Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 21. Januar 2008, 19.30 Uhr Die Revolution findet nicht statt Zehn Jahre globalisierungskritische Bewegung Attac Von Ruth Jung Musik 1 1. O-Ton Ich verstehe Attac als die Bewegung gegen den Neoliberalismus, übrigens nicht die Bewegung gegen die Globalisierung, wie mit so einem Begriff wie Globalisierungsgegner immer unterstellt wird. Attac ist ja gerade ein Beispiel für Globalisierung, nämlich einer alternativen Form. 2. O-Ton Ich sage nicht, dass die neoliberale Politik aufgehört hat, aber in der Meinungsbildung haben sich Positionen, die Attac am Anfang alleine vertreten hat - wir brauchen strenge soziale Regeln für die Globalisierung - das ist inzwischen in ganz vielen Organisationen angekommen, und da hat Attac einen wichtigen Beitrag geleistet. Musik 1 2.Sprecher: Die Revolution findet nicht statt - Zehn Jahre globalisierungskritische Bewegung Attac Ein Feature von Ruth Jung 3. O-Ton Was Attac im Gegensatz zu traditionellen politischen Parteien geschafft hat, dazu zählen die Grünen für mich mittlerweile ( ... ) ist nämlich (Zwischenbemerkung aus dem Publikum) ja, ich würde aufpassen, die Grünen haben jahrelang immer davon gelebt, sie sind anders, plötzlich haben sie gemerkt, dass sie genauso wie alle anderen sind ( ... ) Lassen wir das, versuchen wir mal zu verstehen, was passiert ist. Abblenden, den Schluss der Rede unter 1. Sprecherin: Berlin im Oktober 2001. Daniel Cohn-Bendit, Abgeordneter der Grünen im Europa- Parlament bei einem Podiumsgespräch an der Freien Universität Berlin. Etwa 3 000 Menschen waren damals zum großen Attac-Kongress gekommen, der von den Medien als die Gründung von Attac-Deutschland wahrgenommen wurde. Dabei war die Gründung bereits am 22. Januar 2000 beschlossen worden und Attac schon aktiv. Das aber, erklärt Sven Giegold, Mitbegründer und ein Sprecher des Koordinierungskreises, sei von den Medien kaum bemerkt worden. 4. O-Ton Attac wurde im Jahr 2000 gegründet und gar nicht auf einem großen Kongress in Deutschland, sondern von etwa 100 Personen. Attac war über ein gutes Jahr eine kleine Geschichte, es wuchs und wuchs langsam und dann wurden wir plötzlich übermannt kann man sagen von den Ereignissen von Genua, was einen richtigen Attac-Hype ausgelöst hat, nicht nur in Deutschland, auch in anderen Ländern, und das führte dann zu dem großen Kongress, der von vielen als die eigentliche Gründung wahrgenommen wurde, 2001, wo dann zwischen 2000 und 3000 Leute zusammen dort waren. 1. Sprecherin: Erst die Ereignisse von Genua, wo im Juli 2001 bei den Demonstrationen gegen den G8-Gipfel ein junger Mann von der Polizei erschossen worden war, brachte die globalisierungskritische Bewegung ins öffentliche Bewusstsein. Die Weltöffentlichkeit nahm zur Kenntnis, dass sich keineswegs alle Menschen mit der von der britischen Premierministerin Margaret Thatcher ausgegebenen Devise There is no alternative abfinden wollen. 'Es gibt keine Alternative zu Neoliberalismus und Globalisierung', predigen deren Wortführer seit Jahrzehnten. Eine Form der Propaganda, meint der Kölner Sozialwissenschaftler und Armutsforscher Christoph Butterwegge, Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von Attac Deutschland: 5. O-Ton Wer die Globalisierung als Sachzwang versteht, als eine Naturkatastrophe, der entmündigt die Menschen, weil was nicht politisch gestaltet ist, kann auch von Menschen nicht alternativ gestaltet werden. Und genau das ist gewollt. Man versucht mit einer Ideologie der Ideologielosigkeit alles als natürlich hinzustellen, natürlich