COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. LITERATUR TITEL: "Lesen, Wüten, Lachen" 20 Jahre Lesebühnen AUTOR/IN: Barbara Kenneweg ÜBERSETZUNG: entfällt REDAKTION: Dorothea Westphal COPYRIGHT: DR Kultur LÄNGE: 55 Min. SENDUNG: 29.03.2009 00.05-1.00h STIMMEN: Sprecherin O-Töne Musik (von Fred Frith, Marc Ribot, Elliott Sharp und aus der Lesebühnenszene) Ms. aus urheberrechtlichen Gründen ohne den in der Sendung enthaltenen Text von Kirsten Fuchs. MUSIK: Sbahndatis "Macht kaputt was euch kaputt macht" ERZÄHLERIN: Jeden Abend kann man in Berlin eine andere Lesebühne besuchen, an manchen Tagen muss man sich sogar zwischen zweien entscheiden. Was man bei einem Lesebühnenabend zu hören bekommt, ist meistens komischer Natur, vieles wirkt wie ein Auszug aus einem grotesk überhöhten Tagebuch. Robert Naumann von der Chaussee der Enthusiasten macht einen Familienausflug. O-TON Naumann: Also doch in den Zug, der ziemlich voll ist, wir müssen uns verteilen. Ich beweise Mut, denn der einzige noch freie Platz wird vom Gepäck eines Skinheadpärchens belegt, das den ganzen Zug akustisch an ihrem Liebesspiel teilhaben lässt... Ähm, hallo, räuspere ich mich, keine Reaktion, wahrscheinlich haben sie mich nicht gehört, "ich würde mich gern setzen", versuche ich es weiter, aber ohne Erfolg. Ich gebe nicht auf, der Skinhead soll nicht denken, ich würde vor ihm klein beigeben. Und tatsächlich, meine Courage zahlt sich aus, nach zweieinhalb Stunden geben sie entnervt auf und steigen in Zissow aus. ERZÄHLERIN: Der Grad der Professionalität der Autoren ist sehr unterschiedlich. Einige leben vom Schreiben, und die Einkünfte aus den Abenden der Lesebühnen sind nicht unwichtig für den Lebensunterhalt. Für andere handelt es sich höchstens um ein Zubrot, weil sie ganz anderen Berufen nachgehen - etwa Arzt oder Echsenforscher. MUSIK: Böse Menschen ERZÄHLERIN: Man bekommt bei Lesebühnen nicht unbedingt nur Literatur zu hören. Tube von den Surfpoeten hat neulich eine Band für Kuschelpunk gegründet, in seiner Küche, mit sich selbst und einem Vierspurgerät. MUSIK: Böse Menschen Neben amüsanten Erfahrungsberichten und Politsatiren sind, wenn man Glück hat, bei der Lesebühne auch ausgefeilte Miniaturen zu hören, die durch ebenso absurden wie trockenen Humor an Tieferes rühren. Tube stellt sich vor, er sei Gott: O-TON Tube: Ich denke, ich hätte sie nicht erschaffen. Es gäbe einfach keine Welt, wäre ich Gott. Ich bin Gott und tue nichts. Ich sitze da und käme dabei nimmer auf die Idee, eine Welt zu schöpfen. Doch dann passiert etwas, was mir den Anlass dazu gibt. Der Chef kommt zu mir und sagt: "He Gott!" "Ja? Was ist?", sage ich. "Schöpf mal ne Welt" "Was?" "Mach das, Gott! Das ist ein Befehl! Du hast sieben Tage Zeit." Befehl ist Befehl, dann muss ich wohl. Fangen wir mal an mit einer Scheibe, Bäume, die mach ich aus einem Stamm und Ästen und dann noch so Dinger dran, die mach ich grün, die nenne ich Blätter, fertig. Tiere, da lasse ich meiner Fantasie freien Lauf, und Menschen, da machen wir mal zwei Arme, zwei Beine, einen Kopf und einen Körper, Hände an die Arme, Füße an die Beine, so. Fertig. Der Chef hat nicht gesagt, dass es schön sein soll. Schöpf' mal ne Welt, hat er gesagt. Bitte, hier hat er seine Welt. Na gut, irgendwas schönes könnte man ja noch reinpacken. Nehme ich mal so einen Menschen, reiß dem einen Rippe raus und forme und knete, naja, ist auch nicht wirklich besser geworden. Was will der Chef auch erwarten, wenn er mir nur sieben Tage Zeit gibt? Da kann man nichts erwarten. Tut der Chef ja auch nicht. Und der Chef hat ja nicht gesagt, dass es schön sein soll. Und er hat auch nicht gesagt, dass ich mich dort selbst, wenn ich dort lebte, wohl fühlen soll. Also, wenn der Chef letzteres noch gesagt hätte, dann hätte ich mich mehr angestrengt. ATMO Reformbühne ERZÄHLERIN: Da die meisten Lesebühnen in gastronomischen Einrichtungen stattfinden, ist Raummiete nicht nötig - der Wirt kriegt seinen Laden im besten Fall voll und jede Menge Bier unter die Leute. Das Flair einer Lesebühne unterscheidet sich stark von dem oft eher steifen Rahmen einer Autorenlesung. Das Publikum trinkt, lacht und quatscht auch gern. Der Graben zwischen Auftretenden und Zuschauern ist denkbar klein. Um den Autoren der Reformbühne Heim und Welt vor der Veranstaltung ein paar Fragen zu stellen, baue ich im ruhigeren Raucherzimmer mein Mikrofon auf. Ein paar Minuten später sind die Reformler noch überall verstreut, aber am Mikro sitzt Tarzan, ein Prenzlauer Berg - Original, das Kaffee Burger ist sein zweites Zuhause. O-TON Tarzan: Hallo miteinander allerseits. Lasst euch überraschen, mehr sag ich euch nicht. ERZÄHLERIN: Nach und nach trudeln die Reformler ein und fläzen sich im roten Kunstledermobiliar der traditionsreichen Stätte, in der schon Heiner Müller