DEUTSCHLANDFUNK -Köln im DeutschlandRadio Redaktion: Hintergrund Kultur / Hörspiel Redaktion: Hermann Theißen Tel. (0221) 345 1385 Dossier "MEIN BLUT KOMME ÜBER EUCH". DER UNGEKLÄRTE FALL ALDO MORO. EIN FEATURE VON JESSICA KRAATZ MAGRI UND BRUNO FRANCESCHINI Erzähler: 1. Übersetzer (Moro): 2. Übersetzer (Pieczenik und alle männlichen Interviewpartner): 1. Übersetzerin (Rote Brigaden und Adriana Faranda): 2. Übersetzerin (Witwe und Tochter Moro): URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ? DeutschlandRadio - unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Freitag, d. 02. Mai 2008, 19.15 - 20.00 Uhr Musik: Matia Bazar: "Solo tu" Ansage: "Mein Blut komme über Euch". Der ungeklärte Fall Aldo Moro. Ein Feature von Jessica Kraatz Magri und Bruno Franceschini Musik 2: Matia Bazar: "Solo tu". O-Ton 1: 14 e 18 minuti ... ripetiamo la notizia non è ancora ufficiale. Da parte delle forze dell'ordine e della magistratura si sta accertando - scusate un attimo ... - si sta ancora accertando l'identità del corpo trovato in via Caetani al centro di Roma. C'è ancora un flash dell'agenzia ANSA, l'agenzia ufficiale d'informazione, è stato confermato ora, dice l'ANSA, che è stato ora confermato ufficialmente, ecco un avverbio importante ... ufficialmente ....dalle autorità di polizia che l'onorevole Moro è stato trovato nella R4 in via Caetani. Erzähler: Rom, 9. Mai 1978. 14 Uhr 18. Jetzt ist es gewiss. Die Radiosender geben die offizielle Bestätigung der Polizei durch: In der Via Caetani, einer Gasse im alten römischen Ghetto, wurde der zusammengerollte Leichnam von Aldo Moro im Gepäckraum eines roten Renaults gefunden. Aldo Moro ist der Vorsitzende der Christdemokratischen Partei, einer der mächtigsten Männer Italiens: 55 Tage lang war er in der Gewalt der Roten Brigaden. 55 Tage, die das Land in einen Schockzustand versetzt haben. 55 Tage, in denen vor den Augen der nationalen und internationalen Öffentlichkeit ein gnadenloser Machtkampf ausgefochten wird: zwischen einer selbsternannten Vorhut des Proletariats und einem unbeugsamen Staat, dessen politische und moralische Ohnmacht all seine inneren Widersprüche offenbart. Trotz acht Prozessen, zwei parlamentarischen Untersuchungskommissionen und Bergen an Literatur ist die Affäre Moro noch immer alles andere als geklärt, so dass die römische Staatsanwaltschaft 2006 sogar ein neues Verfahren eröffnet hat. Zudem wirft das Geständnis des Steve Pieczenik, ein ehemaliger Terrorismus-Experte des Weißen Hauses, neue Fragen auf. Pieceznik hat 1978 die italienische Regierung bei der Bewältigung der Moro-Krise beraten und dabei in Washingtons Auftrag gehandelt. Übs 2: Ich habe bis heute geschwiegen und dreißig Jahre lang gewartet, um diese Geschichte zu erzählen. Ich hoffe, dass es etwas nützt. Ich bedaure Aldo Moros Tod, aber wir mussten die Roten Brigaden instrumentalisieren, damit sie ihn töten. Der Ausgangspunkt meiner Strategie war die Annahme, dass für den Staat kein Mensch unverzichtbar ist. Man könnte sagen, dass es ein kaltblütig vorbereiteter Todschlag war. Erzähler: W was meint Pieczenik damit, wenn er behauptet, die Roten Brigaden instrumentalisiert zu haben? Und warum sollte Moro sterben? Musik: Matia Bazar: "Solo tu" Erzähler: Kehren wir an den Anfang dieser Geschichte zurück. O-Ton 2/ Übs. 2: Aldo Moro galt als wichtigster Vertreter der Christdemokratischen Partei, die schon seit 1948 an der Regierung war. Also seit 30 Jahren. 30 Jahre unangefochtene Macht würden sogar den Erzengel Gabriel verderben. ...Es gab damals viel Unmut gegen die Christdemokratische Partei ... ein weit verbreitetes Gefühl von Überdruss. Erzähler: Corrado Augias ist ein berühmter Fernsehmoderator. 1978 erlebte er die Moro-Krise als junger Reporter der Tageszeitung La Repubblica. O-Ton 3/ Übs. 2: Aldo Moro hatte ein politisches Projekt. Ein großes politisches Projekt. Er wollte jene 30 Prozent der Italiener, die damals die kommunistische Partei wählten, endlich an die Regierung binden. Es war ein großer historischer Versuch. Denn seit 1948 waren die Kommunisten in die Opposition gedrängt worden. Aber es war keine normale, parlamentarische Opposition. Es war eine ewige Opposition: eher eine Gefrierkühltruhe als eine Opposition. Dass die KPI die Regierung bilden und die Christdemokraten in die Opposition gehen würden, war nicht denkbar. Moro glaubte, zu Recht, dass es ein großer Fehler sei, ein Drittel der Italiener für immer und ewig von der Regierung auszuschließen. Erzähler: Als erster hatte 1973 der Generalsekretär der italienischen Kommunisten