gleichzeitig damit auch die politische Gestaltbarkeit solcher Prozesse zu leugnen. Und das heißt: statt Menschen zu befähigen, selber einzugreifen, Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse in der Gesellschaft zu gestalten, macht man sie wehrlos. Musik 2 - Manu Chao Politik kills 1.Sprecherin: Gegen das Einheitsdenken und die Vermarktung aller Lebensbereiche formiert sich seit Ende der 90er Jahre weltweit wachsender Widerstand. Attac wurde dabei zur bekanntesten internationalen Oppositionsbewegung. Eine Idee aus Frankreich. 6a O-Ton L'idée d'Attac, c'était il fallait au tout début combattre la liberté des finances qui avait causé des crises un peu partout en Asie, ça c'était l'origine) auf Französisch frei stehen lassen, dann 2. Sprecherin: Am Anfang stand die Idee, das freie Spiel der Kapitalmärkte zu bekämpfen, das seinerzeit zu einer Krise in vielen Ländern Asiens geführt hatte. Das war das vorrangige Ziel. 1.Sprecherin: Susan George, prominente Globalisierungskritikerin, Autorin und Mitbegründerin von Attac-Frankreich. Weiter: 6b O-Ton (Un éditorial dans Le Monde diplomatique de Ignacio Ramonet ... faire une organisation fondé sur cette idée de taxer les capitaux qui volent à travers toutes les frontières) 2. Sprecherin: In einem Leitartikel in der Zeitung Le Monde diplomatique im Dezember 1997 hatte Ignacio Ramonet vorgeschlagen, eine Organisation zu gründen, die gegen die verheerenden Auswirkungen dieser Finanzspekulationen vorgehen sollte. Sein Vorschlag fand ein riesiges Echo, Hunderte von Leserbriefen gingen bei der Redaktion ein, und das, meinten die Herausgeber, konnte nicht unbeantwortet bleiben. Daher wandten sie sich an bestimmte Personen des öffentlichen Lebens, zu denen auch ich gehöre, sowie an verschiedene Organisationen, wir verständigten uns schließlich darauf, eine Bewegung ins Leben zu rufen, deren Ziel es sein sollte, die Einführung einer Steuer auf die frei zirkulierenden Kapitalströme zu erwirken. 1.Sprecherin: Die Einführung der so genannten Tobin-Steuer auf Kapitaltransfers hatte Ignacio Ramonet, Herausgeber der auch auf Deutsch erscheinenden Monatszeitung Le Monde diplomatique gefordert. Attac ist ein Kürzel und steht für einen sperrigen Namen: Association pour une taxation des transactions financières pour l'aide aux citoyens. Vereinigung zur Besteuerung von Finanztransaktionen zum Nutzen der Bürger. Offiziell wurde Attac Frankreich am 3. Juni 1998 in Paris gegründet. José Bové und seine alternative Bauerngewerkschaft Conféderation paysanne, Susan George, Le Monde diplomatique, der Musiker Manu Chao, Gewerkschaften, Arbeitsloseninitiativen, Umweltgruppen und viele andere gehören zu den Gründungsmitglieder. Noch im Dezember 1998 trafen sich Vertreter sozialer Bewegungen und Organisationen aus vielen Ländern der Welt in der französischen Hauptstadt und verabschiedeten ein gemeinsames Manifest: das war die Geburtsstunde von Attac-International. 7. O-Ton La politique s'est beaucoup élargie ... pas de démocratie du tout 2. Sprecherin: Unsere politischen Zielsetzungen gehen längst weit über die Forderung nach Einführung einer Kapitalsteuer hinaus. Schon bald nach der Gründung von Attac sahen wir uns mit vielfältigen Herausforderungen konfrontiert, vor allem was die europäische und internationale Verflechtung der Politik betrifft, und offenbar waren wir die Einzigen, die in der Lage waren, darauf zu reagieren. In Frankreich wie in den meisten anderen Ländern gibt es eine Tendenz, Politik für eine interne nationale Sache zu halten. Attac aber sollte sich auf keinen Fall