und Konsorten getrunken haben. ATMO Reformbühne/ Lied O-TON Reformbühne Runde: - Also ich komm hierher, um mir die Texte meiner Kollegen anzuhören... hab die Kollegen gesehen, hab gesagt, das ist toll, was die machen, und wenn ich da mitmache, brauch ich keinen Eintritt bezahlen. -Ja, also Eitelkeit und Freibier würd' ich mal sagen. - Freibier ist auch ganz wichtig. - Aber auch die Welt besser machen. - Ja, auch die Welt besser machen. - Und natürlich Frauen finden. - Das hat bei mir überhaupt nicht geklappt. - Ne, bei mir war das auch nie das Ziel, ich bin ja hier glaub ich verheiratet schon reingekommen. - Genau, es ist einfacher zu sagen, warum wir es nicht machen: wegen des Geldes! - Wenn es nicht so ein verbrauchtes Wort wäre, wäre "authentisch" ein ganz gutes Wort dafür, was ich daran schätze. ERZÄHLERIN: Einige Lesebühnen bezeichnen sich als Literatur-Bands, und in mancher Hinsicht stimmt der Vergleich. Mit dem großen Unterschied jedoch, dass die Autoren weder zusammen schreiben noch gemeinsam lesen; sogar Diskussionen über Texte scheinen eine Ausnahme zu sein - jeder arbeitet für sich, lediglich der Auftritt erfolgt in der Gruppe. Es kommt vor, dass die Kollegen keine Miene verziehen, ausdruckslos vor sich hinstarren oder auf ihr Manuskript, während einer liest und um Gunst und Lacher des Publikums ringt. Vielleicht Ermüdungserscheinungen, vielleicht kennt man sich zu gut, schließlich sind einige schon seit 15 Jahren dabei. Ahne spricht seit über zehn Jahren mit Gott, der bei ihm um die Ecke in der Choriner Straße wohnt. O-TON Ahne: G: Die hassen allet. A: Und woher weeßte det, Gott, dat die allet hassen? G: Der ene hatn Nicki an, da steht dit druff, I hate you all. ... A: Ja. G: Du sachst "Ja". A: Det is doch nur Mode, Gott. Det hatter da stehn weil er schocken will. Dabei schockt det jar keenen mehr. Det hat heutzutage doch jedes zweite Kingerjartenkind schon an, son T-Shirt. G: Ick hasse euch alle? A: Na vielleicht jetzt nich umbedingt mit "ick hasse euch alle" druff aber zum Beispiel mit "Ich bin 40, bitte helfen Sie mir über die Straße" oder "Zicke" oder "Staatsfeind Nr.1" oder "Ihr werdet alle sterben", sowat. G: det is doch aber nich det selbe wie "ick hasse Euch alle". "ick bin 44, bitte helfen Sie mir über die Straße", det is doch nur ein Hilfeschrei..., der noch dazu höflich formuliert ist... und "Zicke" und "Staatsfeind Nr.1", det sind Aussagen über een selber, dat sich der jegnüber orientiern kann, woran er is mit ihm... und "ihr werdet alle sterben" is einfach nur wahr. Da will der Träger einen nur dran erinnern ma, det man endlich is, nämich, det man jefälligst wat machen soll aus seim Lebm. Noch ist Zeit dazu. A: Det meinse im Ernst, wa? MUSIK: J. Freedom "Verlierer" ERZÄHLERIN: Ahne ist 1994 zu der Reformbühne hinzugestoßen und hat kurz darauf mit anderen die Surfpoeten gegründet. O-TON Ahne: Von Lesebühnen hab ich zum ersten Mal gehört als Falko Hennig, der nebenan im Haus gewohnt hat, zu mir kam und meinte, er will heute bei der Reformbühne Texte vorlesen, und er traut sich nicht alleine und ob wir das nicht zusammen machen wollten, und da hab ich einfach gesagt ja. ERZÄHLERIN: Damals war Ahne Mitte zwanzig und arbeitslos, jetzt ist er Anfang vierzig und längst ein Profi. Ahne: Ich hab neulich mal wieder nachgeguckt, das war schon erschreckend, was man da gemacht hat, manchmal. Es hat den Charme eben damals ausgemacht, dass es häufig so war, dass man sich wirklich keinerlei Gedanken gemacht hat, wie komme ich da überhaupt an, sondern dass man, wie bei Punk, einfach das rausgebrüllt hat, was man gedacht hat. Ich war auch so froh, überhaupt so ne Möglichkeit zu haben, weil ich mir das hätte nie vorstellen können. Ich bin ja ausgebildeter Drucker und hab' in der DDR damals, als ich mit dem Beruf angefangen hab, gedacht, das war's jetzt, das war das Leben, das bleib ich jetzt bis zur Rente und bin die ganze Zeit in so nem lärmenden Maschinensaal. Und plötzlich änderte sich das Leben einfach so. Da war ich arbeitslos, glücklich und hab das Leben genossen, in vollen Zügen. MUSIK: Frith "Learn to talk? O-TON Ahne: Ich hab schon ganz früh für meine Oma zum Geburtstag Gedichte geschrieben, meine Oma hat damals schon immer zu mir gesagt, du wirst bestimmt mal Schriftsteller, und dann haben alle gelacht. Und dann hab ich später auch für die Wandzeitung ein großartiges Gedicht geschrieben, für die Schulwandzeitung... Sigmund Jähn ist unser Held, wie er doch mit großem Tempo durch das Weltenall schnellt. So in etwa hab ich dann weitergeschrieben, bis ich in die Pubertät kam, und da hab ich nur geschrieben, wenn ich unglücklich war. Das war dann immer sehr düster alles, Gewalt, Maschinen. Das Ende naht. Und hab' dann so ne Gedichte auch mal an die Junge Welt geschickt, und die hat mir dann zurückgeschrieben, ich