Enrico Berlinguer von der Notwendigkeit eines historischen Kompromisses mit den Christdemokraten gesprochen. Er sollte das Land politisch und wirtschaftlich stabilisieren und es vor autoritären Putschversuchen schützen. In Moskau hielt man wenig von Berlinguers Vorstoß: Eine Öffnung der KPI bedeutete, dass die stärkste kommunistischen Partei im Westen sich endgültig von dem großen sowjetischen Bruder emanzipierte. Doch Berlinguer und Moro hatten sich nicht beirren lassen. Regie/Musik 4: "Lavorare con lentezza", Erzähler Am 16. März 1978 scheint die Zeit für die historische Allianz endlich reif. Kurz vor 9 verlässt Aldo Moro das Haus. Seine Eskorte wartet schon auf ihn. An diesem Tag soll die vierte Regierung Giulio Andreottis vereidigt werden. Diesmal mit den Stimmen der Kommunisten. Und das obwohl Andreotti nicht zur Partei-Linken der DC gehört sondern als Garant des Status quo gilt. Ein Gericht stellt 2003 sogar seine langjährige Zusammenarbeit mit der süditalienischen Mafia fest, muss ihn aber wegen Verjährung frei sprechen. Heute ist er Senator auf Lebenszeit und immer noch einer der mächtigsten Strippenzieher in der italienischen Politik. O-Ton 4/ Übs. 2: [Andreotti] Es war Moro, der diesen Begriff des "Nicht Misstrauens" erfand. Eine Regierung des "Nicht Misstrauens", ein Mittelweg, der später eine zukünftige beständige Zusammenarbeit hätte ermöglichen sollen. Erzähler: Dieses Bündnis hätte vielleicht sogar das Ende des Kalten Krieges einleiten können. Doch Aldo Moro gelangte nicht an sein Ziel. O-Ton 5: Kurzes Radiotuning, Nachricht der Entführung [ca.'0.35]: Gentile ascoltatori siete collegati con la redazione del GR2. Interrompiamo le trasmissioni per una drammatica notizia che ha dell'incredibile e che se anche non ha trovato per ora una conferma ufficiale purtroppo sembra sia vera. Il presidente della Democrazia Cristiana, l'onorevole Aldo Moro è stato rapito poco fa a Roma da un commando di terroristi. L'inaudito e ripetiamo incredibile episodio è avvenuto davanti alla abitazione del parlamentare nella zona della Camilluccia. Musik 6: Übseterin 1: Rote Brigaden, Kommunikee Nr. 1: Am Donnerstag, dem 16. März hat eine bewaffnete Einheit der Roten Brigaden, Aldo Moro, den Präsidenten der Christdemokratischen Partei gefangen genommen und in ein Volksgefängnis gesperrt. Seine bewaffnete Eskorte ist vollkommen vernichtet worden. Erzähler: Politische Entführungen, Attentate und Massaker sind im Italien der 70er Jahre keine Seltenheit. Die Studentenproteste von 1968 waren in Arbeiterkämpfe übergegangen, die 1969 einen ersten Höhepunkt erreicht hatten. Bewaffnete Untergrundorganisationen wie die Roten Brigaden entstehen aber vor allem als Reaktion auf eine von staatlicher Seite forcierte Strategie der Spannung: Zwischen 1969 und 1984 verüben rechtsextreme Gruppierungen mit Unterstützung der Geheimdienste und der kriminellen, von der CIA finanzierten Geheimloge Propaganda Due eine ganze Reihe blutiger Terroranschläge. Die Massaker werden der Linken untergeschoben, um die staatliche Repression gegen die Arbeiterbewegung anzustacheln und die KPI politisch in die Ecke zu treiben. Übseterin 1: [Aus Kommunique Nr. 1] Genossen, die unumkehrbare Krise, die den Imperialismus durchzieht und die Zerlegung seiner Macht und seiner Herrschaft beschleunigt, setzt gleichzeitig den Mechanismus einer profunden Restrukturierung in Gang, die darauf zielt, unser Land unter die absolute Kontrolle der Zentralen des Multinationalen Kapitals zu bringen und damit endgültig das Proletariat zu unterjochen. Erzähler: Anders als die RAF in Westdeutschland verfügen die Roten Brigaden über einen starken Rückhalt bei der außerparlamentarischen Linken. Mitte der 70er Jahre zählen die Roten Brigaden um die 300 aktive Mitglieder, und die Sympathisanten in ganz Italien werden auf 20 bis 30.000 geschätzt. Übsetzerin 1: [Aus Kommunikee Nr. 1] Es sei deswegen in aller Deutlichkeit gesagt, dass wir mit der Entführung Aldo Moros, und mit dem Prozess, der ihm vom Volksgericht gemacht wird, auf keinen Fall das Spiel beenden oder nur eine Fahne schwenken wollen. Wir wollen die Strategie vorgeben, an der sich die ganze proletarische offensive Widerstandsbewegung messen wird: Den Imperialistischen Staat der Multinationalen angreifen. Die Revolutionäre Bewegung vereinheitlichen und die Kämpferische Kommunistische Partei gründen. Erzähler: Adriana Faranda war leitendes Mitglied der römischen Kolonne und an der Moro-Aktion beteiligt. Während ihrer langjährigen Haft hat sie sich vom bewaffneten Kampf distanziert. Heute