nur auf Frankreich beschränken. Von Anfang war klar, dass es darum gehen müsse, sich auf internationaler Ebene einzumischen, genau dort nämlich, wo am wenigsten demokratische Regeln zur Geltung kommen. Atmo 1 Voix de Porto Alegre (CD Voix de Porto-Alegre, présenté par Daniel Mermet, Attac-France) (Stimmen und Ansage ?Un autre monde est possible' 4.36) Frei stehen lassen 8. O-Ton kurz frei stehen lassen (kein overvoice) dann darüber 1.Sprecherin: Porto Alegre im Januar 2001. Susan George, damals Vizepräsidentin von Attac- Frankreich, in einer Stellungnahme zum ersten Weltsozialforum in der südbrasilianischen Stadt. Die Utopie lebt, sagte die prominente Attac-Mitbegründerin. Seit 2001 findet parallel zum Treffen der Wirtschaftsgrößen in Davos das große Weltsozialforum der globalisierungskritischen Bewegung statt: Das andere Davos. In diesem Jahr werden es erstmals viele kleine Foren in verschiedenen Städten der Welt sein. Attac wird in Deutschland von Medien vor allem dann wahrgenommen, wenn es gilt, über Demonstrationen gegen die neoliberale Globalisierung zu berichten. Protestaktionen und Demonstrationen sind zwar ein wichtiger Teil der Öffentlichkeitsarbeit von Attac, aber darin erschöpft sich die Bewegung nicht: 9a O-Ton Attac wird sicherlich hauptsächlich dann in der Öffentlichkeit eine Rolle spielen, wenn es spektakuläre Aktionen gibt, Aktionen wie die großen Demonstrationen zum G8- Gipfel. 1.Sprecherin: Christoph Butterwegge spricht aus der Erfahrung des Wissenschaftlichen Beirats von Attac-Deutschland. Die 100 Mitglieder, Professoren aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen, begleiten und kommentieren die Attac-Themen inhaltlich und sie mischen sich ein in die Strategiediskussionen. 9b Ansonsten vollzieht sich die Arbeit weniger auffällig, aber nicht weniger wirksam. Nämlich so die tagtägliche Arbeit zu machen, auch Kampagnen vorzubereiten gegen Bahn-Privatisierung und anderes, ist eine wichtige Aufgabe, die Attac hat. Man muss jetzt nicht jeden Tag in der Zeitung stehen. Bewusstsein beeinflusst man auch darüber, dass man mit vielen Menschen diskutiert, darüber dass man Materialien veröffentlicht, dass man versucht, diesen mächtigen neoliberalen Think- Tanks wie der Initiative Neue soziale Marktwirtschaft oder der Bertelsmann-Stiftung, wohinter immer viele Millionen an Euro stecken, denen alternatives Material entgegenzusetzen. Das ist auch schon sehr verdienstvoll. 1.Sprecherin: Auch im Juni 2007 waren es die großen Protestaktionen gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm, durch die die Öffentlichkeit wieder auf Attac aufmerksam wurde. Viele Menschen waren empört über die massive Einschränkung der Demonstrationsfreiheit und den Versuch, die Kritiker des Gipfeltreffens zu kriminalisieren. Für Attac- Deutschland war das zurückliegende Jahr ein gutes, freut sich Sven Giegold. Seit Juni 2007 stieg die Zahl der Mitglieder konstant an. Mit 20 000 eingeschriebenen Mitgliedern hat Attac-Deutschland die höchste Mitgliederzahl seit der Gründung. 10. O-Ton Es ist ganz deutlich geworden, dass der G8-Gipfel eine Farce war. Es sind über 100 Millionen Euro verbrannt worden und es ist nichts Produktives dabei rausgekommen. Für die Umwelt nicht, für die Entwicklung nicht. ( ... ) statt dessen sind Patentrechte verschärft worden, was den Ärmsten nicht nützt. Das heißt unsere Kritik an dieser Form von Globalisierung hat eine massive Popularisierung gefunden und die sympathisierenden Berichte darüber reichten bis in die konservativste Presse. Das war ein sehr großer Erfolg und das