solle es doch mal im Zirkel schreibender Arbeiter probieren. Irgendwann, wahrscheinlich durch die Wende, war's dann nicht mehr nur düster - kam wieder ein bisschen Humor rein. ATMO: Ahne singt das Lied der Freiheit O-TON Ahne : Heutzutage weiß ich natürlich, es wäre unmöglich, mit diesen Menschen, auch mit mir, eine wirklich andere Gesellschaft zu machen, aber damals hatte ich wirklich diese Ideale. Es muss was ganz anderes geben. Wir können wirklich jetzt eine Welt voll Brüdern und Schwestern werden, die sich gut verstehen. MUSIK: J. Freedom "Gallerie" O-TON Ahne: Bei den Surfpoeten ist nach wie vor ein Hauptanliegen von uns, die Welt zu verbessern, den Zwang zur Lohnarbeit abzuschaffen, Essen für umsonst, keinerlei Kontrollen zu akzeptieren im öffentlichen Nahverkehr. Wir dachten ja eigentlich, dass das relativ schnell weitergeht. Schafft eins, zwei, viele Reformbühnen. Dass wir da wie so ne Keimzelle sind, das aber recht schnell in allen möglichen Städten, auch international, weitergeht. Es ist einfach ne Öffentlichkeit, ne Plattform, die man nutzen sollte. ATMO: Ahne singt das Lied der Freiheit ERZÄHLERIN: Heutzutage nehmen Alltag, Beziehung, Familienleben einen großen Raum in Ahnes Texten ein. O-TON Ahne: Ick meine, ick als Mann ja, ick soll heute stahk sein, aba ooch jut aussehn, ick soll Jefühle zeigen, aba mir ooch Jefühle ankieken. Ick soll Vaantwortung übanehmen, mit die Kinda spielen, den Müll runtabringen, abwaschen, die Zeitung wegräumen, wennick se jelesen hab, ick soll Glühbürnen wechseln, mir rasiern, intelligent sein aba ooch Humor ham, ick soll uff ihre Bedürnisse achten dabei aba ooch dit Wesentliche nich außen Augen valiern, ick soll Beschütza sein und Fußabtreta, Spielmacha und Ballhola und denn sollick ooch noch sexy sein, dazu! Dit is doch nich leicht! MUSIK: Frith "True Love" ERZÄHLERIN: Der Ursprung der heutigen Lesebühnen geht darauf zurück, dass jemand eine Möglichkeit gesucht hat, unzensiert aktuelle Texte öffentlich zu machen. O-TON W.Droste: Auch wenn ich nicht so aussehe, ich bin die Mutter aller Lesebühnen. ERZÄHLERIN: Wiglaf Droste weiß medienwirksame Sätze von sich zu geben. Nach einem Auftritt in Berlin findet er die Zeit, mich auf einen Kaffee in Kreuzberg zu treffen. Die souveräne Professionalität meines Gegenübers machen mir die Arbeit leicht, ebenso seine Freundlichkeit. Ich höre Herrn Droste Cappucino schlürfend zu, in der Gewissheit, dass er, gewürzt mit gelegentlichen Scherzen und Seitenhieben, genau das sagen wird, was er entschlossen ist zu sagen, nicht mehr, nicht weniger, und zwar in grammatikalisch korrekten, nicht selten geschickt pointierten Sätzen. O-TON W.Droste: Ich war bis zum Herbst 1988 Medienredakteur der Taz, habe dann dort gekündigt, und mit Freunden und Kollegen darüber beratschlagt, was man eigentlich machen kann, wenn die Medien, die einem offiziell zur Verfügung stehen, offenbar nicht geeignet sind das, was man eigentlich sagen möchte zu sagen; und dann haben wir gesagt, machen wir doch einfach eine Live-Zeitung. ERZÄHLERIN: Die Redaktionsarbeit bei der Taz fand Wiglaf Droste "zermürbend", er weigerte sich, jeden Morgen zu einer Sitzung zu gehen. O-TON W.Droste 35: Ich wurde dann teilweise wirklich von den Schergen der Redaktion da abgeholt und zur Sitzung geführt, das war lächerlich. Sitzungen sind die Disziplinierungsschulen, da geht es einfach nur darum, dass Leute eingenordet werden, und eigentlich nicht darum, kollegial was zu besprechen. Und deswegen hab ich gedacht, wenn ich schon mit Leuten zusammenarbeite, dann doch bitte mit denen, die ich mir dazu auch aussuche, mit denen ich das möchte, und nicht mit Leuten die vom Lesen und vom Schreiben nur rudimentär etwas verstehen und deswegen Zeitungsredakteure geworden sind. ERZÄHLERIN: Im Frühjahr 1989 gab es mit Cluse Krings die ersten Auftritte der "Höhnenden Wochenschau" im Café Swing am Nollendorffplatz. Bald schon wurde nach Kreuzberg umgezogen. O-TON W.Droste: Dann kamen Leute dazu wie Michael Stein. Klaus Notnagel und Dr. Seltsam, und wir haben jeden Sonntag versucht, ein politisch- literarisches Programm zu machen, das nichts mit Kabarett zu tun hat. Und das das zu Sagende radikaler, schärfer und lustiger sagt als das, was man in der Zeitung lesen konnte. MUSIK: Frith "Too much, too little" ERZÄHLERIN: An Schärfe dürfte es Wiglaf Droste zu jener Zeit jedenfalls nicht gefehlt haben. Er produzierte einen Skandal nach dem anderen. In der Taz das Bild einer Banane in einer Vagina zum internationalen Frauentag, zum Thema Wiedervereinigung eine Reportage in der Titanic mit dem Titel "Drecksäcke bekennen: ich bin ein Berliner". O-TON W.Droste: Nie wieder so viele Hassbriefe bekommen wie da. ERZÄHLERIN: Als die Höhnende Wochenschau sich in politische Grabenkämpfe verstrickte, machten Wiglaf