lebt sie mit zwei großen Hunden und ihrem Lebensgefährten mitten im Wald an einem See: O-Ton 6/ Übersetzerin 1: Die Roten Brigaden wollten ein revolutionäres Projekt beginnen, das zum Bürgerkrieg hätte führen sollen. Sie wollten einen Staat innerhalb des Staates werden und reproduzierten in ihrem Inneren eine Art Staat im Kleinen. Das ist einer der Schlüssel, um die Entführungen zu verstehen. Denn die Roten Brigaden wollten ein anderes Recht durchsetzen. Der Schuldige ist nicht mehr, derjenige der stiehlt, sondern derjenige, der Menschen verhungern lässt. Derjenige, der ausbeutet. Ziel der Entführungen ist deswegen nicht ein Lösegeld; es geht vielmehr darum, dass die revolutionäre Kraft sich darin zeigt, dass sie Gericht hält und Urteile fällt und diese zu vollstreckt. Erzähler: Schon bald wird aber deutlich, dass die Rechnung der Entführer nicht aufgeht. Statt dass sich Risse aufzutun, schließen sich die Reihen des Gegeners parteiübergreifend zusammen: Am Abend des Überfalls, spricht das gesamte Parlament in offener Abstimmung der Regierung Andreotti das Vertrauen aus. Die Gewerkschaften rufen einen Generalstreik aus. Die KPI macht Druck auf die Christdemokraten: der Staat dürfe nicht verhandeln. Der Journalist Augias ist auch heute noch davon überzeugt, dass die Staatsräson keine Verhandlungen erlaubte: O-Ton7/ Übersetzer2 Die Roten Brigaden wollten vor allem politische Anerkennung, d.h. sie wollten als Gegner des Staates und der Republik angenommen werden. Und das musste man unbedingt vermeiden, vor allem zu einem Zeitpunkt, als die Republik durch Moros Entführung ihre ganze Schwäche gezeigt hatte. Ich erinnere mich an jene Tage wie an einen Alptraum. Man bekam die Ohnmacht des Staates sehr deutlich zu spüren. Es war ein Zustand großer Schwäche. Den Forderungen der Roten Brigaden nachzugeben hätte katastrophale Konsequenzen gehabt. Die Roten Brigaden wollten kein Lösegeld, sie wollten politische Anerkennung. Und darin verbarg sich ja die Gefahr. Wenn sie Geld gewollt hätten, klar, Geld hätte man ihnen gegeben. Erzähler: Der Staat macht Front: In den 55 Tagen der Entführung sind 13.000 Polzeibeamte im Einsatz, werden 72.460 Absperrungen aufgebaut, 37.702 Hausdurchsuchungen durchgeführt, 6.413.713 Personen kontrolliert und 150 Menschen verhaftet. Schon zwei Stunden nach dem Überfall in der Via Fani beruft Innenminister Francesco Cossiga ein geheimes Krisenkomitee ein, das die Ermittlungen koordinieren soll. Doch in Wahrheit verschleiert das riesige Kräfteaufgebot einen Zustand verheerender Ineffizienz. Der Untersuchungsrichter Ferdinando Imposimato erkennt darin sogar ein beabsichtigtes Missmanagement. Fünf Tage nach Moros Ermordung wird er mit der Aufklärung des Falles beauftragt und sieht sich mit einem Chaos konfrontiert: O-Ton 8/ Übersetzer 2: Die Lage, die wir vorgefunden haben war katastrophal. Wir entdeckten später, dass sehr wichtige Ermittlungsakten vom Innenministerium beschlagnahmt worden waren. Bei schneller Auswertung hätten uns diese Dokumente zu einigen der Hauptakteure des Massakers in der Via Fani geführt. Mehr noch: durch sie hätte man das Versteck in der Via Montalcini Nr. 8 entdeckt, wo Aldo Moro 55 Tage lang gefangen gehalten worden ist. Unsere Überraschung war deswegen sehr groß, als wir merkten, dass vom 18. April bis zum 17. Mai sich niemand mit diesen Dokumenten beschäftigt hatte. Sie waren weder von der Polizei noch von der Staatsanwaltschaft untersucht worden. Deswegen haben wir uns auch über die Bundesanwaltschaft ziemlich geärgert. Weil wir ja dachten, sie hätten diese Dokumente übersehen. Jahre später habe ich dann entdeckt, dass das ganze ein Vertuschungsmanöver war, dass der Stillstand der Ermittlungen, das Verbergen der Akten direkt vom Innenministerium angeordnet worden war. Vom Innenminister persönlich, zusammen mit dem Ministerpräsidenten. Sie wollten keine ernsthafte polizeiliche Untersuchung und der Staatsanwaltschaft haben sie die Möglichkeit entzogen, die Akten zu lesen. Sogar die Haftbefehle wurden blockiert. Erzähler: In Cossigas Krisenkomitee sitzen die Chefs der Geheimdienste und eine Reihe anderer Herren, die die Schaltstellen des staatlichen Sicherheitssystems bedienen. 