macht mir Mut, dass eben die Bewegung gerade nicht zu Ende ist, sondern eine enorme Legitimität in der Öffentlichkeit hat, die in konservative Kreise reicht, was durch den Beitritt von Heiner Geißler im Grunde symbolisiert wird. Musik 2 Manu Chao Politik kills 1.Sprecher: Wahrnehmung Als ich wiederkehrte War mein Haar noch nicht grau Da war ich froh. Die Mühen der Gebirge liegen hinter uns. Vor uns liegen die Mühen der Ebenen. Bertolt Brecht 11. O-Ton C'est toujours notre mission ... donner de maximum des utils de compréhension aux citoyens 1. Sprecher: Sachkenntnis vermitteln, Aufklärungsarbeit, das ist und bleibt unser wichtigstes Anliegen, und das unterscheidet uns auch von anderen Organisationen wie den Gewerkschaften und politischen Parteien. 1.Sprecherin: Jean-Marie Harribey ist Professor für Wirtschaftswissenschaften in Bordeaux und seit Januar 2007 Copräsident von Attac-Frankreich 1. Sprecher: Es gibt zwar viele gemeinsame Aktionsfelder, aber unsere Ziele sind nicht dieselben. Politische Parteien entwerfen Programme, kandidieren zu Wahlen und streben Macht an, all das trifft für uns nicht zu. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, die öffentliche Debatte anzuregen und über das, was auf dem Spiel steht zu reden und den Bürgern so viel Informationsmaterial wie möglich an die Hand zu geben, damit sie verstehen, was geschieht und wissen, worum es geht. 1.Sprecherin: Education populaire heißt das auf Französisch. Sich das Denken wieder aneignen, ist ein zentrales Attac-Motto. Innerhalb des Wissenschaftlichen Beirats von Attac- Frankreich, sagt Jean-Marie Harribey, beschäftigten sich die Mitglieder auch mit Kapitalismuskritik, wie sie im Verlauf des 19. Jahrhunderts entwickelt worden ist - und von verblüffender Aktualität geblieben sei, fügt er hinzu. 1.Sprecher: "Die Theorie ist in einem Volke nur soweit verwirklicht, als sie die Verwirklichung seiner Bedürfnisse ist ( ... ). Es genügt nicht, dass der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muss sich selbst zum Gedanken drängen." Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie 1844. 1.Sprecherin: So beschäftigen sich Aktivisten in den lokalen Attac-Gruppen mit ökonomischen und politischen Sachfragen: mit den Handelsabkommen der 1995 gegründeten Welthandelsorganisation WTO, mit der Zukunft der Steuer- und Rentensysteme oder mit dem EU-Verfassungsvertrag. Wen aber spricht man mit diesen Themen an? 12. O-Ton Attac kann nur als Katalysator wirken, Attac ist keine Massenbewegung. Aber Attac kann mit dazu beitragen, dass zum Beispiel die Gewerkschaften kämpferischer auftreten und stärker solche neoliberale Reformpolitik bekämpfen ( ... ) Attac kann gerade mit diesem intellektuellen Anspruch dafür sorgen, dass das passiert und kann auf die Art und Weise andere dazu bringen, sich zu bewegen und mitzumachen. Wenn das eine solche globalisierungskritische Gruppierung wie Attac schafft, dann hat sie eigentlich ihre Aufgabe schon erfüllt. 1.Sprecherin: Pragmatismus und Mehrheitsfähigkeit, darin sehen viele Attac-Aktivisten die Stärke der Bewegung. Es brauche eben einen langen Atem, um möglichst vielen Menschen klarzumachen, was die beschönigend "Reformpolitik" genannte neoliberale Politik eigentlich bedeutet: den massiven Abbau erkämpfter Sozialrechte. Sven Giegold studierte Ökonomie und engagierte sich schon als Schüler in der Umweltbewegung, der 39-jährige sieht die Herausforderungen nüchtern: 13. O-Ton Würden wir über den Kapitalismus im Allgemeinen schwadronieren, wäre ich mir sicher, was passieren würde: die große Mehrheit der