Droste und Michael Stein sich mit dem Benno Ohnesorg Theater unabhängig. Zur besten Zeit traten sie mitternachts vor über 400 Leuten in der Volksbühne auf. Michael Stein, inzwischen verstorben, ist wegen seines anarchischen Humors und seiner kompromisslosen Art eine Legende in der Lesebühnenszene. O-TON W.Droste: Der Verleger Klaus Bittermann hat ihm ein schönes Denkmal gesetzt mit dem Buch "Ich bin Buddhist und Sie sind eine Illusion", das ist wohl das, was Stein öfter mal zu BVG Kontrolleuren gesagt hat, wenn sie ihn vergeblich nach einer Fahrkarte befragten. ERZÄHLERIN: In der Aufbruchstimmung Anfang und Mitte der neunziger Jahre wurden zahlreiche Lesebühnen in Berlin gegründet, neben der Reformbühne und den Surfpoeten zum Beispiel auch "LSD - Liebe statt Drogen" und das kürzlich eingestellte Mittwochsfazit. Die mit der Wiedervereinigung einhergehenden Umbrüche wurden verhandelt, und neben scharfer Kritik nahm sich auch die Hoffnung auf eine neue, bessere Gesellschaft ihren Raum. Viele Lesebühnen waren Foren, wo Ost und West sich trafen. O-TON W.Droste: Es haben, glaub ich, sehr viele aus dem Westen im Osten irgendeine Wahrheit gesucht jenseits des Konsumismus. Ich weiß noch, wie Stein immer sagte, es sei so schön im Osten, die Menschen seien einfach die besseren Menschen. Mittlerweile gibt es ja wieder ein Zurückrutschen ins Alte. Die Zeit wo ein Teil der Leute wenigstens sehr offen aufeinander zugegangen ist und was voneinander wollte, Reibung, diese Zeiten sind jetzt schon wieder vorbei. ERZÄHLERIN: Die Zeiten der Lesebühne sind für Wiglaf Droste auch vorbei, schon lange tritt er dort nicht mehr auf. O-TON W.Droste: Die Idee, sich mit 5,6 Leuten auf eine Bühne zu begeben, die behagt mir überhaupt nicht mehr. Das hat immer so was parteitagsartiges. Die Bühnensituation ist eigentlich eine solitäre, wenn man einen Text vorträgt, da braucht man auch keine Hilfstruppen im Hintergrund. ERZÄHLERIN: Nicht nur von der Form, auch von der Qualität distanziert Wiglaf Droste sich. O-TON W.Droste: Wenn man sagt, man liest erst etwas vor, wenn man davon überzeugt ist, dass es fertig ist, und genau so, wie es ist, auch zwingend sein muss, das ist das Gegenteil von Lesebühne. Eine Bühne ist eine Bühne, ein Arbeitsplatz. Dieses Prinzip Kindergeburtstag ist nicht mein Unterhaltungsbegriff. Wir leben in einer Zeit der völligen Zerstreuung und der Diffusion, es gibt also Leute, die haben den ganzen Tag irgendeine Ballerbude digitaler Natur laufen. Es dringt über das Netz, über die Medien Diffusion in den menschlichen Kopf, und ich find es dann richtiger zu sagen, was ich anbiete, ist das Gegenteil von Diffusion, also das sind dann 90 Minuten reine Konzentration, und wofür andere Leute dreißig Seiten brauchen, das fasse ich mal in dichter Sprache in ein bis zwei Seiten zusammen. MUSIK: Frith "Too much, too little" ERZÄHLERIN: Ich frage Wiglaf Droste, Mutter aller Lesebühnen, ob ihm sein Kind zu unpolitisch geworden ist. O-TON W.Droste: Das weiß ich nicht. Ich hab so lange nichts gehört, dass ich das jetzt beurteilen könnte. Ich weiß auch im Moment nicht, was Politik sein soll, wenn ich lese, dass Leute irgendwo "freedom of speech" brüllen, und meinen, dass sie umsonst telefonieren können. Also die Freiheit der Rede kann ja nicht darin bestehen, dass jeder babbelt, was er will, das tun sowieso alle, aber das ist nichts, wofür man auf die Straße gehen muss. MUSIK: Frith "Washington Post" ERZÄHLERIN: Wenn ich Lesebühnenautoren danach befrage, wie politisch sie seien, bekomme ich verschiedenste Reaktionen - Augenverdrehen, leises Stöhnen, trotziges Achselzucken. Es stellt sich heraus, dass die einen von dem Vorwurf genervt sind, sie seien nicht politisch genug - denn natürlich seien ihre Texte, wenn auch manchmal erst auf den zweiten Blick, hochpolitisch, andere wiederum von dem Anspruch, politisch sein zu müssen - schließlich sei doch Politik nicht alles. Allen gemeinsam ist der Unwille, sich irgendeinem Programm oder Zugzwang unterzuordnen, dazu wurden die Lesebühnen gerade nicht gegründet. Thema hat das zu sein, was das Individuum bewegt - je nach Individuum kann das ein Problem mit der Freundin, mit der BVG oder eben mit der Regierung sein. MUSIK: Kling "Zug der Opportunisten" ERZÄHLERIN: Ein Nachwuchstalent hat es kürzlich mit einem politischen Liedtext auf die Skandalseite der BZ geschafft. Marc Uwe Kling ist 26, macht Poetry Slam, Solo- Comedy und ist Mitbegründer der "Lesedüne". Laut BZ ist er nun außerdem Terror- Brandstifter. MUSIK: Kling "Hörst du mich, Josef?" ERZÄHLERIN: Das Lied ist über vier Jahre alt. Jetzt hat es die BZ auf Youtube gefunden, rief beim Autor an und wollte ein Interview. O-TON M.U.Kling: Ist völlig unabhängig davon, was sie über mich schreiben. Ich muss dieses Konzept einer solchen Zeitung - lehn' ich einfach ab, und wenn ich das ablehne, kann ich auch mit solchen Leuten nicht reden. ERZÄHLERIN: Lieber machte Kling eine Nummer aus dem Artikel. O-TON M.U.Kling: Der geistige Terrorbrandstifter führt ein Interview mit sich selbst. - Herr Kling, reden wir nicht lange um den heißen Brei herum. Wollen Sie Josef Ackermann... töten? - Nein. ... - Wie kommt es dann, dass ein sowohl für seine Seriosität als auch für sein wahrheitsliebende Recherche, kurz gesagt für Qualitätsjournalismus bekanntes Blatt wie die BZ, eben dies behauptet? - Youtube. - Hä? - Youtube. - Wollen Sie das vielleicht näher erläutern? - Irgendjemand hat...