1981 wird entdeckt, dass sie alle, wie auch viele Spitzenpolitiker, Großindustrielle, Bankiers und Männer der Mafia, der kriminellen Freimaurerloge Propaganda Due angehören. Von der CIA unterstützt betreibt die P 2 eine Unterwanderung des Staates. Das Ziel der Loge ist mit allen Mitteln eine Regierungsbeteiligung der Kommunisten zu verhindern. Musik 7: Moros Thema Regie: Musik anspielen, Zitator setzt ein, langsam runterfaden Moro Übers.1: Lieber Francesco, während ich einen lieben Gruß an Dich richte, bin ich durch die schwierigen Umstände dazu gezwungen, Dir in Anbetracht Deines Amtes, das ich selbstverständlich respektiere, einige nüchterne und realistische Überlegungen darzulegen. Ich lasse emotionale Aspekte bewusst Außen vor und halte mich an die Fakten. Erzähler: Während der Krisenstab im Dunkeln tappt oder zumindest so tut, explodiert am 29. März eine mediale Bombe: Aldo Moro hat aus seinem Gefängnis dem Innenminister Francesco Cossiga, einen geheimen Brief geschrieben, den die Roten Brigaden mit ihrem Kommunique Nr. 3 zusammen veröffentlichen. Denn nichts soll dem Volk verheimlicht werden. Musik 8/Regie: Moros Thema. Musik Übersetzer 1: Ich weiß zwar weder etwas über den Hergang meiner Entführung noch darüber was hinterher geschehen ist, es ist mir aber klar gesagt worden, dass ich als politischer Gefangener betrachtet werde und mich als Präsident der Christdemokratischen Partei einem Prozess zu stellen habe, der zum Ziel hat meine dreißig jährige Verantwortung zu ermitteln. In Wahrheit sind wir auf der Leitungsebene allesamt angesprochen. Es ist unser gemeinsames Werk, das unter Anklage steht, für das aber ich die Verantwortung zu übernehmen habe. Erzähler: Moro schlägt einen Austausch von Gefangenen vor. Die verschiedenen Notwendigkeiten schließen sich in seinen Augen nicht aus. Im Gegenteil: Sein Leben retten und den linken Terrorismus als ein politisches Problem angehen, ohne dabei die Autorität des Staates und die Suprematie der Christdemokraten zu gefährden, scheint ihm möglich und der einzig verantwortungsbewusste Weg. Er ist davon überzeugt, dass die Christdemokratische Partei ihre Vormachtstellung nur dann konsolidieren und die Interessen des Staates verteidigen kann, wenn es ihr gelingt, alle gesellschaftlichen Impulse in sich aufzunehmen, diese von ihrem antidemokratischen Impetus zu reinigen und institutionell einzubinden. Eben deswegen hatte er auf ein Bündnis mit den Kommunisten hingearbeitet. Die Gefahr, die er und der Staat durch seine Gefangennahme laufen, nennt er beim Namen: Musik 9/Regie: Moros Thema. Übersetzer 1 Die Staatsraison vor allem bedeutet in meinem Fall, dass ich mich in einer vollständigen und unkontrollierten Gewalt befinde, mir ein Volksprozess gemacht wird, der nach Gutdünken verschärft werden kann, und da ich bei vollem Verstand und voller Gesundheit bin, das Risiko besteht, dass ich auf unangenehme oder auf gefährliche Weise zum Reden gezwungen werde könnte...Gott möge Euch erleuchten ... Erzähler: Moros Brief, so der langjährige Vorsitzende der parlamentarischen Untersuchungskommission zu Terrorismus und Massaker, Giovanni Pellegrino, markierte einen Wendepunkt. O-Ton 9/ Übersetzer 2: Ab diesem Zeitpunkt hatten die Brigadisten nicht mehr nur eine, sondern zwei Geiseln in ihrer Hand: Moro und seine Schriften, das was er offenbarte. Ich bin wirklich keiner von denen, die zu Verschwörungstheorien neigen und denken, die Roten Brigaden hätten auf externe Anweisungen hin gehandelt. Doch in dem Moment, wo eine terroristische Gruppe den wichtigsten italienischen Politiker entführt und der Gefangene schreibt: "Ich könnte reden und schwerwiegende Geheimnisse preisgeben" und seine Wärter sagen: "Er redet" - in diesem Moment wäre es ja extrem naiv zu denken, dass dies nicht der politische Knackpunkt der ganzen Geschichte werden würde. Auf der einen Seite standen nicht nur die staatlichen italienischen Stellen, sondern auch die westlichen Regierungsapparate, die unbedingt die Geheimnisse bewahren wollten, die Moro hätte preisgeben können. Auf der anderen Seite waren die ganzen östlichen Apparate, von denen vermutlich einige irgendwelche Kontakte zu den Roten Brigaden gehabt haben und ihrerseits daran interessiert waren, diese Geheimnisse aufzudecken, d.h. zu erfahren, was Moro den Roten Brigaden erzählte. Erzähler: Mit dem Brief vom 29. März katapultiert sich der Entführte aus seinem Gefängnis heraus in die politische Arena: nicht als Opfer, sondern als einer, der mitentscheiden will. Klar ist aber nun auch, dass die Moro-Krise ein nationales und vor allem ein internationales Sicherheitsproblem darstellt. Moro könnte sprechen und dabei unangenehme Staatsgeheimnisse preisgeben, die auch die Nato betreffen. Der Krisenstab muss handeln. Und entwickelt eine Gegenstrategie. Niemand wird je belegen können, was in den geheimen Sitzungen besprochen wurde. Denn die Protokolle der Sitzungen sind verschwunden. Umso