im Gegenteil, der damalige Ministerpräsident von Baden-Württemberg Lothar Späth schafft es nicht mal in den Bundesvorstand der Christdemokraten. 23. O-Ton: Aber meine Damen und Herren! Ich will hier von mir aus sagen, in einem persönlichen Wort an Lothar Späth, ich bitte ihn auch in Zukunft um ein gute Zusammenarbeit, in einer Weise, die gemäß ist, die für ihn in seiner Persönlichkeit gemäß ist und die für unsere Partei gemeinsam gut ist. (Applaus) Autor Nach dem Parteitag muss der Kanzler sofort ins Krankenhaus. Niemand merkt etwas. So brutal kann Politik sein. So brutal können Politiker zu sich selbst sein. 04. Musik: Ende/ Blende 02. Musik: Urban Hero B (1,26) - darüber: Sprecherin Kapitel 4. Der Sonderfall Wolfgang Schäuble. 02. Musik: Ende/ Blende 24. O-Ton: Nachrichten (Geräusch, spulendes Band) (Sprecher) Wir haben es vorhin schon gemeldet, zu Beginn unserer Sendung, in den Nachrichten haben Sie es auch gehört. Auf Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble ist offenkundig ein Attentat verübt worden, er soll auch schwer verletzt sein. 25. O-Ton: Schütz Der Umgang Wolfgang Schäubles mit seiner Behinderung, sag ich mal, dass hat ja eigentlich eine ganz andere Basis als normalerweise Politiker mit ihrer Krankheit umgehen. Autor Der Stern-Autor Hans-Peter Schütz hat zu Wolfgang Schäuble ein enges Vertrauensverhältnis. Er ist beim Attentat auf den Minister am 12. Oktober 1990 dabei. Steht direkt neben ihm als die drei Schüsse fallen. 26. O-Ton: Schütz Man muss ja immer sehen, wer war Wolfgang Schäuble vor dem Attentat. Das war ein junger, dynamischer, klasse Tennis spielender Mensch, der eine politisch steile Karriere gemacht hat. Er gehörte in den 60er und 70er-Jahren zu der sogenannten Kampfgruppe Kohl, das war der Mann, den er mit einigen anderen zusammen, zum Bundeskanzler machen wollte. Er hat dann auch schnell selbst Karriere gemacht. Autor Wird er wiederkommen? Kaum einer glaubt daran. Die Laufbahn des Berufspolitikers Schäuble scheint vorbei zu sein. Seine Frau bittet ihn, die politische Karriere zu beenden. 27. O-Ton: Schütz Und daraufhin hat er ihr geantwortet, dass ist unmöglich, wenn du das von mir verlangst, wenn du jetzt, da ich im Rollstuhl sitze auch noch meine Politik aufgeben soll. Dann bleibt mir nichts mehr, was mich am Leben hält. Autor Nach sechs Wochen präsentiert sich Schäuble in der Rehabilitationsklinik vor der Presse. O-Ton Bericht/Schäuble Wolfgang Schäuble sah etwas blass aus, aber sonst ... .Hier ein Ausschnitt daraus: Wie Sie sehen, geht es mir gut, die Wunde am Kiefer verheilt gut ... Autor Der Hunger ist wieder da, die Organe funktionieren und er wird weitermachen. Das Ziel: er will Kanzler werden. 28. O-Ton: Schütz Also, lieber Schütz, wir sind ja beide aus Baden und sie wissen doch, wie man in Baden zu uns Menschen im Rollstuhl sagt. Ich bin ein Krüppel! Deswegen sagen sie mir doch bitte, wenn sie mir die Frage stellen, nicht Behinderter, sondern fragen sie mich, kann ein Krüppel Kanzler werden? So und dann hat er dieses, hat das ja damals gesagt, ich könnte der Versuchung nicht widerstehen. Er wäre es gerne geworden und er hätte es auch im Rollstuhl gemacht. Autor Daraus wird nichts. Helmut Kohl hält ihn hin. Hätte er es ohne Rollstuhl geschafft? Hans-Peter Schütz: 29. O-Ton: Schütz Ich würde mal so sagen, wenn er nicht im Rollstuhl gesessen hätte, dann wären seine Chancen deutlich höher gewesen. Weil er dann schon zu einer früheren Phase wahrscheinlich gegen Helmut Kohl Front gemacht hätte. Autor Trotz dieser und vieler weiterer Niederlagen, Wolfgang Schäuble bleibt ein Alphatier in der Politik - ist unverzichtbar für die Bundeskanzlerin. Nach einem Krankenhausaufenthalt im Frühjahr 2010 muss er zum Ende des Jahres wieder in die Klinik. Für mindestens vier Wochen, heißt es. Schäuble hat sich nicht genügend geschont, die Ärzte stellen ihm ein Ultimatum. Wenn er jetzt keine Pause macht, garantieren sie für nichts. Was dem Minister fehlt wird genau kommuniziert. 