(Genuschel) - Und in diesem Lied rufen Sie zum Mord an Josef Ackermann auf? - Wissen Sie, ich hab auch ein Lied geschrieben mit dem schönen Titel "Warum kommt meine Ironie nie durch?" - Sie rufen also nicht zum Mord an Josef Ackermann auf? - Nein. - Warum denn nicht? - Die Idee hinter dem Lied war eine ganz andere (...Genuschel...) aufzuzeigen, dass die Probleme systembedingt sind. - Erklären Sie das auch so in ihrem Programm? - Ja sicher, ich erkläre alle meine Witze. ERZÄHLERIN: Als ich Marc Uwe Kling frage, ob er abgesehen von der BZ jemals Ärger wegen seiner Texte hatte, wirkt er müde. O-TON M.U.Kling: Diverse Male wurden bestimmte Sachen nicht ausgestrahlt... aber... nichts Schlimmes. ERZÄHLERIN: Ich frage mich, ob nicht einfaches Ignorieren eines der übelsten Instrumente moderner westlicher Zensur ist. Es wirkt sehr gut a priori. O-TON M.U.Kling: Diese Selbstzensur ist furchtbar. Aber das haben sie ziemlich gut hingekriegt, dass man keine hochoffizielle Zensur mehr braucht. Man macht das ja schon unbewusst, die Schere im Kopf anzulegen. Das versuch ich natürlich zu vermeiden, indem ich mir bewusst mache: Warum sagst du das jetzt nicht, stehst du nicht dahinter, oder hast du Angst, dass du dann Stress kriegst mit irgendwelchen Leuten? Immer wieder, wenn man so in den normalen Diskurs eingefangen ist und da nicht mehr richtig rauskommt, dann kann man schlaue Bücher von schlauen Leuten lesen, und dann kann man sich wieder sehr über die Welt aufregen, und das lässt einen die Schere dann wieder beiseite legen. ERZÄHLERIN: Nach dem Gespräch, in der U-Bahn, kommen mir selbst unversehens Zweifel. Kann ich das Ackermannlied in diesem Feature bringen? Ein anderer Sender habe es abgelehnt, erzählte Marc-Uwe Kling mir, obwohl der Redakteur es unbedingt gewollt habe. Sollte ich derartigen Problemen vielleicht lieber von vornherein aus dem Weg gehen? Ja, die Selbstzensur ist zum Fürchten. MUSIK: Kling "Rolltreppe ins Nichts" O-TON J.Schmidt: Mein Credo wäre, wir sind gegen diese ständig fortschreitende Entwicklung zum Mittelmaß in dieser Gesellschaft. ERZÄHLERIN: Jochen Schmidt war 1999 einer der Mitbegründer der Lesebühne Chaussee der Enthusiasten. Er ist jetzt 38, hat verschiedene Erzählbände veröffentlicht sowie vor kurzem "Schmidt liest Proust", ein 600 Seiten langes Werk über das Lesen, sich selbst und Proust. O-TON J.Schmidt: Wie ich ans Schreiben gekommen bin, das weiß ich nicht mehr, das frag ich mich ja immer noch jeden Tag, ob das schon schreiben ist, was ich mache. Es gab keine Alternative, ich wollte nichts anderes machen. ERZÄHLERIN: Die Enthusiasten ziehen jede Woche zwischen zwei- und dreihundert vorwiegend junge Leute in den RAW-Tempel in Friedrichshain. Was die Publikumszahlen betrifft, sind sie damit wohl mit Abstand die erfolgreichste Lesebühne Berlins. O-TON J.Schmidt: Wir sind eben freie Autoren, die sich dem Problem stellen, ihre Kosten reinzukriegen und das Publikum irgendwie zu erreichen. Und das wird immer negativ gesehen von der Presse und von Rezensenten, weil es so aussieht, als würde man dem Geschmack hinterherlaufen, aber ich find das sehr wichtig, dass man das nicht aus dem Auge verliert. MUSIK: Frith "Country of Blinds" ERZÄHLERIN: Das ehemalige Reichsbahnausbesserungswerk ist seit 1994 stillgelegt, jetzt bieten die Gebäude Platz für soziale und kulturelle Initiativen, Künstlerateliers, Werkstätten, Club und Kneipe. Zwischen baufälligen Hallen und moosigen Mauern mit bunten Graffiti tummeln sich cool gekleidete Jugendliche. Der Club, in dem die Lesebühne stattfindet, sieht aus, wie solche Räumlichkeiten eben aussehen, Beton, Staub, Bierlachen. Für den Literaturabend trauen sich auch ein paar Leute um die vierzig her. Bevor es losgeht, möchte ich den Autoren einige Fragen stellen - gar nicht so einfach. Erst habe ich Hemmungen das Mikrophon zu platzieren - aus Angst, es könnte etwa festkleben. Tisch, Theke, Fußboden - vielleicht wurde all das gestern geputzt, aber es sieht aus, als hätte es seit 94 keine Reinigungskraft mehr gesehen. Dann lärmt die Barfrau hinter der Theke derartig, dass eine Aufnahme unmöglich wird. Sie lässt nicht mit sich reden, selbst fünf Minuten Ruhe sind zu