aufschlussreicher sind drei Dokumente, die der Innenminister Scotti während seiner Amtszeit 1992 der parlamentarischen Untersuchungskommission überreicht. In diesen Strategiepapieren fallen einige demokratiefeindliche Maßnahmen besonders auf: Übsetzer 2 -Informationen nur stückweise heraus geben, so dass die Regierung Alles kontrollieren kann, was die Presseorgane drucken - Die Familie zur Kooperation bewegen; wenn sie sich weigert, muss die Regierung sie isolieren. - Die Einheit der DC aufrechterhalten und beweisen, dass Moro für die Regierungspolitik nicht unverzichtbar ist. - Moros Bedeutung entwerten und durch die Presse beweisen, dass er nicht für den Inhalt der Briefe verantwortlich ist, dass er einer Gehirnwäsche unterzogen worden ist. Erzähler: Das Herzstück des Plans des Krisenstabs ist die Desavouierung des Entführten. In der Presse wird Moro nun als verrückt dargestellt. Einige vermeintliche Spezialisten diagnostizieren sogar ein Stockholmsyndrom. Obwohl Moro vier Mal Außenminister und fünf Mal Ministerpräsident gewesen ist, behaupten die Zeitungen, er könne gar keine Staatsgeheimnisse preisgeben, denn er kenne keine. Autoren dieser Gegenstrategie sind drei Experten, die Cossiga zu seinem Krisenkomitee hinzugezogen hat. Es sind der Kriminologe Franco Ferracuti, der, wie sich Anfang der 1990er Jahre herausstellen wird, für die CIA arbeitet und ebenfalls Mitglied der P2 ist. Dann der Experte für internationale Beziehungen Silvano Silvestri, ein Doppelagent von CIA und KGB. Und schließlich der Amerikaner Steve Pieczenik. In einem Interview von 2001 mit der englischsprachigen Zeitung Italy Daily erklärt er: Übsetzer 2 Moro musste sterben. Ihm das Leben zu retten ist, nie meine Mission gewesen. Als stellvertretender Staatssekretär der amerikanischen Regierung und persönlicher Berater des italienischen Innenministers war es meine Aufgabe, Italien zu stabilisieren, den Kollaps der Christdemokratischen Partei zu verhindern und dafür Sorge zu tragen, dass die Kommunisten durch die Entführung nicht die Kontrolle der Regierung gewinnen würden. Erzähler: Der Staat bleibt hart. Es soll keine Verhandlungen, keinen Austausch von Gefangenen geben. Moro ist fassungslos, wie aus seinen weiteren Briefen hervorgeht. Seine moralische Entrüstung wird immer stärker und seine Kritik an der DC-Führung immer härter. Musik 10/Regie: Moros Thema. Übersetzer 1: Lieber Zaccagnini, ich schreibe Dir und möchte mich damit auf die formalste und in gewisser Hinsicht auch feierlichste Weise an die gesamte Christdemokratische Partei wenden. Es schlägt eine dramatische Stunde. Meine arme Familie ist buchstäblich abgewürgt worden und durfte ihren Schmerz und ihr Verlangen nach mir nicht hinaus schreien. Wie kann es möglich sein, dass Ihr alle damit einverstanden seid, meinen Tod zu wollen? Im Namen einer angenommenen Staatsräson, die Euch jemand feindselig empfiehlt? Als ob dies alle Probleme des Landes lösen würde. Wenn dieses Verbrechen geschehen würde, wird sich eine entsetzliche Spirale in Gang setzen, die Ihr nicht bewältigen könnt. Sie würde Euch fortreißen. Wenn Ihr nicht handelt, dann wird eines der entsetzlichsten Kapitel der italienischen Geschichte geschrieben werden. Mein Blut wird über Euch kommen. Denkt darüber nach, liebe Freunde. Seid unabhängig. Denkt nicht an morgen, sondern an übermorgen. Erzähler: Während seiner 55tägigen Haft schreibt Moro insgesamt 97 Briefe: an seine Parteikollegen, an seine Familie, an den Papst, an den Chef der UNO Kurt Waldheim, an Journalisten und Freunde. Nur acht der Briefe werden veröffentlicht. Das Schreiben ist die einzige Flucht vor seiner Einsamkeit und Moros einzige Waffe in seinem Kampf ums Überleben. Jedes Wort ist wohl überlegt, jeder Satz bis ins letzte Detail geschliffen. Musik 11/Regie: Moros Thema. Übersetzer 1: Brief an die Christdemokratische Partei, Es stimmt: Ich bin ein politischer Gefangener. Aber ich werde weder gezwungen noch unter Drogen gesetzt, ich schreibe mit meinem eigenen, wenn auch hässlichen Stil, meine Schrift ist dieselbe. Man sagt aber, ich sei ein Anderer und ich soll nicht ernst genommen werden. Wieso auch noch dieses Gutachten über meine angebliche Nicht-Authentizität? Erzähler: Doch Moros Worte verhallen ohne spürbare Reaktion. Am 15. April erscheint ein neues Kommunique der Entführer: Übsetzerin 1: Rote Brigaden, Kommunique Nr. 6: Das Verhör des Gefangenen Aldo Moro ist zu Ende. Aldo Moro ist schuldig und wird daher zum Tode verurteilt. Musik 12/Regie: Moros Thema. Musik anspielen, Zitator setzt ein, langsam runterfaden