Bevölkerung würde nicht mehr zuhören. Es gibt ganz viele Menschen, die wissen, dass wir derzeit keine Alternative dazu haben, wie man Ökonomien jenseits des Marktes organisieren soll. Deshalb ist die Politik von Attac immer gewesen: wir diskutieren sehr wohl kritisch auch über den Kapitalismus, auf jeder größeren Veranstaltung von Attac gibt es auch Systemkritik, aber in der Politik, die wir alltäglich machen, setzen wir an an den relativ pragmatischen Fragen: Ist es ein sozial gestalteter Kapitalismus oder ein neoliberal- kalter Kapitalismus? Das macht einen riesigen Unterschied für die Menschen und da haben wir sofort die Mehrheit der Leute hinter unseren Forderungen. Atmo 2a Kampagne Bahn für Alle Frei stehen lassen 14. O-Ton Die Kampagne als solche ist gestartet im März 2006. Das Bündnis Bahn für Alle hat sich schon ein bisschen davor gegründet und ist aber seitdem stetig angewachsen, Attac ist eine der ersten Organisationen in diesem Bündnis. 1.Sprecherin: Stefan Diefenbach-Trommer, Sprecher des Bündnisses Bahn für Alle. Das Bündnis will die Privatisierung der Deutschen Bahn verhindern. Treffpunkt: DB-Lounge im Hauptbahnhof Frankfurt am Main mit weitem Blick über die Gleislandlandschaft. 15. O-Ton Gerade beim Beispiel DB-Lounge ist die Frage: für wen? Diese DB-Lounge ist was ganz Tolles wenn man umsteigen muss, um sich zu treffen für ein Gespräch. Man kann hier einfach in Ruhe sitzen, es ist geheizt im Winter, im Sommer wahrscheinlich gekühlt, man kriegt Getränke umsonst, aber das ist für einen Bruchteil der Bahnkunden, nämlich für diejenigen, die eine Bahncard First-Class haben, erste Klasse. 1.Sprecherin: Inhaber einer normalen Bahncard wie Reisende ohne Bahncard haben keinen Zutritt in die DB-Lounge. Würde die Deutsche Bahn privatisiert und käme es zum geplanten Börsengang, würde das gesamte System Bahn, das zum größten Teil noch dem Bund gehört, dem Renditedruck ausgesetzt. Wobei die Gewinnhöhen für die Aktionäre von den Investoren vorgegeben würden. Die von der DB AG seit Monaten betriebene Werbe-Kampagne für das Bahnfahren Erster Klasse ist Ausdruck dieser Politik: teure Angebote für wenige, die einen hohen Gewinn versprechen. Dazu zählt der ICE-Verkehr zwischen Großstädten. "Unrentable" kleine Strecken und regionale Verbindungen werden stillgelegt. 16. O-Ton Die andere Auswirkung der Privatisierung ist ( ... ), dass die Privatisierung nicht nur auf Kosten des Einzelnen geht, sondern auf Kosten der Gesellschaft. Denn das, was hier verkauft wird oder verkauft werden soll - wir wollen es ja noch verhindern - und zwar weit unter eigentlichem Wert, ist gesellschaftliches Vermögen. Aufgebaut über 150 Jahre aus öffentlichen Mitteln, aus Steuermitteln, aus der Arbeitskraft von schlecht bezahlten Arbeitern, von öffentlichen Angestellten, und das soll jetzt für einen Bruchteil des eigentlichen Werts über den Tisch gebracht werden. ( ... ) Deshalb ist das Thema Privatisierung der Bahn auch so spannend, weil Privatisierung findet überall statt: hier das Wasserwerk und dort die Stadtwerke, aber das hat immer ganz kleine Grenzen. Wen interessiert denn in Hamburg, wenn die Wasserwerke in Freiburg privatisiert werden, wen interessiert in Freiburg, wenn die Krankenhäuser in Marburg verkauft werden. Aber Bahn! Das kennt eben jeder. Die Bahn ist bundesweit. Überall. Selbst der verbissenste Autofahrer ist schon mal irgendwann Bahn gefahren. Atmo 2 b - Aktion der Kampagne Bahn für Alle 1.Sprecherin: In den Zügen und an Informationsregalen der Bahnhöfe finden Reisende ein Faltblatt. Überschrieben: Ihr Reiseplan. Aber dieser Reiseplan enthält nicht wie gewohnt die Abfahrts- und Ankunftszeiten: 1. Sprecher: "Höchste Eisenbahn. Stoppt die Börsenbahn. Stoppt das Gesetz zur Bahnprivatisierung! Die Bahn ist öffentliches Gut! Bahn für alle statt Profite für wenige." 