viel verlangt, sie macht hier schließlich ihre Arbeit. Ich verkrieche mich mit den vier Enthusiasten, die mit mir reden wollen, mit gnädiger Erlaubnis der Barfrau in ein vollgestopftes Kabuff hinter der Theke. ATMO: RAW-Tempel/ Chaussee O-TON LB CHAUSSEE Runde : - Ich will jetzt nicht wieder in diese Jammer- Ossirolle verfallen, aber (Gelächter, Durcheinander, "du bist schon drin!") - Ja, das wird ja uns zum Teil vorgeworfen, dass unsere Sachen irgendwie nicht so Bestand haben, und bei Slam ist es ja eigentlich noch stärker, und da wird es aber wiederum gelobt, diese Direkte, von den gleichen Leuten wahrscheinlich. - Nein, das sind genau die gleichen Leute. (Widerspruch, Durcheinander) Das eine sind die Mediennazis, das andere eher Terroristen. (Gelächter, Widerspruch) - Wir klingen jetzt wahrscheinlich total beleidigt, dabei sind wir superfreundliche großzügige Menschen, die auch über die Fehler der Massenmedien hinwegsehen können. ATMO: Applaus/ Chaussee Anfang ERZ.: Gut gelaunt und sehr bereit, alles lustig und nett zu finden, beklatscht das Publikum die "Literaturband". Es besteht eine augenfällige Diskrepanz zwischen dem zeitlosen Outfit der Autoren (irgendwelche Jeans, Pulli) und dem Kleidungsstil der Besucher, von denen viele so aussehen, als seien sie der letzten H&M - Kollektion entstiegen (krass coole Jeans, voll hübscher Pulli). O-TON Dan: Herzlich Willkommen zur Chaussee der Enthusiasten. ERZÄHLERIN: Eine längere improvisierte Ansage gehört zu den Spezialitäten dieser Lesebühne. Schließlich unterrichtet Dan auch Improvisationstheater. O-TON Dan: Also Ihr könnt Euch zum Beispiel verewigen, indem Ihr jetzt alle ruft "Hallo DeutschlandRadio"... O-TON J.Schmidt: Ich glaube wir kommen so rüber wie Leute die, die haben das ja zehn Minuten vorher geschrieben, und das ist ja alles total einfach, weil wir kein großes Brimborium drum machen... Aber es ist natürlich alles überhaupt nicht ganz einfach, und es steckt viel Arbeit drin. O-TON Schmidt: Wir befinden uns jetzt in Berlin Buch im Jahr ungefähr 1980. Als Geburtstagsgeschenk darf ich mir im Uhrenladen in Pankow aus einer Vitrine eine Armbanduhr aussuchen. Metallic-blaues Ziffernblatt, phosphoreszierende, breite Zeiger. Damit kann man im Dunkeln sehen, wie spät es ist. Die Zeiger lade ich vorher mit der Taschenlampe extra auf, damit sie leuchten. O-TON J.Schmidt: Im Grunde stell ich mir beim Schreiben immer ne ältere Dame vor als Leserin, jemanden, der schon ein bisschen was erlebt hat im Leben. Leider werde ich vom Verlag immer als jemand gesehen, der sich an ein junges Publikum richtet, was völlig falsch ist. O-TON Schmidt: Mit Geschenken zur Schule. Der neue Tintenkiller. Filzstifte. Muss ich nicht mehr die alten nehmen, die nur noch gingen, wenn man das Plasteröhrchen mit dem Filz drin mit Essig beträufelte. Manche Stifte blieben immer übrig, weil man die Farbe fast nie benutzte. O-TON J.Schmidt: Die Welt verändert sich, man kann nicht verlangen, dass es so bleibt wie früher, aber ich verlang' so ein historisches Bewusstsein, wenn man an einem Ort lebt, wie es früher war. Dafür stehen wir mehr und mehr, find ich, die Lesebühnen. Viele von uns sind ja Fossilien. Wir sind so Übriggebliebene einer untergegangenen Welt. Das ist, glaub ich, auch ganz interessant für die Zuschauer. O-TON Schmidt: Fünf Minuten zur Schule. Überall sitzen sie hinter den Gardinen, weil sie wissen wollen, was ich geschenkt bekommen habe. Von jedem Fenster aus kann man alles überblicken. Ich versuche, mich selbst zu spielen, ohne dass man es mir anmerkt. Schon auf dem Weg zur Schule mehrmals auf die Uhr sehen. Den Arm ruckartig strecken, so dass der Ärmel der Jacke ein Stück hochrutschte, dann hielt man sich in einer fließenden Bewegung den Unterarm waagerecht vors Gesicht, las die Zeit ab und schüttelte anschließend das Handgelenk aus, damit die Uhr wieder in ihre Ausgangsposition rutschte, bis sie wieder gebraucht würde. Eine lästige Fessel, aber man hatte damit zu leben gelernt. O-TON J.Schmidt: Es geht eben um dieses proletarischere, vielfältigere und irgendwie auch menschlichere Berlin, was es früher mal gab, meiner Meinung nach. Es geht ja darum, wie ich es mir vorstelle, dass es gewesen sein könnte. Es wird dadurch, dass es das nicht mehr gibt, zur Utopie, das ist ja bekannt. O-TON Schmidt: Nicht am falschen Handgelenk, dann war man "schwul". Man trug sie links, obwohl man Rechtshänder war. ("Rechtshändler" sagte man.) O-TON J.Schmidt: Speziell wenn man Dinge vorliest, die noch mit der DDR zu tun haben, davon wissen die jungen Leute ja nichts mehr. Junge Leute sind dann ja schon Leute, die fünf bis zehn Jahre jünger als ich sind, für die ist das schon kein Thema mehr. Aber da versteh ich mich dann auch als Aufklärer. Es ist ja auch wichtig, dass man Leute mit Themen belästigt, die