Übersetzer 1: Lieber Zaccagnini, die Christdemokratische Partei soll nicht glauben, durch meine Beseitigung ihr Problem gelöst zu haben. Ich werde niemandem die Absolution erteilen noch irgendwie freisprechen. Keine politische oder moralische Rechtfertigung wird mich dazu bewegen. Ich werde bleiben, als ein unauslöschbarer Punkt von Protest und Alternative. Wegen einer offensichtlichen Unvereinbarkeit verlange ich, dass zu meinem Begräbnis weder Staatsinstitutionen noch Parteifunktionäre anwesend sein werden. Ich bitte darum, dass nur diejenigen mich begleiten, die mich wirklich geliebt haben. Mit freundlichen Grüßen, Aldo Moro Musik 13: Erzähler: Nur drei Tage nach der Verkündung des Todesurteils entdeckt die Feuerwehr am 18. April wegen eines Wasserschadens das Versteck von Mario Moretti, dem Kopf der Entführer. Moretti ist zu diesem Zeitpunkt außer Haus.Von der Entdeckung seines römischen Verstecks erfährt er übers Fernsehen. Denn mit der herbei geeilten Polizei sind in der Via Gradoli auch gleich die Fernsehreporter erschienen, die den Funkkanal angezapft haben, über den die Feuerwehr den Fund suspekter Flugblätter bekannt gegeben hat. Damit geht den Ermittlern die kostbare Chance durch die Lappen, den entdeckten Stützpunkt heimlich zu beobachten, um auf die Rückkehr der Bewohner zu warten. Musik 14: Erzähler Nur wenige Stunden nach der zufälligen Entdeckung der Terroristenwohnung in der Via Gradoli am 18. April 1978, erscheint ein siebtes Kommunique der Roten Brigaden. Moro sei wie die Genossen in Stammheim hingerichtet worden. Seine Leiche befände sich im Lago della Duchessa. Doch der erwähnte See liegt weit oben im Apennin und ist seit über drei Monaten zugefroren. Das Kommunique ist offensichtlich gefälscht. Trotzdem organisieren die Sicherheitskräfte eine imposante Suchaktion samt Helikoptern, Schäferhunden und Tiefseetauchern. Ohne Erfolg. Jahre später wird sich herausstellen, dass der Profi-Fälscher Toni Chichiarelli das falsche Kommuniquee verfasst hat. Chichiarelli, der 1984 von einem unbekannten Killer erschossen wird, hatte enge Kontakte zur Mafia und zu den Geheimdiensten. Der Auftrag für das falsche Kommunique kam aus dem Krisenstab. Im Buch des französischen Journalisten Emmanuel Amara von 2007 erzählt Pieczenik, wie es dazu kam: Übersetzer 2: Mein Plan bestand darin, erst einmal die Illusion einer eventuellen Öffnung zu schaffen, eine große Hoffnung in ihnen zu wecken, sie glauben lassen, dass es möglich sein würde, einige Gefangene zu befreien. Die Falle war bereit. Man musste auf den richtigen Moment warten, um sie zuschnappen zu lassen. Dieser Moment ist gekommen, als Moro zu verstehen gegeben hat, dass er drauf und dran war, die Staatsgeheimnisse zu verraten. Also haben wir eine psychologische Operation in Gang gesetzt, d.h. ein falsches Kommunique in Umlauf gebracht. Sie hatten nicht erwartet, es mit einem Terroristen wie mir zu tun zu haben...Ich war es, ich gebe es zu, der die strategische Manipulation voran gebracht hat, die zu Moros Tod geführt hat. Erzähler: Adriana Faranda erinnert sich an die Reaktion der Entführer: O-Ton 11 Übersetzerin 1: Wir haben das falsche Kommunique als eine Botschaft gedeutet, dass sie ihn fallen lassen, dass die Mehrheitsentscheidung innerhalb der Institutionen und insbesondere innerhalb der Christdemokratischen Partei gefallen war. ... Es war eine Generalprobe, um die Öffentlichkeit an die Vorstellung seines Todes zu gewöhnen. In unseren Augen war das ein Schlussstrich. Jetzt reicht' s. Erzähler: Moro bäumt sich noch einmal auf. Er schreibt an seine Frau, um durch sie die öffentliche Meinung aufzurütteln: Musik 16: Moros Thema 1. Übersetzer: Meine Allerliebste Noretta, als letzten Versuch schreie mit aller Kraft noch Deinen Protest und ein Gebet heraus, ohne auf die zu hören, die Dir Vorsicht raten. Egal wer es ist. Ich umarme Dich ganz fest, Aldo Erzähler: Moros älteste Tochter, Maria Fida, sitzt in einem Café über den Dächern Roms. In strengem Ton erzählt sie von der Isolation ihrer Familie in jenen Tagen O-Ton 12 Übersetzerin 2: Der Streit mit der Christdemokratischen Partei war unvermeidbar. Denn meine Mutter drängte auf Verhandlungen, alles zu versuchen, um das Leben meines Vaters zu retten, während das Establishment auf dieser sinnlosen und voreingenommenen Position der Standhaftigkeit beharrte. Wir haben versucht, alle möglichen internationalen Kanäle zu aktivieren. Alles wurde gestoppt und blockiert. Erzähler: Und dann scheint sich doch etwas zu bewegen. Die Sozialisten, die zur Regierungskoalition