1.Sprecherin: Steht auf der Vorderseite. Faltet man den "Reiseplan" auseinander, erfährt man Punkt für Punkt, warum eine Privatisierung der Deutschen Bahn die Reisenden unweigerlich aufs Abstellgleis führen wird. 1. Sprecher: "Das bestehende Preissystem ist inkonsequent und unübersichtlich. Eine Börsenbahn steigert die Situation zum Chaos. Mit der wachsenden Zahl der Anbieter kommt es bei Tarifen und Fahrplan zu einem Flickenteppich. Bahnfahren wird unattraktiv. Die britischen Fahrgäste wissen ein Lied davon zu singen." 1. Sprecherin: heißt es. Überhaupt gilt das britische System als abschreckendes Beispiel. Eine Fahrt mit der seit Ende der 90er Jahre privatisierten britischen Bahn garantiere einen "Horrortrip": 1. Sprecher: "England nach der Privatisierung: Die Bahnreise garantiert unvergesslichen Nervenkitzel. Züge sind ständig verspätet. Es fehlt ein einheitliches Fahrkartensystem. Fahrpläne sind nicht aufeinander abgestimmt. Die Tickets werden immer teurer. Und immer wieder kommt es zu tragischen Unfällen mit Toten und vielen Verletzten. Die britische Aufsichtsbehörde entzog dem Betreiber Connex auf einigen Strecken die Lizenz: wegen massiver Qualitätsmängel. ( ... ) Unsere Empfehlung: Reisen Sie mit dem Zug durch Großbritannien und erleben Sie selbst, wohin der Ausverkauf öffentlicher Bahnen führt." 17a. O-Ton Ich hab's kürzlich hier in Frankfurt am Bahnhof erlebt, ich kam mit dem Zug hier an, lief raus an diesem Service-Point vorbei und stelle fest, in diesen Informationsregalen, wo diese Faltblätter liegen, stecken unsere Reisepläne drin, die irgendjemand reingesteckt hat, vermutlich keiner von der Bahn, sondern jemand anders. 1.Sprecherin: Stefan Diefenbach-Trommer, Sprecher des Bündnisses Bahn für Alle. 17b Die Leute nehmen es mit, weil sie erst einmal denken, es ist Bahnmaterial und lesen es aber gerne. Auch wenn wir bei Aktionen solche Sachen verteilen, und überhaupt die Rückmeldungen, die wir kriegen, dass die Leute sagen, sehr interessant, ich hab's mit Interesse gelesen'. Das ist auch, was passiert ist in unserem Bündnis in der ersten Phase, dass die Leute erfahren haben, was ist los. Denn die Bahn hat nicht darüber aufgeklärt natürlich. 1.Sprecherin: Meinungsumfragen belegen inzwischen einen deutlichen Umschwung: bei einer von der Illustrierten Stern im Frühjahr 2006 in Auftrag gegebenen Umfrage befürworteten ein Viertel der Befragten die Privatisierung der Deutschen Bahn, ein Viertel sprach sich dagegen aus und knapp die Hälfte enthielt sich der Meinung. Eine repräsentative Umfrage des Instituts Forsa vom Juli 2007 ergab: Zwei Drittel der Befragten wollen eine Bahn im öffentlichen Eigentum. 18. O-Ton 2006 im Frühjahr, ungefähr gleichzeitig als wir unsere Kampagne durchgeplant haben das erste Mal, gab es bei der Deutschen Bahn AG ein Treffen von Vorstand und Lobbyisten, die überlegt haben, wie man denn bis zum Sommer 2006 das ganze Thema durchbekommt, damit es dann eine politische Mehrheit gibt und es im Spätsommer oder Frühherbst parlamentarisch beschlossen werden kann. Wir haben inzwischen Anfang 2008 und es gibt noch immer keinen Beschluss, insofern ist das schon ein Riesenerfolg, diese Verzögerung, die eben auch dadurch gekommen ist, dass es uns gelungen ist, die Menschen aufzuklären, aufzurütteln, zu zeigen, was ist da und das ganze Thema aus dem stillen Kämmerlein herauszuholen. 