sie erstmal nichts angehen - anzugehen scheinen. Dann bin ich da eben so ein bisschen der Lehrer. Das ist natürlich blöd, weil, es darf keiner merken. MUSIK: Frith "Foot in Hole" ERZÄHLERIN: Ich besuche Jochen Schmidt zu Hause im Prenzlauer Berg, steige am großen Shoppingcenter aus, gehe an der UCI Kinowelt vorbei, an einem Schuhgeschäft mit 300-Euro-Stiefeln, und an einer Filiale weltweit gleich aussehender Coffeeshops; dann an einem Billigkleiderladen mit ausschließlich in Asien hergestellten Waren, die so stark nach Chemie riechen, dass ich schnell weitereile. O-TON J.Schmidt: Der Prenzlauer Berg ist natürlich nicht mehr, was er damals war. Das war ja eine sehr proletarische, von der industriellen Epoche geprägte Welt. Die hat mir sehr gefallen, das vermiss ich sehr, und daran hab ich festgehalten, so lang es ging. ERZÄHLERIN: An einer Buchladenfiliale, die draußen haufenweise Mängelexemplare verramscht, biege ich in die Seitenstraße ein, dann am begrünten Platz in einen gepflegten Hauseingang. Ich steige viele Stufen herauf und lande schließlich in einer ruhigen Altbauwohnung, die mich an ein gut geschütztes Vogelnest erinnert. Hier wohnt Jochen Schmidt, seit er aus seiner vorigen Wohnung raus musste, weil das Haus saniert wurde. O-TON J.Schmidt: Ich bin nicht gegen Modernisierung, ich bin nur gegen Monokultur. Es wird ja immer gleicher, so. Die Geschäfte sehen immer gleicher aus, die Leute gucken die immer gleicheren Fernsehprogramme, der Buchmarkt bricht zusammen, weil es nur noch Buchkaufhäuser gibt. Es ist ja überhaupt nicht so, dass die DDR da ein Gegenbild zu sein kann, wir sind ja eher alle DDR-geschädigt, die da mitmachen. ERZÄHLERIN: Der Chaussee der Enthusiasten wurde von Kritikern vorgehalten, ihr leger-ungehobelter Auftritt sei eine ausgefuchste Strategie, Natürlichkeit als Verkaufstrick. Auf dem heißumkämpften Literaturmarkt erscheint es vielen unfassbar, dass jemand nicht in erster Linie daran denkt, sich an den Mann zu bringen. Erst recht, wenn sich ein gewisser kommerzieller Erfolg einstellt. O-TON J.Schmidt: Ich bin glaub ich viel zu dumm für sowas, ich bin da ja total naiv. Die einzige Strategie, die ich habe ist, dass ich drauf achten muss, wieviel Zeit ich wo rein investiere. Und wenn mir da ein sehr lukratives Angebot für ein Sachbuch gemacht wird über die DDR, dann ist das eben für mich ne ganz schwere Entscheidung, und ich sag's ab. In solchen Entscheidungen ist man leider völlig allein, weil einem alle zuraten, inklusive der Agentur, die sind natürlich die ersten, die dafür sind. Und da muss man denn stark sein, und weiß auch nicht ob man das richtig tut. ERZÄHLERIN: Wenn Jochen Schmidt eine Strategie verfolgt, gehe ich ihm jedenfalls auf den Leim. Zudem kommt es mir richtig und sogar normal vor, dass ein Autor seine Berufung über den Erfolg zu stellen habe - was vielleicht auf meine eigene Naivität und Dummheit zurückzuführen ist. Allerdings unterscheidet Schmidt deutlich zwischen dem Schreiben von Büchern und seinen Auftritten bei der Lesebühne. Wenn er zur Chaussee der Enthusiasten geht, lässt er seine traurigeren Geschichten lieber zu Hause. O-TON J.Schmidt: Wenn ich auftrete, kann ich mich nicht dauerhaft an eine Minderheit richten. Es geht nun mal nach der Mehrheit. Alles andere wäre arrogant. Auch wenn es sehr schmerzhaft ist, weil man oft ganz andere Sachen machen will, und genau weiß, das will keiner hören. ERZÄHLERIN: Der Autor macht beim Sprechen ein ernstes, konzentriertes Gesicht. Am Ende seiner Sätze grinst er dann plötzlich, manchmal kichert er auch - als hätte er eine Methode gefunden, seine Diskrepanzen mit der Umwelt als Quelle eigenen Amüsements zu nutzen. O-TON J.Schmidt / Montage mit MUSIK M. Ribot "Motherless Child": Also ich find das eigentlich ganz heilsam, mal ne Weile mit Kohlen geheizt zu haben. Für mich sind Hörbücher eigentlich für Doofe. Meine Leidenschaft sind Sprachkurse. Selbst wenn ich sehr gut bin, kann es Jahre dauern, bis es jemand merkt. Denn darum gehts ja, dass man ein eigener Charakter ist. Morgen kannst du schon beim Sozialamt sitzen. Also es geht einfach um Aufklärung. Zuerst mal klär ich mich selber auf und berichte eben über die Ergebnisse. Einerseits muss man an den Texten arbeiten, andererseits muss man an sich arbeiten. Man wird dann immer mehr zu so ner närrischen Figur, aber das is' eben so. ERZÄHLERIN: Jochen Schmidt macht auf mich den Eindruck eines "typischen Autors" - jemand, der sehr viel Zeit mit sich selbst verbringt und sich letzlich nur auf sich verlässt. Vielleicht täusche ich mich. O-TON J.Schmidt: Insgesamt hat diese kollektive Form des Kulturmachens, also dass man in einer befreundeten Form zusammenarbeitet und längere Zeit ne Art Familie bildet oder Band, die hat schon Zukunft glaub ich, weil das ja auch ne Sehnsucht von