30. O-Ton: Schütz Er hat ja im Frühjahr, musste er sich in das Krankenhaus begeben um die offenen Stellen an seiner Sitzfläche behandeln zu lassen, weil ihm ein neues Gerät zur Darmstimulierung eingesetzt worden war. Das hätte eigentlich einen vier- bis fünfwöchigen Aufenthalt im Krankenhaus notwendig gemacht. Wobei er nicht hätte darauf liegen dürfen, auf den Sitzflächen. Sondern nur in der Seitenlage. Autor So offen wie Wolfgang Schäuble spricht kein aktiver Politiker über sein Leiden. 31. O-Ton: Schütz Er wiegt viel zu wenig. Zehn Kilo sagen die Ärzte. Ich esse ja viel, sagt er. Das hängt damit zusammen, dass seine Darmflora durch die medikamentöse Behandlung in den letzten Monaten doch arg gestört ist. Autor Details, die eigentlich niemanden etwas angehen, machen die Runde in der Presse. Er ist ein Tabubrecher. 32. O-Ton: Schütz Wolfgang Schäuble, der ging von vornherein offensiv damit um, weil er ja eine andere Krankheit hatte, als die normale Politikerkrankheit. Er war sozusagen, wie er sich selbst zu nennen pflegt, ein Krüppel. Aber geistig, körperlich insoweit war er dann schon voll da und insofern hat er natürlich auch kein Geheimnis draus gemacht, dass er gewisse gesundheitliche manchmal Probleme hat. Autor Anders als bei Heide Simonis, Helmut Kohl und all den anderen, lässt es sich eben nicht verbergen. Die schonungslose Offenheit schützt ihn vor lauernden Parteifreunden und den Medien. Die Strategie bei seinem jüngsten längeren Krankenhausaufenthalt ist klug gewählt. Vier Wochen also muss er offiziell ins Krankenhaus. Sofort wird um einen Nachfolger spekuliert. Kann er überhaupt noch? Ein fehlender Finanzminister, gerade jetzt in der Krise? Nach drei Wochen aber schon, ist er wieder im Geschäft und demonstriert in einem Interview in der Bild am Sonntag, wie stark er ist. Auf die Frage, wie es ihm geht, sagt er: "Wenn man drei Wochen im Krankenhaus verbracht hat, und die Ärzte einem sagen 'Alles in Ordnung. Sie dürfen gehen', dann geht es einem gut.". 02. Musik: Urban Hero B (1,26) - darüber: Sprecherin Kapitel 5. Vom Unterschied in der Berichterstattung zwischen der Bonner und der Berliner Republik und der Sache mit dem Alkohol 02. Musik: Ende/ Blende Autor Hans-Peter Schütz ist 1990 beim Schäuble-Attentat als Journalist vor Ort. Obwohl der Schock tief sitzt, arbeiten er und sein Fotograf weiter. Das sei ihnen nicht leicht gefallen. 33. O-Ton: Schütz Wir hatten einen sehr dramatischen Film, von dem Mann der da am Boden liegt und das Bein zuckt noch und aber schon nicht mehr bei Bewusstsein ist. Seine Tochter, seine älteste Tochter, kam dann gerade zur Türe rein und hat ihren Vater am Boden liegen sehen. Das war natürlich aus journalistischer Sicht, war das also das ganz sensationelle Dinge und die Schäubles wussten, dass wir dieses Material hatten und waren natürlich dann besorgt, dass wir das möglicherweise in einer Art und Weise präsentieren, die ihn, ja, menschlich nicht achtet, nicht genügend Rücksicht auf die Schwierigkeit der Situation nimmt. Das wurde dann beim Stern natürlich diskutiert und als dann das entscheidende Heft erschienen ist, da fanden sowohl Frau Schäuble, die besonders Befürchtungen hatte und auch er fanden das vollkommen in Ordnung und seither hat er auch eine besondere Beziehung zum Stern. Autor Vielleicht würden diese Bilder heute nicht unter Verschluss bleiben. Der Druck auf die Verlagshäuser und Sender ist groß geworden - der Wettlauf um die dramatischsten Bilder ist immens. Es geht um Emotionen, persönliche Schicksale und Geschichten. 