gehören, wagen den Vorstoß. Sie schlagen vor, der Staat solle zwar nicht verhandeln, aber einen Akt der Großzügigkeit üben und einem gefangenen Terroristen, der sich keines Blutverbrechens schuldig gemacht hatte, Gnade gewähren. Doch Ministerpräsident Andreotti ist strikt dagegen. Damals wie heute. O-Ton 13/ Übersetzer 2: Meine persönliche Meinung war, dass eine Verhandlung als Anstiftung für andere ähnliche Taten dienen würde. Natürlich ist es traurig, für diejenigen, die darunter gelitten haben...geschweige denn, dass es gar nicht sicher war, dass man durch eine Verhandlung irgendwelche Resultate überhaupt erreicht hätte. Natürlich ist es hart, für diejenigen die diese Last tragen müssen, aber es ist eine Grenze die meines Erachtens gezogen werden muss. Ich würde heute genauso handeln wie damals. Erzähler: Dennoch versuchten die Sozialisten einen geheimen Kontakt zu den Roten Brigaden herzustellen. Das ehemalige Mitglied der Roten Brigaden Adriana Faranda wundert sich noch heute, dass die Geheimdienste anscheinend dazu nicht in der Lage gewesen waren, oder es nicht wollten: O-Ton 14/ Übersetzerin 2: Wir dachten, dass die Polizei, die Geheimdienste und wer sonst noch, ohne Probleme Leute finden würden, die sie zumindest zu den Anhängern der Roten Brigaden geführt hätten. Wir hatten ja von den Schwierigkeiten der Ordnungshüter keine Ahnung. Dass sie nicht einmal genügend Männer und Mittel hatten, um die Verdächtigen zu beschatten. Wir waren fast ein wenig überrascht, dass nichts passierte. Denn es war wirklich nicht so schwer, uns zu finden. Erzähler: Der Kontakt der Sozialisten läuft über Franco Piperno und Lanfranco Pace, die beide führende Mitglieder der radikallinken Bewegung Potere Operaio gewesen waren. Wie die gesamte außenparlamentarische Linke sind sie gegen Moros Hinrichtung. Sein Tod wäre ein fataler Fehler. Die Roten Brigaden würden durch Moros bedingungslose Freigabe viel mehr Ansehen gewinnen. Piperno versucht zu vermitteln: O-Ton 15 Übersetzer 2 :Ich habe versucht herauszufinden, ob es nicht doch eine Möglichkeit gab, weil die Roten Brigaden irgendwann gesagt haben, eine einfache Stellungnahme eines hohen Exponenten der Christdemokratischen Partei würde ihnen reichen. Und das war Fanfani. Er schien einverstanden zu sein. Erzähler: Eine einfache Stellungnahme von Moros altem Parteifreund Amintore Fanfani, der zum linken Flügel gehörte, hätte also gereicht, um die Vollstreckung des Todesurteil aufzuhalten, um ihn vielleicht gar zu befreien. O-Ton 16 Übersetzer 2 [Piperno] Im Rahmen meiner Möglichkeiten habe ich dann den Roten Brigaden sagen lassen, dass er bereit sei, eine Rede zu halten, in der er sagen würde, dass, wenn die Forderungen der Roten Brigaden sich im Bereich des Legalen hielten, er ernsthaft über sie nachdenken würde. Damit meinte er zum Beispiel, die Schließung des Gefängnisses der Asinara, wo regelrecht gefoltert wurde, oder die Freilassung eines Häftlings aus gesundheitlichen Gründen, weil er tatsächlich krank war. Es ging also nicht um eine bestimmte Forderung der Roten Brigaden. Das Einzige was sie wollten, war die Bereitschaft, dass die Gegenseite, über das, was sie verlangten, nachdachte. Das hätte den Roten Brigaden vollkommen gereicht. Tatsache ist, dass Fanfani in Arezzo hätte reden sollen. An seiner Stelle spricht aber nur Senator Bartolomei, der so etwas wie seine rechte Hand war. Abends komme ich nach Hause, um die Nachrichten zu hören. Sie berichten über Bartolomeis Rede und fassen sie zusammen. Und die Sache ist so konfus und die Botschaft einfach nicht da, dass ich sofort gedacht habe: dass ist das Ende. O-Ton 17: Telefonanruf von Valerio Morucci Erzähler: Mit diesem Telefonat am späten Vormittag des 9. Mai 1978 kündigen die Roten Brigaden den grausamen Schlussakt des langen Tauziehens an. Die Terroristen haben sich eine letzte symbolische Herausforderung erlaubt: Das Auto mit dem Leichnam Aldo Moros ist genau auf halber Strecke zwischen dem Parteisitz der Christdemokraten und dem der Kommunisten geparkt. Musik 18/Regie: Moros Thema. Übersetzer 1 Meine liebste Noretta, nach einem Moment schwacher Hoffnung, der vielleicht einem Missverständnis über das, was man mir sagte, geschuldet war, sind wir, glaube ich, am Ende angelangt. In diesem Augenblick spüre ich für Euch eine unendliche Zärtlichkeit, eine große Liebe, voll von scheinbar unbedeutenden und dennoch so kostbaren Erinnerungen. Sei stark, meine Liebste, während dieser absurden und unverständlichen Probe. Ich würde gerne mit meinen kleinen sterblichen Augen sehen, wie es danach sein