1.Sprecherin: Und das erfordert Sachkenntnis, Phantasie und Ausdauer. Gerade die Kampagne gegen die Privatisierung der Deutschen Bahn sei eines der wichtigsten Beispiele der letzten Jahre für den Erfolg der politischen Arbeit von Attac, sagt Sven Giegold: 19. O-Ton Inzwischen hat das dazu geführt, dass es in der SPD-Fraktion und in den Landesverbänden der SPD enorme Konflikte gibt und dass es äußerst unsicher ist, ob diese Bahn-Privatisierung beschlossen wird. Das ist ein großer Erfolg dieses Bündnisses, und Attac stemmt den größten Teil der lokalen Aktionen. Wir haben 350 000 Kopien des Reiseplans der Deutschen Bahn mit Informationen gegen die Privatisierung verteilt, wir hatten Aktionen in jetzt über 100 verschiedenen Städten, die unter Attac-Beteiligung zustande gekommen sind. Musik 2 - Manu Chao Politik kills 1.Sprecherin: Eine Revolution ist nicht angesagt, angesagt sind Ausweitung und Internationalisierung der Widerständigkeit gegen die Zuspitzung der Gegensätze zwischen Arm und Reich und gegen eine Globalisierung der Märkte auf Kosten des Gemeineigentums und der Natur. 20. O-Ton Mein größter Wunsch ist, dass es uns gelingt, dass die Bürgerinnen und Bürger, die sich sozial, ökologisch, demokratisch engagieren, dass die zu Weltbürgern werden. Das heißt, dass sie sich miteinander treffen, über die Grenzen hinweg versuchen miteinander zusammenzuarbeiten. Wir haben angefangen mit Städte- Partnerschaften zwischen Attac-Gruppen, mit Europäischer Sommerakademie, mit Foren, wo es möglich wird, sich so gut zu kennen, dass man dann auch gemeinsam handeln kann für die Alternativen für die wir streiten. Das ist das, was die nächsten zehn Jahre bringen müssen, nämlich ein Attac, was den Neoliberalismus nicht nur in Frage stellen kann, sondern durch europäische Handlungsfähigkeit von unten auch die Alternativen durchsetzen kann. 21. O-Ton Attac funktioniert nach dem Konsensprinzip. Man einigt sich auf bestimmte Punkte, die alle mitgehen können und weitergehende Systemkritik am Kapitalismus kann man äußern, sollte man meines Erachtens auch, denn dieses Wirtschaftssystem ist natürlich der Nährboden und die Grundlage für Neoliberalismus ( ... ) aber das ist eine Position, die hat ihren Platz, die ist legitim, aber die kann man nicht anderen aufoktroyieren. Insofern finde ich diese Pluralität, die sich Attac zueigen gemacht hat und die auch in pragmatischer Form inzwischen Selbstverständlichkeit ist, natürlich verbunden damit, dass die Anfangseuphorie ein bisschen gewichen ist. Aber die Mühen der Ebenen, das bedeutet auch, dass man häufig weniger Innovatives und Neues praktiziert, dass man nicht immer das Rad neu erfinden kann, aber dass man mit der nötigen Ausdauer ganz dicke Bretter bohrt. Und genau das ist nötig, um dieser neoliberalen Hegemonie etwas entgegenzusetzen. 2. Sprecher: Wahrnehmung Als ich wiederkehrte War mein Haar noch nicht grau Da war ich froh. Die Mühen der Gebirge liegen hinter uns. Vor uns liegen die Mühen der Ebenen. 22. O-Ton Die Privatisierungen schreiten voran und unser Reden ist ganz klar: Man kann lokal und bei Einzelfällen Siege davontragen, aber den Neoliberalismus kann man nur international oder gar nicht schlagen. Musik 1 2. Sprecher: Die Revolution findet nicht statt - Zehn Jahre globalisierungskritische Bewegung Attac Ein Feature von Ruth Jung Es sprachen: Nadja Schulz-Berlinghoff, Katharina Koschny und Helmut Gauss Technik: Ralf Perz Regie: Klaus-Michael Klingsporn Redaktion: Constanze Lehmann Produktion: Deutschlandradio Kultur 2008 1