34. O-Ton: Schütz Also es wird heute wesentlich rigoroser über Krankheiten und Schwächen von Politikern berichtet, als es in Bonn noch der Fall war. Wobei es auch schon wieder Unterschiede gab. In den 70er-Jahren in Bonn, da wurde intern sehr offen über die Krankheiten von Politikern, auch über so Dinge wie die Alkoholabhängigkeit oder ihre etwas unsittlichen Besuche in der Großstadt Köln, nächtlicher Weise, wurde natürlich geredet und getratscht. Aber es wurde nicht darüber berichtet. Autor Als sich Gregor Gysi 2004 einer schweren Hirn-Operation unterziehen muss, veröffentlicht eine Boulevardzeitung seine Röntgenbilder. Auf der Titelseite. Der Politiker geht in die Offensive und spricht Klartext über seine Krankheit. Ebenso macht es Jürgen Trittin, irgendwann nach langem Schweigen auch Peter Struck und Matthias Platzeck. 35. O-Ton: Schütz Heute ist es doch so, dass das nicht mehr zurückzuhalten ist. Es kommen ja auch die Online-Medien hinzu. Das Ganze ist also mehr auf Enthüllung und auf Offenlegung angelegt. Insofern sollten die Politiker so klug sein, dass sie mit ihrer Krankheit dann auch einigermaßen offen umgehen. Autor Nur über eine Sache wird selten ein Wort verloren. Es gibt eine Krankheit, die unter Spitzenpolitikern nach wie vor weitestgehend akzeptiert ist und über die Journalisten auch nach wie vor nicht berichten: Die Alkoholsucht. Heide Simonis: 36. O-Ton: Simonis Weil wir alle zu viel trinken. Das ist manchmal die einzige Möglichkeit, um wieder runter zu kommen, von dem hohen C, auf das wir geklettert sind in den Bemühungen irgendwas noch schnell zu machen oder etwas zu erreichen oder noch irgendwo an einer Sitzung teilzunehmen. Und weil das so ist und weil man immer so flattert, hat jeder seine Methoden und ich weiß, alle Haushälter haben Bier getrunken. Alle. Bloß ich nicht. Ich hab Wein getrunken. Weil ich Bier gern nicht mochte. Wenn sie nachts um zwei, von morgens um neun bis nachts um zwei Zahlen gewühlt und... dann sind sie so fertig, dass sie irgendwas brauchen, was sie... weil sie innerlich durchgedreht sind und was sie runter holt. Aber das macht nun jeder mit und darüber können dann alle auch freundlich zu ihnen zu ihnen sein oder nett zu ihnen sein und ihnen keine Vorwürfe machen. 02. Musik: Urban Hero B (1,26) - darüber: Sprecherin: Kapitel 6. Wer gegen wen? Die Wähler gegen die Schwachen oder die Schwachen gegen sich selbst? 02. Musik: Ende/ Blende Autor Die Parteifreunde die am eigenen Stuhl sägen. Medien die jedes Details einer Erkrankung wissen wollen. Gründe für das Schweigen. Was ist aber mit dem Wähler? Sucht er die omnipotenten Führungspersönlichkeiten? Die, die niemals schwach sind? Der Journalist Holger Schmale meint, die Bevölkerung habe inzwischen Verständnis dafür, dass Politiker auch Menschen sind. 37. O-Ton: Schmale Weil inzwischen die Menschen so aufgeklärt sind, dass sie wissen, dass auch Politiker Menschen sind und das auch gerne zur Kenntnis nehmen, wenn Politiker sagen, ich habe jetzt diese oder jene Krankheit und brauche ein paar Wochen Ruhe und dann wird das jeder verstehen. Autor Als Frank-Walter Steinmeier eine Pause macht, um seiner kranken Frau eine Niere zu spenden, legt die SPD zwei Prozent zu. Vielleicht Sympathiepunkte. Es wäre aber ein Trugschluss zu glauben, durch Krankheiten könne man Wählerstimmen fangen, sagt der Abgeordnete Wolfgang Gehrcke. 