wird. Wenn es Licht gäbe, wäre das wunderschön. Küsse und liebkose Fida, Demi, Luca (Luca ganz besonders) Anna, Mario, der noch nicht geboren ist, Agnese, Giovanni. Ich bin dankbar, für das, was sie getan haben. Es ist alles zwecklos, wenn man die Tür nicht öffnen möchte. Der Papst hat auch nur wenig getan; vielleicht hat er Skrupel. O-Ton 18/Regie: Der Papst aus der Totenmesse. Nach einigen Sekunden runterfahren, Erzählerstimme darüber legen. Nach "Parteiübergreifend" wieder kurz hochfahren, dann endgültig ausblenden Erzähler: Die Familie weigert sich, Moros Leichnam für ein Staatsbegräbnis frei zu geben. Doch Staat und Vatikan zelebrieren im Petersdom ein groteskes Trauerritual vor leerem Sarg. Alle erscheinen sie. Parteiübergreifend. Mit Moros Tod ist Pieczeniks Aufgabe vollendet. Seine Mission erfolgreich erledigt. Übersetzer 2: Cossiga bedankte sich sehr herzlich und sagte, er würde mich gerne offiziell vom italienischen Staat belohnen lassen, doch ich lehnte ab. Als ich in den Staaten zurück war, schickte ich dem Präsidenten meinen Bericht. Ich schrieb: "Die Stabilität Italiens ist gesichert, leider ist Aldo Moro ermordet worden." Eine Zeile. Das war's. Erzähler: Doch was ist mit den Unterlagen, die Moros Verhör dokumentieren? Wie kann Pieczenik so sicher sein, dass die Brigadisten ihre zweite Geisel, die Staatsgeheimnisse, die Moro ihnen verraten wollte, nicht benutzten werden? Giovanni Pellegrino, der der zweiten Untersuchungskommission lange vorsaß, hat eine eigene Theorie: O-Ton 19/ Übersetzer 2 Ich denke, dass Vieles geklärt worden ist. Die Roten Brigaden sind hauptsächlich ein nationales Phänomen. Sie sind die Vorhut einer breiten Protestbewegung und entführen Moro aus ihren eigenen politischen Motiven. Aus ihrer Perspektive war es nur kohärent, gerade den Mann der Christdemokraten anzugreifen, der eine Zusammenarbeit mit den Kommunisten anstrebte. Denn die hätte die Linke von ihrer revolutionären Perspektive entfernt. Sie stellen Moro vor ihr eigenes Gericht. Sie verurteilen ihn und vollstrecken - wenn auch auf Kosten einer inneren Spaltung - das Todesurteil. Weil sie die politische Anerkennung, die sie für Moros Herausgabe als Gegenleistung verlangten, nicht bekommen haben. Ich weiß nicht, ob eine Verhandlung bezüglich der anderen Geisel, also Moros Schriften, vielleicht nicht doch günstig abgeschlossen worden ist. Musik 19: Erzähler: Am 1. Oktober 1978 stürmt eine neue, nur drei Wochen vorher gegründete Antiterroreinheit einen Stützpunkt der Roten Brigaden in Mailand in der Via Montenevoso 8. Neben Waffen, Flugblättern und falschen Papiere finden sich dort die Schreibmaschinentranskripte von Moros Verhör. Die Blätter enthalten weder unbequeme Staatsgeheimnisse noch konkrete persönliche Anschuldigungen. Doch offensichtlich fehlen auch viele Seiten. Erst 12 Jahre später, im Oktober 1990, tauchen die fehlenden Teile auf: Bei Renovierungsarbeiten in eben derselben Wohnung, die 1978 fünf Tage lang durchsucht worden war, werden die Kopien von Moros handschriftlichen Aufzeichnungen sowie die Prozessprotokolle gefunden: das so genannte Memoriale. Musik 20: Erzähler: Die politische Welt hat sich mittlerweile grundlegend verändert. Die Mauer ist gefallen und der Kalte Krieg ist zu Ende gegangen. Die Geheimnisse, die Moro 1978 seinen Entführern preisgegeben hatte, haben an unmittelbarer Sprengkraft verloren. Brisant sind sie aber noch immer. Moro hatte über die Stay-Behind-Struktur Gladio berichtet, eine paramilitärische Geheimorganisation von NATO, CIA und dem britischen MI6. Wie man heute auch aus anderen Quellen weiß, sollten 150.000 ausgebildete geheime Gladiatoren im Falle einer Besetzung Westeuropas durch Truppen des Warschauer Pakts einen Guerillakrieg organisieren. In Italien sollte Gladio aber durch Terroranschläge auch eine Regierungsbeteiligung der Kommunisten verhindern. Moros Memoriale handelt auch von Skandalen, Korruptionsfällen und der Praxis der illegalen Parteienfinanzierung, insbesondere der Christdemokratischen Partei. O-Ton 20 Übersetzer 2 [Pellegrino] Wenn man heute Moros Memoriale liest ... läuft einem der kalte Schauder über den Rücken ... wegen seines prophetischen Charakters. Moro sagt genau das vorher, was nach seinem Tod aus Italien werden wird. Die Krise. Wenn er sagt, mein Blut wird über Euch kommen, dann fällt er ein politisches Urteil. Was er meint ist: In dem Moment, wo ich nicht mehr da sein werde, werdet Ihr - politisch betrachtet - durch Eure eigene Hand sterben. Und das ist genau das, was passiert ist... Musik: Matia Bazar: "Solo tu" 23