vielen anderen Leuten ist, in so ner Form arbeiten zu können, in Zeiten, wo man gemobbt wird, und jeder auf den Job des anderen schielt, ist das doch sehr beglückend. ERZÄHLERIN: Dan Richter hat diese Beglückung mal für den Hörfunk ausgearbeitet: O-TON Dan: Hier im Friedrichshain, dem Szenebezirk der Kreativen, wo man als Außenstehender beim Anblick der Gammelkleidung kaum weiß, ist das noch Armut, oder ist das schon Style, treffen sich Woche für Woche sechs junge Autoren, um ihrem Publikum Texte vorzutragen. Der deutliche Protest gegen den Literaturbetrieb, gegen Prätentiöses, kann er sich noch halten, und vor allem, wer finanziert diesen Protest? Wir fragen Robert Naumann, den Chefenthusiasten, der hier still und heimlich die Fäden zieht. "Nein", widerspricht er, "eine Protestbewegung sind wir nicht", doch der Schalk in seinen Augen verkündet das Gegenteil. Andreas Kampa beantwortet meine Frage, ob er denn davon leben könne, mit einem kurzen "Nein", dann schweigt er für den Rest des Abends. Und der offenbar gerade mal volljährige Stefan Zeisig versucht im Gespräch mit mir immer wieder die Geschichte aufzutischen, er sei Lehrer für Französisch und Geschichte. Zufälligerweise ist heute abend auch eine richtige Autorin anwesend, Kirsten Fuchs. Diese spielt aber ebenfalls das witzig-witzig Spiel und beteuert, Mitglied dieses Männerclubs zu sein. ERZÄHLERIN: Frauen sind auf Lesebühnen sehr rar, Kirsten Fuchs ist eine der wenigen Autorinnen. O-TON Kirsten Fuchs/ Runde: Es wird auf jeden Fall Frauen, die sowas machen, etwas sehr Männliches unterstellt. - Du hast ja auch einen handwerklichen Beruf, einen Männerberuf! - Aber ich hab lange Haare, das kann man jetzt im Radio nicht sehen, aber ich hab lange Haare. O-TON Fuchs/ Bühne: (Applaus) Ja, die Frau, immer praktisch, um Witze drüber zu machen... Der Text hat nichts damit zu tun, der heißt Ärztin aus Langeweile. ERZÄHLERIN: Nachdem das erzählende Ich durch Androhen einer Amputation Schmerzen im Knie einer Patientin beschwichtigen konnte und durch das Lösen von Haarklammern den Krebsknoten im Haar einer anderen geheilt hat, kommt eine multikulturelle Herausforderung auf die Ärztin zu. - Die Weiblichkeit der Erzählperspektive ist über jeden Zweifel erhaben. MUSIK: Sharp/ Horvitz/ Zorn/ Previte "228 West Broadway" O-TON Fuchs: (...) MUSIK: Ivo&Sascha "Im Regionalzug nach Schwedt" ERZÄHLERIN: Erst nach der Jahrtausendwende schwappte das Phänomen Lesebühne von Berlin über in andere deutsche Städte, zunächst Frankfurt am Main, dann Köln, München, Hamburg. Von 2006 bis 2007 schossen in Hannover gleich vier Lesebühnen aus dem Boden. Viele der jungen Initiatoren pflegen Kontakt zu den Berliner Kollegen, laden sie zum Lesen ein und holen sich auch Rat. 2004 gründeten die Verleger Leif Greinus und Sebastian Wolter den Verlag Voland & Quist, der sich auf Literatur aus der Lesebühnenszene spezialisiert. Wenig später initiierte Leif Greinus in seiner Heimatstadt auch eine Lesebühne. O-TON J.Fischer: Herzlich willkommen zu Sax Royal, der Dresdener Lesebühne. Es ist wunderbar, dass ihr alle so zahlreich gekommen seid, um mit uns den vierten Geburtstag zu feiern. ERZÄHLERIN: Der Saal ist voll, ich schätze rund dreihundert Studenten, zweihundertfünfundneunzig freundliche Gesichter und mindestens vierhundert Bierflaschen. Julius Fischer, der auch mit Poetry Slam von sich reden machte, hat zur Feier des Tages seine Human Beat Box Christian Meier mitgebracht. O-TON: Fischer/ Meier Lied ERZÄHLERIN: Bei Sax Royal ist mehr als an anderen Lesebühnen auch die Lyrik vertreten, zum Beispiel durch Roman Israel. O-TON Israel: Die Sonne scheint. Ungewöhnlich. Aber das Leben muss weitergehen. Neben einem Schild an einer Haltestelle liegt eine Kugel Eis unten auf dem Boden. Noch unentdeckt. Und schmilzt. Und köchelt. Und verdünstelt vor sich hin. Ungewöhnlich aber das Leben muss weitergehen. Die ist jemandem auf den Boden geklatscht, die Kugel Eis die hat jemand auf den Boden gepfeffert oder jemand wollte sie nicht mehr weil sie Kirsch war und er lieber Zwetschge gehabt hätte. ERZÄHLERIN: Als ich Dresden wieder verlasse, habe ich einen Text von Michael Bittner im Ohr. MUSIK: Frith "You may find a bed" O-TON Bittner: Meiden Sie den Osten! Wenn Sie aus irgendwelchen Gründen den Osten nicht meiden können, meiden Sie Kontakt mit Menschen aus dem Osten! Denken Sie daran: Umfragen ergeben, dass knapp 50 Prozent der Ostdeutschen der Meinung sind, dass zu viele Ausländer in Ostdeutschland leben. Führen Sie sich also vor Augen, dass jeder zweite Ostdeutsche, dem Sie auf der Straße begegnen, der Meinung ist, dass Sie gar nicht da sein sollten. ATMO Ahne singt: Freiheit! Freiheit! O-TON Ahne: Jeder Arbeiter, jeder Bauer kann det. Ende ******* Die kursiv gedruckten Stellen sind Lesungen/ Texte der Autoren******* 1 1