38. O-Ton: Gehrcke Es gibt Abgeordnete die glauben mit der Öffnung von mehr Privaten gegenüber der Öffentlichkeit kriegen sie mehr Wählerstimmen. Am Ende bleibt nur die Frage, muss ich mich anpassen, um den Wähler so zu täuschen, dass er mich wählt oder kann ich dem Wähler ein Bild präsentieren, wie ich bin? Oder wie ich mich fühle? Oder wie ich wahrgenommen werden möchte? Und er macht sich sein eigenes Bild. Und ich glaube der letzte Weg ist vernünftiger. Krankheit ist weder ein Argument einen zu wählen, noch einen nicht zu wählen. Autor Doch auch das ist Individuell. Dem Verständnis der Wähler sind Grenzen gesetzt. Die meisten Politiker müssen nichts befürchten, aber absolute Führungspersönlichkeiten, wie Bundeskanzler, dürfen besonders in Wahlkampfzeiten, keine Schwäche zeigen. 39. O-Ton: Schmale Wenn Angela Merkel jetzt plötzlich, für sagen wir mal mehr als eine Woche oder zehn Tage, von der Bildfläche verschwinden würde, würde sich jeder fragen, wo ist die denn eigentlich? Das ist jetzt wirklich bei einer schweren Krankheit die intensive Pflege oder Ruhe oder so erfordert, kann man das in so einer Funktion wie Merkel das halt überhaupt nicht verbergen. Autor Im US-Wahlkampf gehört es dazu die Präsidentschafts-Kandidaten auf ihren körperlichen Zustand hin abzuklopfen. Bill Clinton lies sich beim Joggen filmen und Obama zeigte sich, bei seinem Berlin Besuch 2008, im Fitnessstudio eines Luxushotels. 02. Atmo: Rede Franklin D. Roosevelt (2,00) (0,10 stehen lassen) - darüber: Autor Auch der US-Präsident Franklin D. Roosevelt wäre vermutlich niemals gewählt worden, hätten die Menschen damals gewusst, dass er bereits seit zehn Jahren auf den Rollstuhl angewiesen war. In den 30er-Jahren war es eben einfach das zu vertuschen. Das Fernsehen steckte in den Kinderschuhen und für Fotos wurde er einfach hinter seinen Schreibtisch gesetzt. Die Erklärung für das Verhalten der Wähler ist ganz einfach, sagt der Psychologe Hans-Joachim Maaz. 40. O-Ton: Maaz Das würde im Grunde dieses Projektionsbild vieler Menschen, das muss eine edle Figur sein, ganz doll überlegen, sicher, souverän, das. würde dieses Projektionsbild zerstören. Sodass tatsächlich Menschen in der Bevölkerung, die Wähler, dazu beitragen Politiker in eine Situation zu drängen, dass die keine echten Gefühle, keine Wahrheiten, vor allem nicht über ihr eigenes Leben preisgeben dürfen. Autor Helmut Schmidt, Gerhard Schröder, Angela Merkel - während ihrer Amtszeit sind und waren sie für die Öffentlichkeit immer voll einsatzfähig. Was hinter den Kulissen läuft weiß niemand. 02. Musik: Urban Hero B (1,26) - darüber: Sprecherin Kapitel 7. Ein Fazit - Die Sonderrolle der Politiker. 02. Musik: Ende/ Blende 01. Musik: SHADOW PLAY (1,31) - darüber: Autor Der Wähler ist für die meisten Politiker also keine Gefahr. Geschwiegen wird aus Angst vor den Parteifreunden. Das war schon zu Zeiten Konrad Adenauers so, der die Steigerung Feind, Todfeind, Parteifreund prägte. Die Belastung hat sich durch die gewachsene Neugier der Medien erhöht. Erst wenn sich die Atmosphäre in den Parteien ändert, kann dieser Kreislauf durchbrochen werden. Nur dann kann der Druck, über die eigene Stärke hinauswachsen zu müssen, von den Politikern genommen werden. Es gibt Berufe, die eine größere seelische Belastungsfähigkeit erfordern. Aber nur bei Politikern kommt zu den Intrigen, dem Stress, dem Drang, immer als perfekt dazustehen noch eine Sache hinzu. Die öffentliche Präsenz und Dauerbeobachtung. Dieses Leben kann Persönlichkeiten verändern, sie zu etwas bringen, was von keinem Menschen verlangt wird. Freilich ein Umfeld, an dem diese Berufsgruppe selbst mitgearbeitet hat. 41. O-Ton: Simonis Vielleicht sind ja die anderen die echten Kranken und die Politiker die einzig Gesunden. Also... Musik Zeig niemals Schwäche! Wenn Politiker krank werden. Eine Feature von Johannes Nichelmann Es sprachen: Ulrike Stürzbecher und der Autor Ton: Andreas Narr Regie: Stefanie Lazai Redaktion: Constanze Lehmann Produktion: Deutschlandradio Kultur 2011 Manuskripte und weitere Informationen zu unseren Zeitfragen-Sendungen finden Sie im Internet unter www.dradio.de 1